24. Internationales Literaturfestival Leukerbad, Rückblick 3/3

Literaturfestivals sind Orte der Begegnungen, für Schreibende und für Lesende. Und wenn sich dann die beiden Seiten gar mischen, Gespräche entstehen über die „Lager“ hinaus, dann stellt sich dieses Gefühl von Berauschung ein, die das Lesen allein nicht erzeugen kann. Dann wird Literatur greifbar, Sprache zu Stimme Geschichten zu Geschichte.

Dem 24. Internationalen Literaturfestival gelang es zwar nicht, sich den schwindenden Besucherzahlen der meisten Literaturfestivals entgegenzustellen. Dafür beugt sich Leukerbad aber auch nicht dem Geschmack der Masse, der Lust nach Ablenkung und Abschweifung.

Hier ein Streifzug durch meine ganz persönlichen Höhepunkte:

Nell Zink, Foto © Literaturfestival Leukerbad

Wer „Virginia“ noch nicht gelesen hat, sollte es tun. Dass Nell Zink, die im länglichen Virginia aufgewachsene Amerikanerin, in Medien derart grosse Aufmerksamkeit geniesst, erstaunt nicht. Sie, die schon lange in Deutschland lebt und immer wieder in der Schweiz an Festivals anzutreffen ist, beweist mit ihrem Erfolg, den Bestsellern, dass sich der Durchbruch als Schriftstellerin nicht unbedingt mit 30 einstellen muss und man literarisches Schreiben nicht unbedingt mitten im Literaturkuchen erlernen muss/kann/soll. Ihre Romane sind eigenwillig, intelligent und schlicht sensationell erzählt.
In ihrem neusten in deutscher Sprache erschienenen Roman „Virginia“ leben die Mutter Peggy und ihre Tochter auf der Flucht aus einer gescheiterten Ehe mit erschwindelten Ausweispapieren als „Schwarze“ unerkannt in einem kleinen Ort in der Pampas, in Virginia, vergessen von der Weissen Seite der Amerikaner. „Virginia“ ist ein Familienroman mit überragendem Sound, ein Amerikaroman über das Leben in einer Kleinstadt im Schatten der grossen amerikanischen Metropolen, ein Identitätsroman über die Fragwürdigkeiten zugeschriebener und zugespielter Identitäten. Ein Roman über zwei Welten, Schwarz und Weiss, zwei Kasten, über eine Frau, die aus der einen Kaste ausbricht, um in der andern unterzutauchen, über Zufall und Glück, die Unmöglichkeiten von Schicksal, Geschlecht und Sexualität. Ein sprachliches Feuerwerk, das man auch in der deutschen Übersetzung von Michael Kellner geniessen kann.

Tanja Maljartschuk, Rolf Hermann und Pedro Lenz lesen Texte von Aglaja Veteranyi, Foto © Literaturfestival Leukerbad

Aglaja Veteranyi, 1962 in Bukarest in eine Zirkusfamilie hineingeboren, wählte 2002 in Zürich in einer seelische Krise den Freitod . Doch in Leukerbad war sie da. Nicht nur auf dem Büchertisch, wo aus dem Nachlass beim Verlag “der gesunde Menschenversand“ zwei neue Bücher zum Entdecken und Vertiefen, zum Geniessen und Eintauchen bereitlagen, nicht nur durch ihr bekanntestes Werk „Warum das Kind in der Polenta kocht“, dass sich bei vielen Leserinnen und Leser tief in die literarische Erinnerung eingegraben hat und von der schwierigen Kindheit der Schriftstellerin erzählt, sondern weil Pedro Lenz, Tanja Maljartschuk und Rolf Hermann ganz oben auf dem Berg in einer Mitternachtslesung unter dem grossen schwarzen Zelt einer sternenklaren Nacht die Texte einer Künstlerin vortrugen. Aglaja Veteranyi, die sich das Lesen und Schreiben als Kind selbst beigebracht hatte, Artistin und Tänzerin war und sich die deutsche Sprache zu ihrem wichtigsten Instrument machte, schuf als Vielschreiberin Kunstwerke, die beim Lesen ebenso schmerzen wie bezaubern, verwirren wie erheitern. „Café Papa. Fragmente“ und „Wörter statt Möbel. Fundstücke“ sind gesammelte Texte aus Notizbüchern, Makulaturblättern, Texte voller Witz und Tiefe, Einsichten in die Welt einer Künstlerin, für die Sprache viel, viel mehr als ein Medium war, sondern Manege selbst. Tanja Maljartschuk, die in der Ukraine aufwuchs und studierte, in Wien lebt und schreibend noch immer in das im Würgegriff unversöhnlicher Fronten gefangene Herkunftsland eingreift, nennt Aglaja Veteranyi eine Ecke ihres literarischen Dreigestirns, neben Robert Walser und Peter Bichsel.

Maria Cecilia Barbetta, Foto © Literaturfestival Leukerbad

Zehn Jahre nach ihrem gefeierten Debüt feiert die aus Argentinien stammende und deutsch schreibende Autorin Maria Cecilia Barbetta mit „Nachtleuten“ einen fulminanten Erfolg. Und wer die Schriftstellerin in ihrer leidenschaftlichen und authentischen Art lesen und erzählen hört, ist noch um ein Vielfaches mehr bezaubert und betört vom Feuerwerk aus Sprache, Sprachwitz, Originalität und der scheinbaren Leichtigkeit, die das Erzählen der Meisterin ausmacht. Maria Cecilia Barbetta besuchte die deutsche Schule in Buenos Aires, studierte später Deutsch und kam mit 24 mit einem Stipendium nach Deuschland. „Ich habe mich verliebt in die deutsche Grammatik“, beteuert die Autorin. In „Nachtleuchten“ erzählt Maria Cecilia Barbetta von ihrer Heimatstadt Buenos Aires, von ihrem Viertel Ballester, wo sie aufgewachsen ist. Ein Kosmos der Vielfalt, ein Schmelztiegel der Kulturen. Ballester ist die Urmutter aller Geschichten und Figuren. Figuren und Orte, die sich aber überall finden, in jeder Stadt, in jedem Ort, auch in Berlin, wo die Autorin seither lebt. „Nachtleuchten“ spielt 1976, am Vorabend des politischen Umsturzes, in einer Zeit, als das grosse Verschwinden begann und in der im Laufe der Militärdiktatur zwischen 1976 und 1983 Zehntausende ArgentinierInnen verschwanden. „Nachtleuchten“ ist ein sinnliches Feuerwerk!

Durs Grünbein und Stefan Zweifel, Foto © Literaturfestival Leukerbad

Und wer sich traut, sollte aus dem umfangreichen Werk des deutschen Dichters und Essayisten Durs Grünbein lesen. Der häufige Gast in Leukerbad beweist in eindrücklicher Manier, dass Lyrik nichts mit weltfremden und entrücktem Dichten zu tun haben muss. Seine Gedichte erzählen Geschichten, leuchten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, stellen Fragen, konfrontieren, springen in der Perspektive. Seine Essays spiegeln den Weitblick des Autors, fordern heraus und zeigen, wie Geschichte, Wissenschaft und Gesellschaftskritik konstruktiv provozieren können.

Das 24. Literaturfestival Leukerbad hat überzeugt und gezeigt, dass Literatur nicht im Elfenbeinturm geschieht. Leukerbad ermuntert und treibt an, denn was in den Umbrüchen der Gegenwart geschieht, spiegelt sich in der Literatur.
Der Handschlag zwischen zwei übergewichtigen Politikern ist eine grosse Geste mit kleiner Wirkung. Literatur sind kleine Gesten mit grosser Wirkung.

