Helena Adler «Fretten», Jung und Jung

Ich musste während der Lektüre von „Fretten“ immer wieder einmal Luft holen. Helena Adler hat sich auch mit ihrem neuen Roman in einen Rausch geschrieben. Ein Rausch, der mich einsaugt und mich in Sphären trägt, die mich trunken machen. Die Schreibe der Salzburgerin ist wie ein Meteorit; sie schlägt ein und wenn man ihren Kern zu fassen bekommt, schillert er!

Sie schreibt. Aber ihr Schreiben ist anders! Man muss diesen Funkelstein nicht gegen das Licht halten. Er leuchtet von selbst. Sie spielt mit der Sprache in einer Virtuosität, der man in dieser Intensität und Kunstfertigkeit nur ganz selten begegnet. Kann gut sein, dass da etwas zu wachsen beginnt, das dereinst alles andere überstrahlen wird. Dabei ist ihre Sprache längst mächtig genug, dass ich mich als Schreibender in Ehrfurcht verneige. 2020 war Helena Alder mit ihrem Zweitling „Die Infantin trägt den Scheitel links“ in der Shortlist des Österreichischen und der Longlist des Deutschen Buchpreises – und nun 2022 bereits wieder in der Shortlist des Österreichischen Buchpreises. Als ob die Jury noch einmal nachdoppelt – und nun, als logische Konsequenz, der Autorin den Buchpreis ihres Landes zuspricht.

„Wir tanzen um die Wette, und ich tanze um mein Leben. Wir tanzen dem Tod durch die Lappen, denn solange wir tanzen, passiert uns nichts.“

Helena Adler klärt ganz zu Beginn des Buches: fret/ten (süddeutsch / österreichisch) sich abmühen, sich plagen, mühsam über die Runden kommen, sich aufreiben, sich wundreiben.
„Fretten“ ist als Roman die Fortsetzung von „Die Infantin trägt den Scheitel links“. In seiner Art noch zorniger, noch stärker, noch konsequenter. Aus dem Mädchen ist eine junge Frau geworden, die in ihrem Sein, ihrer Wahrnehmung, ihrem Erleben in krassem Gegensatz zu dem steht, was die geranienbehängten Bauernhöfe, die schmucken Kapellen und das saftige Grün mit den schmucken Hügeln und Bergen sonst als Idyll hergeben müssen. 

Helena Adler «Fretten», Jung und Jung, 2022, 192 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-99027-271-8

Eigentlich will sie nur weg; weg aus der Fassade, weg aus der Umklammerung von Geschichte und Gegenwart, der Unausweichlichkeit, der Selbstverständlichkeit des Immer-schon-so-Gewesenen. Am liebsten weg aus dem Kaff in die Stadt, auch wenn das Provinznest in der Nähe in nichts der grossen Freiheit entspricht, in die sie sich verbal verabschieden will. Sie, die schon auf einer versifften Rückbank einer Schrottkarre zur Welt kam. Sie schliesst sich als Wilde mit anderen zusammen, streift durch die Gegend, tut all das, wovon sie weiss, dass man es nicht tun sollte, zieht bandenmässig in der Provinzstadt herum. Sie brechen in Villen ein oder auch mal in einen Schlachthof, um die Fleischseiten vom Dach auf jene zu schmeissen, die mit Abendrobe zum Sehen-und-Gesehenwerden pilgern. Sie sind unentwegt auf der Suche, ohne ein Ziel. Sie passen nirgends hin und nirgends hinein, es ist ihnen zuwider, sich einzufügen und unterzuordnen. Rebellion ist Prinzip. Man wiegelt sich auf, ohne zu wissen wohin, wo hinaus. Sie will aus der Hexenküche, auch wenn sie keine Ahnung hat, wo ein Ausweg sein sollte. Die Erzählerin hext selbst. Es fühlt sich an, als wäre die ganze Welt längst zerbrochen und wir die Scherben, die niemand aufsammeln will.

Bis sie schwanger wird, ein Kind bekommt. Bis alles in ihr die Richtung wechselt, nur die Intensität nicht. Bis ihr Blick, der sonst immer nach aussen gerichtet war, mit einem Mal ganz nach innen gerichtet wird. Bis aus der Störerin, der Zerstörerin eine Beschützerin wird, während mich Demut überfällt. Eine noch nie dagewesene Demut, eine abhandengekommene Demut, die ich im Laufe der Jahre aus Trotz gegenüber jeglicher Vergänglichkeit abgelegt hatte… Alles, was zuvor auf Abwehr, Rebellion und Ablehnung eingestellt war, wird zu einem weichen, schützenden Schal um die empfindsame Existenz des Kindes.

„Die Distanz zum Mond ist lächerlich, gemessen an der Liebe zu dir.“

Die Kraft ihrer Sätze, ihrer Bilder ist das eine. Das andere die Melodie, die Musik, laut, kraftvoll, als wäre das Erzählblut mit gedopt, als würde beim Lesen der eigene Puls unmerklich schneller werden. Helena Adler sprüht vor Lust und Witz, vor Spielfreude und Fabulierkunst. Und nichts ist gekünstelt. Helena Adlers Sprache ist ihr ganz eigener, absolut solitärer Sound. Eine Sprachmusik, die unverkennbar nur die ihrige ist. Ich kann nicht behaupten, dass sich aus der Sprache allein heraushören würde, wer sie „spielt“. Bei Helena Adler kann man es! Da wird Wut und Zorn zu ästhetischer Kraft.

Ironie des Moments: Ich las „Fretten“ in einem Zisterzienserkloster. In einer Klause um den Tisch herumschreitend, laut lesend, vorbei an Heiligenbildern und dem gestrengen Blick in Öl gemalter Kirchenmänner. Diesen Roman, der durchsetzt ist mit katholischen Fragmenten aus Psalmen und Gebeten! „Fretten“ ist sprachliche Offenbarung! Man lese und staune!

Interview

Dein ganz eigener Ton, den Du in Deinem Roman anschlägst, steht durchaus in einer österreichischen Tradition. Eine Tradition, die ich so nicht in der Schweizer Literatur der letzten Jahrzehnte herausgehört hätte. Diese Mischung aus ungezügelter Leidenschaft, überbordender Fabulierlust und Wut. Ist das ein letzter Rest Aufbäumen gegen monarchische Obrigkeitsergebenheit?
Was genau das ist, weiss ich selbst nicht. Letzter Rest? Auf keinen Fall. Das ist doch erst der Beginn. Aber ein Aufbäumen, ein Trotz, ein Widerstand: ja, zweifellos. Gegen bestehende Umstände, gegen Borniertheit, gegen Obrigkeitshörigkeit, gegen Intoleranz. Gegen Kapitalismus. Gegen Arschlöcher und scheussliche Wichte, die selbst wie die Made im Speck leben und sich über andere Menschen erheben, vor allem über jene, die unter widrigen Umständen versuchen zu überleben. 

aus dem Atelier der Schriftstellerin und Malerin

„fretten“ ist ein Verb und bedeutet „sich abmühen, sich plagen, mühsam über die Runden kommen, sich aufreiben, sich wundreiben“. Das erklärst Du auch in Deinem Roman. Inhaltlich passt das Verb genau zur Protagonistin. Aber auch zu Dir und Deinem Schreiben? Es scheint, als wäre Deine Art der Sprache, des Schreibens eine sehr musikalische, verbunden mit viel Lust und Freude (auch wenn ich weiss, dass Schreiben harte Arbeit sein kann).
Fretten passt zu mir wie mein finsteres Gesicht zu meinem fiesen Lacher. Für mich ist das ganze Leben ein einziges Gfrett. Ein Passionsweg. Ein ständiges «Sichabmühen und Durchwursteln, ein Über-Abhänge-hangeln, ein unentwegtes Luftanhalten, eine Aneinanderreihung von Augen-zu-und-durch-Momenten, ein andauerndes Aushalten, Überwinden und Fortschreiten ohne Rast. Ob es zu meinem Schreiben passt, das ist eine andere Frage. Es passt in Teilen zu meinem Schreibprozess. In Phasen, in denen es mir nicht gut geht. Da kann ich nämlich nicht schreiben und verzweifle darüber. Dann muss ich mich wieder selbst am Haarschopf aus dem Morast ziehen und von vorne beginnen. Aber dann, wenn es mich packt, bin ich woanders. Dann bin ich Teil des Babylonischen Gartens, blühe dort als Passionsblume und trinke das Wasser aus dem Euphrat.   

