«Ich – ein Mensch? War ich je Mensch?» – Szczepan Twardochs «Kälte» (15)

Lieber Gallus

Dieses Buch, mein erstes dieses Autors, hat mich tief bewegt, verunsichert, begeistert und verwirrt. Ist es ein gutes, lesenswertes Buch? Warum schreibt Twardoch oft so brutal, müssen die Szenen von Folter und Vergewaltigung so genüsslich-sinnlich dargestellt werden? Manchmal war es für mich zu viel des Schrecklichen. Insgesamt bin ich aber sehr beeindruckt und habe neben dem ungemein spannenden Abenteuer von Konrad Widuch im Packeis viel vom Kriegsgeschehen der Zeit der Russischen Revolution und des zweiten Weltkriegs mitbekommen, auch mit einem beeindruckenden Einblick in das damalige Leben der nordsibirischen Völker. Der Überlebenskampf gegen die eisige unwirtliche Natur und die Auseinandersetzung mit anderen Völkern des Polarkreises lassen keine «Wohlfühlpassagen» zu. Auch die oft grobe Sprache unterstreicht dies literarisch, lässt mich in Abgründe blicken.

Ich – ein Mensch? War ich je Mensch?

Sczcepan Twardoch «Kälte», Rowohlt, 2024, aus dem Polnischen von Olaf Kühl, 432 Seiten, CHF ca. 37.90, ISBN 978-3-7371-0188-2

So beginnt das Notizbuch des Konrad Widuch, des Protagonisten, und eine einfache Antwort ist auch nach 400 Seiten nicht gegeben. Das Mitschwingen dieser Frage im Hintergrund macht die Tiefe und die Bedeutung dieses Werks aus. Scharfe Dissonanzen und wilde Rhythmen finden nur selten in Dur-Tonart ein wenig Trost, am ehesten in der Erinnerung an seine verlassene Sonja mit den Töchtern Wilena und Linel, von denen er sich aus strategischen Gründen getrennt hat. Die Erinnerung an sie geben dem Protagonisten Halt. Der ehemals fanatische Bolschewist macht eine tiefe Wandlung durch und sucht seinen Weg, was nicht ohne Mord und Totschlag, ohne Entbehrung und Verzicht geht. Oft in Eis erstarrte Einsamkeit ohne Lichtblick. Die Menschlichkeit schimmert neben dem Tierischen immer wieder durch, oft geht es aber ums pure Überleben, wo selbst Kannibalismus ins Spiel kommt.

Denn wenn Russland kommt, dann kommt hier jemand her wie der, der ich einmal war, er wird euren Dejwas stürzen und wird euch sagen, was ihr zu tun habt, und jeder von euch wird Sklave sein.

Leider ist dies aktueller denn je!
Klug verwoben ist die Geschichte mit dem Segelturn des Erzählers von Svalberg gegen Osten. Eigentlich wollte er dem eintönigen Alltag entfliehen und Einsamkeit erleben auf den Spitzbergen. Dort trifft er auf eine Frau mit Segelboot, kommt so zur Lektüre der Notizen des ebenso aus Schlesien stammenden Konrad Widuchs. Rätselhafter Zufall?

Das wunderschön gestaltete Literaturblatt No 67 hat mich wahrlich in eine abenteuerliche «Kälte» geführt, die ich trotz der manchmal kaum zu ertragenden Schrecken nicht missen möchte.

Herzlich
Bär

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Lieber Bär

Wie ich mich freue, dass ich Dich mit meinen Lesetipps zur Lektüre von Szczepan Twardochs Roman verführen konnte. Und wie sehr ich mich freue, dass Du meine selbst gezeichneten und von Hand geschriebenen Literaturblätter gar in Deiner feinen Bibliothek aufhängst. Was für eine Ehre.

«Kälte» ist ein grosser Schlüsselroman zur Gegenwart, eine Reise durchs kollektive Unbewusste Europas … Es ist Weltliteratur, aus familienbiografischen Ereignissen gespeist, stand in der NZZ. In diesem kollektiven Unbewusstsein schlummern und modern seit Jahrtausenden all die Menschheitskatastrophen, die einzig die Gattung Mensch verursachte. Katastrophen, die sich in den Code des Menschseins unauslöschlich eingegraben haben. 

Aufgabe der Kunst, der Literatur ist es, sich diesen Katastrophen zu stellen, sich mit ihnen direkt zu konfrontieren, seien dies die kleinen Katastrophen oder die ganz grossen. Vielleicht ist genau das eines der Unterscheidungsmerkmale von guten und schlechten Büchern. Echte Literatur konfrontiert. Alles andere deckt bloss zu, spielt mit einer glatten Oberfläche, täuscht und gaukelt vor. Nicht dass es reine Unterhaltung nicht geben soll, aber echte Literatur, gute Bücher sollen und müssen reiben, sollen und müssen etwas von der wirklichen Welt spürbar und sichtbar machen.

Jonathan Littell «Die Wohlgesinnten», Piper, 2009, übersetzt von Hainer Kober, 1392 Seiten, CHF. ca. 31.90, ISBN 978-3-8333-0628-0

Vor einigen Jahren las ist mit tiefer Bestürzung und unsäglicher Betroffenheit den Roman «Die Wohlgesinnten» von Jonathan Littell, den fiktiven Lebensbericht eines hohen SS-Offiziers, eines Unbelehrbaren, Uneinsichtigen. Ein bizarres Epos, das ein detailliertes und nur schwer ertragbares Bild des Zweiten Weltkriegs und der Verfolgung und Vernichtung der Juden durch die Nationalsozialisten zeichnet. Nichts an diesem Protagonisten ruft nur einen Funken Sympathie hervor. Wer dieses Buch liest, steigt in die dunkelsten Höhlen menschlicher Abgründe. Wer sich beim Lesen nach einem Protagonisten sehnt, mit dem man sich solidarisieren, dem man wenigstens Mitgefühl entgegenbringen kann, wird gnadenlos enttäuscht. Und doch; der Roman konfrontiert mit der Wahrheit, einem Stück Mensch, dem wir uns ganz offensichtlich nur schwer stellen können.

«Kälte» konfrontiert. „Kälte“ ist die Hinterlassenschaft eines Hoffnungslosen. Nichts an dieser Geschichte, ausser einer atemberaubenden Kulisse, erinnert an Helden- und Abenteuergeschichten. Konrad Widuch ist kein Held. Er überlebt nur deshalb, weil er sich selbst der Nächste ist, einer der sich in seinen Reflexionen immer wieder vor die Frage gestellt sieht: Bin ich noch ein Mensch? Konrad Widuch erzählt ohne Schalldämpfer, ohne Filter. Seine endlos scheinende Flucht ins Nirgendwo ist ein irriger Überlebenskampf an den Rändern des Erträglichen, sowohl für ihn wie für mich als Leser.

Vielleicht ist das der grosse Wandel in der Kunst. Es genügt nicht mehr, Schönes zu schaffen, weder in der Bildenden Kunst noch in der Musik. Es muss reiben. Szczepan Twardoch tut es in allen seinen Romanen. Und deshalb zählt er mit Recht zu den ganz Grossen der Weltliteratur.

Liebe Grüsse

Gallus

Rezension von «Kälte» auf literaturblatt.ch

Szczepan Twardoch, geboren 1979, ist einer der herausragenden Autoren der Gegenwartsliteratur. Mit «Morphin» (2012) gelang ihm der Durchbruch, das Buch wurde mit dem Polityka-Passport-Preisausgezeichnet, Kritik und Leser waren begeistert. Für den Roman «Drach» wurden Twardoch und sein Übersetzer Olaf Kühl 2016 mit dem Brücke Berlin Preis geehrt, 2019 erhielt Twardoch den Samuel-Bogumil-Linde-Preis. Zuletzt erschienen der hochgelobte Roman «Der Boxer», das Tagebuch «Wale und Nachtfalter» und der Roman «Demut», den die NZZ als «Höhepunkt seines Schreibens» bezeichnete. Szczepan Twardoch lebt mit seiner Familie in Pilchowice/Schlesien.

