Adam Schwarz «Glitsch», Zytglogge #SchweizerBuchpreis 23/06

Ein monströses Kreuzfahrtschiff irgendwo in arktischen Gewässern. In einer Zukunft, in der Eisberge zu blosser Erinnerung werden und man im T-shirt an der Reeling stehen kann, verliert ein Mann seine Frau. Sie verschwindet in den Tiefen des stählernen Ungetüms. Adam Schwarz schrieb einen schillernden Roman zwischen Dystopie, Gametripp und Psychose.

„Glitsch“ ist ein Fehler in einem Computergame, wenn Figuren verzerrt sind, falsch zusammengesetzt, wenn Risse in der Spielwirklichkeit auftauchen. Adam Schwarz zweiter Roman spielt in einem begrenzten Schiffskosmos, in dem alles immer mehr verzerrt scheint. Was einst die Welt ausmachte, spielt in diesem Kosmos keine Rolle mehr. Es ist nicht nur die Kulisse eines in die Jahre gekommenen, aus der Zeit gefallenen Kreuzfahrtschiffes, genauso die Menschen, die in einer seltsam unergründlichen Ordnung ein Leben auf dem schwimmenden Koloss aufrecht erhalten, dass sich den sonst geltenden Regeln entzieht – eben so, wie sich in Computerspielen eine Welt auftut, die nach eigenen Gesetzen und Regeln funktioniert.

„Glitsch“ spielt in naher Zukunft. Der Menschheit ist es nicht gelungen, sich vom Abgrund der Selbstzerstörung abzuwenden. Im Gegenteil. Man taucht in Fatalismus, emigriert in einen sektiererischen Bewusstseinszustand, der die Rettung verspricht. Eine Kreuzfahrt durch eine Arktis, die nur noch in Erinnerung jene ist, die in der Gegenwart langsam dahinschmilzt.

Adam Schwarz «Glitsch», Zytglogge, 2023, 296 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-7296-5119-7

Léon und Kathrin besteigen die Jane Grey, eine Reise mit 2500 anderen Passagieren, um wie auf Prospekten gepriesen, ein paar Wochen „die Seele baumeln zu lassen“. Obwohl Léon schon vor dem Besteigen des Kreuzfahrtschiffes spürt, dass Kathrin eigentlich lieber alleine auf dem Dampfer gewesen wäre und ihm Ferien auf einem solchen Ungetüm falsch und aus der Zeit gefallen erscheinen, checken die beiden ein und beziehen ihr Zimmer in der Kategorie Superior. Aber kaum losgefahren, verschwindet Kathrin spurlos und für Léon beginnt eine Odysee im Bauch dieses Ungetüms.

„Ich brauche etwas Zeit für mich. Such mich nicht.“

Nicht nur Kathrin verschwindet. Er selbst scheint aus dem schiffseigenen System verschwunden zu sein. Sein Zimmer bleibt ihm verwehrt, an der Rezeption muss er feststellen, dass sein Name getilgt ist, man stellt ihm nach, von Kathrin keine Spur. Léon taumelt durch die endlos scheinenden Gänge des Schiffes, jene, die nur dem Personal gelten, durch Räume, die in kaltes Licht getaucht sind, so ganz anders wie die Plastik- und Kunststoffwelten in den Erlebniswelten der zahlenden Passagiere.

Bis er Kathrin für einen kurzen Moment sieht, gekleidet in einen neopremartigen Anzug, umringt von anderen, in einem seltsamen Ritual. Léon wird klar, dass sich Kathrin ganz offensichtlich in die Fänge einer Art Sekte fallen liess. C. C. Salarius, Autor suspekter Bücher, Begründer einer Bewegung, die „an den Ursprung, ins Meer zurückkehren und die Sprache hinter sich lassen will“, scheint das Schiff wie ein Pilzmycel durchsetzt zu haben. Gibt es überhaupt eine Chance für Léon, Kathrin zurückzugewinnen, dieses Schiff, das sich immer mehr in einem dichten Nebel verschobener Wahrnehmungen verliert, zu verlassen?

„Glitsch“ ist schwer fassbar – und genau das macht den Reiz dieses Romans aus. Ein fellini’sches Ungetüm dampft durch eine Welt, die dem Untergang geweiht ist. Eine Figur, die sich wie im Computergame immer weiter im Bauch eines sich ständig verändernden Ungetüms verliert. Szenarien, die sich im Rausch aufzulösen scheinen, sich allen Regeln entziehen. Es sind starke Bilder, alptraumartige Szenerien und eine Handlung, die zwischen Realem und Fantastischem mäandert. Da ist eine Gesellschaft, die sich den Tatsachen verweigert, Menschen, die sich in Verklärung flüchten, ein Paar, das sich in der Masse verliert und ein Protagonist, der nach einem Ausweg sucht.

Ein Buch wie ein Alptraum, wie ein Tripp in die Welt dahinter. 

… und schön, dass der kleine Traditionsverlag «Zytglogge» als Rennstall mit von der Partie ist!