Man sieht sie überall in ihrem schwarzen Look, farbigen Haaren, genietet und gepierct. Es scheint immer mehr, dass die Gesellschaft in Gruppen zerfällt, die sich gegenseitig nichts zu sagen haben. Gut, wenn ein Roman wie „Blutbuch“ von Kim de l’Horizon den Deutschen Buchpreis erhellt und LeserInnen Welten öffnet. Wieviel „Aufklärung“ und „Wachrütteln“ steckt im Schreiben, in Deinem Schreiben?
Das kann ich nicht beurteilen. Den Anspruch auf Aufklärung erhebe ich keinesfalls. Aber freilich ist es ein Wunsch andere Welten zu eröffnen.  

Deine Protagonistin wird schwanger, bekommt ein Kind. Mit einem Mal verändern sich die Perspektiven dieses Lebens in permanentem Aufruhr vollständig. Eine Erfahrung die wohl alle Eltern machen, Mütter mit Sicherheit mehr als Väter. Du bist auch Mutter. Waren das Erfahrungen, die Du auf Deine ganz eigene Art so verschriftlichen musstest?
Manche Rezensenten sehen in «Fretten» eine Fortführung der «Infantin» und ich frage mich, ob ihnen nicht aufgefallen ist, dass sich die Sprache verändert hat. Für mich sind es zwei unterschiedliche Werke, die sich maximal in der Kindheit überschneiden, vielleicht was den Inhalt betrifft. Doch der Kern liegt anderswo, und zwar in der Mutterschaft. Und dafür wollte ich eine eigene Sprache erschaffen, die meiner Empfindung am nächsten kommt. Darüber wurde noch viel zu wenig geschrieben, darüber wollte ich schonungslos und ehrlich sein, aber auch all die Liebe hineinstopfen, die ich für mein Kind empfinde. Auch, wenn meine Mutterliebe das übersteigt, was ich imstande bin, auszudrücken. 

aus dem Atelier der Schriftstellerin und Malerin

Neben dem Schreiben bist Du auch bildende Künstlerin. Deine Romane sind Literatur gewordene Klangbilder. Was unterscheidet Dein Malen von Deinem Schreiben? 
Beides passiert vor allem über ein Gefühl. Frei assoziativ. Das Schreiben geht viel über Klang. Beides ist sehr innwendig. Allerdings bin ich durchs Schreiben ausgelaugter, es entspricht mehr meiner Königsdisziplin. Das Schreiben verlangt mehr ab, hinter der Leinwand kann ich mich besser verstecken. Beim Schreiben bin ich viel ausgesetzter. Das Schreiben ist mein Hirn und Herz, das Malen mein Körper. Vielleicht. 

Schreibende MalerInnen und malende SchriftstellerInnen haben Tradition. Braucht das eine das andere?
Nicht notwendigerweise. In meinem Fall empfinde ich es als Bereicherung. Ich bin Autorin und ich bin auch Künstlerin. In erster Linie aber profitiere ich von meinem inneren Reichtum an Bildern, ich kann jederzeit einen Spaziergang durch meine innwendige Gemäldegalerien antreten, andererseits übersetze ich manchmal durchaus auch Geschriebenes in Skizzen.

Helena Adler, geboren 1983 in Oberndorf bei Salzburg in einem Opel Kadett, lebt als Autorin und Künstlerin in der Nähe von Salzburg. Studium der Malerei am Mozarteum sowie Psychologie und Philosophie an der Universität Salzburg. Mit ihrem Debüt «Die Infantin» war sie auf der Shortlist des Österreichischen und auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2020.

Rezension zu «Die Infantin» auf literaturblatt.ch

Beitragsfoto © Eva Trifft

Ludwig Fels «Mondbeben», Jung und Jung

Ludwig Fels starb am 11. Januar dieses Jahres in Wien. Wie gerne hätte ich den Schriftsteller kennengelernt. Wie gerne hätte ich ihm zu seinem letzten Roman gratuliert, der noch vor seinem Tod bei Jung und Jung erschien. Denn „Mondbeben“ ist starke Literatur, stark in seiner Sprache, stark in seiner Konstruktion, stark in seiner Geschichte!

Angesichts seiner 75 Lebensjahre hätte ich Zeit genug gehabt, den Autor zu entdecken, sowohl für seiner erzählerisches Werk wie auch für seine Lyrik. Aber ich habe ihn zu meinem grossen Bedauern versäumt, habe die Einladung nie angenommen und schäme mich fast ein bisschen. Jetzt, nach der Lektüre von „Mondbeben“, einem Roman, dessen Lektüre in mir auch eine Art Beben auslöste, ergebe ich mich dem Konjunktiv, gestehe mein Versäumnis ein und werde posthum nachholen, was in meiner „Bibliothek der Grossen“ noch fehlt.

Ludwig Fels debütierte 27jährig mit seinem Gedichtband „Anläufe“, zwei Jahre später mit seinem ersten Roman „Die Sünden der Armut“. Etwas, was den Autor durch all die Jahrzehnte ausmachte, war seine Wucht und seine Wut in einer Sprache, einem Erzählen, das sich nicht zurückhält. Keine selbstzerstörerische Kraft, aber eine Energie, die sich auch in seinem letzten Roman unmittelbar in mir als Leser fortsetzt, eine Wut über schiere Ungerechtigkeit und die Unausweichlichkeit des Schlechten. Ludwig Fels beschreibt den Kampf, das Aufbäumen von Menschen, die gefangen sind in Vergangenheit und Gegenwart. Keinen Gutmensch, kein Helden, Menschen, die sich glücklos zu wehren versuchen.

Ludwig Fels «Mondbeben», Jung und Jung, 2020, 320 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-99027-241-1

Olav Ostrander wird nach seiner Haft erwartet. Von seiner Frau, wegen der er für Jahre im Knast auf die Freiheit wartete, auf ein neues Leben, eine zweite Chance. In seinem alten Leben war Olav eine Art Schuldeneintreiber. Nicht von der netten, freundlichen Art, sondern um die Schuldner daran zu erinnern, dass es kein Entrinnen, kein Vergessen, kein Umgehen gibt. Ein Schuldeneintreiber, der auch nicht davon zurückschreckt, Forderungen mit Gewalt durchzusetzen. Im Knast war Olav aber wegen ganz anderem. Er sah im Haus gegenüber einen Mann, der seine Frau verprügelte, hetzte nach drüben, brach in die fremde Wohnung ein und verprügelte den Mann windelweich, den Mann jener Frau, die er Monate später im Gefängnis heiratete.

Olav und Helen wollen neu beginnen, auf Zifere Island, der Insel der Inseln, irgendwo vor der Afrikanischen Küste. Dort fand Helen in einem Prospekt der Hidden Pearl Resort Company eine zum Verkauf ausgeschriebene Villa, nicht weit vom Meer. Ein Haus, das sie mit dem kleinen Vermögen bezahlen konnte, das sie geerbt hatte, das ihnen beiden ein neues Leben schenken, der Beginn einer Neuzeit werden sollte, an einem Ort, der im Prospekt wie ein Paradies anmutet. Aber das Abenteuer gerät schon im ersten Hotel, in dem sie nach dem Flug absteigen, in Schieflache, weil das Paar mit einer Prostituierten in Streit gerät und Helen über dem Auge ernsthaft verletzt wird. Aber auch Olav zieht eine Spur hinter sich her, denn seit einiger Zeit mischt sich Blut in seinen Urin. Irgendwann stehen sie mit dubiosen Vermittlern in dem Haus mit Pool, einem grossen, leeren Haus, eingezäunt, nicht weit vom Meer, das nur über Schutt- und Abfallhalden erreichbar ist. Statt nun endlich das neue Kapitel in ihrem Leben beginnen zu können, werden die Tage zu einem Spiessrutenlauf zwischen Kliniken, Arzt, Taxen und den kleinen Nischen, in denen sie jene Ruhe suchen, die sie sich gegenseitig versprachen. Zu allem Unglück versinkt das Land in gewaltsamen Auseinandersetzungen, einem blutigen Putschversuch und Helen und Olav in den Machenschaften eines korrupten Polizeiapparats und den Fängen einer eigentlichen Immobilienmafia. Olav, der Mann, der einstmals vor nichts zurückschreckte, um zu holen, was befohlen war, wird zum Spielball eines unseligen Kampfes um Macht, Geld und den eigenen Vorteil. Es beginnt ein Wettlauf, der nicht zu gewinnen ist.