Hiroko Oyamada «Das Loch», Rowohlt – Sprachsalz Kufstein

Die japanische Schriftstellerin Hiroko Oyamada, deren zweiter Roman „Das Loch“ in Japan schon 2014 erschien, ist eine Spezialistin der Zwischenwelten, eingetaucht in Fantastisches und Traumhaftes. So realistisch der Roman „Das Loch“, die Geschichte einer jungen Frau, die in der Langeweile ertrinkt, beginnt, so bizarr und unerklärlich werden die Ereignisse.

Asa ist noch nicht lange verheiratet und zieht mit ihrem Mann, der innerhalb seiner Firma versetzt wurde, von der Stadt aufs Land. Es ist ihr ganz recht, dass sie ihre Arbeit kündigen kann, zum einen, weil sie die Arbeit wohl müde machte aber nie erfüllte, zum andern, weil ihre Schwiegereltern ihnen das Haus neben dem ihrigen mietfrei überlassen und mit einem Mal der ganze Stress des Alltag von ihr abfällt. Ein Neubeginn, auch für die noch junge Ehe. Aber weil ihr Mann mit dem Auto zur Arbeit pendelt und es auf dem Land auf die Schnelle keinen neuen Job zu finden gibt, beginnt sich Asa mehr und mehr treiben zu lassen. Ihr Mann, der am Morgen früh das Haus verlässt und erst spät abends nach Hause kommt und dann sein Handy kaum aus der Hand legt, spürt die Einsamkeit seiner Frau nicht. Und die Schwiegereltern im Haus daneben sind so sehr in ihren Alltag eingebunden, sind beide kaum zuhause und die Schwiegermutter, wenn doch, mit guten Ratschlägen und altklugen Kommentaren. Auch der seltsame Grossvater ihres Mannes, der mit seinem Grinsen bloss seine Zähne zeigt und zu jeder Tages- und Nachtzeit den Garten giesst, auch wenn es regnet, wird ihr kein Gegenüber.

Hiroko Oyamada «Das Loch», Rowohlt, aus dem Japanischen von Nora Bierich, 2024, 128 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-498-00486-6

Es ist heiss, heisser als in den Sommern zuvor. Nach dem bisschen Haushalt macht Asa Spaziergänge ums Haus, an den wenigen Häusern vorbei bis zum Fluss. Die einzigen, die sich ihr zuzuwenden scheinen, sind die Zikaden. Bis sie im Gebüsch ein schwarzes Tier zu sehen glaubt, ein Tier, weder Hund noch Wolf. Asa folgt dem Rascheln im Gebüsch und stürzt dabei in ein Loch, brusttief gefangen, bis sie eine Nachbarin, die sie bis jetzt nicht kennenlernte, aus der misslichen Lage befreit. Aber warum ein Loch? Warum hatte sie das Gefühl, auf etwas Weichem zu stehen? Fortan scheint nichts mehr so zu sein, wie es im Einerlei der heissen Sommertage war.

Asa lernt hinter ihrem Haus und dem Haus ihrer Schwiegereltern einen noch jungen Mann kennen. Er behauptet, der Bruder ihres Mannes zu sein, obwohl Asa bisher der Überzeugung war, ihr Mann sei Einzelkind. Es war nie die Rede von einem Bruder. Er wohne in dem kleinen Schuppen im Garten, habe sich schon lange von der Welt zurückgezogen und selbst mit seinen Eltern schon lange keinen Kontakte mehr. Ein Hikikimori. Er stellt Fragen, die sie sich nicht einmal selbst gestellt hätte. Und warum weiss sie von diesem Bruder nichts? Warum ein solches Geheimnis? Asa rutscht immer tiefer in die Gegenwart unwirklich scheinender Personen. Eine Nachbarin schenkt ihr seltsame Früchte und auf einem Spaziergang zum Fluss, bei dem sie wieder von diesem seltsam unsichtbaren, schwarzen Tier begleitet wird, trifft sie werneut auf ihren Schwager und eine ganze Meute Kinder, die sich ins Wasser werfen, herumtoben und sich um den Schwager scharen.

Asa traut sich nicht, ihren Mann darauf anzusprechen, schon gar nicht ihre Schwiegereltern. Und als der seltsame Grossvater nach einem Spaziergang viel zu weit weg von seinem Haus an einer Lungenentzündung stirb und man sich im Haus der Schwiegereltern vom Toten verabschiedet, verliert sich Asa mehr und mehr in einer Welt zwischen Sein und Schein.

Hiroko Oyamada erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die in den Traditionen und Konventionen ihrer Heimat gefangen ist. Asa fällt in ein Loch. Und Hiroko Oyamada macht dieses Loch zu einem traumhaften Tripp in ein seltsames Zwischenreich. Asa, die in sich und der Situation gefesslt ist, fällt durch eine Art schwarzes Loch in eine andere Welt, die sich immer und immer wieder als Traumwelt entpuppt. Asa lässt sich treiben, weil es die einzige Möglichkeit ist, dem Zustand der Lethargie und Langeweile zu entfliehen.

„Das Loch“ ist ein vielfach seltsamer Roman. Ein Roman, der mich schwindlig und in meinem Zwang nach Ordnung ratlos macht. Ein seltsames Abenteuer in flirrender Hitze.

Hiroko Oyamada, 1983 in Hiroshima, Japan, geboren, studierte Japanische Sprache und Literatur. Nach ihrem Abschluss arbeitete sie in wechselnden Jobs, u. a. als Aushilfskraft bei einem Autohersteller. Diese Erfahrung diente ihr als Inspiration für ihren Debütoman «Kōjō» (2013; deutsch: «Die Fabrik»), der mit dem Shinchō Prize for New Writers und dem Oda Sakunosuke Prize ausgezeichnet wurde. Für ihren zweiten Roman «Ana» (2013; deutsch: «Das Loch») erhielt sie den Akutagawa-Preis, den wichtigsten Literaturpreis Japans. Ihre Werke wurden bereits in mehrere Sprachen übersetzt, u.a. ins Englische. Hiroko Oyamada lebt mit ihrer Familie in Hiroshima.

Nora Bierich, geboren 1958, hat Philosophie und Japanologie in Berlin und Tokio studiert. Aus dem Japanischen übersetzte sie u. a. Werke von Ōe Kenzaburō und Mishima Yukio. 2019 erhielt sie den japanischen Noma Award for the Translation of Japanese Literature.

Beitragsbild © Shinchosha

Jörg Hartmann «Der Lärm des Lebens», Rowohlt

Schauspielerinnen und Schauspieler, die irgendwann mit dem Schreiben beginnen, gibt es viele. Aber nur ganz selten genügt das Buch auch einem literarischen Anspruch. Auch wenn der überaus erfolgreiche Schauspieler Jörg Hartmann „noch mitten im Leben steht“, ist sein Romandebüt „Der Lärm des Lebens“ zum einen ein Resümee, zum andern eine durchaus pointierte Auseinandersetzung mit den letzten fünf Jahrzehnten deutscher Geschichte.

Mitten in der endlosen Diskussion darüber, wie sehr sich in der Literatur die Fiktion der Geschichte, den (scheinbaren) Fakten bedienen kann, ist eine Auseinandersetzung eines Mannes mit seinem Leben, seinen Nächsten, ganz erfrischend. Auch wenn da im Schreiben ganz unweigerlich die eine oder andere Portion Fiktion in sein Buch hineinrutscht (Das tun alle, wenn sie ihre Geschichte nacherzählen), dreht sich der Roman ganz persönlich um die Frage, was denn wirklich wichtig ist im Leben. Bin ich der, der ich sein soll? Bin ich so, wie ich sein soll? Und bin ich dort, wo ich sein soll?