„Literatur kann gefährlich sein.“ Christos Chryssopoulus

Beitragsbild © Literaturfestival Leukerbad

John Wray «Gotteskind», Rowohlt

Bis zum 11. September 2001, als drei Maschinen ins World Trade Center und ins Pentagon krachten und 3000 Menschen in den Tod rissen, waren Taliban bärtige «Halbwilde», die weit weg von der «Zivilisation» mit Gewalt den Gottesstaat herbeibomben und -schiessen wollten. Mit einem Mal wurden aus den Barbaren Terroristen, wandelte sich ein einziger Tag zu einem kollektiven Trauma, aus dem viele bis heute nicht aufzuwecken sind.

Aden Sawyer ist nicht Tom Sawyer. Aber vielleicht ist dieser Name kein Zufall. Aden ist achtzehn und haut ab, geht auf eine Reise, von der es kein Zurück geben soll, emanzipiert sich von einem dominanten Vater, den sie Lehrer nennt, der Islamismus lehrt, ohne je von einem Glauben, einer Idee getragen worden zu sein, emanzipiert sich von einer alkoholkranken, apathischen Mutter, die sämtliche Familienfotos an den Wänden ihres Hauses zur Wand gedreht hat.

Sie setzt sich mit ihrem einzigen Freund in ein Flugzeug und fliegt aus den USA bis nach Afghanistan, das Land ihrer Träume, ihren Sehnsuchtsort, schliesst sich einer Meeres an, einer religiösen Schule, um die Suren des Korans auswendig zu lernen. Sie will aber nicht nur ein gottgefälliges Leben führen, sondern mit aller Konsequenz mit dem alten Leben brechen. Sie vernichtet nicht nur ihren Pass, sie kleidet und gibt sich wie ein junger Mann, bandagiert die Brust und nimmt Tabletten, die die Blutungen aussetzen lassen. Sie ist nicht mehr Aden Sawyer, sondern Suleyman Al-Na’ama.

«Gott hat dich von der anderen Seit der Welt in unsere Berge geschickt.»

Aber schon in der kleinen Schule wird nichts so, wie Aden es sich vorgenommen hatte. Zum einen zerbricht die Freundschaft zu ihrem Freund, mit dem sie die USA verlassen hatte, zum andern nimmt sie, ohne es zu wollen, in der kleinen Schule immer mehr eine Sonderstellung ein. Ihr religiöser Eifer, die Tatsache, dass sie Amerikaner(in) ist, ihre Gelehrigkeit und ihr absoluter Wille, ein neues, ganz anderes Leben zu führen, macht aus Aden Suleyman, aus der jungen Frau einen jungen Mann, aus der Flüchtenden eine um jeden Preis gewillte Ankommende. Zwei, die zusammen wegfuhren, sich gemeinsam auf einen Weg machten, entzweien sich mehr, bis hin zur Katastrophe. Je tiefer in der Fremde, je mehr sie eigentlich aufeinander angewiesen wären, desto unvermeidlicher entzweien sie sich, bröckelt Freundschaft.

Aber die Entzweiung spielt sich auch in ihrem Innern ab. Denn Aden setzt auf Lüge, ausgerechnet sie, die in ihrem neuen Leben auf Wahrhaftigkeit setzen wollte, auf Kompromisslosigkeit. Sie sieht sich als Heuchlerin und Lügnerin, sie die für jeden Missstand eine Sure zu rezitieren weiss.

Was im Buch als Katastrophenreigen von der ersten Seite angelegt ist, schleicht sich förmlich an. Decker, ihr Freund, der sich Ali nennt, schliesst sich den Mudschahedin an, den Gotteskriegern, die auf der anderen Seite der Grenze Krieg gegen Ungläubige und Verrat führen. Dass er nichts gesagt hatte, dass es keinen Abschied gab, bricht ihr eh schon eingeschnürtes Herz. Und dass es der väterliche Mullah war, der seinen kämpfenden Sohn davon abhielt, auch Aden als Kämpfer zu rekrutieren, bricht das Herz ein zweites Mal.

Aden – Suleyman haut noch einmal ab, schlägt sich alleine in die Berge, findet Ali in einem Ausbildungscamp und wird selbst zum Krieger. John Wray versteht es meisterlich, den Weg einer jungen Seele nachzuzeichnen, die eigentlich gut und wahrhaftig leben und wirken will, aber durch Willkür, Sachzwänge und Sturheit immer tiefer in ein Konvolut von Katastrophen rutscht, aus der nur die Katastrophe retten kann. Man wechselt Leben, Kultur, Religion und Herkunft nicht einfach wie einen schmutzig gewordenen Umhang. Alles, was unter der Hülle ist, bleibt, bleibt kleben.

John Wray hat einen atemberaubenden Roman über zwei Welten geschrieben, die im Innern einer Achtzehnjährigen kämpfen. Wer mit dem Buch mitgeht, macht eine Reise in das absolut Fremde mit. Eine Fremde, die der Autor kennen muss, von der er mit derart grosser Selbstverständlichkeit erzählt, als hätte er den Roman in einem kahlen Tal irgendwo zwischen Afghanistan und Pakistan geschrieben. Ein Roman, der mit keinem Satz urteilt, mich als Leser nie zu einem Komplizen macht, nicht mit mir spielt.

John Wray recherchierte zu John Walker Lindh, der als «amerikanischer Taliban» bekannt wurde, als er in der Nähe von Kabul einen älteren Mann traf, der ihm nicht nur vom Amerikanischen Taliban erzählte, sondern von einem amerikanischen Mädchen. Die Recherchearbeiten zu einem Sachbuch über John Walker Lindh begannen zu stocken. Statt dessen entstand das Manuskript zu «Godsend», eine «wahre» Geschichte um ein Mädchen, dass sich in Pakistan radikalisiert in den Kleidern eines Jungen.

Grosse, bewegende Literatur!

© Jan Schoelzel

John Wray wurde 1971 in Washington, D.C., als Sohn eines amerikanischen Vaters und einer österreichischen Mutter geboren. Studium am Oberlin College, an der Columbia University und an der Universität Wien. Er lebt als freier Schriftsteller in Brooklyn und Friesach (Kärnten). 2007 wurde er von dem Literaturmagazin «Granta» unter die zwanzig besten jungen US-Autoren gewählt, 2017 beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt mit dem Preis des Deutschlandfunks ausgezeichnet.

Übersetzt aus dem Englischen wurde «Gotteskind» von Bernhard Robben. Im Amerikanischen Original heisst der Roman «Godsend».

Webseite des Autors

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Katrin Seddig «Das Dorf», Rowohlt

Sechs Wochen Sommerferien für die 12jährige Jenny, ein unsäglich langer Sommer für den 17jährigen Schulabbrecher Maik, ein Sommer zum Vergessen für Arno, der mit seiner Familie weg aus der Stadt aufs Land zog, aufbrechende Sommerhitze für Helmut, der längst kein Bauer mehr ist, aber mit eiserner Hand Leben an sich fesselt, auch das der wilden «Nackten» – und vielleicht der letzte Sommer für Ingetraut, die Alte.

Es ist flimmernd heiss im Dorf. Eine Strasse zerschneidet die Siedlung, das was von ihr übrig geblieben ist, ein paar Häuser, kein Geschäft mehr, keine Schule, kein Gasthaus, in dem man sich trifft. Diejenigen, die schon lange im Dorf wohnen, sind alt geworden. Und jene, die jung sind, gehören irgendwie nicht dorthin. Weder die Verlorene mit ihrer Tochter Jenny, auch nicht Arno mit seiner Frau Caren und seinen Kindern. Auch Maik nicht, der in seinem Zimmer auf dem Bett liegend die Decke studiert oder mit dem Mofa ziellos in der Gegend herumfährt. Endzeitstimmung ohne die Geschehnisse in eine Dystopie zu transformieren. Katrin Seddig schafft es von der ersten Seite ihres neuen Romans «Das Dorf» die Szenerie in einen unsichtbaren Vulkan zu setzen. Als würde der Boden unter den Geschehnissen mit jeder Seite mehr beben und dampfen.