„Mondbeben“ zieht mich als Leser in ein Geschehen, dem ich nicht entsagen kann. Der Roman zieht mich in einen Strudel, der mich erzittern lässt, der das Beben in mir fortsetzt. „Mondbeben“ ist ein Roman, der mich in meinen Grundfesten erschüttert, mich förmlich demütig macht, in all den Privilegien, in denen ich mich mit aller Selbstverständlichkeit bewege. Und „Mondbeben“ ist einer jener Romane, die in seiner Stimmlage, ihrem Sound genau dem entsprechen, was Geschichte, Kulisse und Hintergründe zeigen wollen.

Sackstark!

Ludwig Fels, geboren 1946 in Treuchtlingen (Franken), gestorben am 11. Januar 2021 in Wien. Seit 1973 frei­beruflicher Schrift­steller. 1983 Über­siedlung nach Wien. Zahlreiche Publi­kationen, Gedichte, Romane, Hörspiele und Theater­stücke. Lebte bis zu seinem Tod in Wien. Auszeichnungen unter anderem: Leonce-und-Lena-Preis, Hans-Fallada-Preis, Kranichsteiner Literaturpreis und Wolfgang-Koeppen-Preis. Ludwig Fels debütierte 1973 mit dem Lyrikband «Anläufe» bei Luchterhand. Nach weiteren Lyrikbänden und dem Prosaband «Mein Land» folgte 1981 der Roman «Ein Unding der Liebe». Mehrere Monate hielt sich der Titel auf Platz 1 der SWR-Bestenliste. 1988 wurde das Buch verfilmt (ZDF). Zuletzt erschienen der Roman «Die Parks von Palilula» (2009) und der Gedichtband «Egal wo das Ende der Welt liegt» (2010) bei Jung und Jung.

Beitragsbild © Aleksandra Pawloff

Nadine Schneider «Wohin ich immer gehe», Jung und Jung

Der Schatten bleibt! Man kann sich noch so verzweifelt, entschlossen oder verbissen von ihm zu trennen versuchen; er bleibt. So auch der Schatten in der Geschichte, in der eigenen Geschichte. Nadine Schneider beschreibt einen solchen Versuch, alles hinter sich zu lassen, auch den Schatten.

Johannes ist über die Donau geschwommen, im Dunkeln, weg aus dem Ceaușescu-Rumänien. Endlich, nachdem er sich Monate darauf vorbereitet hatte. Er schafft es, klettert nach ausgestandener Todesangst aus den Fluten und klettert ans Ufer, in ein neues Land, ein neues Leben. Aber schon die Flucht wollte nicht sein, wie sie erdacht war, denn Johannes wollte die Flucht nicht alleine antreten. David hätte ihn begleiten sollen. Sein Freund David, mit dem er so lange das Schwimmen trainiert hatte, mit dem er hätte neu beginnen wollen.

Johannes schafft es im neuen Land, beginnt ein neues Leben, findet Freunde, findet Giulia, die ihm Familie gibt, findet eine Arbeit und Einkommen und irgendwann sogar einen Ausbildungsplatz als Hörhilfeakustiker, nachdem er seine als Tischler begonnene Lehre in Rumänien nicht abgeschlossen hatte. 

Es ist ein neues Leben, auch wenn er dort genauso wenig den Tritt findet, eine Heimat, jene Geborgenheit, nach der er sich sehnt, wie an dem Ort, den er damals verlassen hatte.

Nadine Scheider «Wohin ich immer gehe», Jung und Jung, 2021, 234 Seiten, CHF 31.90, ISBN 978-3-99027-256-5

Als ihn nach Jahren, nach der Wende in Rumänien, die Nachricht erreicht, dass sein Vater gestorben sei, dass man ihn zur Beerdigung erwarte, fährt Johannes mit Giulias Auto zurück in das alte Land. Ein Land, das nicht auf ihn wartet, zurück in ein Land, das sich äusserlich kaum veränderte und sich doch unsäglich von ihm entfremdete. Zurück in das Land, das seinen grossen Schmerz verursachte und eine offene Wunde nie schliessen liess, denn Johannes hat nie erfahren, was aus seinem Freund David geworden ist. Warum er damals nicht mit über den Fluss geschwommen war. Warum er ihn verloren hatte. Dieses Geheimnis, das er wie einen unverdauten Kloss mit sich herumschleppt, eine Mischung aus Schmerz, Enttäuschung, Schuld und Trauer.

Was er in Rumänien antrifft, ist jenes Leben, das er hinter sich lassen wollte. All die Ur- und Vorurteile, all die Gewissheiten, die keine sind, seine alte Rolle, die wie eine Kette um seinen Hals hing. Seine Mutter ist noch da, aber auch die Verletzung einer Verlassenen. Verlassen von Johannes und verlassen vom toten Ehemann. Damals war die Flucht auch eine Flucht vor der Familie, weil sie ahnte, dass Johannes ein Geheimnis mit sich herumtrug, das in der Gesellschaft und schon gar nicht im Dorf Platz hatte. David wohnte im gleichen Dorf, im Haus mit dem abgestorbenen Baum davor. David war Johannes Freund. Sie waren sich nah, sehr nah, so nah, dass daraus eine Liebe wurde, die unmöglich war und nur Platz bekommen konnte, wenn sie auf der anderen Seite des Flusses ein neues Leben begonnen hätten.

Als Johannes zurück an den Ort seiner Kindheit und Jugend kommt, hat sich vordergründig kaum etwas verändert. Auch in seiner Familie. Nur dahinter, hinter den Fassaden, ist alles anders geworden – und eben auch sein Blick auf diese Welt, denn David ist weg, wie ausgelöscht.

Kein Wunder fallen mit dem Namen Nadine Schneider auch jene ihrer grossen Schreibschwestern; Herta Müller und Iris Wolff. Nadine Schneider schreibt mit einem grossen Gefühl für die richtige Nähe zu ihrem Personal und der Deutlichkeit ihres Erzählens. Nadine Schneider ist keine Chronistin. Sie mäandert in den Innenansichten ihrer Protagonist:innen, leuchtet nur so viel aus, dass das Geschehen in diesigem Licht bleibt, geheimnisverwoben und -verklebt wie die die Welt der Protagonist:innen selbst.

Nach ihrem vielgelobten Debüt „Drei Kilometer“ ist „Wohin ich immer gehe“ ein grosses Versprechen in die Zukunft!

Nadine Schneider, geboren 1990 in Nürnberg, lebt in Berlin. Ihr erster Roman «Drei Kilometer» (2019) wurde unter anderem mit dem Hermann Hesse Förderpreis und dem Literaturpreis der Stadt Fulda ausgezeichnet. 2021 las sie auf beim Ingeborg-Bachmann-Preis. «Wohin ich immer gehe» ist ihr zweiter Roman.
Nadine Schneider studierte Musikwissenschaft und Germanistik in Regensburg, Cremona und Berlin. Berufliche Stationen führten sie unter anderem an die Komische Oper und an die Vaganten Bühne Berlin. Derzeit arbeitet sie für den Bundeswettbewerb Gesang.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Laurin Gutwin

Eva Schmidt «Die Welt gegenüber», Erzählungen, Jung und Jung

Eva Schmidt ist eine feine Beobachterin. „Die Welt gegenüber“ ist ihre Welt, von der sie betroffen ist, in die sie sich auf die ihr ganz eigene Weise einmischt; zurückhaltend, behutsam und doch ganz unmittelbar. Ihr erster Erzählband ist ein Genuss, sowohl sprachlich wie auch in der Unaufgeregtheit ihrer Geschichten.