Jörg Hartmann wächst im Ruhrpott auf, in der Kleinstadt Herdecke, unweit von Dortmund. Und genau davon erzählt Jörg Hartmann in seinem Buch. Ursprung seines Schreibens war die Demenz und der Tod seines Vaters. Das erlebte Wissen darum, wie viele Erinnerungen mit dem Tod eines Menschen unwiederbringlich verloren gehen. Nicht nur jene des Vaters, sondern all jene in der langen Kette davor. Was man alles versäumt hat oder hätte anders machen müssen oder sollen. „Der Lärm des Lebens“ ist eine Reise, jene durch die Kindheit des Erzählers, vom drängenden Wunsch, Schauspieler zu werden, von den vielen Versuchen, sich als Schauspielschüler genau dorthin zu begeben, wo die Epizentren des deutschen Schauspiels zu erobern sind, von den Unzulänglichkeiten und Schwierigkeiten, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen, stets dort zu fehlen, wo es als Mann, Vater oder Sohn nötig wäre, wirklich da zu sein.

Jörg Hartmann «Der Lärm des Lebens», Rowohlt, 2024, 304 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-7371-0198-1

Man rät ihm, dem Schauspieler: „Tu immer nur das, was du verantworten kannst.“ Ein Rat, der ihm in der Art und Weise seines künstlerischen Schaffens zur Maxime wird. Ein Rat, der ihm in seinem Familienleben seine Grenzen zeigt. Eine Tatsache, die all jene kennen, die ihre Lebenszeit an mehrere Pflichten aufzuteilen haben; Familie, Ehe, Beruf, Gesellschaftliches.

Der Erzähler wächst im biederen kleinstädtischen Deutschland auf, geprägt von einem Vater, der als Handballer eine Karriere hinter sich hat, fest verankert im gesellschaftlichen Leben der Kleinstadt ist und nichts mehr erhofft, als dass der Sohn in seine (sportlichen) Fussstapfen tritt. Ein väterlicher Wunsch, den der Sohn durchaus zu erfüllen versucht, aber schon in seinen Anfängen kläglich scheitert. Es muss eine andere Rolle sein, am liebsten die Rolle eines Schauspielers. Und diese Rolle findet der Erzähler nicht in seiner kleinen Stadt. Eine Reise beginnt, eine Reise, in der er sich aber auch von seinem Ursprung entfernt. Auch eine Reise weg von seiner Familie.

Jörg Hartmann nimmt die gesellschaftlichen und politischen Beben Deutschlands mit in seinen Roman; vom Mauerfall bis zur Pandemie. „Der Lärm des Lebens“ ist mit Nichten ein sentimentaler Blick auf die Vergangenheit, ganz im Gegenteil. Jörg Hartmanns Blick ist ein kritischer, zuweilen emotional auch ein ziemlich aufgeladener. Der Blick auf ein lärmiges Leben, dessen Takt mit zunehmendem Alter immer weniger dem eigenen entspricht.

Jörg Hartmann gehört zu den bedeutendsten deutschen Charakterdarstellern. 1969 geboren, wuchs er in Herdecke, im Ruhrpott, auf. Nach seiner Schauspielausbildung und verschiedenen Theaterengagements wurde er 1999 Ensemblemitglied der Berliner Schaubühne. Fernsehproduktionen wie «Weissensee» oder der Dortmund-Tatort, in dem er Kommissar Faber spielt, machten ihn einem breiten Publikum bekannt; im Kino war er etwa in «Wilde Maus» oder zuletzt in «Sonne und Beton» zu sehen. Jörg Hartmann wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Deutschen Fernsehpreis, der Goldenen Kamera und dem Grimme-Preis. Für den Tatort «Du bleibst hier» (2023) schrieb er das Drehbuch. Er hat drei Kinder und lebt mit seiner Familie in Potsdam.

Beitragsbild © Silvia Medina

Szczepan Twardoch «Kälte», Rowohlt

Seit seinem Roman „Morphin“ (2012) gehört Szczepan Twardoch zu den ganz grossen und eigenwilligen Schriftstellern der Gegenwart. In seinen düsteren, beinah apokalyptischen Romanen, die nichts beschönigen und die Abgründe menschlichen Seins mit Tiefenbohrungen bis ins Rückenmark sondieren, keimt wenig Hoffnung. Und gerade deshalb sind Bücher wie sein neuer Roman „Kälte“ existenziell.

„Kälte“ ist nichts für zarte Seelen, keine Erbauungsliteratur, schon gar keine Nachttischlektüre. „Kälte“ fasziniert und schreckt ab, pulverisiert Illusionen, zeigt mit letzter Konsequenz, dass sich Menschsein schlussendlich nur noch auf den letzten Drang zu überleben reduzieren kann – koste es, was es wolle. „Kälte“ ist grosse Literatur, die sich um die grossen Fragen des Lebens dreht: Was bleibt, wenn nichts mehr hält? Was macht Menschsein aus? Gibt es Hoffnung? „Kälte“ ist ein Roman, der in die Knochen fährt, der während des Lesens die Haut erschaudern lässt und zeigt, worin die Kraft der Literatur liegt; in der Berührung.

Konrad Widuch, aus dem schlesischen Polen, reist in den Wirren der russichen Revolution nach Osten, schliesst sich den Trotzkisten an und gründet mit der Revolutionärin Sofie eine Familie, überzeugt davon, Teil einer neuen Weltordnung zu werden. Aber in den Wirren verschiedener Auffassungen von Revolution und dem uneingeschränkten Machtanspruch Stalins zwingt die Zeit Sofie mit den Kindern zur Flucht und Widuch in ein riesiges sibirisches Gulag, einen Ort, über den ich nicht schreiben und dessen Namen ich nicht erwähnen will (Dalstroi). Widuch gelingt mit zwei düsteren Gefährten die Flucht, nicht weil er an eine Rückkehr nach Hause glaubt, aber weil es die einzige Chance ist auf einen letzten Rest Freiheit.

Sczcepan Twardoch «Kälte», Rowohlt, 2024, aus dem Polnischen von Olaf Kühl, 432 Seiten, CHF ca. 37.90, ISBN 978-3-7371-0188-2

Nichts an seiner endlos lange werdenden Flucht ist ein Ankommen. Neben der arktischen Kälte und den Wintermonaten in absoluter Dunkelheit, gepeinigt von Hunger und Krankheiten, findet Widuch mit seinen beiden Gefährten Schutz bei einem weitgehend autark lebenden Taigavolk, wo man ihnen in einer Mischung aus traditioneller Gastfreundschaft und Misstrauen begegnet, sie leben lässt, bis ein Flugzeug aus der Zivilisation die Bedrohung nicht zu Widuch und seinen Gefährten bringt, sondern zur ganzen Siedlung, die abgeschottet vom Weltgeschehen lebt, in einer Ordnung, die einer neuen Weltordnung viel näher kommt als der russische Kommunismus. Nach einem weiteren Blutbad ist Widuch erneut auf der Flucht, am Schluss nur noch auf sich selbst gestellt, bis er im Eis eingeschlossen die Invincible findet, ein Schiff aufs Eis gedrückt und zwei Männer, die auf den Sommer und die Weiterfahrt auf dem Weg zur arktischen Nordostpassage warten. Irgendwann ist Widuch auch auf diesem Schiff allein, wo er mit den Aufzeichnungen seiner langen Reise nach Nirgendwo beginnt, einem Monolog gegen die Einsamkeit, gegen den Wahn.

Jahrzehnte später gelangen diese Aufzeichnungen zu Borghild Moen, die im Sommer 2019 mit ihrer Jacht Isbjørn im Hafen von Pyramiden, einem ehemals sowjetischen Bergbaudörfchen auf Spitzbergen dem Schriftsteller Szczepan Twardoch begegnet, der sich dort eigentlich hätte zurückziehen wollen. Raus aus der Schlinge des Lebens. Borghild gibt Twardoch die Aufzeichnungen zu lesen, nicht nur in der Hoffnung, einen geeigneten Adressaten zu finden, denn Borghild ist unheilbar krank. Die Aufzeichnungen von Konrad Widuch sind die ihres Vaters.