Jenny ist kein Kind mehr. Aber auch von niemandem der Erwachsenen ernst genommen. Im Dorf lebt niemand mit Kindern, ausser die Neuen in einem der Reiheneinfamilienhäuser, die sich aber nie zeigen. Da ist nur Maik, fünf unendlich lange Jahre älter, das Tor zu einer Welt, auf die Jenny aufspringen will, einer Welt, vor der sich Maik fürchtet. Es wird eine Freundschaft, die in den Augen der Erwachsenen keine sein darf. Welcher 17jährige gibt sich schon ohne Absichten mit einer 12jährigen ab. Aber genau das will Maik. Maik hat keine Absichten, gar keine, hängt in seinem Leben, zwischen nichts und den vorwurfsvollen Kommentaren seiner Mutter. Sie beide, Jenny und Maik, entfliehen dem, was an ihnen klebt, einem Leben, das sie nicht teilen möchten.

Im gleichen Dorf lebt Ingetraut, lebt noch, denn sie weiss, dass es nicht mehr lange dauern kann. Sie wartet auf ihre Erlösung, glaubt, dass Maik ein wichtiger Teil davon sein wird, ihr Erlöser, ihr Jesus. Denn im Dorf hockt der Wahn. In Helmut, dem brutalen Bauer, der seine Tochter Elke einsperrt, die wilde «Nackte», die auf ihren Liebsten wartet, den Albaner, den Arno in einem Geschäft an Helmut vermittelte, für das Stück Land, auf dem das Leben von Arnos Familie zur Ruhe kommen soll. Aber der Albaner ist weg, verschwunden.

Es kocht und brodelt. Man liest «Das Dorf» im Wissen um die drohende Katastrophe. Eine der Qualitäten des Romans ist seine Unvorhersehbarkeit. Man spürt die Hitze, das Böse im Verborgenen, den Dampf in den Rissen der Oberflächlichkeit. Ein Buch der Gegensätze, der Pole. Hier das Zarte einer Freundschaft zweier, die sich im Dazwischen von Kindheit und Erwachsenen bewegen, dort das Brutale hinter den Mauern des Festgefahrenen, Unumstösslichen.

Ein Interview mit Katrin Seddig:

Was reizte Sie am Schauplatz Dorf? Das leer gewordene Schulhaus, trüb gewordenen, ausgeräumte Schaufenster, Fässer und Autoreifen in Hinterhöfen, verschrobenes Personal und himmelschreiende Gegensätze?

Ich bin in einem sehr kleinen Dorf aufgewachsen und weiß, wie sich Dorfstrukturen mit der Zeit verändert haben. Auch in meinem Dorf gibt es keinen Dorfladen mehr, keine Poststelle, keinen Gottesdienst. Dennoch gibt es in mir und auch in vielen anderen eine Sehnsucht nach dem Landleben, nach der Natur. Es ziehen ja auch viele wieder auf das Land, die vorher in urbanen Strukturen gelebt haben und jetzt ausdrücklich das Gegenteil suchen. Daraus ergibt sich wieder eine neue Änderung der dörflichen Strukturen. Vereinzelt kehrt ja sogar Altes zurück, es werden Genossenschaftsläden gegründet, zum Beispiel. Das Thema hat mich einfach persönlich beschäftigt. Und dann eignet sich so ein Setting natürlich gut für eine Geschichte. 

Auf der einen Seite die 12jährige Jenny, ein Mädchen voller Energie und der 17jährige Maik, eingepackt in ein Leben ohne Perspektiven. Auf der anderen Seite die Alten, Verwundeten, in sich und Situationen Gefangenen. Lieben Sie es, Gegensätze aufeinander prallen zu lassen? Der Roman als Experimentierfeld?

Natürlich. Es ist ja wichtig, wenn man etwas herausarbeiten will, dass man eine Art Reibung erzeugt. Daran, an diesen Funken, lässt sich ja, sozusagen, die Wahrheit erahnen.
In dem Fall von Maik und Jenny schien es mir notwendig, Jenny als so einen offenen, willensstarken Charakter zu erschaffen, um den Altersunterschied zu dem lethargischen Maik auszugleichen. Ein voll im Leben stehender Maik hätte sich wohl kaum zu einer Freundschaft mit einer Zwölfjährigen hinreißen lassen.

Foto © Carina Middendorf

Ingetraut, nur „die Alte“ genannt, sieht im 17jährigen Maik, der mit seinem Mofa und Jenny auf dem Sozius durchs Dorf brettert, ihren Jesus, den Erlöser, was er dann auch irgendwie wird. Wenn auch weniger Er- als Auslöser. Braucht es Katastrophen, um einem Geschehen eine wirkliche Wendung zu geben?

Es braucht jedenfalls Auslöser, und das kann vielleicht auch ein unverhofftes Glück sein. Warum soll sich etwas ändern, wenn sich nichts ändert? Natürlich könnte sich auch ein kleines Unglück auf einen Haufen weiterer kleiner Unglücke häufen, und dann, irgendwann, explodiert das Ganze. Das ist auch eine Lösung. Aber Katastrophen eignen sich gut, um die Geschichte in Gang zu bringen, in extremen Situationen zeigen sich die Menschen etwas mehr. 

Im Dorf wohnt seit kurzem auch Arno mit seiner Frau Caren und seinen Kindern in einem frisch gebauten Einfamilienhaus. Weggezogen von der Stadt, in der er sich gefangen fühlte, in der Hoffnung, aus seinen mehr oder weniger illegalen Geschäften dereinst aussteigen zu können. Er verheddert wie fast alle im Dorf in Ausweglosigkeit. In Ihrem Roman „Das Dorf“ bleibt auch vom Ideal „Familie“ nicht viel übrig. Warum?

Zum einen ist es eine Beobachtung, die ich mache, und die ich umsetze. Anscheinend funktioniert das nicht mehr, wie es Jahrhunderte funktioniert hat. Oder vielleicht hat es vor allem so funktioniert, wie bei einem Vertrag, an dem man festhielt. Heute hält man nicht mehr an Vielem fest und das ist auch ein Problem. Auf der anderen Seite, und ich finde, das wird im Buch auch deutlich, finden sich zarte „Wahlverwandtschaften“ zusammen. Maik und Jenny und die Alte, das wäre so eine kleine Familie, die sich aus Neigung zusammenfindet. Und auch Jenny findet ja wieder zur Mutter, ihrer winzigen Ursprungsfamilie,  zurück, aber freiwillig und aus echten Gefühlen heraus. Wir haben uns ja nun mal entschlossen, unseren Gefühlen den Vorrang vor Verträgen zu geben. Da müssen wir dann halt auch sehen, wie wir in unserer Gesellschaft damit umgehen und ob wir damit glücklich werden können.

Menschen scheitern an ihren Lebensträumen. Das Mädchen Jenny ist voll von Lebensträumen. Ihr heftigster; nie so wie Mutter werden. Sind Lebensträume in „fortschreitendem Alter“ gefährlich? Wäre es nicht viel besser, sich all ihrer zu entledigen, um jeden Tag wie Maik neu zu erfinden.

Lebensträume können sehr gefährlich sein. Sie sind ja auch oft Illusionen über die eigenen Möglichkeiten. Die Frage ist sehr schwierig, und ich fürchte, ich kann sie nicht beantworten. Das ist ja die große Frage danach, wie man leben soll. 