Interview

„Glitsch“ ist ein Begriff aus der Welt der Computergames. Ganz offensichtlich sind Sie vertraut mit dieser Form des Spiels, einer Welt, die einem entweder vertraut oder fremd ist. Ihr ganzer Roman erinnert an ein Game. Das Spiel, das Schiff – tonnenschwere Metaphern?
An Kreuzfahrtschiffen interessiert mich, dass sie Nicht-Orte sind. Von privaten Konzernen geführte, abgeschlossene, quasi ausserhalb der Staatlichkeit operierende Welten, die eine Schein-Öffentlichkeit vorgaukeln. Zugleich haben diese Schiffe als Handlungsort etwas Abgeschlossenes: Man kann sie nicht leicht verlassen, und die Handlungsoptionen auf dem Schiff sind begrenzt, geht es doch vor allem um den Konsum.
Bei Videospielen ist das ähnlich: Sie sind ebenfalls abgeschlossen und die Handlungen vorgegeben, alles untersteht einem Programmiercode. Doch in Form der Glitches, von nicht vorgesehenen Störungen im Code, lässt sich die Möglichkeit einer Befreiung erahnen. Diese Glitches unterbrechen den Spielfluss und weisen dadurch auf die Gemachtheit des Spiels hin. Sie zeigen, dass jede Welt auch eine andere sein könnte. Deshalb sind sie für mich etwas Positives.

Die Pandemie hat uns deutlich gemacht, wie sehr sich Menschen in eigene Welten, eigene Anschauungen zurückziehen, flüchten, einigeln und verschanzen können. Besitzt der Mensch das offensichtlich unstillbare Bedürfnis, sein Leben mit Mystik, Geheimnis und dem Glauben an Erlösung aufzublasen?
Mir scheint, ein gewisses Bedürfnis nach Transzendenz teilen die meisten Menschen, auch wenn sie, wie ich, nicht religiös sind. Diese Transzendenz zeigt sich für mich als Atheisten am ehesten in einer Begegnung mit Dingen, die das eigene Zeitmass überschreiten – zum Beispiel Berge, Bäume und Sterne. Das kann, glaube ich, bestenfalls zu einer Erweiterung und Öffnung führen, die Demut lehrt und den Egoismus schwächt.
Der Rückzug in eigene, abgeschlossene Welten, den Sie ansprechend, zeugt für mich dagegen eher von Angst und Ressentiment, die aus einer zu starken Ich-Bezogenheit resultieren. Es ist der unbedingte Wille, recht haben zu wollen, eine klar abgegrenzte Welt, in der es (scheinbar) nichts Unbestimmtes gibt, die Unfähigkeit, Ambiguitäten auszuhalten. Das kann zu einer Art von Selbstvergiftung führen, für die bis jetzt leider kein Heilmittel gefunden wurde.

aus dem Zettelkasten des Autors © Adam Schwarz

Dass Sie für einen Roman, der in der Zukunft spielt, in einer Zeit, in der sich ein Grossteil der Menschen mit den globalen Veränderungen des Klimas abgefunden haben und höchstens noch fatalistisch darauf reagieren, auf einem Kreuzfahrtschiff spielen lassen, macht ihren Roman erfrischend schräg. Ob Raumschiffe, Kreuzfahrtschiffe oder die eigene Jacht, das kleine Boot – sind das Fluchtvehikel?
Ja, wobei es für den Menschen so betrachtet kein Entkommen gibt. Selbst in einem Raumschiff am anderen Ende Milchstrasse würde er seine menschlichen Denkkategorien und die damit verbundene Sprache noch mitnehmen; er kann niemals aus sich heraus – dass Salarius, der ominöse Autor in «Glitsch», ebendiese Befreiung aus der Sprache anstrebt, zeugt von der zunehmenden Zerrüttung angesichts des weltweit immer sichtbar werdenden Resultats ebendieser Denkkategorien. Anstatt vor der Verantwortung zu fliehen, scheint es mir jedoch angebrachter, diese zu übernehmen.

Léon verliert sich auf diesem «Totenschiff». Ob im Bauch eines solchen Schiffes, in den Sphären von Computergames, in den Schluchten einer Grossstadt, in einem Buch – irgendwie schwingen Verzweiflung und Faszination ineinander. Kann man sich im Schreiben verlieren?
Oh ja! An «Glitsch» habe ich fünf Jahre gearbeitet, wobei ich die Geschichte immer wieder komplett umschrieb. Ich glaube, ich könnte theoretisch bis ans Ende meines Lebens an einem Text schreiben. Immer wieder gibt es Sätze, die mir nicht gefallen, oder es tauchen neue Ideen auf. Zum Glück gibt es immer wieder Impulse von aussen – in dem Fall war es eine Trennung, durch die mir klar wurde, dass «Glitsch» im Kern vor allem das ist: ein Trennungsroman. Das hat mich davon abgebracht, die halbe Welt in den Text hineinpacken zu wollen. Will heissen: Zum Glück gibt es nicht nur das Schreiben, sondern auch die Welt.

Kathrin, Léons Lebensgefährtin, scheint sich in die Fängen eines „Sektenführers“, eines „Gurus“, eines „Lehrers“ verheddert zu haben. Zurück in die Ursuppe allen Lebens, weg von der Sprache, mit der sich der Mensch aus dem Paradies argumentiert hat. In Zeiten, in denen Vereinsamung zu einer sozialen Grossbaustelle wird, sich der Wortschatz vieler Menschen immer mehr reduziert, scheint die Entfernung zur Sprache eine schleichende Tatsache zu sein. Muss das einen Schriftsteller nicht ängstigen?
Von einer Sprachverarmung zu sprechen, erscheint mir zu kulturpessimistisch. Im Gegenteil finde ich die Sprache ungeheuer lebendig und freue mich, welche Wortneuschöpfungen etwa die Jugend- und Internetsprache immer wieder mit sich bringt. Die Sprache ist etwas Fliessendes. Auch wenn viele Philosoph:innen es versucht haben, sie lässt sich nicht in einen Käfig stecken, sondern schwappt zwischen den Gitterstäben davon und nimmt immer neue Formen an.
Gleichzeitig fühle ich mich manchmal gefangen in der Sprache. Gibt es mich, uns, die Menschheit überhaupt ausserhalb der Sprache? Was wären wir ohne unsere Wörter und Begriffe? Was liegt jenseits davon? Lässt sich dieses «jenseits» überhaupt fassen, da uns dafür doch nur die Sprache zur Verfügung zu sein scheint? Können andere, nicht-sprachliche Formen der Kunst einem vielleicht zumindest eine Ahnung dessen verschaffen? Diese Fragen treiben mich um, wohl gerade, weil die Sprache sowohl in meinem literarischen Schreiben wie in meinem Brotberuf eine so tragende Rolle spielt.