„Kälte“ ist die Hinterlassenschaft eines Hoffnungslosen. Nichts an dieser Geschichte, ausser einer atemberaubenden Kulisse, erinnert an Helden- und Abenteuergeschichten. Konrad Widuch ist kein Held. Er überlebt nur deshalb, weil er sich selbst der Nächste ist, einer der sich in seinen Reflexionen immer wieder vor die Frage gestellt sieht: Bin ich noch ein Mensch? Konrad Widuch erzählt ohne Schalldämpfer, ohne Filter. Seine endlos scheinende Flucht ins Nirgendwo ist ein irriger Überlebenskampf an den Rändern des Erträglichen, sowohl für ihn wie für mich als Leser.

Auch kein Zufall, dass der 2022 in Polen erschienene Roman zeitgleich mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine auf der Bühne erschien. „Kälte“ ist auch eine Abrechnung mit dem Argessor Russland, einem Ungeheuer, das alles frisst und schluckt. Eingebaut in den Roman sind regelrechte Schimpftriaden, in den Mund eines Mannes gelegt, dem jede Hoffnung genommen wurde, der ganz auf sich selbst, sein Überleben zurückgeworfen ist. Geschrieben von einem Schriftsteller, der es nicht scheut, bitter notwendiges Kriegsgerät aus eigener Initiative an die Front zu schicken. Ihr wisst nicht, wie Russland kommt, wenn es kommt. Russland, wenn es kommt, kommt groß, obwohl seine Menschen elend, schwach sind, aber es kommt groß und ist nicht imstande, etwas neben sich zu dulden, was nicht Russland ist, deshalb verwandelt es alles in Russland, versteht ihr, in Russland, das heißt in Scheiße. Damit alles genau solche Scheiße wird wie es selbst.

In seiner ganz eigenen Kraft strotzend!

Szczepan Twardoch, geboren 1979, ist einer der herausragenden Autoren der Gegenwartsliteratur. Mit «Morphin» (2012) gelang ihm der Durchbruch, das Buch wurde mit dem Polityka-Passport-Preis ausgezeichnet, Kritik und Leser waren begeistert. Für den Roman «Drach» wurden Twardoch und sein Übersetzer Olaf Kühl 2016 mit dem Brücke Berlin Preis geehrt, 2019 erhielt Twardoch den Samuel-Bogumil-Linde-Preis. Zuletzt erschienen der hochgelobte Roman «Der Boxer», das Tagebuch «Wale und Nachtfalter» und der Roman «Demut», den die NZZ als «Höhepunkt seines Schreibens» bezeichnete. Szczepan Twardoch lebt mit seiner Familie in Pilchowice/Schlesien.

Olaf Kühl, 1955 geboren, studierte Slawistik, Osteuropäische Geschichte und Zeitgeschichte und arbeitete lange Jahre als Osteuropareferent für die Regierenden Bürgermeister von Berlin. Er ist Autor und einer der wichtigsten Übersetzer aus dem Polnischen und Russischen, u.a. wurde er mit dem Karl-Dedecius-Preis und dem Brücke Berlin-Preis ausgezeichnet. Sein zweiter Roman, «Der wahre Sohn», war 2013 für den Deutschen Buchpreis nominiert.

Rezension von «Das schwarze Königreich» von Szczepan Twardoch auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Paweł Śmiałek

Valery Tscheplanowa «Das Pferd im Brunnen», Rowohlt

Man darf kritisch sein, wenn Schauspielerinnen und Schauspieler Romane schreiben, kann doch ein bereits bekannter Name auf einem Buchcover hilfreich sein, das Buch anzupreisen. Aber bei Valery Tscheplanova muss jeder Vorbehalt über Bord geworfen werden. Ihr Romandebüt „Das Pferd im Brunnen“ ist ein Sprachgeschenk.

Als Valery Tscheplanova 1980 in der sowjetischen Stadt Kasan, 700 Kilometer östlich von Moskau, zur Welt kam, war das zu einer anderen Zeit. Man wähnte sich noch immer in einer langen sowjet-kommunistischen Tradition, war als Individuum Teil eines Kollektivs, eingeteilt, vorbestimmt und stark reglemtiert. Valery Tscheplanova erzählt von den Menschen in dieser Zeit, von den Veränderungen, die über sie und ihre Familie mit dem Zusammenbruch der alten Ordnung hereinbrechen. Valery Tscheplanova erzählt von Walja, einer jungen Frau, die nach Kasan zurückkehrt, um herauszufinden, wer sie ist. Von starken Frauen, Waljas Vorfahren, ihrer Ur- und Grossmutter, ihrer Mutter, den Männern, die meistens nicht da waren, wenn frau sie gebraucht hätten, von einem Leben nicht einmal hundert Jahre von der Gegenwart entfernt, das aus heutiger Sicht beinahe mittelalterlich erscheint, schlicht und in vieler Hinsicht ergeben.

Valery Tscheplanowa «Dąs Pferd im Brunnen», Rowohlt, 2023, 192 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-7371-0184-4

Schlüsselpositionen in dieser farbigen Sprachlandschaft durch die Zeit nehmen Waljas Grossmutter Nina und deren Mutter Tanja ein. Bei Tanja erlebte Walja eine traumschöne Kindheit, eingebetet in die Zuwendung jener Frau und ihre Geschichten, wie jene vom Pferd im Brunnen hinter dem Haus, einem Ort, den Walja in ihrem Spiel immer wieder aufsuchte, oben auf einem Hügel, wo ein paar schwere, modrige Bretter etwas zu verbergen schienen. Eben jenes Pferd. Walja wird von ihrer Urgrossmutter mitgenommen, auf den Spaziergang durch das Dorf, zu all den anderen, meist alleine lebenden Frauen, zu Besuchen, bei denen die Urgrossmutter jene Frauen hiess, sich bäuchlings auf den Boden zu legen und die kleine Walja auf ihre Rücken steigen liess. Für die Frauen eine willkommene Massage der besonderen Art, für die kleine Walja eine erste Erfahrung dessen, wie ungleich es sein kann, worauf man sich bewegt.
Die Urgrossmutter, eine eigenwillige Frau, die Walja heimlich taufen lässt, die ihr Leben lang die eigenen Haare sammelt und damit ihr Totenkissen füllt, so wie sie in einer Truhe Totenhemd und Totenschuhe bereithält.

Ganz anders ihre Grossmutter Nina, eine kleine wirblige Frau, nie zuhause, dauernd auf Achse, laut und verbissen. Eine Frau, die sich ihre Wahrheit selbst zurechtlegt, der die Lüge zu einem Spiel wurde. Sie log sich ihre ungenutzten Möglichkeiten weg, ihre verpassten und erträumten Auswege herbei… sodass sie begann, ihre eigenen Geschichten zu glauben. Eine Frau, der das Weglaufen zum Programm wurde, von der Walja erst spät erfahren sollte, was die Gründe für diese permanente Unruhe waren. Als Nina glaubte, ihre Mutter würde es alleine nicht mehr schaffen, nahm sie sie mit in die Stadt, nach Kasan, um sie schlussendlich in einem kleinen Zimmer einzusperren. Nina, ein Kind des grossen „Vaterländischen Krieges“ musste im Lazarett Böden schrubben und für Verwundete singen. Später selbst Krankenschwester und Mutter, eingespannt in die Pflichen einer berufstätigen Mutter, Teil einer uniformierten Gesellschaft, wurde ihr Ausbrechen immer mehr zur Überlebensstrategie. Eine der vielen Erkenntnisse Waljas bei ihren späten Besuchen an den Orten ihrer Herkunft.

„Das Pferd im Brunnen“ ist eine Sammlung von Bildern, Szenen, die mit grosser Liebe und Empathie nacherzählen, was längst nicht mehr ist. Valery Tscheplanova scheint ganz im Bewusstsein dessen dieses Buch geschrieben zu haben, das alles von innen heraus erzählt werden muss, einem Kern, der sich mit der Zeit verschliesst oder verklärt. Ihre erzählten Bilder sind von grosser Intensität und im krassen Widerspruch dazu, wie Bilder aus jenen Zeiten sonst transportiert werden. Valery Tscheplanova erzählt vom Kleinen, durch das sich das Grosse spiegelt, bis in die Gegenwart, bis in jene Zeiten, in denen Putin der Welt eine neue Ordnung aufzwingen will.
Ich bin schwer beeindruckt von diesem vielversprechenden Romandebüt. Von einer Sprache, die bezaubert, von einem Erzählen, das betört!