Foto © Heike Blenk

Katrin Seddig, geboren 1969 in Strausberg, studierte Philosophie in Hamburg, wo sie auch heute mit ihren beiden Kindern lebt. Über ihren Roman «Runterkommen» (2010) schrieb die «taz»: «Ein brillantes Debüt … Anrührend, witzig und nüchtern.» 2012 erschien «Eheroman», zu dem «Der Tagesspiegel» meinte: «Grandios, wie Katrin Seddig jeder ihrer Figuren einen eigenen Ton verleiht»; 2015 der Roman «Eine Nacht und alles». Für ihre Erzählungen erhielt Katrin Seddig 2008 und 2015 den Förderpreis für Literatur der Hansestadt Hamburg.

Webseite der Autorin

… und was für ein Cover! Wer sich im Netz nach der Schöpferin umsieht, den Namen Oriana Fenwick eingibt, wird überrascht sein:

kombinatrotweiss.de, eine Webseite, auf der Illustrator*innen ihre Arbeiten präsentieren

Webseite der Illustratorin Oriana Fenwick

Beitragsbild © Oriana Fenwick (mit freundlicher Genehmigung der Illustratorin)

23. Literaturfestival Leukerbad: ein Rückblick

Solche mit Bikes, andere mit Wanderschuhen und Funktionswäsche, etliche mit Sonnenhüten, riesigen Koffern und dem staunenden Blick in die felsige Kulisse, manchmal in Bademäntel gehüllt und über dieses eine Wochenende im Sommer eine ganze Schar von Leuten mit Stofftüten, die die Therme in Leukerbad betreten, ohne jemals nass zu werden, die von eine Lokalität zur nächsten wandeln oder hetzen, ins Gespräch vertieft oder die Nase tief in einem Buch – Literaturfestival Leukerbad.

Ein solches Festival ist ein Ort der Begegnung. Leserinnen und Leser untereinander; trifft man doch oft die immer Gleichen, Unverbesserlichen, die jedes Jahr verkünden, das nächste Jahr dann einmal ein Pause einzulegen, um den Vorsatz irgendwann zu vergessen, weil Literatur lockt.

Man kommt Schriftstellerinnen und Schriftstellern so nah wie sonst nie. Nicht wie bei einer Lesung, bei der es während des Signierens für ein paar unbeholfene Nettigkeiten reicht. Man begegnet ihnen auf der Strasse, im Café, unterwegs, im Publikum, auf dem Heimweg.

So wie der Lyrikerin und Performerin Nora Gomringer auf dem Weg nach Bern und später nach Klagenfurt zum Bachmann-Wettlesen. Sie sitzt dort in der Jury und hat sich vorgenommen, an jedem Tag ein anderes T-Shirt mit einem Bachmann-Zitat zu tragen, um so wenigstens etwas von der Namensgeberin ins Showlesen hineinzugeben.

Oder Sasha Maria Salzmann, die mit ihrem Erstling «Ausser sich» in Leukerbad las und diskutierte und mit ihrer Moderatorin Jennifer Khakshouri jenes Haus suchte, in dem James Baldwin vor einem halben Jahrhundert in der Abgeschiedenheit Leukerbads sein Romandebüt vollendete.

Oder den Künstler, Buchgestalter, Illustrator und Herausgeber Christian Thanhäuser, der einem in ein Gespräch verwickelt, von seinen Freundschaften zu Autoren erzählt, der Zusammenarbeit und dem Entstehen eines Buchprojekts, wie man mit Jaroslav Rudis Bier trinken kann, was ebenso wichtig für ein gemeinsames Buch- oder Kunstprojekt sein kann, wie schürfende Gespräche.

Oder den schüchtern wirkenden Péter Nádas, der 1942 in Budapest geborene grosse Chronist, der in Leukerbad aus seinen Memoiren «Aufleuchtende Details» liest und mit jedem Bild aus seinem umfassenden Werk nachempfinden lässt, was es heisst, untrennbar mit der Geschichte eines Landes, eines Volkes, seiner Familie verbunden zu sein. (Auf dem Beitragsfoto zu Beginn des Textes sitzt Péter Nádas zwischen der Moderatorin Ilma Rakusa (rechts, Schriftstellerin, Übersetzerin und Publizistin) und seiner Übersetzerin Christina Viragh (Schriftstellerin)).

Vier Bücher, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Vier Perlen, die in Leukerbad aufleuchteten und denen ich wünsche, dass die viele Leserinnen und Leser finden.

Beitragsfoto: Fotocredit Literaturfestival Leukerbad, Ali Ghandtschi

Lucy Fricke „Töchter“, Rowohlt

Ein literarisches Roadmovie, eine Geschichte um unberechenbare Väter und Töchter, denen es schwer fällt, sich von diesen zu emanzipieren. Lucy Fricke erzählt gekonnt, webt in einzelne Szenen gleichermassen viel Leben und Theatralik ein, dass man diese noch einmal und noch einmal lesen will.

«Ich bin nicht auf die Welt gekommen, um meine Eltern zu retten.»

Marthas Vater hatte drei Jahrzehnte lang gefehlt, war nie da, als sie ihn gebraucht hätte. Und nun will er, dass Martha ihn, den Todkranken, zum Sterben in die Schweiz begleitet. Betty, ihre Freundin, glaubt, ihr Vater sei tot, irgendwo in Italien begraben. Aber vielleicht auch nicht. Betty, Martha und Marthas Vater Kurt fahren im Auto los. Zwei Freundinnen, die sich schon Jahrzehnte kennen und Kurt, der Todkranke auf der Rückbank, der sein Leben kommentiert.

«Im Notfall brauchst du keine Freunde. Im Notfall brauchst du einen guten Arzt oder einen Anwalt. Freunde brauchst du für die guten Zeiten, die schlechten schaffst du auch allein. Für das Glück brauchst du Freunde. Wer kann denn alleine feiern? Das Glück kannst du teilen, aber nicht das Leid. Das Leid wird immer nur verdoppelt.»

Aber bald wird klar, dass Kurt Sterbewunsch nur Vorschub leisten sollte für seinen eigentlichen Plan, den die beiden Frauen und schon gar nicht seine Tochter gutgeheissen hätten, für den Martha und Betty nie mit ihm in sein Auto gesessen wären. Kurt will nach Stresa in Italien. In Stresa lebt Francesca. Francesca habe sich letzthin wieder gemeldet, eine alte Liebe. «Ich lasse dich kein zweites Mal allein», habe sie gemeint.
Nach dieser Offenbarung steht das Auto irgendwo am Strassenrand stehen, Warnblinker sind an. Die Situation droht zu eskalieren. So reiten Väter ihre Töchter und Söhne in Situationen, aus denen man nicht ohne sie zurückfindet. «Zum Sterben fährst du mich, aber zum Lieben hättest du mich niemals gefahren.»

Die Reise im Auto wird zur Tortur im Faradayschen Käfig, aufgeladen mit Emotionen, die sich nicht erden können. Betty deponiert ihren wieder erstarkten Vater in Stresa. Und weil man nun schon einmal in Italien ist, geht die Fahrt weiter nach Bellegra, einem kleinen Nest nicht weit von Rom, wo auf dem Friedhof Bettys Vater Ernesto liegen soll, «eine Liebe, die keine Verbindung mehr hatte». Ernesto hatte sich in seinem Musikerleben vor langer Zeit abgesetzt. Ein Umstand, der nichts klärte und nur immer wieder Spekulationen aufkochen liess. Betty will nun endlich Klarheit, auch darüber, ob unter der Grabplatte auf dem Friedhof wirklich ihr Vater liegt.

«Ich wollte spucken auf mich, die ich zu lange geglaubt hatte, es sei nicht möglich, sich von seiner eigenen Geschichte zu befreien.»

