Olga Grjasnowa «Gott ist nicht schüchtern», Aufbau

Ich las Olga Grjasnowas neuen Roman «Gott ist nicht schüchtern» mit heissem Kopf, einem fiebrigen Gefühl, als täte ich etwas Unrechtes. Was Olga Grjasnowa beschreibt, tut weh. Dieses Buch im Garten auf einer Liege zu lesen, ist beinahe unerträglich. Aber Olga Grjasnowa klagt nicht an, sondern beschreibt mit messerschafem Blick.

Soll Literatur bloss unterhalten? Hat Literatur eine Aufgabe? Muss sie wirken? Wer mit einem Buch ausspannen will, wer die harte Wirklichkeit vergessen will, wer austreten, ausschwärmen, abdriften will, der darf den Roman der jungen Olga Grjasnowa nicht lesen. «Gott ist nicht schüchtern» fährt ein, lässt nicht locker, nistet sich mit seinen intensiven Bildern in meinem Bewusstsein ein.

Olga Grjasnowa beschreibt eine Flucht, die Not, eine Heimat, ein Zuhause, ein Land, ein Leben, Menschen verlassen zu müssen, um in der Fremde neu beginnen zu können, immer in der Hoffnung, dereinst zurückkehren zu können. Olga Grjasnowa floh als Jugendliche selbst 1996 zusammen mit ihren Eltern aus Aserbaidschan und lebt heute mit ihrem Mann in Berlin. Ihr Mann floh aus Syrien und leitet das Exil-Ensemble des Gorki-Theaters in Berlin. Als in Damaskus der Arabische Frühling durchzubrechen schien, floh ihr Mann aus Syrien. Aus vielen Gesprächen mit ihrem Mann, mit Freunden und direkt Betroffenen baute sie ihre Geschichte, die Leben von Vertriebenen und einem Land, das zerrissen ist, in dem kaum jemand den immer brutaler werdenden Konflikt, den Krieg gegen ein willkürlich agierendes Regime kommen sah, über Menschen, die einst ein ganz normales Leben führten und sich mit einem Mal verloren sehen. Olga Grjasnowa recherchierte vor Ort, an unerträglichen Orten wie der türkischen Küstenstadt Izmir, in der das ganze Elend auf eine Reise weg aus dem Trauma hofft.

Olga Grjasnowa verwebt die Geschichten von Amal und Hammoudi. Amal wächst in Damaskus als Tochter eines reichen Vaters auf, Hammoudi in der Provinz. Amal wird Schauspielerin und träumt von der grossen Karriere, Hammoudi steht nach einem äusserst erfolgfreichen Studium der Medizin in Paris zusammen mit seiner Verlobten kurz davor. Bis in den Wirren des Arabischen Frühlings nichts mehr so ist, wie es einmal war.

Olga Grjasnowa schildert eindringlich, nie voyeuristisch. Ich spüre ihre Betroffenheit ebenso wie ihre Hilflosigkeit. Olga Grjasnowa gibt den Abertausenden, die sich nach Europa retten, ein Gesicht, ohne zu beschönigen, nie mit dem Mahnfinger. Ein wichtiges Stück Literatur!

Foto: René Fietzek

Olga Grjasnowa, geboren 1984 in Baku, Aserbaidschan. Längere Auslandsaufenthalte in Polen, Russland, Israel und der Türkei. Für ihren vielbeachteten Debütroman «Der Russe ist einer, der Birken liebt» wurde sie mit dem Klaus-Michael Kühne-Preis und dem Anna Seghers-Preis ausgezeichnet. Zuletzt erschien 2014 „Die juristische Unschärfe einer Ehe“. Beide Romane erschienen beim Hanser Verlag und wurden für die Bühne dramatisiert. Olga Grjasnowa lebt mit ihrer Familie in Berlin.
Olga Grjasnowa liest an den Solothurner Literaturtagen vom 26. bis 28. Mai 2017 aus ihrem Roman «Gott ist nicht schüchtern». Am Freitag, den 26. Mai beteiligt sich Olga Grjasnowa zusammen dem Schriftsteller Jonas Lüscher («Kraft», C.H. Beck) und dem SRF-Korrespondent Peter Voegeli an einer Podiumsdiskussion zum Thema «Die Macht der Geschichten». Moderiert wird die Diskussion von Hans Ulrich Probst, SRF-Literaturredaktor.