Adam Schwarz, geboren 1990, studierte Philosophie und Germanistik in Basel und Leipzig. Seit 2011 veröffentlicht der Schriftsteller regelmässig Prosa in diversen Zeitschriften, darunter «entwürfe», «Das Narr», «Delirium», «Kolt» oder «poetin». Von 2016 bis 2020 war er Redaktor der Literaturzeitschrift «Das Narr». Zudem war er redaktioneller Mitarbeiter des «Literarischen Monats». 2017 erschien Adam Schwarz’ Debütroman «Das Fleisch der Welt», eine kritische literarische Auseinandersetzung mit dem Eremiten Niklaus von Flüe.

Webseite des Autors

Illustrationen © leale.ch

Matthias Zschokke «Der graue Peter», Rotpunkt #SchweizerBuchpreis 23/05

Vielleicht müsste man das Buch mit einem roten Kleber markieren, der vor Risiken und Nebenwirkungen warnt. Abgesehen davon, dass ein solcher Kleber die Verkaufszahlen eines solchen Buches mit Sicherheit positiv beeinflussen würde. Wer mit dem Buch eine Lektüre in die Nacht beginnt, muss riskieren, dass einem das Buch bis in die Träume begleitet.

Wer es am Strand liest, wird nicht sicher sein, ob es die Sonne oder die Lektüre ist, die einem den Kopf verdreht. Wer sich Spannung, eine Story verspricht, wird sich mehr als nur wundern, denn Matthias Zschokke ist wohl gewiefter Geschichtenerzähler, dessen Geschichten sich aber aller Voraussehbarkeit entziehen. Matthias Zschokke nimmt mich mit in seine leicht entrückte Welt, ein in Schieflage geratenes Kleinstuniversum.

Ein Mann in mittleren Alter wird in seinem Büro von der Polizei aufgesucht, die ihm mitteilt, dass sein kleiner Sohn von einem Lastwagen totgefahren wurde. Der Mann verlässt das Büro und torkelt durch die Stadt, torkelt durch sein Leben, das nicht erst mit dem Tod seines Sohnes aus dem Tritt gekommen ist. Peter, den man seit seiner Kindheit Saint-Blaise nennt, ist verheiratet. Aber das Leben mit seiner Frau ist zu einem funktionierenden Nebeneinander geworden. Keiner interessiert sich für das Leben des anderen. Peter fühlt sich in seinem Büro einer Verwaltung zusammen mit seinem Büropartner Prosciutto mehr geborgen, als im Ehebett zusammen mit seiner Frau. 

Eines Tages beauftragt man ihn gegen seinen Willen mit der Organisation kleinerer Feierlichkeiten zu einem Jubiläum mit einer französischen Partnerstadt. Auf dem Weg zurück nach Berlin, mit dem Zug nach Basel, wo er ins Flugzeug wechseln soll, vertraut ihm eine Fremde ihren kleinen Sohn an, wohl gerade so alt wie sein tödlich verunfallter Sohn, mit der Bitte diesen nach Basel zu seinem Onkel zu begleiten. Ein kleiner Junge mit oranger Schwimmweste und bleischwerem Skisack. Überrumpelt nimmt sich der Mann dem Jungen an, obwohl der die nervöse Mutter warnt, er habe keine Lust, den Jungen zu unterhalten. Sie unterhalten sich dann aber doch, stockend, wirr, als würde der graue Peter mit letzter Kraft der sein wollen, der er in seiner Familie als Vater nie war; ein Verbündeter, ein Freund, ein Gefährte.

Matthias Zschokke «Der graue Peter», Rotpunkt, 2023, 176 Seiten, CHF28.00, ISBN 978-3-85869-977-0

Irgendwann erzählt ihm der Junge von einer Tante Anne in Mulhouse, was den Mann veranlasst, dort eine Pause einzulegen und der Tante einen Besuch abzustatten. Sie deponieren das schwere Gepäck des Jungen in einem Kiosk, trinken heisse Schokolade in einem Café und sind, weil die eisernen Jalousien des Kiosk ganz überraschend geschlossen sind, gezwungen, in Mulhouse ein Hotel zu suchen. Was sich in dem Zimmer zwischen dem Mann und dem Jungen abspielt, ist eine Mischung aus verschrobenen Kindereien und unverständlichen Verrücktheiten. So wie sich Mattias Zschokke mit keinem seiner Bücher um Konventionen schert, so sehr weigert sich der Protagonist, „gesunden Menschenverstand“ walten zu lassen. Nichts an Zschokkes Roman folgt allgemeingültiger Logik. Zschokke, den man auf Fotos mit Nadelstreifenanzug und Taschenuhr fotografiert sieht, der wie sein Protagonist wohl nie ein Smartphone mit sich herumtragen würde und an der Rezeption jenes Hotels die Rezeptionistin fragen muss, ob er kurz seine Frau verständigen könne, es werde etwas später, ist nicht an der Art des Geschichtenerzählens interessiert, die sich mir als Leser anbiedert. Zschokke erzählt seine Bilder, seine Kleinstgeschichten, leicht verrückt, aber dafür gemalt, als wären sie kubistisch erzählt.

