«Im Meer waren wir nie» ist ein Familienroman, wenn auch nicht Abbild jener klassischen, idealisierten Familie; Vater, Mutter, Kind. Ein Bild, das lange genug alles andere zur Ausnahme, zum Sonderfall machte. Ein Roman über Befreiungsversuche – und eine würdige Nomination zum besten Buch in der Schweizer Literaturlandschaft.
In „Im Meer waren wir nie“ passiert nur wenig. Kein Roman, der sich plottorientiert um Spannung und Unterhaltung bemüht. Nicht dass dieser Roman nicht unterhalten würde. Aber er tut dies auf eine ganz eigene Weise. Es sind die Innenansichten der beschriebenen Personen und ihrer Welten. Es ist die Atmosphäre, die Meral Kureyshi mit viel Feingefühl und Empathie zeichnet. In einer Sprache, die in ihrer Tonalität, ihrer Zerbrechlichkeit genau das widerspiegelt, was die Protagonistinnen auszuhalten haben; ihr Gefangensein in einer Situation, ihre Beinahe-Ausweglosigkeit, dieses Gefühl, nicht dort zu sein, wo die Frauen eigentlich sein wollen.
Die Erzählerin und ihre Freundin aus Kindertagen leben in zwei Wohnungen übereinander. Weil Sophie als alleinerziehende Lehrerin Unterstützung braucht, hat es sich über die Jahre irgendwie ergeben, dass die Erzählerin für Sophies Sohn Eric schaut, wenn seine Mutter nicht da ist, oder keine Kraft mehr hat, sich um ihren Sohn zu kümmern. Eric ist acht, vorlaut und voller Leben.

Und weil die Erzählerin so sehr zur Familie gehört und sich aus Ermangelung einer eigenen, die sich irgendwo zwischen ihrer einstigen Heimat 2000 Kilometer entfernt und der Schweiz verloren hat, ist es für sie selbstverständlich, als man sie bittet, Sophies Grossmutter Lili im Altersheim beizustehen, ihr Gesellschaft zu leisten, sie zu begleiten, ihr vorzulesen. Man bezahlt sie dafür. Sie wird zu einer Stütze in einem filigranen Familiengefüge, aber ebenso zu einer Selbstverständlichkeit. Zu der, die immer Zeit hat, die sich allem stellt, die zum Dreh- und Angelpunkt wird. Auch in ihrer ursprünglichen Familie, denn Nuri, ihre jüngere Schwester zieht vorübergehend bei ihr ein, geflohen aus einem Leben in Bedrängnis.
Lili begleitete vor Jahren ihren pflegebedüftig gewordenen Ehemann Emil ins Altersheim. Als er starb, blieb sie. Und als auch sie immer mehr Hilfe benötigt, aber niemand aus der Familie jene Zeit aufbringen kann, ist die Erzählerin gerade richtig, um jene Rolle einzunehmen. Zwischen Lili und ihr entsteht eine seltsame Beziehung, weder Freundschaft noch etwas wie Verwandtschaft. Genauso die Beziehung zu dem kleinen Eric, der sich ihr gegenüber ebenso ablehnend wie Nähe suchend zeigen kann. Auch die Freundschaft zu Sophie, Erics Mutter, ist eine andere geworden oder die Beziehung zu ihrer jüngeren Schwester Nuri. Es sind alles Beziehungen in der Schwebe. Nicht zuletzt darum, weil in allen Beziehungen Unausgesprochenes liegt, Geheimnisse, die nach Klärung rufen.
Die Erzählerin weiss, dass sie ihnen allen sagen muss, dass sie eine Stelle weit weg gefunden hat. Lili schleppt eine Schachtel mit Briefen mit sich herum, Zeugnisse einer alten Liebe, von der sie ihrer treuen Begleitung nur häppchenweise erzählt. Sophie von einer Beziehung, einem neuen Mann an ihrer Seite. Und Lilis Leben gibt mehr als deutliche Signale, dass es nicht mehr lange dauern würde, dass es Dinge gibt, die ausgesprochen und noch getan werden müssten.
Meral Kureyshis Roman beschreibt einen Typus Familie, der immer mehr dem entspricht, was bleibt, wenn aus Träumen und Erwartungen nicht wird, was hätte werden sollen. Familien, aus denen sich die Männer in ganz unterschiedlicher Art und Weise entfernen, die Pflichten aber an den Frauen hängen bleiben. „Im Meer waren wir nie“ beschreibt Frauen, deren Lebensentwürfe sich in der Maschinerie der Realitäten verheddern. Sei es Lili, die statt ihrer Liebe die Sicherheit wählt und nie darüber hinwegkommt, seien es Sophie und ihre Mutter, die sich ein Stück Freiheit erkaufen, in dem sie eine bezahlte Begleitung engagieren. Sei es die Erzählerin selbst, die erst mit Lilis Tod den letzten Schritt aus dem Hamsterrad schafft.