Valery Tscheplanowa ist als Schauspielerin an den wichtigsten deutschen Bühnen zu sehen, sie tritt in Kino- und Fernsehfilmen auf und wurde als Buhlschaft im «Jedermann» der Salzburger Festspiele 2019 gefeiert. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Kunstpreis Berlin und als Schauspielerin des Jahres 2017. Geboren 1980 im sowjetischen Kasan, kam sie mit acht Jahren nach Deutschland. «Das Pferd im Brunnen» ist ihr erster Roman. Valery Tscheplanowa lebt in Berlin.

Beitragsbild © Just Loomis

J. O. Morgan «Der Apparat», Rowohlt

Mit jeder Erfindung, jeder Erneuerung geht man davon aus, dass es zum Wohle der Menschheit, für den Fortschritt, zumindest zur Erleichterung des Lebens sein wird. Und selbstverständlich springt ein Grossteil der Menschheit dieser gebotenen Erleichterung auch euphorisch auf; Hauptsache neu, Hauptsache modern. Dass sich eine «bahnbrechende» Erfindung aber auch zum Gegenteil wenden kann, davon erzählt der Roman «Der Apparat» vom Schotten J. O. Morgan.

Sie erinnern sich an die Einführung des ersten Smartphones von Apple? Heute ein Apparat, der nicht mehr aus der Gesellschaft wegzudenken ist. Zum Wohle der Menschheit? Ich weiss nicht. Ob die Strahlungen in den Hosentaschen die Fruchtbarkeit der menschlichen Spezies fördern? Ob der kleine Bildschirm, das dauernde Glotzen in die Dinger die Kommunikation wirklich erleichtert? Was passiert, wenn man dereinst die Dinger nicht mehr an einer Steckdose aufladen kann?
Als das Auto die Strassen eroberte, begann das Zeitalter der scheinbar unbegrenzten Mobilität. Ein Gefährt, das einem zu jeder Zeit an jeden vorstellbaren Ort bringt. Heute kollabieren Städte. Jeder und jede, die sich ein Elektroauto ersteht, fährt mit dem irrigen Glauben, damit etwas für die Umwelt zu tun. Dabei ist jeder bisher gefundene Kraftstoff für Autos endlich. Nur tun wir so, als wären Silizium oder entsprechende Metalle unendlich verfügbar und der Abbau dieser Stoffe für die Umwelt problemlos.

J. O. Morgan «Der Apparat», Rowohlt, 2023, übersetzt von Jan Schönherr, 240 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-498-00302-9

J. O. Morgans Roman spielt in nicht weiter Zukunft. Man erfindet einen Apparat, mit dem man zu Beginn Dinge, später Lebewesen, Menschen, schlussendlich alles zusammen von einem Ort zu einem andern «schicken» kann, anfangs durch ein dickes Kabel, später durch den Äther. Man erinnere sich an Mr. Spock und Captain Kirk, die sich in der TV-Serie «Raumschiff Enterprise» mittels Energie durch den Raum beamen konnten. Eine durchaus verlockende Vorstellung. Keine Vehikel mehr, die Räume verstopfen, keine Einschränkungen mehr in Sachen Distanz.
Zuerst stellt man Menschen kleinere kühlschrankartige Geräte in die Häuser, später werden Menschen von Apparat zu Apparat geschickt, zuerst zu Testzwecken, dann überall. Irgendwann verschwindet die einstige Transportinfrastruktur ganz, weil sie nicht mehr gebraucht wird. Das Leben auf dem Planeten verändert sich durchschlagend. Alles, was sich bewegt, selbst die Beschaffung von Lebensmittel, ist auf diese Apparate angewiesen. Und kaum jemand zweifelt daran, dass es nicht irgendwann und irgendwo Pannen gibt. Was passiert, wenn sich nicht alle Atome und Moleküle in der richtigen Zusammensetzung formieren? Was passiert, wenn Hacker sich an den Apparaten und Verbindungen zu schaffen machen? Was passiert, wenn das System zusammenbricht? Welchen Mächten setzt man sich aus, wenn man sich jedem Fortschritt blindlings verschreibt?

Was sich wie eine Dystopie, ein Zukunftsroman liest, hat längst begonnen. Mit Sicherheit auch ein Grund, warum immer mehr Menschen in ihrem Unwohlsein alle erdenklichen Theorien zusammenbauen, um sich den Zustand der Welt zu erklären. Wir bedienen uns Hilfsmittel, die ebenso undurchschaubar wie unverzichtbar geworden sind. Solange alles reibungslos zu funktionieren scheint, stellen wir uns keinen unbequemen Fragen, obwohl ein Grossteil der Menschen ahnt, dass der Fortschritt wohl nicht immer ein Schritt in eine bessere Welt ist. Um in einen endlosen Abgrund zu stürzen, braucht es auch einen Schritt fort.

«Der Apparat» ist aber nicht nur Schreckensszenario. J. O. Morgan schildert Vorgänge, Geschehnisse und Auswirkungen aus den verschiedensten Perspektiven, unabhängig von Zeit und Ort. Er zwingt mich in eine beklemmende Ausweglosigkeit und unweigerlich in Selbstreflexion darüber, wie weit ich mich schon knebeln und fesseln lasse von Apparaten aller Art. In klarer, bildhafter Sprache erzeugt er eine Stimmung, die mir nach und nach den Atem nimmt.

J. O. Morgan, geboren 1978, wurde für seine Lyrik mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Costa Poetry Award. «Der Apparat» ist sein zweiter Roman, der für den Orwell Prize for Political Fiction nominiert ist. J. O. Morgan lebt in Edinburgh, Schottland.

Jan Schönherr, 1979  geboren, absolvierte nach dem Studium der Philosophie, Soziologie, Politikwissenschaft und Germanistik und einem Auslandsjahr an der Université de Poitiers das Aufbaustudium »Literarisches Übersetzen aus dem Englischen« in München. Seit 2009 ist Schönherr als literarischer Übersetzer aus dem Englischen, Französischen und Italienischen tätig. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Bayerischen Kunstförderpreis und dem Förderpreis der Kunststiftung NRW 2019.

Beitragsbild © Jack Rouncey

Vom Kleinod bis zum Epos – Das Sprachsalz Literaturfestival in Hall im Tirol

Seit mehr als zwei Jahrzehnten organisiert ein Team „unbändig Lesehungriger“ im beschaulichen Hall ein Literaturfestival mit internationaler Ausstrahlung. Für Literaturbegeisterte deshalb ein Abenteuer, weil Hall zu einem Wortmekka wird mit Namen, denen man sonst nur schwer begegnen kann.

Man trifft sich auf der Hotelterrasse oder in der Lobby, mit Sicherheit in einem der Säle während einer Lesung oder auch mal im Lift, oder bei einem Spaziergang durch das mittelalterliche Städtchen: Jan Carson aus Nordirland mit ihrem Roman „Firestarter“ über ein fiebrig, explosives Belfast, in dem die Mauern zwischen „christlicher“ Religionen nicht kleiner geworden sind und Fussball zum Stellvertreterkrieg wird, Dinçer Güçyeter mit seinen Gedichten und dem Buch „Unser Deutschlandmärchen“, mit dem er die Jury des Preises der Leipziger Buchmesse überzeugte, die Österreicherin Waltraud Haas mit ihren lyrischen Miniaturen, die mein Innerstes mitschwingen liessen, Elisabeth R. Hager mit witzig Tiefgründigem aus ihrer Tiroler Herkunft, Wlada Kolosowa, die mit ihrem Debüt „Fliegende Hunde“ das Hungern für den Livestyle demjenigen in Kriegszeiten schmerzvoll gegenüberstellt, Judith Kuckart, die seit mehr als dreissig und mehr als einem Dutzend Bücher ihre LeserInnen stets zu überraschen weiss, Kerstin Preiwuß, die als „Dichterin bis auf die Knochen“ dem Wahrhaften nachspürt oder dem grossen amerikanischen Romancier Stewart O’Nan, der es wie kaum ein zweier versteht, die Enge us-amerikanischer Unfreiheiten zu beschreiben – und anderen mehr.