Es braucht mehr als die Suche nach Unterhaltung, will man den Büchern Matthias Zschokkes gerecht werden. „Der graue Peter“ entzieht sich aller Strömungen, aller Vorsicht. Die Lektüre seines Romans wird zu einer Achterbahnfahrt im Nebel. Zschokkes Literatur ist ein Monolith in der immer seichter werdenden Masse.

Interview

Ihr Buch ist ein besonderes Buch, so wie alle Ihre Bücher besondere sind. Zum einen scheinen sie nicht in die aktuellen Themen zu passen, entziehen sich all den Strömungen, denen sich viele Bücher anbiedern. Ihr Schreiben ist solitär, einzigartig. Zum andern sind die Handlungen Ihrer Bücher so gar nicht voraussehbar, bewegen sich weit weg von Klischees. Das muss man als Lesende aushalten können. Erstaunlicherweise akzeptiert man das in der Musik, der Malerei oder Bildhauerei. Man muss nicht verstehen. Und ausgerechnet in der Literatur soll alles erklärbar, logisch, rational, durchsichtig sein. Das verstehe ich nicht. Aber vielleicht hat das damit zu tun, dass der gegenwärtige Mensch das Nicht- und Unerklärbare gar nicht mehr aushält. Die Medien sind voll von Erklärern. Und die meisten widern mich an.

Sie sind lustig! Für mein Empfinden plansche ich permanent mitten drin. Vielleicht schwimme ich gegen die Themen an oder quer zu den Strömungen, aber ich fühle mich jederzeit bis in die letzte Pore getränkt von ihnen. 
Zum Beispiel erwähne ich auf einer der ersten Seiten in zwei Nebensätzen, Peter habe als Kind fürs Leben gern auf Baustellen gespielt. Das schönste sei für ihn gewesen, von Lastwagenfahrern hochgehoben, auf den Beifahrersitz gesetzt und mitgenommen zu werden, wenn frischer Teer oder Zement geholt werden musste. Der in der Gegenwart verpeilte Leser vermutet darin reflexartig einen Hinweis auf Missbrauch. Der LKW-Fahrer gehört seiner Meinung nach angezeigt, dem Kind wird drastisch auseinandergesetzt, was alles hätte passieren können. Es zieht sich verängstigt in sein Zimmer zurück, setzt sich vor seinen Computer und spielt mit Kopfhörern über den Ohren Onlinegames – das ist mir alles selbstverständlich bewusst, und während ich das sage, fällt mir siedendheiss ein, dass das vielleicht inzwischen Kopfhörerinnen heissen muss. So bestimmt die Gegenwart permanent mein Denken und beeinflusst das, was ich aufschreibe, bis ins letzte Komma.
Oder das Beispiel, das Sie erwähnen: Im ersten Satz erfährt Peter, dass sein Kind überfahren worden ist. Jede Woche mindestens einmal wird in Deutschland am Fernsehen ein Krimi gezeigt. Da wird innerhalb der ersten Minute mindestens eine Leiche präsentiert – das ist die Vorgabe der Redaktionen –, von der aus sich dann der Fall entwickelt. Jahrelang sah man abends also eine Haustür, an der zwei Polizisten klingelten. Die Tür wurde von einer Frau oder einem Mann geöffnet. Ihr oder ihm wurde mitgeteilt, dass der Partner oder das Kind oder die Mutter oder sonst jemand Vertrautes überfahren oder erstochen oder ertränkt worden sei. Daraufhin bemühte sich der Mann oder die Frau, sich auf besonders expressive Weise erschüttert zu zeigen. Diese Art von Erschütterung wurde früher an den Schauspielschulen „ein Ausbruch“ genannt. Bei Aufnahmeprüfungen musste man „einen Ausbruch“ improvisieren: „Stellen Sie sich vor, Ihre Geliebte wurde eben vor Ihren Augen erstochen. Los!“
Ich meine, mein Protagonist reagiere so nah an sich wie nur möglich. Er bemüht sich, von seinen Empfindungen nur die zuzulassen, die er beim besten Willen nicht verstecken kann. Weil wir Normalsterblichen schliesslich nicht ans grosse Drama gewöhnt sind. Wir haben gelernt, so was tut man nicht; man beherrscht sich.
Das erkläre ich selbstverständlich nicht im Buch, denn das weiss der Held ja nicht von sich. Er hat es in seinen Genen.

Peter erträgt Mitmenschen nur schwer.  Seine Frau ist die einzige, die er neben sich erträgt.  Selbst seine Eltern waren dem „grauen Peter“ fremd geblieben. Sie leben seit Jahrzehnten in Berlin. Muss es eine grosse Stadt sein, um darin verschwinden zu können? Um sich vor den Menschen zu schützen?