Ich unterstelle der Autorin, dass sie mit ihren Geschichten nichts zeigen, nichts offenbaren und schon gar keine Moral verpacken will. Und doch blickt Eva Schmidt auf eine Welt, die den Schmerz mit einschliesst. Den Schmerz, es geschehen lassen zu müssen. Selten haben mich Erzählungen derart bewegt, wie jene von Eva Schmidt. Nicht nur weil sie sorgsam, unspektakulär und gradlinig aufgebaut sind, sondern weil sie sich in eine beinahe feinstoffliche Ebene hineinwagen. Weil Eva Schmidts Sprache genau ihren Bildern, ihrer Figurenzeichnung entspricht. Sie füllt ihr Personal nicht aus, sondern zeichnet das Darumherum und schafft es so, dass Konturen klar und überdeutlich hervortreten.

Eva Schmidt «Die Welt gegenüber», Erzählungen, Jung und Jung, 2021, 224 Seiten CHF 31.90, ISBN 978-3-99027-250-3

Da ist eine ältere Frau, die seit dem Tod ihres Mannes und ihrer Pensionierung als Krankenschwester allein in einem Haus lebt. Ins Haus nebenan zieht eine Familie, ziemlich plötzlich, weil der Hausrat der Vorbewohner noch nicht einmal aus dem Haus geschafft ist. Eine Familie mit zwei Kindern. Eine Familie, über die man sich freuen könnte, wäre da nicht schon vom ersten Tag weg das Gefühl, dass diese in Schieflache geraten ist. Ein Mann, der noch unbedingt vor Ferienschluss ein riesiges Loch im Garten graben muss, eine Frau, die einen abwesenden Eindruck hinterlässt, eine halbwüchsige Tochter, die sich ganz offensichtlich an ihre Familie gekettet fühlt und ein jüngerer Bruder, den sie trotz mehrerer Anläufe nicht zu erreichen versteht. Was sich über Tage und Wochen in unausgesprochener Ahnung abzeichnet, passiert auch eines Nachts. Und obwohl die ältere Frau noch aus ihrer Berufszeit stets einen Notfallkoffer im Haus bereitstehen hat, kann sie nicht helfen.

Oder Falk, ein älterer Schauspieler, der im Haus einer alleinstehenden Frau ein Zimmer findet, aber als Mann im Haus unscheinbar und zurückgezogen bleibt. Bis aus der Situation doch Nähe entsteht und die beiden mit einem Mal zusammen in einem Auto Richtung Norden sitzen, dorthin, wo Falk einst herkam und ein Ferienhaus besitzt. Bis der Frau klar wird, dass es eine Abschiedsreise werden wird, denn Falk ist krank, sehr krank. Was für die Frau zu einem Anfang wird, wird für den Mann zu einem Abschluss.

Oder von dem Gärtner, der in einem Wohnwagen auf einem Dauercampingplatz wohnt und in einem Tankstellenshop bei einem Kaffeeautomaten eine junge Frau mit einer Tasche kennenlernt. Eine Frau, die eine Bleibe für die nächste Nacht sucht und dann bleibt. Für wie lange, weiss der Mann nicht. Und weil sich das Leben des Mannes in seiner Gleichförmigkeit eingependelt hatte und er mit der jungen Frau unweigerlich wieder zu hoffen wagt, lässt er die Frau gewähren, lässt sie im Wohnwagen bei seinem Hund zurück und hofft jeden Abend, dass sie noch da sein werde. Bis ihn seine Gutgläubigkeit, seine naiven Hoffnungen strafen.

Wer noch kein Buch der Schriftstellerin Eva Schmidt gelesen hat und sich mit „Die Welt gegenüber“ auf die Meisterschaft der Vorarlbergerin einlässt, wird mit Sicherheit noch mehr von ihr lesen wollen!

Eva Schmidt, geboren 1952, lebt in Bregenz, Österreich. Sie hat neben Erzählungen in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften vier Bücher veröffentlicht. Mit ihrem Erstling erhielt sie diverse Stipendien und Literaturpreise, u.a. den Nachwuchspreis zum Bremer Literaturpreis (1986), den Rauriser Literaturpreis (1986), den Hermann-Hesse-Förderpreis (1988) und den Nicolas-Born-Preis (1989). «Ein langes Jahr» (2016) war ihr erstes Buch seit fast 20 Jahren.

Rezension von «Die untalentierte Lügnerin» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © privat

Helena Adler «Die Infantin trägt den Scheitel links», Jung und Jung, Gastbeitrag «Konzepte»

Die Österreicherin Helena Adler beherrscht die Kunst der Übertreibung wie weiland der Grossmeister des Grants, Thomas Bernhard. Sie verwandelt eines seiner Lieblingsthemen, die Verkommenheit des Landlebens, in ein Sprachkunstwerk zwischen katholischer Klagelitanei und brachialem Punksong.

Wutrede aus der „Misthaufenresidenz“
Gastrezension von Christian Lorenz Müller

Biobauernhöfe haben ein gutes Image. Anstelle von Gülle und Kunstdünger lässt krümeliger Mist das Gras und das Getreide spriessen; den Kühen wird nicht zwei Mal am Tag ein Protein-Burger aus brasilianischem Soja vorgesetzt, sondern gesundes Vollkorn-Heu von der artenreichen Wiese hinter dem Haus. Die ländliche Idylle ist in den Köpfen der Stadtbevölkerung längst wieder komplett – auch in Salzburg. Dort zerschmetterte in den 1970er Jahren Franz Innerhofer das Bild vom beschaulich-friedlichen Landleben. Der Bergbauernsohn war vom eigenen Vater über Jahre hinweg als Arbeitssklave missbraucht worden; seine stark autobiographisch geprägten Romane zeichnen nach, wie er sich unter grössten Mühen einen Weg aus einer sprach- und fühllosen Familie bahnt, wie er zum Schriftsteller wird, und, von der literarischen Welt tief enttäuscht, schliesslich wieder verstummt. 

Nun hat ein anderes Bauernkind aus Salzburg einen Roman über das Aufwachsen auf dem Land vorgelegt. Helena Adler, Jahrgang 1983, stammt von einem biologisch bewirtschafteten Betrieb, der hoffentlich nicht in allem das Vorbild für den Hof abgegeben hat, den sie beschreibt. Allein schon die Figuren in ihrem provokanten Text sind allesamt zum Fürchten: Zuvorderst das „wilde Vatertier“, das zwar „lieb zu seinen Kindern“ ist, ansonsten aber „alle anderen auffrisst.“ Kurz vor Weihnachten fährt dieses Vieh mit seinem Nachwuchs in die nahe Stadt, kauft auf dem Christkindlmarkt Halbedelsteine, an deren Heilkraft es glaubt, und pöbelt ein paar Minuten später im Dom gegen die katholische Kirche. Die Mutter hingegen, eine Person von „abgründiger Fürstlichkeit“, füllt die Opferstöcke der Gotteshäuser mit einem Geld, das die Familie nicht hat. So überschuldet ist das Anwesen, dass erst ein Blitzeinschlag Erleichterung bringt: Der Stall brennt ab und die Versicherung zahlt. Der Vater hat wieder die Mittel für seine Ausflüge in einschlägige Spelunken und Hurenhäuser, von denen er manchmal erst nach Tagen übel zugerichtet zurückkommt. Und dann gibt es noch die Grosseltern und die Urgrosseltern, und es gibt die älteren Schwestern, Zwillinge, die sich „ihr Erbgut, ihr Hirn und die Jausenbrote“ teilen. Dass sie die Ich-Erzählerin einmal in die Selchkammer einsperren und ihr weismachen, sie werde bald „ganz schwarz“ aussehen „wie der alte Speck“, gehört noch zu den minderen Gemeinheiten, die sie ihr im Lauf der Jahre antun. 

„Der Herrgott in der Ecke am Kreuz streckt die Arme aus, seine Knie schlottern. Meine Zähne klappern. Nicht mehr lange, dann wird er herunterfallen. Wer beschützt mich dann vor den Raubschwestern?“

Es geht also denkbar derb und direkt zu in Adlers Roman. Dementsprechend ist auch die Sprache, sie packt sofort zu, sie zerrt die LeserInnen hinein in eine Welt, in der sich gegen das Beherrschtwerden nur wehren kann, wer kräftige Fäuste hat oder eine – wie man in Salzburg sagt – g‘schnappige Goschen. Die Hände der Erzählerin sind baybyweich wie Pfoten, also bleibt ihr nichts anderes übrig, als Widerworte zu geben. Wohl auch deswegen gerät „Die Infantin trägt den Scheitel links“ über weite Strecken zu einer kunstvollen Wut- und Verteidigungsrede, die immer wieder überrascht, verblüfft und verstört. Adler schwingt sich auf ihre Sprache wie auf einen Traktor, sie tritt das Gaspedal durch und brettert sicher durch schwieriges, literarisch eigentlich längst abgeschriebenes Gelände: Durch das sanft sich dahinhügelnde Katholische zum Beispiel, durch das Bitten und Beten und Psalmodieren; durch tiefe Wälder voller Jäger- und Wildererdramen und einmal sogar über die rauen, kalten Hochebenen körperlicher Arbeit, in der ein knapper Realismus herrscht.