«Töchter» ist ein Buch über Väter. Die Geschichte zweier Frauen, die sich von der emotionalen Dominanz ihrer Väter zu befreien versuchen. «Unsere Väter waren nicht verlässlich, je mehr wir von ihnen erfuhren, desto weniger wussten wir.» Ein Buch über Freundschaft, eine Frauenfreundschaft, die auszuhalten versucht, was man alleine nie durchstehen würde. Ein Roadtrip von Deutschland durch die Schweiz und Italien bis nach Griechenland. Die Suche zweier Frauen nach Gewissheit und Klarheit bis auf eine kleine Insel mitten auf dem Meer. So wie sich Betty auf dem Trip von ihrer Abhängigkeit von Antidepressiva zu befreien versucht, so ist die turbulente Reise eine Befreiung von Lügen. Und nicht zuletzt ist «Töchter» ein freches Buch über den Sehnsuchtsort Italien.

«Italien macht dich pathetisch, behauptete Martha. Womit sie recht hatte. Dieses Land kitzelte am Drama, und dafür war ich empfänglich.»

Überzeugend am Roman aber ist viel mehr als bloss die Story, die immer wieder Haken schlägt. Es ist das Ausbleiben plumper Psychologie, das Aufblitzen von Groteske und Witz, die Tatsache, dass Lucy Friede die Geschichte nie nur in die Nähe von Sentimentalität abrutschen lässt. Es sind die sprachliche «Schamlosigkeit», entlarvende Ehrlichkeit, erfrischende Frechheit und die überraschende Tiefe, die mich überzeugen. Nach der Lektüre ist Lucy Frickes Buch voll mit Bleistiftmarkierungen und Stellen, die ich noch einmal lesen möchte. Als wolle man den Teller blank lecken!

Ein Interview mit Lucy Fricke:

Viele werden irgendwann Mutter oder Vater. Und so wie jedes Mutter- oder Vaterwerden eine Emanzipation vom Tochter- und Sohnsein ist, gelingt dieses Werden ganz offensichtlich oft nicht ohne Kampf. Ihr Roman bietet ganz viele Lesarten, aber die Emanzipationsgeschichte von Vätern scheint zentral. Für alles braucht man einen Fähigkeitsausweis, für jede Verantwortung eine Prüfung. Nur nicht als Vater oder Mutter. Sind wir als Töchter und Söhne verurteilt?
Ich finde es spannend, wie sich dieses Verhältnis verändern kann, wie sich Abhängigkeiten und Bedürfnisse ändern, manchmal auch umkehren. 
Nichtsdestotrotz ist eine Befreiung notwendig. Wir bleiben immer die Kinder unserer Eltern und es ist erstaunlich, wie schwer es fallen kann, sich damit abzufinden. Man lernt das Mutter- und Vatersein, indem man es ist. Je älter ich werde, desto besser verstehe ich meine Eltern. Es erscheint mir unmöglich, ein Kind zu erziehen, ohne dabei Fehler zu machen. Wir alle verbocken so viel, haben schon so vieles erlebt, was uns vielleicht zu schwierigen Charakteren macht. Das verändert sich eben mit dem Alter, man sieht seine Mutter als Frau, den Vater als Mann, man kann seine eigenen Eltern endlich aus verschiedenen Perspektiven wahrnehmen und erkennen. Und damit auch nahezu alles verzeihen. 

Es gibt in ihrem Roman so viele Textstellen, die in vielerlei Hinsicht aufblitzen. Sei es Weisheit, Frechheit, Groteske, Humor, Überraschung. Ganz offensichtlich liegt Ihnen weit mehr daran, als bloss eine spannende Geschichte zu erzählen. Was treibt Sie beim Schreiben?
Das klingt pathetisch, aber mich treibt die Suche nach einer Wahrhaftigkeit. Keine Klischees, keine Filter, kein Schönreden. Der Humor ist bei der Suche nach Wahrheit äußerst hilfreich. Wenn ich, wie jetzt, wochenlang nicht schreibe, dann merke ich zudem, wie sehr das Schreiben mir Halt gibt, mich regelrecht zusammen und aufrecht hält. 

„Töchter“ ist eine Geschichte über Freundschaft. Martha und Betty erleben gemeinsam eine Berg- und Talfahrt weit weg vom Alltag. Betty muss vom Schicksal gezwungen werden, Martha wühlt schon ein Leben lang. Zwei Archetypen im Umgang mit der Vergangenheit. Wer „Frieden“ finden will, muss sich stellen. Ganz offensichtlich eine Eigenschaft, die unserer Gesellschaft im breiter abzugehen scheint. „Töchter“ ist auch ein Sehnsuchtsroman; Sehnsucht nach Klarheit, Sehnsucht nach Liebe und Freundschaft, Sehnsucht nach „Italien“. Spiegeln sich darin Ihre Sehnsüchte?

Das sind universelle Sehnsüchte, denke ich. Italien jetzt mal ausgenommen. Freundschaft ist definitiv das Beste im Leben, nach der Klarheit, nach der Liebe.
Eine weitere Sehnsucht im Roman ist die nach dem Unterwegs-Sein. Dieses Immer-weiter-fahren, immer-weiter-suchen. Ich habe seltsamerweise noch nie eine Sehnsucht nach dem Ankommen verspürt. 

Michael Köhlmeier prügelte mit seiner Rede zum Holocaust-Gedenken in Wien den Umgang mit Geschichte, die Politik gegenüber Flüchtlingen. Wir leben nicht in einer Gesellschaft, die sich der Geschichte, der Wirklichkeit stellt. Je näher wir uns an den Rändern der Katastrophen bewegen, desto deutlicher verschliessen wir Augen, Ohren und Münder. Martha und Betty stellen sich, mehr oder weniger gezwungen. Wir treten ja nicht einmal am Ort, wenn wir uns der Vergangenheit entziehen. Warum verlangt man von den SchriftstellerInnen mehr, als dass sie nur unterhalten?

Gute Frage. Die stelle ich mir auch oft. Ich halte es für ein Missverständnis, dass SchriftstellerInnen mehr vom Leben und der Welt wissen als andere. Wir sind genauso ahnungslos wie der Rest. Wir denken bloß mehr nach, das ist unser Job, wir ringen härter um eine Haltung. Wir geben unser Bestes, aber klüger sind wir nicht.

Verraten Sie mir, was sie lesen und warum Sie es lesen?

Ich hatte jetzt endlich Zeit für“ 2666″ von Roberto Bolaño. Das gehört wohl zum Besten, was ich je gelesen habe. Wild, frei und überbordend. Auf ungemein kunstvolle Art scheint er außer Kontrolle zu sein. Eine Phantasie zum Niederknien. Das ist ein grenzenloser Roman, der in so einem deutschen Schriftstellerinnen-Hirn einiges umwälzt und freisetzt, besonders was das eigene Schreiben betrifft. 
Ansonsten lese ich immer wieder Richard Ford. Den Mann finde ich nun wirklich klug.
Vielen Dank!

Lucy Fricke, 1974 in Hamburg geboren, wurde für ihre Arbeiten mehrfach ausgezeichnet; zuletzt war sie Stipendiatin der Deutschen Akademie Rom und im Ledig House, New York. Nach «Durst ist schlimmer als Heimweh», «Ich habe Freunde mitgebracht «und «Takeshis Haut» ist dies ihr vierter Roman. Seit 2010 veranstaltet Lucy Fricke HAM.LIT, das erste Hamburger Festival für junge Literatur und Musik. Sie lebt in Berlin.

Titelfoto: Sandra Kottonau

Friedrich Christian Delius «Die Zukunft der Schönheit», Rowohlt

Der Georg-Büchner-Preisträger Friedrich Christian Delius war mit 23 für ein paar Wochen als ganz junger Autor nach New York eingeladen. Mit Freunden besuchte er dort einen Jazzclub in der verrufenen Lower East Side, ein Konzert des Saxophonisten Albert Ayler und seiner Band. Ein Gig, der Jahrzehnte nachhallt.