Waltraud Haas, Sprachsalz © Yves Noir

Zweien aus der Sprachsalz Gästeliste möchte ich ganz speziell nachspüren.
Es sind nicht immer die grossen Namen, die mich in Schwingung versetzen, denen ich mit Ungeduld entgegenfiebere, weil sie mich in ihren Büchern schon seit Jahrzehnten begleiten. Manchmal leitet mich die pure Neugier in eine der Veranstaltungen. Und wenn ich wie bei Waltraud Haas das Glück habe, in einem Zustand der Verzückung aufzugehen, dann hat sich die lange Reise ins Tirol bereits mehr als gelohnt.

im siebzigsten jahr
führe ich mich
innen noch jung
hinters licht

Waltraud Haas «pfeilschnell wie Kolibris», Klever, 2023, 170 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-903110-96-0

Die kleine Frau mit dem knallig roten Hut hat es faustdick hinter den Ohren. Mit messerscharfem Sprachwitz und unbändiger Lust und Freude an ganz locker scheinender Sprachkunst, die mit treffsicherem Humor den aufrechten Gang zum Stolpern bringt, setzt mir die Dichterin Waltraud Haas in ihrem neusten Band „pfeilschnell wie kolibris“ einen Spiegel vor, der sie selbst stets miteinschliesst.

liebst du mich?
ich werde dich immer lieben
das ist gut
sagt sie und geht

Die meist sehr knappen, verknappten Gedichte Waltraud Haas‘ sind, obwohl sie sich der grossen Themen wie Liebe, Schmerz und Tod annimmt, wohl melancholisch aber nie sentimental oder wehleidig. Der Biss in ihren Texten schnappt, ein Luftzug reisst, der Schlag in die Magengrube sitzt. „pfeilschnell wie kolibris“ ist das perfekte Buch sowohl für den Nachttisch (Da sammelt sich Stoff für Träume), das Wartezimmer beim Zahnarzt (nicht schmerzstillend, aber doch narkotisierend) oder für Fahrten in übervollen Zügen (Ihre Gedichte besiegen das Geplapper).

Stewart O’Nan am Sprachsalz-Galaabend © Denis Moergenthaler

Stewart O‘Nans Bücher begleiten mich schon fast drei Jahrzehnte. Einer der Namen, die mich zwingen, stets auf ihrer Spur zu bleiben, die mit ihren Romanen Suchtpotenzial erzeugen und jenen Mythos „American Dream“ mit spitzer Feder demontieren. Stewart O‘Nan beschreibt nicht die auf Hochglanz polierte Gegenwart einer selbstzufriedenen Hight Society, sondern jene Menschen, die als untere Mittelschicht oder Unterschicht von den Privilegien einer Upperclass nicht einmal mehr träumen. Sie sind liegen geblieben, abgehängt und aufgegeben. Sie wohnen in rostigen Pickups, undichten Trailern oder nach Speisefett riechenden Appartements, ernähren sich von Pizzas oder Tiefkühlkost und verlieren schon als Teenager den Traum vom Glück.

Steward O’Nan «Ocean State», Rowohlt, 2022, aus dem Amerikanischen von Thomas Gunkel, 256 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-498-00268-8

In seinem neusten Roman „Ocean State“ erzählt O‘Nan von einer Mutter und ihren zwei Töchtern, von Carol, die sich schon längst vom Vater ihrer beiden Töchter trennte und sich von Mann zu Mann hangelt, ihre Töchter sich selbst überlässt und ihr eigenes Leben immer mehr im Schlick ihres Unvermögens versinken sieht. Von der neunjährigen Marie, die in Selbstzweifeln und Einsamkeit von der Mutter von Wohnort zu Wohnort geschleppt wird. Und von der älteren Tochter Angel, einem tief gefallenen Engel, die mit einer schrecklichen Tat alles mit in den Abgrund zu reissen droht.

Stewart O‘Nans Romane schmerzen, weil sie schonungslos wiedergeben, was in der us-amerikanischen Gosse liegen bleibt. Und wenn einem bewusst wird, wie leicht das, was im Land der unbegrenzten Möglichkeiten wie Schimmel wuchert, bis übers grosse Wasser greift, kann die Lektüre seiner Romane durchaus Bauchschmerzen erzeugen. Aber Literatur soll genau das; nichts verbergen!

Sprachsalz ins Leben!

Waltraud Haas, geboren 1951 in Hainburg/ Donau. Lebt seit 1970 in Wien. Studium der Grafik bzw. Germanistik und Philosophie. Seit 1984 freie Schriftstellerin. Publikationen in Zeitschriften („kolik“ u.a.), Anthologien und im Rundfunk.

Webseite der Autorin 

Stewart O′Nan wurde 1961 in Pittsburgh/Pennsylvania geboren und wuchs in Boston auf. Bevor er Schriftsteller wurde, arbeitete er als Flugzeugingenieur und studierte an der Cornell University Literaturwissenschaft. Für seinen Erstlingsroman «Engel im Schnee» erhielt er 1993 den William-Faulkner-Preis. Stewart O′Nan lebt in Pittsburgh. 

Webseite des Autors

Beitragsbild © Denis Moergenthaler, Sprachsalz

„Mit dem Erbe ging es mir wie allen; eines Tages muss sich jeder darum kümmern.“ Lukas Bärfuss im Literaturhaus Thurgau

Wir haben sie alle, die Kisten, Schachteln, Keller, Boxen, Tresore, in denen wir wegsperren, womit wir uns nicht konfrontieren wollen. Vielleicht ist das Ausschlagen einer Erbschaft bis zu einem gewissen Grad doch nichts anderes, als sich der Vergangenheit nicht stellen zu wollen – oder zu können.

«Meinte nicht Robert Walser, jeder Weg sei ein Heimweg? – So fand ich mich auch in Gottlieben zu Hause, am Rhein, mit dem Blick auf das Ried, wo ich vor vielen Jahren eine Liebe hatte, und an jenem warmen Februarabend auf eine Gemeinschaft von Lesenden traf, im Bodmanhaus, am Ende der Holztreppe. Danke dafür!» Lukas Bärfuss

Das kleine, schmucke Literaturhaus am Seerhein war besetzt bis auf den letzten Platz. Und es war höchste Zeit, dass der Büchnerpreisträger Lukas Bärfuss endlich Gast im Literaturhaus Thurgau wurde. Von Lukas Bärfuss, Romancier, Theaterautor, Regisseur, Essayist und „Kommentator“, Träger der angesehensten Preise und seit 2015 Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung las ich als Allererstes „Hundert Tage“, ein Buch, das bis heute nachhallt. Ein Buch, das sich in meinem Lese- und Bücherbewusstsein eingegraben hat, das mich mehr als neugierig machte auf einen Autor, der sich nicht scheut, zu Themen der Zeit eine dezidierte Meinung zu äussern, selbst dann, wenn er damit aneckt. Seine Vielfältigkeit beweist Lukas Bärfuss mit jedem seiner Bücher aufs Neue. Er wird es auch mit seinem allerneusten, dem Roman „Die Krume Brot“ tun, der diesen Frühling bei Rowohlt erscheinen wird, und einiges an politischer und historischer Schärfe verspricht.

Lukas Bärfuss wurde fünfzig. Vielleicht einer der Gründe für den Autor und Vater, endlich jene eine DelMonte-Bananenschachtel, mit der ganze Generationen in der Schweiz siedelten, die während Jahrzehnten in den verschiedensten Zwischenräumen seines Daseins lagerte, nun endlich zu öffnen. Eine Art Büchse der Pandora. Eine Tür zur Vergangenheit, die sich nicht verschliessen lässt, durch die immer wieder der Wind pfeift.