Allerdings geht es fast immer mit Höllenradau dahin, was meistens Vergnügen macht, nach den ersten furiosen Kapiteln aber auch enerviert. Etwas vom Gas zu gehen oder den Traktor auch einmal im Leerlauf vor sich hinbullern zu lassen, hätte vor allen Dingen den Figuren gutgetan. Nur selten stolpern sie nicht schrill und überzeichnet durch die Seiten, nur selten gelangen sie kurz zu sich selbst, ehe wieder Vollgas gegeben wird und der thrashige Traktorritt weitergeht. Was steht hinter dem brutalen Gehabe des Vaters, hinter der Herrschsucht der Urgrossmutter, den Bosheiten der Zwillinge? Ist all die brachial inszenierte Wut, sind die Häme, die Verachtung der Hauptfigur vielleicht nur Fassade? Erst gegen Ende des Romans, als der Hof verkauft und die Kühe von ihrem Erzfeind, dem Fleischwolf gefressen worden sind, bringt die Autorin das erste Mal die Familiengeschichte ins Spiel, versucht, so etwas wie ein Innenleben ihrer Figuren zu rekonstruieren: 

„Er erzählt von der erdrückenden Liebe seiner Mutter. Idealisiert den Vater, der mit dem Auto im Suff einen Offizier getötet hat und dafür ins Gefängnis musste, als er, mein Vater, gerade sechs Jahre alt war.“

Derartige Sätze tragen nicht wirklich dazu bei, die Bestien vom Bauernhof nachträglich zu Menschen zu machen. Dass über ihre verschütteten Ängste, ihre unterdrückten Sehnsüchte kaum etwas zu erahnen ist, unterscheidet „Die Infantin trägt den Scheitel links“ grundlegend von Debütromanen zum gleichen Thema, zum Beispiel von Reinhard Kaiser-Mühleckers „Der lange Gang über die Stationen“ oder von Franz Innerhofers „Schöne Tage“. Trotzdem wird klar, dass das Grosswerden auf einer „Misthaufenresidenz“ über die Jahrzehnte nicht eben leichter geworden ist. Auch das Aufkommen der Biolandwirtschaft hat daran nichts geändert.

© Eva-Maria Mrazek

Helena Adler, geboren 1983 in Oberndorf bei Salzburg in einem Opel Kadett, lebt als Autorin und Künstlerin in der Nähe von Salzburg. Studium der Malerei am Mozarteum sowie Psychologie und Philosophie an der Universität Salzburg. Diverse Ausstellungen und Kunstaktionen, Veröffentlichungen in Anthologien und Literaturzeitschriften.

Diese Rezension ist eine Kooperation zwischen der Literaturzeitschrift «Konzepte» und literaturblatt.ch!

Die Konzepte erscheinen einmal jährlich und versammeln auf bis zu 180 Seiten Texte arrivierter sowie erstklassiger junger Autorinnen und Autoren. Lyrik und Prosa, Essays, Hörspiele und Rezensionen. In jeder Ausgabe werden Arbeiten von bildenden Künstlern oder Fotografen präsentiert.

Werke von bereits etablierten Autorinnen und Autoren stehen neben bislang unbekannten Stimmen. Damit ermöglichen die Konzepte den Zugang zu unterschiedlichen sprachlichen Ebenen und weisen den Weg für junge Schriftstellerinnen und Schriftsteller. „Jung“ bezieht sich hier weniger auf das Alter, sondern vielmehr auf das „zu festigende Standbein“ neuer Autorinnen und Autoren.

Seit nun schon dreissig Jahren erweisen sich die Konzepte als „Entdeckerquelle“ für schriftstellerische Debüts. Viele der hier erstmals vorgestellten Autorinnen und Autoren sind aus der zeitgenössischen Literaturszene inzwischen nicht mehr wegzudenken. Die Konzepte begleiteten den Weg zahlreicher wichtiger literarischer Stimmen, so z.B. Tanja Dückers, Joachim Zelter, Jan Wagner, Kurt Drawert, Ulrike Draesner, Nico Bleutge, Mirko Bonné, Norbert Hummelt, Marion Poschmann, Björn Kuhligk. Mit den jüngsten Ausgaben der Konzepte zeigt sich verstärkt das Interesse bekannter Dichter, neue Werke in der Zeitschrift vorzustellen, so z.B.  Günter Herburger, Jürgen Brôcan oder José F.A. Oliver.

Die Chefredaktion hatte von 1999 bis 2003 Markus Orths inne. 2003 übergab er die redaktionelle Verantwortung an die Lyrikerin Christine Langer (Findelgesichter, Jazz in den Wolken, Verlag Klöpfer & Meyer). Seit 2015 wird sie von Christian Lorenz Müller (Wilde Jagd, Roman, Hoffmann und Campe) unterstützt.

Hier bestellen Sie die einmal jährlich erscheinende Literatur-Zeitschrift Konzepte.

Beitragsbild © evatrifft.com

Lorenz Langenegger «Stoffe», Plattform Gegenzauber

Stoffe finden ist die einfachste Sache der Welt. Sie liegen überall herum. Sie lächeln einem aus der Zeitung entgegen. Sie flimmern über Bildschirme. Stoffe wollen gefunden werden. Ich habe keine Ahnung, weshalb sich das Märchen von den Stoffen, die sich in den hintersten und letzten Winkel verstecken, so hartnäckig hält.

Natürlich ist es immer der Schriftsteller, der den Stoff finden muss. Stoffe finden keine Schriftsteller. Das liegt daran, dass sich Schriftsteller in der Öffentlichkeit gerne unauffällig benehmen, durch die Strassen gehen, wie normale Menschen, einkaufen, was alle kaufen, lesen, was alle lesen. Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Stoff. Es bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als sich so hübsch wie möglich zu präsentieren, damit ein vorbeigehender Schriftsteller auf Sie aufmerksam wird. Denn woher wollen Sie wissen, wer von den Vorbeigehenden ein Schriftsteller ist.

Stoffe finden ist kein Problem. Viel schwieriger ist der Umgang mit einem Stoff. Haben Sie einen Stoff für gut befunden und mit nach Hause genommen, bildet er sich schnell etwas darauf ein. Stoffe sind ganz schön eitel und alles andere als pflegeleicht. Der grösste Fehler, den Sie machen können, ist, dem Stoff alles zu geben, was er will. Gehen Sie von Anfang an intensiv auf den Stoff ein, verwandelt sich der gleiche Stoff, den sie eben noch in einem schmutzigen Hinterhof zwischen Abfalleimern gefunden haben, in ein grössenwahnsinniges Ungetüm, weil er sich für unersetzlich hält. Das Wesen des Stoffes neigt zum Grössenwahn. Das muss man leider sagen. Arbeiten Sie also nie mit nur einem Stoff. Nehmen Sie von verschiedenen Stoffen, so viel Sie brauchen, aber nie von einem einzigen so viel, dass Sie ohne ihn nicht mehr auskommen. Das spürt ein Stoff sofort. Und ist es erst so weit, macht er Ihnen die Arbeit zur Hölle. Er geht Ihnen nicht mehr aus dem Sinn. Er bestimmt Ihre Gedanken und Handlungen. Er führt Sie an Orte, wo Sie nie im Leben hin wollten.
Ein Schriftsteller darf die Kontrolle über seinen Stoff nicht verlieren, weil sich der Stoff ansonsten entfaltet, wie es ihm passt und nicht wie es der Schriftsteller vorgesehen hat. Und Stoffe sind keine guten Erzähler, das kann ich Ihnen versichern, dazu sie sind viel zu selbstsüchtig.