Beeindruckend an diesem Roman ist die Sprache, die Kunst der Schriftstellerin, aus unglaublicher Nähe jene Welt zu zeichnen, aus der es fast kein Entkommen gibt. Bilder, die mit wenigen Sätzen ganze Geschichten öffnen. Sätze, die in ihrer Poesie nachhallen. Kein Roman der lauten Töne, dafür einer tiefen Wärme!
Meral Kureyshi, geboren 1983 in Prizren, kam 1992 mit ihrer Familie in die Schweiz und lebt in Bern. Sie studierte Literatur und Germanistik und arbeitet als freie Autorin. Ihr erster Roman «Elefanten im Garten» war nominiert für den Schweizer Buchpreis, wurde mehrfach ausgezeichnet und in viele Sprachen übersetzt. Ihr zweiter Roman «Fünf Jahreszeiten» wurde im Manuskript ausgezeichnet mit dem Literaturpreis «Das zweite Buch» der Marianne und Curt Dienemann-Stiftung. 2020 wurde sie zu den Tagen der Deutschsprachigen Literatur nach Klagenfurt eingeladen (Bachmannpreis). Für «Im Meer waren wir nie» erhielt sie 2025 einen Literaturpreis des Kantons Bern.
Illustrationen © Lea Le / literaturblatt.ch


Vielleicht muss ich ganz persönlich auf die Frage antworten, was gute Literatur zumindest für mich sein kann: Sie muss mich fesseln. Sie muss mich überraschen. Sie muss mich in irgend einer Form provozieren. Sie muss in mir einen Nachhall erzeugen, muss sich in mir festhaken. Der Sound muss musikalisch sein. Ich soll bewegt werden… Ich könnte die Liste noch weiterführen, ohne je den Anspruch zu haben, eine solche Liste habe Allgemeingültigkeit. Robert Walser wurde wie Franz Kafka zu Lebzeiten nur von wenigen beachtet und geschätzt, am wenigsten vom Buchmarkt. Oder umgekehrt; Kennen sie John Knittel? Der Schweizer Schriftsteller war zu Lebzeiten sehr erfolgreich, starb 1970. Heute kennt ihn kaum mehr jemand. Vergessen. Kennen sie Ruth Blum? Die Schaffhauserin starb 1975. Ich kaufte alle ihre Bücher in Antiquariaten und war hell begeistert. Vergessen. Noch so eine lange Liste.
Das beste Buch! Warum ist unter den Nominierten nicht „Sommerschatten“ von Urs Faes? Oder „Walzer für niemand“ von Sophie Hunger? Oder „Sechzehn Monate“ von Fabia Andina? Hört die Schweiz an den Sprachgrenzen auf?Schweizer Buchpreis? Oder „die spinne“ von Eva Maria Leuenberger? Warum nicht einmal Lyrik in der Liste der Nominierten? Weil man der Lyrik kein Scheinwerferlicht zutraut? Weil sich damit keine Verkaufszahlen generieren? (Hut ab vor allen Verlagen, die sich noch immer tapfer trauen, Lyrik zu drucken!) Die Liste jener Bücher, die es auch verdient hätten, wird mit der Intensität des Lesens nicht kürzer. Auch das Unverständnis über diese Versäumnisse. Zudem muss man wissen, dass sich etliche Grössen der hiesigen Literatur durch ihre Verlage gar nicht mehr zur Wahl stellen wollen.
Immerhin stehen für einmal keine Debüts in der Liste. Wie soll ein Debüt eine Chance haben neben einem Buch eines literarischen Schwergewichts? Und Schwergewichte sind in der Liste der Nominierten sehr wohl vertreten: Mit Sicherheit die erst 40jährige Dorothee Elmiger, die mit ihrem Roman „Die Holländerinnen“ auch in der Shortlist zum Deutschen Buchpreis steht. Und zweifelsohne Jonas Lüscher. Meral Kureyshi schaffte es mit ihrem Debüt „Elefanten im Garten“ vor 10 Jahren auf die Liste der Nominierten und gilt seither als wichtige Stimme der CH-Literatur. Von Melara Mvogdobo las ich vor ein paar Jahren ihr Debüt „Von den fünf Schwestern, die auszogen, ihren Vater zu ermorden“ und konnte mich nicht wirklich begeistern lassen, genauso wie vom
Debüt „Anton will bleiben“ von Nelio Biedermann. Dass ihre Folgeromane von ganz anderer Qualität sind, darüber lässt sich streiten, zumal „Lásár“ in einer Weise gehypt wurde und wird, die jede Verhältnismässigkeit vermissen lässt.