Ganz zu Beginn seines Essays «Vaters Kiste. Eine Geschichte über das Erben» steht der Satz: „Mit dem Erbe ging es mir wie allen; eines Tages muss sich jeder darum kümmern.“ Eigentlich geht es in seinem Buch um jede Form der Erbschaft, denn alles worin, worauf und wohin wir uns bewegen, ist Erbschaft. Ebenso wie all das, was wir zurücklassen, bis zum Gang aufs Klo. Vor allem der Müll sei das Erbe ohne Erben. Wir hinterlassen zwar, aber es ist uns «scheissegal». Eine Tatsache, die sich schon in der Gegenwart katastrophal auswirkt, mit der wir uns in der Zukunft radikal auseinandersetzen müssen, wenn wir weiterhin Gast auf diesem klein gewordenen Planeten sein wollen.

Lukas Bärfuss erzählt von seinem Vater, den man in seiner Familie als „Schwarzes Schaf“ bezeichnete. Selbst ein solcher Titel ist Erbe, den jede*r ist bis zu einem gewissen Grad Opfer seiner Zeit, Opfer von Konventionen und Regeln, Opfer seiner Herkunft, Opfer seiner selbst. Auch das ist Erbe, das man nicht ausschlagen kann. Lukas Bärfuss schreibt vom «Herkunftswahnsinn». Betrachte man nur die Tatsache, dass Reichtum fast immer bei den Reichen bleibt und sich die Armut wie ein Fluch fortzusetzen scheint. Wie gerne berufen wir uns auf unsere Herkunft, sei sie nun ruhmreich, siegreich oder kampferprobt. Selbst Lukas Bärfuss bewegt sich in seiner Herkunftsblase, einer Blase, der man nicht entfliehen kann.

Weder die Kinder haben ihre Eltern ausgesucht, noch die Eltern ihre Kinder, auch wenn die Zukunft Änderungen verspricht. Zu wie viel Gegenliebe der Nachkommenschaft an ihre Eltern ist man verpflichtet?

Bärfuss› Buch hat auch einen humoristischen Zug: „Deine Welt ist Dir bekannt, und falls du etwas finden solltest, dessen Ursprung du nicht kennst, dann rufst du die Polizei oder die Feuerwehr oder schreibst ein Buch über unbekannte Flugobjekte oder machst auch alles zusammen.“
In Sachen Herkunft machte Darwin einiges erklärbar. Ganz im Gegensatz zur Kirche, die über Jahrhunderte sämtliches Wissen verklärte und instrumentalisierte. Aber so wie wir noch immer in christlich zentrierter Gedankenwelt verhaftet sind, so sehr kettet uns die Darwin’sche Vererbungslehre in Verhaltens- und Gedankenmuster.

Rezension von «Vaters Kiste. Eine Geschichte über das Erben» auf literaturblatt.ch

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Lukas Bärfuss «Vaters Kiste», Rowohlt

Was von Lukas Bärfuss Vater geblieben ist, hatte in einer Del-Monte-Bananenschachtel Platz und fand als Hinterlassenschaft ihre vorläufige Ruhe in den dunklen Ecken der Wohnungen seines Sohnes. Bis es nicht mehr auszuhalten war und der Sohn den Deckel lüften musste. Lukas Bärfuss nimmt mich mit und zeigt, dass Schuldscheine der Vorfahren noch lange nachwirken.

Dass wir uns durchaus von anderen Lebewesen unterscheiden, lässt sich nicht abstreiten, haben wir es doch immerhin geschafft, uns parasitär über den ganzen Globus auszubreiten, wie kein anderes Lebewesen. Aus christlicher Sicht, um uns die Erde untertan zu machen. Was wir bravurös geschafft haben, ohne uns im Klaren darüber zu werden, was es heisst, diesen Globus einem Zweckdenken zu unterwerfen. Ein Unterschied zu allen anderen Lebewesen ist unsere Fähigkeit zu denken. Mag sein, dass diese Fähigkeit das Zeug hat, uns in höhere Sphären zu bringen. Aber ganz offensichtlich bewegen wir uns in unserem Denken in derart vorgespurten Bahnen, ohne das wir uns darüber im Klaren wären, dass von Sphären keine Rede sein kann. Statt dessen graben wir uns immer tiefer hinein in jene Denkmuster, die wir uns in den vergangenen Jahrhunderten angeeignet haben.

Lukas Bärfuss öffnet eine Kiste. Jene mit der Hinterlassenschaft seines Vaters, lange mitgeschleppt, nie geöffnet, als wär es jene der Pandora, eine Bananenkiste voller Papiere, Zeugnisse eines Lebens, das sich nie dem Chaos entwinden konnte. Zeugnisse eines zerrissenen Lebens, eines lebenslangen Scheiterns. Da die meisten Menschen irgendwann an den Punkt kommen, an dem das Bedürfnis nach Ordnung gekoppelt mit den Fragen nach dem Woher und Wohin zum Handeln zwingt, kann man sich dem Ordnen wollen nicht mehr entziehen. Lukas Bärfuss öffnet diese Kiste, diese Schachtel, diese Büchse. Wahrscheinlich auch darum, weil er, nun selbst Vater, sich fragen musste, ob er mit dem damaligen Ausschlagen seines Erbes nur jenen Teil ausschlagen konnte, der sich in eine Bananenkiste wegsperren liess.
Und er öffnet die Kiste mit der Hinterlassenschaft einer Weltanschauung, die uns längst jener Freiheit beraubt, die wir so grossartig feiern, während die Welt im Müll versinkt, in den menschlichen Hinterlassenschaften, im Erbe einer ungebremsten Konsumgesellschaft.

Lukas Bärfuss «Vaters Kiste. Eine Geschichte über das Erben», Rowohlt, 2022, 96 Seiten, CHF 24.90, ISBN 978-3-498-00341-8

Wir erben dauernd. Alles ist Erbe. Wenn ich staubsauge, entsorge ich mein Erbe. Wenn ich spaziere, bewege ich mich auf dem permanent anfallenden Erbe meiner Umgebung. Wenn ich ein Buch lese, ist das nicht anderes als die Erbschaft eines anderen, einer Schriftstellerin, eines Dichters. Darwin hat uns gelehrt, dass wir in einer langen Abfolge von Erbschaft stehen, ein genetischer Code nichts anderes als ein Erbe ist, eines, dass wir nie und nimmer ausschlagen können, dem wir unausweichlich ausgesetzt sind. Darwins Erbe ist, dass wir uns permanent in dieser Abfolge gefangen sehen, bis hinein in gesellschaftliche Phänomene, bei denen Sozialhilfebezügerïnnen wieder solche erschaffen und Erfolgreiche und Reiche ihr Erbe an die nächste Generation weitergeben. Ausnahmen bestätigen die Regel.

Lukas Bärfuss Vater war kein Vater, den man sich wünscht; kaum vorhanden, meist vor sich selbst und dem Gesetz auf der Flucht. Auch die Mutter war keine, die mit liebender und geduldiger Hand den Knaben Lukas an ihre Seite genommen hätte. Der junge Lukas Bärfuss war früh sich selbst überlassen, schien zu Beginn in die Fussstapfen seines Vater zu steigen, war als Jugendlicher obdachlos, fing sich aber, fand Arbeit in einer Buchhandlung und begann früh zu schreiben. Mag sein, dass er das Bild des Aufsteigers, von dem, der aus der Gosse kam, zuweilen etwas strapaziert, auch wenn unklar ist, wie sehr ihn der Kulturbetrieb selbst in diese Rolle drängte.

Lukas Bärfuss denkt. In seinem Essay „Vaters Kiste“ geht es durchaus um die Frage, was und wie weit man von seinen Eltern erbt. Ob man ausschlagen kann oder es eigentlich nur die Frage ist, wie man mit diesem Erbe umgeht. Lukas Bärfuss sieht das Erben aber viel umfassender. Auch unser Denken ist in einer Abfolge von Erbschaften unterworfen. Ist es tatsächlich Naturgesetz, dass wir uns eigentlich unfrei in Erbfolgen ketten lassen, sei es in unserem Denken oder in unserem Tun und Handeln?