Mindestens ebenso wichtig, wie der richtige Umgang mit einem Stoff, ist es für den Schriftsteller, die richtigen Stoffe auszusuchen. Die Stoffe, die zu ihm passen. Was selbstverständlich und banal daherkommt, ist alles andere als eine einfache Angelegenheit. Seit Mitte des letzten Jahrhunderts lässt sich ein exponential ansteigendes Stoffwachstum beobachten. Von Schriftstellerverbänden anfangs begrüsst, werden schon seit einigen Jahren kritische Stimmen laut, die sich gegen den unkontrollierten Stoffwachstum erheben. Die Stoffe haben im ständigen Konkurrenzkampf mit ihresgleichen inzwischen derart geschickte Strategien der Tarnung und Täuschung entwickelt, dass selbst gestandene Schriftsteller nicht davor gefeit sind, daneben zu greifen und einen oberflächlichen Stoff, der sich nur geschickt genug verkleidet, für einen Jahrhundertstoff zu halten. Gerade jungen Schriftstellern sei es deshalb ans Herz gelegt, sich nicht von vermeintlich grossen Stoffen blenden zu lassen, sondern sich kleine, feine Stoffe auszusuchen, mit denen sie umgehen können.

Lorenz Langenegger lebt und schreibt in Zürich und Wien. Davor einige Semester Theater- und Politikwissenschaft an der Universität Bern. Mitglied der Autören. Verschiedene Arbeiten fürs Theater mit Uraufführungen in Zürich, Mannheim und Berlin. Bei Jung und Jung in Salzburg erscheint im Frühjahr 2009 der erste Roman «Hier im Regen». 2014 erschien «Bei 30 Grad im Schatten» und 2019 der Roman «Jahr ohne Winter.

Beitragsbild © Richard Obermayr

Florjan Lipuš «Schotter», Jung und Jung

«Schotter» ist keine Geschichte, aber erzählte Geschichte. «Schotter» ist lautes Denken darüber, was Vergessen und Verdrängung anrichten kann, wenn Leiden und Erinnerung zum Permaschmerz werden. «Schotter» verlangt von Leserinnen und Lesern genauso viel ab, wie es Florjan Lipuš Überlebensfrage ist, sich zu erinnern.

Florjan Lipuš musste als Kind mitansehen, wie seine Mutter wie eine Kriminelle verhaftet und abgeführt wurde, weil sie als Partisanen verkleidete Gestapomänner bewirtete, während Florjans Vater in der deutschen Wehrmacht Kriegsdienst leistete. Florjan Lipuš Urtrauma, über das er in allen seinen Büchern auf die eine oder andere Weise schreibt. Sein erster Identitätsverlust, aber längst nicht sein letzter, weil er dort geblieben ist, an der Grenze der Sprachen, der Sprachgrenze zwischen Deutsch und Slowenisch, an der Grenze zwischen Vergessen und Bewahren, an einer Grenze, an der sich noch immer unüberwindbare Gräben ziehen, Gräben in denen Hass und Verblendung mottet, Hass, der sich bis in die Gegenwart manifestiert und Lipuš befürchtet, dass die Zeit jene Wunden nicht heilt.

Überall finden Gedenkmärsche statt «gegen das Vergessen». So auch diesen Frühling in Klagenfurt, der Hauptstadt Kärntens, jenen zum Gedenken, die am 29. April 1943 wegen angeblichen Hochverrats nach einem Schnellgericht hingerichtet wurden, darunter Bewohner jenes Ortes, in dem Florjan Lipuš aufwuchs. Dabei sind die Motive jener, die daran teilnehmen ganz verschieden; von tiefem Verlustschmerz über Angehörige oder Freunde bis zur reinen Neugier. Was macht dieses Gedenken mit einem Dorf, in dem jeder jeden kennt? – Und Florjan Lipuš kennt sein Dorf, ein Dorf, das wie viele andere damals mitten in den Wirren des Krieges steckte, eines Krieges, der im Mai 1945 nicht einfach aufhörte wie ein lang andauerndes Unwetter.

Florjan Lipuš entlarvt das verräterische Grinsen jener, die mit dem Ausspruch «Alles wird gut» jede Woge glätten, jede Tiefe füllen, jede Untiefe verbergen. Aus «Schotter» schreit die Angst, dass nichts besser wird, dass die Geschichte keinen Anlass zur Hoffnung gibt, dass das Böse aus der Vergangenheit in der Gegenwart verschwinden würde. Es versickert in den Schottersteinen zwischen den Baracken, in denen Frauen wie seine Mutter gemartert und gequält wurden. Doch was versickert, ist nicht weg, nur verborgen, mottet und fault im Untergrund weiter.

Gibt es eine angemessene Form des Erinnerns? Genügt ein Augenblick, eine Denkpause, ein Gedenkmarsch, der sich nur wenig in das Leben des Einzelnen einmischt? Ich spüre in den Sätzen dieses Buches den ungestillten Schmerz, das ewig scheinende Wehklagen darüber, dass gewisse Verletzungen durch nichts getilgt werden können. Im Gegenteil. Die Angst vor versuchter Tilgung potenziert den Schmerz.

Florjan Lipuš schreibt mit spitzem Bleistift gegen das Vergessen, schreibt von Hand auf Papier, gegen das Flüchtige, das Ungefähre, gegen das Oberflächliche. Als würde sich die Spur seines Bleistiftes durch das Papier hindurch in die Seelen seiner Leserinnen und Leser graben, einer Sorte Mensch, denen Achtsamkeit mehr als nur Modewort ist, die Bücher wie Schätze mit sich herumtragen, auch wenn der Edelstein von dunkler, lichtschluckender Farbe ist. Er leidet mit den Frauen, die seine Mütter waren, den Frauen, denen man alles Grauen auferlegte, die keine Chance hatten, ihm zu entrinnen.

Ein kleines Interview mit Florjan Lipuš:

Es sind immer die gleichen oder ähnlichen Themen, um die sich ihr Schreiben bemüht. Fühlen Sie sich manchmal nicht als Gefangener?
Als Gefangener fühlt man sich als Kärntner Slowene in mancherlei Hinsicht, allein schon wegen der Sprache und der Reaktion der Öffentlichkeit auf sie, durch familiäre Verhältnisse, durch persönliche Entscheidungen, durch die man sich freiwillig in die Gefangenschaft begibt. Auch das Dorf nimmt einen gefangen.

Sie schreiben in „Schotter“ über „das Dorf“, mit Sicherheit über ihr Dorf, in dem Sie schon seit Jahrzehnten leben. Hat sich das Verhältnis zwischen Ihnen und dem Dorf und umgekehrt in all den Jahren verändert?
Es hat sich stark zum Schlechten verändert. Mein Verhältnis zum Dorf hat sich sicher verschlechtert und umgekehrt auch.

Der Krieg, die Gewalt sitzt sitzt wie ein unsterblicher Virus in den Genen der Menschen. Ist die Hoffnung auf „Frieden“ Augenwischerei? Vor allem jetzt, wo sich eigentlich die ganze Kraft der Menschheit hin zum Klimaschutz bündeln müsste?
Hier sind Berufenere aufgerufen, für vernünftige und brauchbare Lösungen zu sorgen.

Sie waren einmal Lehrer. Stünden Sie vor einer Schar junger Lehrerinnen und Lehrer, was würden Sie ihnen ganz besonders ans Herz legen?
Als Lehrer fühlte ich mich ganz und gar und in jeder Hinsicht für die mir anvertrauten Kinder verantwortlich, aber ich würde nie Erwachsenen irgendwelche Ratschläge erteilen. Ich fände es anmassend, meinen Mitmenschen irgendetwas ans Herz zu legen.

Ich weiss, dass Sie mit Bleistift schreiben. Eine fast zärtliche Geste angesichts der Wucht, die in Ihrer Sprache liegt. Im Gegensatz zur Lebensspur lässt sich jene eines Bleistifts radieren. Liegt darin der Reiz solchen Schreibens?
Der Bleistift hat für mich nur einen Sinn, nämlich Bleistift zu sein, einfach und praktisch. Und radiert wird auf meinen Blättern überhaupt nicht, sondern durchgestrichen und neu formuliert. So kann es sein, dass ein Satz dann im Buch eine halbe Seite oder einige Millimeter Bleistift verbraucht hat.

Manuskriptseite, vom Autor zur Verfügung gestellt © Florjan Lipuš

«Schotter» ist Mahnmal. «Schotter» ist Denk-mal!