Friedrich Christian Delius erinnert sich 75 geworden an den einen Abend am 1. Mai 1966 in Slugs› Saloon in New York. Es war ein Ausflug mit Freunden in der Fremde, zum ersten Mal im «Land der Sieger», auf einer eben erst begonnenen, langen Reise als Schriftsteller

Es gibt sie, jene Momente, jene Schalt-, Wende-, Angel- und Kulminationspunkte im Leben. Ob dieser 1. Mai 1966 einer in Friedrich Christian Delius Leben war, ist vielleicht zum Teil Fiktion – aber in Buchform perfekt konstruiert und komponiert. Ganz anders wie der Freejazz damals in New Yorks Downtown, der alles andere sein wollte, als in Konstruktion und Komposition eingezwängt.

«Die Zukunft der Schönheit» ist das Porträt eines Mannes am Scheidepunkt, ein Abend in Echtzeit. Der Sound ist ohrenbetäubend, pulverisiert mit Synkopen und schrillen Tönen alles, brennt wie ein Feuersturm alles nieder. Eingemauertes im Nachkriegskopf des jungen Schriftstellers beginnt einzustürzen.

Schreiben war und ist Delius Stimme, sein Instrument, sein Sound. Nach dem Tod seines Vaters auf dessen Schreibmaschine getaktet. Er, der damals verschreckte Musiklaie, das Dorfkind, der Provinzler, der Predigersohn, Spätzünder sass mit einem Mal dort, wo sich die amerikanische Seele mit aller Radikalität und Intensität von den Verkrustungen und Verunsicherungen befreien wollte. Sei es der nie zu gewinnende Vietnamkrieg, das Attentat auf Kennedy. Alle Grenzen und Mauern sollten mit den Hörnern von Jericho niedergerissen werden, auch die Grenzen und Barrieren zwischen Schwarz und Weiss, dem zementierten Establishment und unüberwindbarer Armut.

Die Musik an jenem Abend provozierte und riss auf. Genau das, was Friedrich Christian Delius in den Jahren nach Kriegsende in seiner kleinbürgerlichen Heimat mit seinem Schreiben einreissen wollte. Im Kampf gegen den freundlichen Drogisten im Ort, der Jahre zuvor Stellvertreter Adolf Eichmanns war, der als Musterbürokrat den Tod Hunderttausender organisierte.

«Die vulkanische Gewalt der Musik» soll aufbrechen, erst recht die eben erst erkalteten Krusten in einem Deutschland, in dem sich Altnazis hinter Biederkeit verschanzten.
Delius schreibt, wie jedes Freejazz-Musikstück Fenster und Türen aufreisst, auch jene zu seinem Vater, den ihm der Tod unversöht durch Krankheit entreisst. Kurze Kapitel, nie mit einem Punkt endend, jedes am Schluss mit einem Gedankenstrich ins Leere. Als würde Delius immer wieder den Weg zurück in den Sound der Musik suchen, um sich gedanklich erneut wegtragen zu lassen.
Musik als Flammenmeer, in das alles versinken soll, was sich als Nazibodensatz in seiner Jugendstadt unter die Normalität abgesetzt hatte.

Ein musikalischer Einstieg in den vielfältigen Kosmos eines grossen Deutschen!

Friedrich Christian Delius, geboren 1943 in Rom, in Hessen aufgewachsen, lebt seit 1963 in Berlin. Seine Werkausgabe im Rowohlt Taschenbuch Verlag umfasst derzeit achtzehn Bände. Friedrich Christian Delius wurde unter anderem mit dem Fontane- Preis, dem Joseph-Breitbach Preis und 2011 mit dem Georg-Büchner-Preis geehrt.

Titelfoto: Sandra Kottonau

Hans Joachim Schädlich «Felix und Felka», Rowohlt

Rom 1933. Felka Platek (1899) und Felix Nussbaum (1904), beide junge Künstler, sind Gäste in der Villa Massimo, die im gleichen Jahr von Reichspropagandaminister Josef Goebbels besucht wurde, um unmissverständlich klarzumachen, wem Kunst und Kultur in den kommenden tausend Jahren zu dienen hatte.

Als ein anderer deutscher Maler, ebenfalls Gast in der Künstlervilla in Rom, Hans Hubertus von Merveldt Felix Nussbaum in seiner Verachtung vor Zeugen mit Fäusten niederschlägt, braucht es keine Interpretation, um die Zeichen der Zeit zu verstehen. Felix und Felka sind Juden – und Rom und Italien mit Benito Mussolini ein Bruderstaat Nazideutschlands.

Nicht nur für die beiden jungen Künstler beginnt eine unruhige, ungewisse Zeit, eine ungewisse Reise durch Europa, eine Reise, die immer mehr zur Flucht wird. «Felix und Felka» ist der Roman einer Emigration, die es nicht schafft, den Abstand zum Bösen, zum Schrecken, zum Tod genug gross werden zu lassen. Der Roman einer Flucht nach innen, den Kampf gegen immer unmöglicher werdende Sachzwänge, die das Paar aber immer näher aneinander schweisst.

Hans Joachim Schädlich erzählt fast nur in direkter Rede, gibt seinem Roman dadurch etwas dokumentarisches. Man glaubt während des Lesens je länger je intensiver, die Stimmen der beiden zu hören. Das Geschehen, das Erzählen ist auf das Wesentlichste konzentriert. Was wie Szenen chronisch aneinandergereiht ist, sind Schlaglichter in ein aufgeschrecktes Leben zu zweit, dessen Enge und Düsterniss immer aufsässiger werden.
Das Buch ohne Schutzumschlag, in goldfarbenes Leinen gefasst und schwarz geprägtem Titel ist wie eine mit Seiten gefüllte Gedenktafel wider das Vergessen. Genau jetzt, wo sich vom Volk gewählte Politikerinnen und Politiker um historische Verantwortung drücken, Argumentationen selbst im deutschen Bundestag immer mehr jener von damals ähneln, in Europa, wo Fremdenfeindlichkeit und Abschottung zu Eckpfeilern von Politik werden und sich kaum mehr jemand traut, offen  Opposition zu ergreifen, weil man Wählerstimmen verlieren könnte, in einer Zeit, in der ganze Städte in Deutschland im Würgegriff Rechtsradikaler zittern, ist ein solches Buch wichtiges Mahnmal. Auch wenn es von jenen Blinden nicht gelesen wird.

Felix und Felka waren aufstrebende Künstler. Beide starben 1944 in den Gaskammern von Auschwitz. 1942 festgenommen wie Verbrecher, verraten von einem jüdischen Kollaborateur, vernichtet wie Hunderttausende anderer, die es aus meist ganz profanen Gründen nicht geschafft hatten, ihr Deutschland «rechtzeitig» zu verlassen.

«Felix und Fleka» ist mit grössmöglicher Sachlichkeit erzählt. Ihrer beider Odyssee von Rom über Paris und Ostende nach Brüssel ist die eine rast- und aussichtsloser Flucht zweier Menschen, die es wie viele andere nicht fasssen konnten, was mit und in ihrer Heimat geschieht. Alles in ihrem Leben ordnete sich zweier Bewegungen unter; der Flucht und ihrer Kunst. Alles, wonach der Mensch heute zu streben scheint; Genuss, Wohlstand, Sicherheit und Selbstbestimmung war für Juden und andere Volks- und Glaubensgruppen damals, vor nur einem Menschenleben, schlicht inexistent.

Als Ende September die deutsche Wehrmacht Polen überrannte, die Heimat Felkas, die wenige Monate zuvor Felix geheiratet hatte, spricht aller Schmerz aus ganz wenig:
«Es ist Krieg, Felka!»
«Mein armes Polen.»
«Mein verfluchtes Deutschland!»

Zu hoffen ist, dass Stimmen wie jene von Hans Joachim Schädlich in den Fluten von Oberflächlichkeit und gedrucktem Schrott die ihnen gebührende Aufmerksamkeit finden!