Ich kenne nur wenige, die die Frage vorbehaltlos bejahen würden. Es ist kaum ein Zufall, dass sich immer mehr von uns in den virtuellen Raum zurückziehen. Menschen reagieren unberechenbar. Das ist auf die Dauer ermüdend. Im Internet wird man nicht dauernd unterbrochen. Das ist leichter auszuhalten. Berlin ist besonders gut geeignet dafür, niemandem zu begegnen, da haben Sie recht. Die Distanzen sind hier gross. Wenn ich jemanden treffen möchte, den ich kenne, muss ich lange Wege auf mich nehmen und viel Zeit investieren. Selbst auf der Strasse sind die Distanzen zueinander sehr viel grösser als gewöhnlich. Wenn man jemandem begegnet, muss keiner ausweichen. Man geht mit zwei Metern Abstand aneinander vorbei. Das ist angenehm. Ein wenig traurig vielleicht, aber angenehm.

Zéphyr, der Junge, der von seiner verzweifelten Mutter im Zug in die Obhut von Peter gerät, trägt eine orange Schwimmweste und schleppt einen bleischweren Skisack mit sich herum. Ist Zéphyr Peters Spiegelbild?

Die Schwimmweste wie auch das Gewicht des Skisacks sind beide erklärt. Die Mutter des Jungen hat in den Medien von einem Fluss gelesen, der über die Ufer trat, und möchte ihr Kind vor dem Ertrinken schützen. Und sie las von Winterorkanen in den Alpen und bittet den Jungen, Bleigewichte in die Taschen zu stecken, bevor er auf die Piste geht. Ob diese beiden Informationen zusätzlich symbolische Bedeutung haben, weiss ich nicht. Ich meine, auch das ist die Gegenwart, die mitschreibt: Ich empfinde eine permanente Überfürsorge, eine Begluckung, die mir zunehmend die Luft abklemmt.

Auf aktuellen Fotos sieht man Sie mit dunklem Nadelstreifenanzug und Uhrenkette. Nicht nur ihres Aussehen wegen, denke ich oft an Robert Walser. Auch er war ein Unikat, ein Monolith. Ihre Romane scheren sich nicht um Stringenz, Plott und Spannung. Es ist das Bild des Ganzen, der Pinselstrich. Es ist die Sprache. Es sind die Fragen, die ich mir während des Lesens stelle, Fragen, die sich manchmal weit weg vom Geschehen in ihrem Roman aufzwängen. Wieviel Walserisches steckt in Ihnen?

Der Anzug hat eine Geschichte. Die ist zu lang zum Erzählen. Ich habe ihn geschenkt bekommen. Und fand, je öfter ich ihn trug, desto mehr, ein dreiteiliger Anzug sei ein perfektes Kleidungsstück, durch Jahrhunderte verfeinert, durchdacht. Mit den richtigen Taschen an den richtigen Stellen, mit der Möglichkeit, ein Teil davon auszuziehen, wenn’s zu warm wird, und umgekehrt. Ich muss fast nichts mehr einpacken, wenn ich zwei, drei Tage irgendwo hinfahre. Alles hat Platz in ihm. Es ist eine ideale Berufskleidung (fotografiert werden gehört zur Arbeit; privat mag ich mich nicht fotografieren lassen). Wenn man heimkommt, kann man ihn ausziehen und an die frische Luft hängen. Nach zwei Tagen ist er wieder wie neu. Ein grossartiges Kostüm. Privat ziehe ich ihn selten an. Da brauche ich nicht so viele Taschen.

Zur Taschenuhr: Von Armbanduhren habe ich am Handgelenk in meiner Jugend einen Ausschlag bekommen. Und ich schlug oft mit ihnen an Gegenstände und fühlte mich eingeschränkt in der Bewegung. Darum habe ich früh angefangen, Taschenuhren zu tragen. Und ich mag das Aufziehen.
Zu Robert Walser: Jeder von uns ist ein Unikat. Die meisten schleifen an sich herum, um weniger anzuecken und leichter durchs Leben zu kommen. Walser war darin wohl besonders unbegabt und musste es aushalten, ein Monolith zu sein. Ich hoffe, es steckt nicht allzu viel von ihm in mir drin. Es war bestimmt anstrengend, er zu sein.

Ihre ersten Romane erschienen bei List und Luchterhand, grossen Verlagen, später bei Ammann, dem damals renommiertesten Verlag in der Schweiz. Als Amman von der Bildfläche verschwand, war es Wallstein. Nun Rotpunkt. War Wallstein Ihr Buch zu heftig, zu risikoreich?

Keine Ahnung. In Deutschland ist die Stimmung zurzeit extrem angespannt. Jedermann und jedefrau reagiert auf alles überempfindlich. Man ist panisch darum bemüht, sich nach den Vorgaben des Justemilieu auszudrücken und bloss nicht aus Versehen zu sagen, heute sei ein besonders kalter Tag (wegen der Klimaerwärmung gibt es nur besonders warme Tage) oder die Nato habe … oder Corona …
Mag sein, es ist eine Gratwanderung, was ich im Buch mache. Da Deutschland nicht viele hohe Berge mit Grat hat, scheut man hier vielleicht mehr zurück vor solchen Wanderungen als in der Schweiz?