Florjan Lipuš, geboren 1937 in Kärnten, lebt in Sele/Sielach, Unterkärnten. Er veröffentlicht auf Slowenisch Romane, Prosa, Essays, szenische Texte. Mehrere seiner Bücher erschienen in deutscher Ubersetzung. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen: Petrarca-Preis 2011, Franz-Nabl-Preis 2013 und Grosser Österreichischer Staatspreis 2018.

Der Übersetzer Johann Strutz, geboren 1949, lebt als Literaturwissenschaftler und Übersetzer in Ruden/Ruda, Kärnten. 2011 erhielt er den Österreichischen Staatspreis für Literarische Übersetzer.

Rezension von Florjan Lipuš «Seelenruhig» auf literaturblatt.ch

«Ich schreibe, um mich selbst zu retten» literaturblatt.ch vom 17. 11. 2017

«Wenn sich Grösse in der Enge fast verliert» Florjan Lipuš erhält den Österreichischen Staatspreis 2018

Beitragsbild © Sandra Kottonau

17. Internationale Literaturtage Sprachsalz in Hall in Tirol: «Der letzte Mensch»

Im Foyer schob sich die Menge immer näher an die Tür des grossen Saals. So still und leise die einen, so aufwühlend die anderen Lesungen, manchmal schon bevor sie beginnen. Wie jene der Nobelpreisträgerin Herta Müller, die die Auswirkungen jener Ehrung in Stockholm wohl gerne ungeschehen machen würde, um etwas von dem zurückzugewinnen, was sie mit dem grossen Preis verlor.

So herausfordern und beglückend für den Veranstalter, so schwierig für die Erwartete. Namen wie Herta Müller mobilisieren BesucherInnen, die sonst kaum zu locken sind. Und ist die Lesung vorüber, zieht Ruhe und Beschaulichkeit ein. Dabei verbergen sich hinter den Namen jener, die ohne Spektakel die Bühne betreten, die grossen Namen von morgen.
So sollte man sich Philipp Weiss merken, der mit seinem fulminanten Debüt «Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen» im vergangenen Jahr für einen aussergewöhnlichen literarischen Paukenschlag sorgte. Der Roman in 5 Bänden und 1064 Seiten, einer Enzyklopädie, einem Manga, einer Erzählung und einer Audiotranskription liegt wuchtig in Händen, entpuppt sich aber beim Blättern und Lesen als lustvolle Wort-, Satz und Geschichtenlandschaft, die auf keinen Fall von der ersten bis zur letzten Seite linear gelesen werden muss. «Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen» ist ein ganzer Kosmos, in dem man fast überall ein- und wieder auftauchen kann, eine in Wort und Bild gezeichnete Welt zwischen Frankreich und Japan, zwischen dem 19. und 21. Jahrhundert, von der 17jährigen Paulette, die 1871 den Aufstand der Pariser Kommune erlebt, ausbrechen will, einen Japaner heiratet, ein Kind von ihm bekommt und nach einer Wanderung über 130 Jahre im „ewigen“ Eis eines französischen Gletschers eingeschlossen liegt. Von der Klimaforscherin Chantal, einer Urenkelin von Paulette, die ins aufgetaute Gesicht Paulettes schaut und sich auf Spurensuche  von Jona macht, dem von Chantal verlassenen Künstler, eine Reise nach Japan, in ein Land, das nicht nur von Tsunami und Erdbeben erschüttert wird.

Philipp Weiss © Sprachsalz / Denis Moergenthalter

Philipp Weiss schrieb sechs Jahre in aller Ruhe und Stille an seinem Monument. Am Festival in Hall las er auch aus seinem Theaterstück «Der letzte Mensch», das am 8. Oktober in Wien uraufgeführt wird. Ein Stück, das sich mit den grossen Fragen der Gegenwart auseinandersetzt; Wie kam es dazu, dass sich über die ganze Menschheit eine hochtechnische Membran legte, aus der sich nicht einmal das Denken befreien kann? Was wird mit den Menschen passieren, die 2019 zur Welt kommen, in eine Welt geboren werden, die sich den Konsequenzen ihres Tuns verschlossen hat, die jeden technischen Fortschritt als Glückseligkeit verkauft, ohne sich Gedanken darüber zu machen, was dahinter folgt? Kann eine Zukunft auch anders gedacht werden als apokalyptisch? Reicht es, sich das Schlimmste vorzustellen, um für das gewappnet zu sein, was zu kommen droht? Gedanken darüber, warum der Mensch das einzige Wesen auf der Erde ist, das etwas produziert, was es nicht braucht – Müll. Darüber, dass das, was der Mensch durch sein Tun unausweichlich verändert, nicht das Leben wirklich meint, sondern bloss verändert, wenn auch letztlich nicht zu seinem Vorteil.

Philipp Weiss denkt schreibend über das Leben nach, das Menschsein, das, was bleibt. Blosses Erzählen ist nicht das seine. Er schafft Welt, stellt Fragen, konstruiert filigrane Szenerien über das nachparasitäre Zeitalter. Sein Theater «Der letzte Mensch» ist keine weitere Dystopie in einer langen Reihe. «Der letzte Mensch» ist die Aufforderung mitzudenken, mitzugestalten, mitzuentscheiden.

Ganz anders, diametral verschieden ist der neue Roman «Jahr ohne Winter» von Lorenz Langenegger. Der in Wien und Zürich lebende Romancier und Theaterautor erzählt die Geschichte(n) von Jakob Walter, einem Mann, der sich auf der Suche verliert. Nicht nur in Australien auf der Suche nach seiner Exfrau, die zu ihrer totkranken Mutter in einem Berner Spital zurückkehren sollte, auf der Suche nach jemandem, der eigentlich nicht gefunden werden will. Über den wilden Tripp eines Mannes, der sein fein säuberlich eingerichtetes und geordnetes Leben verlassen muss, um jemanden zu finden, die von ihm getrennt sein will.

Lorenz Langenegger © Yves Noir

Lorenz Langenegger las in einem Raum, knapp unter dem Terrain draussen, unter dem grossen Fenster, an dem Menschen vorbeigehen, denen die leichte Verwunderung dessen ins Geschieht geschrieben steht, was all die Mensch treibt, die dichtgedrängt dem Mann hinter dem Mikrophon lauschen. Wie ein Aquarium!
In «Jahr ohne Winter» ist ein Mann unterwegs, wörtlich. Die Biederkeit himself in Down Under. Eine Suche im Outback, einer Welt, die maximal anders ist, als jene, aus der er kommt. Bis er in einem zerbeulten Truck mit einem Aborigines sitzt, unterwegs ins Nirgendwo. Jakobs Ex-Schiegermutter Ursula ist krank, braucht dringend eine Stammzellenspende. Und Edith, seine Ex, mit der er seit fünf Jahren kein Wort gewechselt hatte, ist in Australien, in einer mehrwöchiger Schweigemeditation in der Abgeschiedenheit, in maximaler Entfernung von dem, was sonst ihr Leben ausmacht.
Lorenz Langeneggers Spezialität ist das Kleinräumige, selbst dann, wenn der Schauplatz Australien ist. Die Seele eines Mannes, mit dem es gegen seinen Willen geschieht. Jakob Walter ist ein liebenswerter, patschiger Antiheld, «Jahr ohne Winter» aber durchaus ernstzunehmende Literatur über ein entwurzeltes Individuum.

Sprachsalz ist das Salz in der Suppe!

Beitragsbild: Ulrike Woerner © Sprachsalz / Denis Moergenthalter

Eva Schmidt «Die untalentierte Lügnerin», Jung und Jung

Eva Schmidt erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die ständig das Gefühl des Ausgeschlossenseins mit sich herumträgt. Maren ist kaum zwanzig, als sie nach einem gescheiterten Schauspielstudium zurück in ihr Elternhaus kommt und doch nicht in ein altes Leben zurückkehren will, nicht in die Lügen in der Familie, nicht ins feine Netz ihrer eigenen Lügen. 