Hans Joachim Schädlich, 1935 in Reichenbach im Vogtland geboren, arbeitete an der Akademie der Wissenschaften in Ost-Berlin, bevor er 1977 in die Bundesrepublik übersiedelte. Für sein Werk bekam er viele Auszeichnungen, u. a. den Heinrich-Böll-Preis, Hans-Sahl-Preis, Kleist-Preis, Schiller-Gedächtnispreis, Lessing-Preis, Bremer Literaturpreis, Berliner Literaturpreis und Joseph-Breitbach-Preis. 2014 erhielt er für seine schriftstellerische Leistung und sein politisches Engagement das Bundesverdienstkreuz. Zuletzt veröffentlichte er die Novelle «Sire, ich eile. Voltaire bei Friedrich II.» und den Roman «Narrenleben» – «ein historisches Panorama von vibrierender Intensität» (Deutschlandradio Kultur). Hans Joachim Schädlich lebt in Berlin.

Aharon Appelfeld «Meine Eltern», Rowohlt

Im Gedenken an den grossen Autor Aharon Appelfeld, der am 4. Januar 2018 fast 86 jährig gestorben ist.

Sommer 1938, jüdische Sommerfrischler am Fluss Prut in Rumänien. Noch hält die Welt den Atem an. Noch kracht es nicht, kein Kanonenlärm, keine Bomben, dafür rumort es überdeutlich, bricht offener Hass hervor, während man sich unter Juden tröstet und beschwichtigt.

Aharon Appelfelds Roman, kurz vor seinem Tod im Dezember 2017 erschienen, ist ein Erinnerungsbuch. Eines an seine Eltern, an einen bekümmerten, pessimistischen Vater, der am Menschen zweifelt und an eine überaus fürsorgliche Mutter, die Geschichten liebt, trotz allem stets an das Gute glaubt und dem zehnjährigen Erwin, Appelfelds Protagonisten in seinem Roman, was die Juden in der Gesellschaft nach und nach verlieren.

Aharon Appelfeld selbst war im Sommer 1938 erst sechs. Das Erwin in seinem Roman «Meine Eltern» schon zehn ist, lässt erahnen, dass der Roman weit mehr sein soll als ein Erinnerungsbuch an seine leiblichen Eltern, seine wirkliche Kindheit. Aharon Appelfeld relativiert alle Fragen nach dem «Autobiographischen». «Meine Eltern» ist auch ein Erinnerungsbuch an eine verlorene Zeit. Jenen letzten, wenn auch nicht mehr wirklich heiteren Sommer, der den Übergang markiert von grossbürgerlicher Selbstverständlichkeit zu beinahe einem Jahrzehnt jüdischer Apokalypse.

Man sonnt sich im Sommer 38 in den Wiesen am Fluss. Man reitet mit geliehenen Pferden durch die Landschaft, sitzt abends vor dem gemieteten Sommerhaus und geniesst, was einem nur noch die Natur geben kann; «Frieden». Umgeben von Menschen, die genau spüren, dass eine neue Zeitrechnung begonnen hat: Karl König, ein Schriftsteller, der an seinen Fähigkeiten zweifelt. Eine Wahrsagerin, die aus den Händen die Zukunft liest der Missachtung verzweifelt. Pepi, die einmal mit einem Christen liiert war und in diesem besonderen Sommer auf Männerschau ist. Der Einbeinige, der sein Bein im letzten Weltkrieg verlor oder Doktor Zajger, der sich nur hier am Fluss vor seiner Arbeit retten kann.
Für sie alle bildet sich in diesem Sommer «ein Riss zwischen dem, was war, und dem, was kommen würde».

Selbst in den Stimmen der Bauern der Umgebung, die ihre Häuser und Pferde vermieten, sie mit Lebensmitteln versorgen, selbst jene des Kutschers, der sie zurück in die Stadt fährt; Hass, Misstrauen und Feindseligkeit.
Vater und Mutter Erwins repräsentieren den grossen Teil der damaligen unter Generalverdacht stehenden Juden: Der Vater längst säkularisiert, die Mutter eine stille, alles andere als demonstrative Gläubige. Und trotzdem schien auf allen jüdischen Gesichtern ein Blutmal zu wachsen, unauslöschlich.

Jener Sommer am Fluss wird zum Wende- und Brennpunkt. Während die einen der Depression verfallen, fröhnen die andern erst recht der Zerstreuung. Während bei den einen die Ahnung zur Gewissheit wird, entschuldigen und wischen andere jede schwarze Wolke weg.
«Meine Eltern» ist ein einzigartiges Buch, weil es die Momente beschreibt, in denen die Lunte brennt, sich das Höllengewitter zusammenbraut, die stinkende Suppe überkocht.

«Solange man noch Kaffee und Kuchen serviert, ist das ein Zeichen, dass das Leben seinen gewohnten Gang geht.»

In Büchern wie «Auf der Lichtung» oder «Tzili» beschrieb Aharon Appelfeld seine eigene Odyssee als Junge in den ukrainischen Wäldern, stets auf der Hut vor seinen Häschern, quer durch einen Krieg, quer durch einen Kontinent. «Meine Eltern» ist auch ein Erinnerungsbuch an einen verlorenen Frieden, an nie zurückgewonnene Geborgenheit. Ein zartes Buch über einen Moment der Weltgeschichte, der sich nicht grausamer hätte wandeln können.

Aharon Appelfeld, 1932 in Jadowa in der rumänischen Bukowina geboren und 2018 bei Tel Aviv gestorben, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern Israels und zugleich «zu den großen Erzählern Osteuropas» (Imre Kertész). Nach Verfolgung und Krieg, die er im Ghetto, im Lager, dann in den ukrainischen Wäldern und als Küchenjunge der Roten Armee überlebte, kam er 1946 nach Palästina. In Israel wurde er später Professor für Literatur. Seine hochgelobten Romane und Erinnerungen wurden in fünfunddreissig Sprachen übersetzt, auf Deutsch erschienen zuletzt «Meine Eltern», «Ein Mädchen nicht von dieser Welt» und «Auf der Lichtung». Über Aharon Appelfeld, der unter anderem mit dem Prix Médicis und dem Nelly-Sachs-Preis ausgezeichnet wurde, sagte Philip Roth: «So einzigartig wie das, worüber er schreibt, ist Appelfelds Sprache.»

Aharon Appelfeld zum Gedenken

Aharon Appelfeld starb am 3. Januar im Alter von 85 Jahren. Eine jener ganz Grossen, die trotz der Tatsache, dass die Bücher fast immer um dasselbe Thema kreisen, dennoch universelle Bedeutung und Kraft haben. Aharons Appelfelds Thema, an dem er sich abarbeitete, waren die letzten Kriegsjahre, zwei Jahre Überleben als nicht einmal Zehnjähiger in den Wäldern der Ukraine, die Flucht, die Jahre im Chaos nach einem alles zerstörenden Krieg. Ein Autor, der bleiben wird. Nicht nur in meinem Bücherregal!

Wer einsteigen will, dem empfehle ich den 2015 bei Rowohlt erschienenen Roman «Ein Mädchen nicht von dieser Welt».

Zwei verzweifelte Mütter bringen ihre beiden neunjährigen Knaben über Schleichwege aus der Stadt in den Wald, den einzigen Ort mitten im Krieg, der hoffen und leben lässt. Aber trotz Versprechen  bleiben die beiden Kinder abends allein und für unendlich lange auf sich gestellt. Nur ein Mädchen rettet sie unter Lebensgefahr bis in den Winter. Vor unsäglich dunklem Hintergrund erzählt der grosse jüdische Schriftsteller, wie glasklar die Welt in Kinderseelen sein kann, auch wenn Angst und Verzweiflung Gründe genug wären, Hoffnung und Leben verlieren zu wollen. Aharon Appelfeld, 1932 geboren, selbst als Junge in den ukrainischen Wäldern ein einsames Versteck vor den Schrecken des Krieges gefunden, schrieb eine eindringliche Geschichte über Mut, Liebe und Freundschaft. Ein trotz des Schreckens durch und durch poetisches Buch. Jedes seiner Bücher ist eine Offenbarung, eine Hymne darauf, was der Schrecken so leicht vergessen lässt.