Matthias Zschokke, geboren 1954 in Bern, ist Schriftsteller und Filmemacher und lebt seit 1979 in Berlin. Für seinen Debütroman «Max» erhielt er 1982 den Robert-Walser-Preis. Später wurde er u.a. mit dem Solothurner Literaturpreis, dem Grossen Berner Literaturpreis, dem Eidgenössischen Literaturpreis, dem Gerhart-Hauptmann- und dem Schillerpreis geehrt – und, als bislang einziger deutschsprachiger Autor, mit dem französischen Prix Femina étranger für «Maurice mit Huhn». Aktuell läuft Matthias Zschokkes neustes Werk als Filmemacher; Z-S-C-H-O-K-K-E

Illustrationen © leafrei.ch

Lieber Bär, lieber Gallus #SchweizerBuchpreis 23/04

Lieber Bär

Ein Schriftsteller schrieb mir, die Liste der Nominierten zum Schweizer Buchpreis 2023 würde BuchhändlerInnen wohl keine Freude machen. Keine Bestseller, keine grossen Namen, die in aller Munde sind, so wie Martin Suter oder Lukas Bärfuss. Das kann ich nur schwer beurteilen, da ich mich derart tief in der Szene bewege, dass ich längst nicht mehr beurteilen kann, wer es in den Mainstream schafft, was zum Verkaufshit wird. Du hast den norwegischen Grossmeister Jon Fosse erwähnt. Jon Fosse ist ein Fixstern am Literaturhimmel und trotzdem kennt ihn fast niemand, zumindest hierzulande. Sicher findet man seine Bücher kaum in einem Bookshop am Flughafen oder in den Regalen mit den Bestsellern. Aber Verkaufszahlen sind kein Qualitätsmerkmal.

Keine Ahnung ob Lukas Bärfuss oder Martin Suter enttäuscht darüber sind, dass sie nicht auf der Liste der Nominierten zu finden sind. Ich kenne sehr wohl SchriftstellerInnen, die einen schwelenden Schmerz mit sich herumtragen, dass sie noch nie auf dieser Liste erschienen. Aber vielleicht ist das gar nicht die Intension einer Jury, die im Auftrag des Schweizer Buchhandels und Verlagsverbands nach dem „besten Buch“ sucht. Dafür gibt es ganz andere Preise, deren PreisträgerInnenlisten viel schwergewichtiger sind, als die des noch jungen Schweizer Buchpreises.

Aber, um auf die nominierten Bücher zurückzukommen, da ist doch kein Buch auf der Liste der Nominierten, über das man die Stirne runzeln oder gar den Kopf schütteln müsste. „Sich lichtende Nebel“ ist ein philosophisch durchsetztes Sprachkunstwerk, „Mr. Goebbels Jazzband“ ein Sprache gewordenes Musikabenteuer, „Bild ohne Mädchen“ ein tiefgründiger Tauchgang in menschliche Abgründe, „Glitsch“ ein waghalsiges Experiment zwischen Alptraum und fellinischer Fantasie und „Der graue Peter“ eine Sprachperle mit dunklem Glanz.

Du arbeitest an einem Tag in der Woche in einer Buchhandlung. Ist der Schweizer Buchpreis ein laues Lüftchen oder wie stark bläst der Wind? Auch wenn Du in die nähere Vergangenheit schaust.

Liebgruss
Gallus

Schweizer-Buchpreis-Rezension von «Der graue Peter» von Matthias Zschokke erscheint am 24. September!

Lieber Gallus

Ich arbeite in einer kleinen Buchhandlung, und mein Bärenfell wird durch die Nominierten zum Schweizer Buchpreis nicht durcheinandergewirbelt. Der Wind weht aus Erfahrung der letzten Jahre eher lau. Immerhin erwarte ich dieses Jahr eine stärkere Brise, da mich alle fünf Nominierten ansprechen und ich alle fünf Bücher lesen werde (vier davon bereits mit Genuss!). 2022 war die Situation anders, weniger harmonisch.

Sofort mitnehmend und sehr berührend war für mich aktuell «Der graue Peter» von Matthias Zschokke, dies nach der Lektüre von Jon Fosse «Der andere Name», was sich erstaunlich gut angefügt hat. Die Erzählung der Erlebnisse des Mannes  mit dem fehlenden Empfindungschromosom hat in mir tiefe Emotionen und nachhaltige Gedanken ausgelöst. Ein Stern, der auch stark leuchtet am Literaturhimmel. 

Ganz anders «Glitsch» von Adam Schwarz, einem mir bisher unbekannten Erzähltalent. Wenn der Protagonist auf der Suche nach seiner Freundin immer tiefer in das arktische Kreuzfahrtsschiff hinuntersteigt, erleben wir eine hochspannende, tiefgründige Liebesgeschichte und die irrwitzige Absurdität einer Schifffahrtgemeinschaft in einer wunderbar frischen Sprache.

2022 hat Kim de l`Horizon mit seinem Blutbuch mich durch Lektüre und dann die Auszeichnung stark durchgeschüttelt. Ist der Doppelpreis in Anbetracht der anderen, auch nicht nominierten Bücher gerechtfertigt? Auch bei uns wurde das Buch gut verkauft. Von den übrigen Nominierten konnte nur Thomas Hürlimann diesem Preisträger bezüglich Verkauf die Stange halten. Damals wie heute werfen Preise für mich Fragen auf: Welche Bücher sind lesenswert? Was zeichnet gute Literatur aus? Welche AutorInnen sprechen mich an? Welche kann ich wem empfehlen? Eine kleine Buchhandlung braucht natürlich auch Bestseller, um überleben zu können. Neben dem Inhalt sind auch die Ausstattung und besonders das Cover meines Erachtens für den Verkauf wichtig. Das haptische Moment spielt gerade bei den Büchern eine grosse Rolle. 

Trotzdem finden literarisch wertvolle Bücher oft keinen Weg zu einer Leserin, einem Leser. Auch Lyrik ist bezüglich Verkauf bei uns ein Stiefkind. Hat es schon einmal einen Schweizer Buchpreis für einen Gedichtsband gegeben? Immerhin waren bei der Preisträgerin Martina Clavadetscher die «Knochenlieder» dabei.