Die Veranstaltung im Literaturhaus Thurgau ist AUSVERKAUFT!

Lukas Bärfuss leichtfüssiger Essay zwingt mich zur Reflexion. Und das ist gut so, denn es läge in meiner Verantwortung, mich mehr um meine Hinterlassenschaften zu kümmern. Nicht nur, was an Hinterlassenschaften in meiner Wohnung oder meinen Konten nach meinem Ableben liegenbleibt, sondern was von mir überall zurückgelassen wird, scheinbar entsorgt und beseitigt.

Lukas Bärfuss, geboren 1971 in Thun (Schweiz), ist Dramatiker und Romancier, Essayist und Dramaturg. Seine Stücke werden weltweit gespielt, seine Romane sind in zwanzig Sprachen übersetzt. 2003 wurde er für «Die sexuellen Neurosen unserer Eltern» als bester Nachwuchsdramatiker ausgezeichnet und bekam 2005 den Mülheimer Dramatikerpreis für «Der Bus». Mit «Hagard» stand er 2017 auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse. 2019 wurde Lukas Bärfuss mit dem Georg- Büchner-Preis ausgezeichnet. Zuletzt wurden 2018 «Der Elefantengeist» am Nationaltheater Mannheim, 2020 «Julien – Rot und Schwarz» am Theater Basel und 2021 «Luther» bei den Nibelungenfestspielen Worms uraufgeführt. 2019 erschien «Malinois. Erzählungen», 2021 der Essayband «Die Krone der Schöpfung». Lukas Bärfuss lebt in Zürich.

Webseite des Autors

Illustration © leafrei.com

 

Mareike Fallwickl «Die Wut, die bleibt», Rowohlt

Man könnte auf den Roman „Die Wut, die bleibt“ mit einem Aufkleber „Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie BuchhänderInnen oder RezensentInnen“ warnen. Drei Frauen; eine, die sich in die Tiefe stürzt, eine, die sich aufgibt und eine, die die Faust ballt. Mareike Fallwickls neuer Roman strotzt!

Meist muss ich mich für eine Besprechung, eine Rezension eines Buches gleich nach der Lektüre an die Tasten setzen, damit meine Eindrücke nicht durch neue Leseeindrücke verwischt werden. Bei Mareike Fallwickls neuem Roman „Die Wut, die bleibt“ fiel mir das schwer, weil mir die Autorin mit ihrem Roman einen ordentlichen Schlag versetzte. Nicht nur mit der Einstiegsszene, die auch nach fast 400 Seiten Lektüre nicht verrauchte, sondern mit der Thematik, die unter allen Szenen und Erzählsträngen des Buches liegt: Emanzipation.

Zum einen ist da der noch lange nicht zu Ende ausgefochtene Kampf um gleiche Rechte, ebenbürtige Chancen und eine Gesellschaft, die noch immer nicht alles daran setzt, dass Familienarbeit nicht automatisch zu Ungunsten der Mütter verteilt wird. Zum andern sind es die Zusammenhänge einer noch immer männlich dominierten Sicht auf die Dinge, dass man Weiblichkeit automatisch mit Provokation gleichsetzt und junge Männer weit davon weg sind, ihre Aggressionen, Hormone und Dominanzansprüche in den Griff zu bekommen. Beispiele dafür gibt es in der Politik, in der sogenannte Staatsmänner ihr Machtgehabe auf dem Rücken von Millionen austragen oder in Diskussionen um Genderfragen, wo Aggressionen und Argumente aufkochen, die beweisen, wie unsensibel man(n) noch immer ist, wenn es darum geht Fehler, Schwächen und Missstände einzugestehen.

Mareike Fallwickl «Die Wut, die bleibt», Rowoldt, 2022, 384 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-498-00296-1

Lockdown. Zu Hunderttausenden sind Mütter gezwungen, ihre Kinder zuhause zu lassen, ihnen gar das Spielen auf dem Spielplatz zu verweigern, während die einen Väter Schlafzimmertüren zusperren mit dem Argument, sie hätten zu arbeiten und andere das Weite suchen als Finanzierer der Familie.
Helene sitzt mit ihrer Familie beim Abendessen. „Haben wir kein Salz?“ Nicht einmal eine Bitte. Helene steht auf, geht die drei Schritte bis zur Balkontür und stürzt sich in den Abgrund. Johannes, ihr Mann, Lola, Helenes älteste Tochter und die Kleinen Maxi und Lucius bleiben zurück, geschockt, traumatisiert und aus sämtlichen Selbstverständlichkeiten gerissen.

Weil Helenes Freundin Sarah vom schlechten Gewissen und der Sorge um die drei Kinder getrieben wird, nimmt sie sich ihrer an und verbringt die meiste Zeit an der Seite der Kinder, kocht, putzt, wäscht, streicht Pausenbrote, bringt die Kinder ins Bett, wickelt und tröstet. Sarah und Helene waren Freundinnen seit Kindertagen. Aber im Gegensatz zu Sarah, die sich eine eigenständige Existenz aufbauen konnte, erfolgreiche Krimiautorin wurde, ein Haus kaufte und den Wunsch nach einer eigenen Familie mit zunehmender Ernüchterung schwinden sah, musste Helene ihr Studium schwanger aufgeben, heiratete Johannes und tauchte mit zwei weiteren Kindern in scheinbares Familienglück. Und Johannes, der Witwer? Er nimmt hin, was ist, lebt sein Leben weiter wie in Trance. Vergisst, dass da jemand in der Wohnung hilft, ohne die die Familie zerfallen würde. Akzeptiert mit aller Selbstverständlichkeit, dass sich eine Frau hingibt für eine Frau, die sich hingegeben hat. Und während die Tochter Lola aus der Trauer erwacht, ihre Stimme genauso findet, wie ihre Kraft gegen jegliche Unterdrückung zu rebellieren, selbst im Rudel und hinter schwarzen Masken, wird aus dem aufgeladenen Nebeneinander zwischen Sarah und Helenes Tochter Lola eine Allianz.

Mareike Fallwickl zeichnet starke Frauenfiguren, auch wenn Helene ihren Kampf verloren hat. Johannes der Wittwer und Leon, Sarahs Lebenspartner, der sich mit aller dazugehörigen Selbstverständlichkeit in Sarahs Haus eingenistet hat, sind Prototypen jener Sorte Mann, die sich hinter scheinbaren Zwängen verstecken, die erst erwachen, wenn man sie schüttelt und prügelt. Mag sein, dass man als Mann bei der Lektüre stutzt, dass die Lektüre schmerzt, weil Selbsterkenntnis mitmischt. „Die Wut, die bleibt“ ist nicht nur in seinem Titel kämpferisch. Alles an diesem Roman ist ausgeführt bis zur letzten Konsequenz und macht mit der Keule bewusst, dass unsere Gesellschaft noch lange nicht ist, wo sie sein sollte.

„Die Wut, die bleibt“ ist tatsächlich ein wütendes Buch. Ein Roman, der mir in die Magengrube schlägt. Und doch ein Buch, vor dem ich mich tief verneige!

Mareike Fallwickl, 1983 in Hallein bei Salzburg geboren, arbeitet als freie Autorin und lebt mit ihrer Familie im Salzburger Land. 2018 erschien ihr literarisches Debüt «Dunkelgrün fast schwarz» in der Frankfurter Verlagsanstalt, das für den Österreichischen Buchpreis sowie für das Lieblingsbuch der Unabhängigen nominiert wurde. 2019 folgte der Roman «Das Licht ist hier viel heller«, dessen Filmrechte optioniert wurden. Sie setzt sich auf diversen Bühnen sowie Social-Media-Kanälen für Literaturvermittlung ein, mit Fokus auf weiblichen Erzählstimmen.

Beitragsbild © Gyöngyi Tasi