Im November 2017 erschien bei Rowohlt sein bislang letzter Roman «Meine Eltern»: «August 1938: Am Ufer des Flusses Prut in Rumänien versammeln sich die Sommerfrischler, überwiegend säkularisierte Juden, darunter ein Schriftsteller, eine Wahrsagerin, eine früher mit einem Christen liierte Frau, die nun auf Männerschau ist. Auch der zehnjährige Erwin und seine Eltern sind hier, doch das Kind spürt, dass etwas anders ist: Hinter den Sommerfreuden, den Badeausflügen und Liebeleien geht die Welt, die alle kennen, zu Ende. Einige reisen früher ab, andere verdrängen die Nachrichten aus dem Westen. Spannungen bleiben nicht aus, auch nicht zwischen den Eltern, der Mutter, die Romane liest, an Gott glaubt und an das Gute, und dem Vater, dem Ingenieur, der alles rational und pessimistisch sieht. Als die Familie in die Stadt aufbricht, überfällt Erwin die Furcht. In der Schule wurde er geschlagen und als «Saujude» beschimpft – und er beginnt zu ahnen, dass an den unterschiedlichen Haltungen seiner Eltern noch viel mehr hängt: die Zukunft, das Überleben.
Ein feinfühliger Roman, der seismographisch die Brutalität des heraufziehenden Krieges verzeichnet – und zugleich das Porträt einer bürgerlichen Welt vor der Katastrophe. Eines der persönlichsten Bücher von Aharon Appelfeld, direkt, ehrlich und doch auch kindlich-schön.» (Informationen des Verlags)

Toni Morrison «Gott, hilf dem Kind», Rowohlt

Toni Morrisons grosses Thema ihres Schreibens ist der Rassenkonflikt. Dass sich dieser nicht nur zwischen «Farbigen» und «Weissen» abspielt, beschreibt die Nobelpreisträgerin schon in der ersten Szene ihres neuen, starken Romans. Ein Roman, bei dem sie einen ihrer Protagonisten sagen lässt: «Es ist nur eine Farbe. Ein genetisches Merkmal – kein Makel, kein Fluch, kein Segen und auch keine Sünde.»

Lula Ann ist bei ihrer Geburt tiefschwarz. So schwarz, dass sich die ebenfalls dunkelhäutige Mutter zutiefst erschrocken und verängstigt von ihrem Baby auf Distanz hält und sich der Vater, überzeugt von der Untreue seiner Frau, ganz abwendet und für immer abtaucht. In der Folge heisst die Mutter die kleine Lula Ann, sie Sweetness zu nennen. Lieber als Kindermädchen registriert als als Mutter. Sweetness bekam mit Lila Ann keine Tochter, sondern ein Problem. Und Lula Ann wird darauf so sehr auf Anpassung und Unterwürfigkeit getrimmt, dass sich das Mädchen nicht nur von der Mutter trennt, sondern irgendwann auch von ihrem Namen. Als tiefschwarze Frau, stets in Weiss gekleidet, beginnt Lula Ann, die nun Bride heisst, eine erfolgreiche Karriere in der Kosmetikbranche. Ausgerechnet dort, wo man sich stets mit «Oberfläche» abgibt. Ein Leben gänzlich abgenabelt von der Familie, nicht aber von ihrer Vergangenheit. Als kleines Mädchen drängte man sie bei einer Strafsache wegen Misshandlung Minderjähriger zu einer Aussage gegen eine Lehrerin ihrer Schule. Darauf wurde Sofia Huxley aufgrund der Aussage der kleinen Lula Ann zu einer langen Haftstrafe verurteilt. Aus Sofia Huxley wurde für 15 Jahre Sträfling 0071 140; ein gebrochenes Leben, eine Frau unauslöschlich gedemütigt. Lula Ann, jetzt Bride, kämpft mit einer Lüge, schwimmt in ihrer erfolgreichen Karriere, oben auf auf Oberflächlichkeiten, die aber selbst mit Kosmetik nicht zuzudecken sind.

Lügen, damit sie die Mutter einmal an der Hand nimmt, einmal stolz ist.

Das spürt auch Brooker, ihr Freund, der sie irgendwann im Bett zurücklässt mit dem Satz: «Du bist nicht die Frau.» Brooker kommt wider Erwarten nicht zurück, lässt kaum Spuren zurück, schon gar nicht, was sie aus seiner Welt hätte erzählen, erinnern können. Nur eine Rechnung mit Mahnung wegen einer unbezahlten Reparatur einer Trompete bleibt. Bride, die nicht einmal wusste, dass Brooker Trompete spielt, macht sich mit der Rechnung auf die Suche nach Brooker, dem Einzigen in ihrem unruhigen Leben, der ihr zuhörte. Ihren Ex Brooker, den sie wie alles in ihrem Leben instrumentalisierte, zu einem Gegenstand der Unterhaltung machte, bei dem sie stets das Zentrum blieb, der Stern, um den sich alles drehte. Irgendwie hält Bride ihr Leben stets unter Kontrolle, bis sie mit ihrem Jaguar irgendwo im amerikanischen Nirgendwo gegen einen Baum kracht und nichts mehr so ist, wie es einmal war.

Toni Morrison erzählt aber weit mehr als die Geschichte einer gestrauchelten schwarzen Geschäftsfrau. Da ist Brooker, der Freund, der den gewaltsamen Tod seines grossen Bruders nie verkraftet. Sofia Huxley, die aus dem Knast entlassen wird und erst mit Faustschlägen in Brides Gesicht und den Tränen danach Befreiung erfährt. Rain, das Mädchen, das bei Fremden aufwächst, dem selben Ehepaar, das sich Bride nach dem Unfall annimmt. Ein Mädchen, das von ihrer Mutter mit sechs Jahren mit den Worten «Scher dich zum Teufel» rausgeschmissen wird. Oder Queen, Brookers Tante, die von allen verlassen in ihrem Wohnwagen die handschriftlichen Fragmente Brookers aufbewahrt, alle auf dünnes Papier, fast ohne Punkt und Komma. Texte über Bride.

«Was man Kindern antut, zählt. Und sie vergessen es womöglich nie.»

Toni Morrison schreibt über Lügen, Lebenslügen, das Schweigen darüber, über das Verborgene, nie Ausgesprochene, was Wahrheit ist. Sie schildert, welche Verwirrungen nie verarbeitete Verletzungen anrichten, weit über ihr Thema Rassenkonflikt hinaus. Was den Roman ganz besonders macht, ist die Nähe von Zartheit und Brutalität, ein Hinundher, das einem bei der Lektüre schwindlig macht.

Toni Morrison wurde am 18.2.1931 in Lorain, Ohio, USA, als zweites von vier Kindern eines schwarzen Arbeiterehepaares geboren. Erste Erfahrungen mit dem Südstaaten-Rassismus während einer Tournee als Mitglied der Universitätstheatergruppe. 1970 Debüt als Romanautorin. Zu ihren bedeutendsten Werken zählen u. a «Sehr blaue Augen», «Solomons Lied» «Menschenkind», «Jazz», «Paradies» und die Essaysammlung «Im Dunkeln spielen» über die Antinomien von weißer und schwarzer Kultur. Sie zählt seit langem zur Garde der bedeutendsten Autoren Amerikas. 1993 erhielt sie den Nobelpreis für Literatur.Übersetzt wurde «Gott, hilf dem Kind» von Thomas Piltz, freier Fotograf und Übersetzer.

Titelfoto: Sandra Kottonau