Die Orientierung unter den unzähligen Neuerscheinungen ist für mich als Senior-Bär im Buchladen ebenso schwierig wie Honig zu finden im Winter. Ich liebe «leise» Autorinnen und Autoren, beispielsweise aus der Schweiz: Lukas Maisel, Anna Ospelt, Leta Semadeni und Urs Faes, um nur einige wenige zu nennen. Bei der Wahl hilft mir dein wunderbar gestaltetes und inhaltlich unschlagbares »literaturblatt» neben den Literaturartikeln in den Medien. Entscheidend sind auch immer wieder persönliche Begegnungen anlässlich von Lesungen und Literaturfestivals.

NB: Neben der Schweizer Literatur interessieren mich seit Jahren Autorinnen und Autoren aus dem Osten, beispielsweise aus der Ukraine, aus Russland, Bulgarien und Rumänien. Darüber vielleicht ein andermal.

Liebe Grüsse

Bär 

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Die erste Einsendungen, die mit einer Mail oder über «Kontakt» einen Kommentar (mit Erlaubnis, diesen zu veröffentlichen!) zu «Der graue Peter» von Matthias Zschokke einsendet, bekommt von mir ein signiertes Exemplar des Romans per Post zugesandt. Allerdings brauche ich dafür eine Postanschrift!
Gallus Frei

 

Lieber Bär, lieber Gallus #SchweizerBuchpreis 23/03

Lieber Bär

Nun sind die 5 Namen da. Keine DebütantInnen, keine Experimente, fünf klingende Namen, fünf ganz unterschiedliche Stoffe. Gibt es ein Buch, dass Du bereits gelesen hast? Was ist dir nach der Lektüre geblieben?

Im Gespräch mit AutorInnen wundern mich zwei Dinge. Zum einen der Umstand, dass es nicht wenige gibt, die ihrem Verlag verbieten, ihre Bücher einzusenden, weil sie nicht wollen, dass ihr Buch Teil eines „Wettbewerbs“ wird. Und zum anderen, dass es Verlage und VerlegerInnen gibt, die es schlicht versäumen, ihre Bücher, die zu einer Teilnahme berechtigt wären, bei der entsprechenden Stelle anzumelden. Ein Versäumnis, das ich ganz und gar nicht nachvollziehen kann, selbst dann nicht, wenn die Chancen auf den Preis verschwindend klein sind.

Noch zum Thema „Wettbewerb“; Auch das Wettlesen um den Bachmannpreis jedes Jahr im Sommer spaltet die Geister. Ich gebe dem Argument recht, dass man Texte nur ganz begrenzt miteinander vergleichen kann, sehr oft gar nicht. Aber man kann die Wirkung eines Textes vergleichen, wenn auch hier nichts Messbares resultieren kann und es keine wirklich objektiven Kriterien geben kann. Texte berühren, klammern sich fest, stossen mich ab, reissen mich mit, lösen etwas aus, begeistern mich, bleiben wie ein Geist über Jahre oder gar Jahrzehnte neben mir, öffnen Türen oder lassen mich den Kopf schütteln.

Liebe Grüsse
Gallus

***

Lieber Gallus,

Ich habe «Sich lichtende Nebel» von Christian Haller und «Bild ohne Mädchen» von Sarah Elena Müller gelesen, beides meines Erachtens eindrückliche Texte. Alle nominierten Namen versprechen wunderbare eigenständige Literatur, da bin ich mit Dir einverstanden.
Geblieben ist mir bei «Sich lichtende Nebel», wie mit faszinierenden Genauigkeit der Sprache die Grenzen und Unschärfen unseres Erkennens und Denkens erfasst wird. Zutiefst menschliche Verhalten (Trauer und Einsamkeit) spiegelt sich in analytischem Forschen, ermöglicht, dass Neues in die Welt kommt.
In «Bild ohne Mädchen» wird ohne Wut und Anklage in beeindruckend eigenständiger Sprache ein Kindsmissbrauch erzählt. Das in berührenden Bildern geschilderte Grauen und das Versagen der Erwachsenen wird erst im Verlauf in vollem Ausmass ersichtlich.
Beides sehr kluge, gelungene Werke!

Zum Thema Wettbewerb: Das, was Du betreff AutorInnen und Verlage geschrieben hast, war mir nicht so bekannt, wundert mich aber auch. Ebenso ist für mich die Wirkung eines Textes ausschlaggebend. Diese ist natürlich abhängig von der Sprache und vom Inhalt, auch von der Aktualität. Allgemein wirkt sich auch aus, wo und wie ich mich als Leser befinde (Jugend, Alter, Trauer, Neugier, Beruf, Offenheit ect)
Die diesjährige Shortlist ist deutlich ausgewogener als 2022, aber nicht weniger spannend.

Gerade habe ich die ersten zwei Teile (das erste Buch der Trilogie) der Heptalogie von Jon Fosse «Der andere Name» gelesen, ein besonderer Lesegenuss von biblischer Gewalt und Intensität, sehr eigenwillig, hypnotisierend. 475 Seiten ohne Punkt! Nun bin ich bereit für schweizer Literatur.

Herzliche Grüsse

Bär

***

Ich lernte den Bären am Internationalen Literaturfestival in Leukerbad kennen, an der literarischen Wanderung, die jeweils als Einstimmung organisiert wird. So trifft man sich Jahr für Jahr. Und weil man zusammen geht, entstehen Gespräche, die einen über Bücher und ihre ErschafferInnen, die anderen über Gott und die Welt – wobei in Büchern doch über nichts anderes geschrieben wird als über Gott und die Welt.