Mathilda ist ein kleines Mädchen. Ihr alleinerziehender Vater stirbt. Und obwohl Mathilda vom schwulen Bruder ihres Vaters liebevoll aufgenommen wird, dort auch ihre Trauer ein Zuhause findet, veranlassen Ämter, dass Lucía, Mathildes Mutter in Mexiko, die bisher keine Rolle spielte, Mathilda zu sich nach Mexiko nimmt. Welten zerbrechen, nicht nur die von Mathilda, auch jene ihres Onkels Tobias. Regula Portillo las aus ihrem feinfühligen Roman «
Drei miteinander und ineinander verwobene Geschichten, die Flüchtlingskrise in Berlin. Alle Figuren in Daniel Mezgers Roman «Alles außer ich» sind in Fluchtbewegung, wenn auch nicht aus Kriegsgebieten, dann mit Sicherheit vor sich selbst. Von einem Mann, der aus seiner Bedeutungslosigkeit ausbrechen will, einem Durchschnittsmeier, der nicht nur Hans Meier heisst, sondern die Verkörperung dieses Namens ist.
Tintenfische in Wasserflaschen, Krabben in Folie, Libellen in einer Schachtel, Quallen plattgedrückt in einer Metalldose. Giuliano Musio tut mit Lust, was Schriftsteller dürfen und sollen; erfinden, lügen. So weit, dass Bern ein Buch lang auch mal am Meer liegen kann. Giuliano Musios Roman «Wirbellos» ist eine Mischung aus Realität und Surrealität, die zeigt wie lustvoll man in die Irre geführt werden kann. «Wirbellos» ist Literatur mit viel Rückgrat!

nder und später die Enkelkinder. Und dann lernt sie Félix kennen. Es ist Liebe auf den ersten Blick, Marthes erste große Liebe. Félix, der Maler ist und noch einmal zehn Jahre älter, wirbelt ihr Leben völlig durcheinander. 600000 Leserinnen und Leser und in Solothurn bei der ersten Lesung unter der Mittagssonne etwas mehr als 20 Aufmerksame. Die Schriftstellerin war so nervös, als wäre sie kurz vor ihrer ersten Verabredung. Im Publikum sass auch Uli Wittman, der Übersetzer und Lebenspartner der Autorin, der neben Noëlle Châtelet andere Grosse ins Deutsche übersetzt: Le Clézio, Michel Houellebecq.
Kamikaze Mozart erzählt von Fumika, einer japanischen Musikstudentin in Berkeley, die sich in den Schweizer Physiker Wolfgang verliebt, der im Team von Robert Oppenheimer an der Atombombe baut. In Japan hat ihre Familie für sie einen Mann bestimmt, den sie noch nie gesehen hat und der Kamikaze-Anwärter bei der Luftwaffe ist. Nach dem Überfall der Japaner auf Pearl Harbor wird Fumika mit den andern 130 000 «feindlichen Elementen» interniert. In der Wüste von Santa Fe, wo die Internierten beim Bau von Wolfgangs Reaktor eingesetzt werden, sehen sie sich wieder. Wolfgang hat sich inzwischen ganz in den Dienst der «Bombe gegen die Nazis» gestellt, und die Liebe zu einer «Feindin» bringt ihn jetzt in Schwierigkeiten. Schreiben sei wie das Handeln mit Dynamit.
hres bisherigen Lebens auf, reist nach Prizren. Erinnerungen an ihre idyllische Kindheit in der osmanisch geprägten Stadt, die sie im Alter von zehn Jahren mit ihrer Familie verlassen musste, drängen machtvoll in ihre Schweizer Gegenwart. Aber die Welt ihrer Kindheit findet sie nicht wieder in Prizren, und auch sie selbst hat sich verändert. Sie sucht einen Platz in ihrem neuen Land, der neuen Sprache. Die Unselbstständigkeit ihrer einsamen Mutter erträgt sie nur schlecht und mit jedem neuen deutschen Wort wächst die Entfernung zu ihr. Während die Mutter sich zunehmend isoliert, versucht die Erzählerin dem Stillstand zu entkommen.