Als Eva Schmidt mit ihrem letzten Roman «Ein langes Jahr» 2016 nach zwei Jahrzehnten zurück auf der Literaturbühne erschien und sogleich für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde, war auch ich begeistert von ihrem neuen Auftritt. Wer von einem Roman beeindruckt war und mit viel Erwartung einen neuen liest, kann leicht enttäuscht oder auf dem falschen Fuss erwischt werden. Nicht so bei Eva Schmidt. Die Vorarlbergerin, die sich als 67jährige auf eindrücklichste in das Leben einer 20jährigen in der Gegenwart versetzen kann, beschreibt fein und ziseliert, verliert sich nicht in psychologischen Deutungen und lässt Leben ganz nah passieren.

Die einen haben mit zwanzig einen Plan. Andere sind ganz offen oder suchen noch. Maren musste ihren Plan aufgeben. Nicht so sehr weil sie als Schauspielerin nicht getaugt hätte, sondern weil sich Probleme einschlichen, die sich auf ihre Gesundheit auswirkten; Essstörungen. «Die untalentierte Lügnerin» ist aber kein Roman über Essstörungen. Maren kommt zurück zu einer Familie, die sich schon seit Jahren im Zustand des Zerfalls befindet; Vater und Mutter zerstritten und trennten sich, der Vater lebt weit weg, die Mutter heiratet wieder, mehr die Sicherheit und das Geld als den Mann, Marens Stiefvater lebt ein Doppelleben, ihr älterer Bruder hat sich nach Finnland abgesetzt und ihr jüngerer Halbbruder studiert in der Ferne den Waldrapp. Obwohl Eva Schmidt das Familiengeflecht bis in Kleinigkeiten schildert, obwohl sie deutlich macht, wie vielschichtig und verknotet dieses Gefüge ist, ist «Die untalentierte Lügnerin» auch kein Familienroman, kein Soziogramm. Einzelne Figuren, wie der Vater und Jazzmusiker in der Hauptstadt, bleiben skizzenhaft. Eva Schmidt bemüht sich viel mehr um die Wirkung dieser Personen in Marens Leben.

Maren ist weder für alles offen noch auf der Suche nach neuen Türen. Marens Leben geschieht. Sie knüpft zum einen an das Leben zuvor, an den DJ Max, der sie einmal hängen liess, der sie aber spüren lässt, etwas zu sein, auch ohne Absicht, ohne Plan. Sie lernt Alex kennen, einen unglücklichen und kranken Schauspieler und Lisa, die in der Bar serviert. Sie geht Vera, ihrer Mutter aus dem Weg, die der ganzen Welt zu verstehen gibt, dass nichts so funktioniert, wie es sein müsste und erfährt in der Wohnung ihres reichen Stiefvaters Robert, dass auch dessen Leben nicht das ist, wonach es aussieht. Maren prallt am Leben ab, findet keinen Tritt, spürt keine Wirkung. Bis sie einen neuen Mann kennenlernt. Bis sie merkt, nichts mehr darstellen zu müssen. Bis sie sich auf einer Reise in die Hauptstadt ihren eigenen Lügen stellt.

Eva Schmidts Bücher sind kein Spektakel. Sie sind ruhig erzählt, von fast unterkühlter Skepsis. Eva Schmidts Erzählton ist der einer Beobachtenden, unaufdringlich und dezent. Hinter dem Geschriebenen weiss ich viel mehr, nämlich das, was sich erschliesst, wenn man über die verschiedenen Lesarten dieses Buches zu diskutieren beginnt.

© Lisa Mathis

Eva Schmidt, geboren 1952, lebt in Bregenz, Österreich, hat neben Erzählungen in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften drei Bücher veröffentlicht, zuletzt »Zwischen der Zeit« (1997). Diverse Stipendien und Literaturpreise, u.a. Nachwuchspreis zum Bremer Literaturpreis (1986), Rauriser Literaturpreis (1986), Hermann-Hesse-Förderpreis (1988), Nicolas-Born-Preis (1989). »Ein langes Jahr« 82016) war ihr erstes Buch seit fast 20 Jahren.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

41. Solothurner Literaturtage «Warum wir zusammen sind»

Wie fast jedes Jahr wird scharf geschossen, sobald die Teilnehmenden und das Programm feststehen. So wie dieses Jahr; es wird eifrig polemisiert, geschimpft, gewarnt und Gift gestreut. Mit Sicherheit gibt es Kritikpunkte genug, Erwartungen, die sich im Vorfeld schon nicht erfüllen. Aber die Solothurner Literaturtage sind nicht nur Nabel- und Werkschau der Schreibenden, sondern Literaturtage der Lesenden. Und die freut’s.

Erster grosser Programmpunkt des ersten Tages war der neue Roman «Warum wir zusammen sind» von Martin R. Dean, dem schon kurz nach dem Erscheinen in den Medien viel Platz eingeräumt wurde, denn Martin R. Dean trifft mit seinem Buch den Nerv der Zeit. Der Roman erzählt nicht nur von Beziehungen und Lieben, es sind gesellschaftliche und sehr intime Betrachtungen dessen, was Paare verbindet, genau das, was jene betroffen macht und gleichermassen fasziniert, die morgens in Scharen den Landhaussaal an der Aare füllen.

Solothurn war, ist und wird während dreier Tage Nabel und Mekka der Schweizer Buchwelt, das Epizentrum aller tektonischer Literaturverschiebungen, die dieser Anlass jedes Jahr auslöst. Seien es die Diskussionen in den Medien darüber, was an jenem oder diesem zu kritisieren sei, an den Eingeladenen, der Programmierung, dem Frust der einen, nicht oder schon wieder nicht eingeladen zu sein, den Ärger, den einen oder anderen Fixstern im Programm zu vermissen.

Vielleicht liegen die Gründe für all die immer wiederkehrende Kritik darin, dass dieses Buchfest mit jedem Jahr um eine Stufe mehr ins Unermessliche und Unerfüllbare aufsteigt. In der Schweiz gibt es kein zweites derartiges, in der Tradition verwobenes Festival, das ein so breites und zahlreiches Publikum zu mobilisieren vermag, wo das Dabeisein darüber entscheiden kann, ob ein Buch zu einem «finanziellen Erfolg» wird, ob sich ein Titel, ein Name überhaupt erst an die Oberfläche schält, wo die Leserschaft ihre Fühler ausstreckt.

«Die Ehe ist der Repräsentant des Lebens, mit dem du dich auseinandersetzen sollst.» Franz Kafka 

Martin R. Dean eröffnete mit seiner Lesung den Reigen vor grossem Publikum mit einer Liebesgeschichte, einer Geschichte um Lieben, Verhältnisse, Tabubrüche, Bedrängnisse und das Elend des Getriebenseins. Eine Liebesgeschichte für die einen, das blanke Elend für die andern, genauso wie das ambivalente Verhältnis vieler zu den Solothurner Literaturtagen. Solothurn ist die alljährlich wiederkehrende, institutionelle Flitterwoche der Vermählung zwischen Literaturbetrieb und Leserschaft. Vielleicht müssten die vorhersehbaren Diskussionen über das Gute und Schlechte dieser Literaturtage einmal mit jenen geführt werden, die vom Bodensee und vom Genfersee, vom Tessin oder vom Glarnerland an die Aare reisen, sei es für einen Tag oder für die ganze Festivalzeit. Sie kommen aus Liebe zum Buch, zur Literatur. Liebe reibt sich am Widerspruch. Solothurn ist eine Langzeitbeziehung mit Höhen und Tiefen, durchdringendem Glücksgefühl dann, wenn man erhört wird, wenn einem gehuldigt wird. Enttäuschung und Frustration dann, wenn man sich missverstanden oder übergangen fühlt.

Die 41. Solothurner Literaturtage sind ins Alter gekommen. Gut, wenn da immer wieder frisches Blut durch die Arterien des Festivals gepumpt wird, durch neue, junge Namen bei Eingeladenen und Organisation. Gut, dass sich die Solothurner Literaturtage der Kritik aussetzen, sich stets zu erneuern versuchen. Nichts an dem Festival ist vergeistigt, verknöchert oder in einer Hülle von Tradition eingeschweisst. Solange die Besucherzahlen beweisen, dass es die Solothurner Literaturtage geben muss, solange Leserinnen und Leser strömen und bei alledem das Wetter derart freundlich mitspielt, wird die in die Jahre gekommene Liebe überleben.

Über Höhepunkte, Highlights und Überraschungen berichte ich später!

Illustration © Lea Frei (lea.frei@gmx.ch)