Schweizer Buchpreis 2023: Die 5 sind da! #SchweizerBuchpreis 23/02

Das beste Buch soll ermittelt werden? Das eine kann ich nach Bekanntgabe der fünf Nominierten unterstreichen: Auch wenn wie jedes Jahr Bücher auf der Liste der Nominierten fehlen; die fünf ausgewählten, nominierten Bücher lohnen sich alleweil zur Lektüre. Und alle haben das Zeug, einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen.

Es waren fast 100 Bücher, die die Jury bis dato zu lesen hatte. Sieglinde Geisel, freie Kritikerin und Schreibcoach, Laurin Jäggi, Buchhändler, Inhaber der Buchhandlung Librium in Baden, Michael Luisier, Literaturredaktor SRF, Joanna Nowotny, Literaturwissenschaftlerin, Mitarbeiterin am Schweizerischen Literaturarchiv und freischaffende Journalistin und Yeboaa Ofosa, Kulturwissenschaftlerin und Literaturexpertin lasen sich durch die Bücherberge und tragen die inhaltliche «Verantwortung» für die diesjährige Liste der Nominierten.

Mit Christian Haller und Matthias Zschokke, zwei Eckpfeilern der CH-Literatur und Sarah Elena Müller, Damian Lienhard und Adam Schwarz, drei, die alle bereits ihren Platz in der Szene haben und in vielen privaten Bücherregalen beheimatet sind, ist kein Debüt, kein Erstling dabei. Also lauter Namen mit Schweif, die einen lang, die anderen etwas kürzer. Nicht dass es keine preiswürdigen Debüts gegeben hätte. Aber zum einen steigt bei solchen der Rechtfertigungsdruck und sehr oft bleibt ein schaler Nachgeschmack, wenn DebütantInnenromane mit solchen gestandener SchriftstellerInnen gemessen werden.

Was heisst schon gemessen werden! Ein Buchpreis ist kein Wettbewerb, auch wenn er sich als solcher gibt und der eine oder andere Autor sich präventiv aus diesem «Rennen» nimmt, weil man sich wegen dieses «Wettlaufs» echauffiert. Ein Buchpreis ist eine grosse, fünfstrahlige Bühnenshow, mit viel Pomp und überdurchschnittlicher Medienaufmerksamkeit, bei der sich die fünf Scheinwerfer im November auf das eine Buch, die eine Autorin oder den einen Autoren bündeln.
Ich bin hoch zufrieden mit der Liste. Fünf gute Bücher, fünf wichtige Geschichten und fünf Sprachkunstwerke!

 

«Sich lichtende Nebel» (Luchterhand) von Christian Haller
Kopenhagen 1925: Ein Mann taucht im Lichtkegel einer Laterne auf, verschwindet wieder im Dunkel und erscheint erneut im Licht der nächsten Laterne. Wo ist er in der Zwischenzeit gewesen? Den Beobachter dieser Szene, Werner Heisenberg, führt sie zur Entwicklung einer Theorie, die im weiteren Verlauf ein völlig neues Weltbild schaffen wird: die Quantenmechanik. Der Mann im Dunkel selbst hingegen weiss nichts von der Rolle, die er bei der Entdeckung neuer physikalischer Gesetze gespielt hat – er versucht, den Verlust seiner Frau zu verarbeiten und seinem Leben eine neue Ausrichtung zu geben. Christian Haller, der diese beiden durch den Zufall verknüpften Lebenslinien weiter erzählt, macht daraus ein hellsichtiges literarisches Vexierspiel über Trauer und Einsamkeit, die Grenzen unserer Erkenntnis und die Frage, wie das Neue in unsere Welt kommt.

Christian Haller, 1943 in Brugg, Schweiz geboren, studierte Biologie und gehörte der Leitung des Gottlieb Duttweiler-Instituts bei Zürich an. Er wurde u. a. mit dem Aargauer Literaturpreis (2006), dem Schillerpreis (2007) und dem Kunstpreis des Kantons Aargau (2015) ausgezeichnet. Zuletzt ist von ihm der letzte Teil seiner autobiographischen Trilogie erschienen: «Flussabwärts gegen den Strom». Er lebt als Schriftsteller in Laufenburg.

«Mr. Goebbels Jazz Band» (Frankfurter Verlagsanstalt) von Damian Lienhard
Berlin, Frühjahr 1940. Auf Beschluss von Joseph Goebbels wird für den Auslandsradiosender Germany Calling eine Big Band gegründet, die als Mr. Goebbels Jazz Band internationale Bekanntheit erlangt. Die besten europäischen Musiker, darunter auch Ausländer, Juden und Homosexuelle, spielen im Dienst der NS-Propaganda wortwörtlich um ihr Überleben – ausgerechnet mit Jazz, der als »entartet« galt. Bis zu 6 Millionen britische Haushalte täglich lauschen den Swing-Stücken mit anti-alliierten Hetztexten und dem Star-Moderator William Joyce alias Lord Haw-Haw, der nach seinem Aufstieg in der British Fascist Union aus London nach Berlin geflohen war. Joyce soll den Erfolg »an der Front im Äther« literarisch dokumentieren lassen. Der dafür ausgewählte Schweizer Schriftsteller Fritz Mahler findet sich im Zuge seines Auftrags, einen Propagandaroman über die Band zu schreiben, in verruchten Berliner Clubs und illegalen Jazzkellern wieder, trinkt zu viel Cointreau, verzettelt sich in seinen Recherchen und muss nicht nur die Skepsis der Musiker überwinden, sondern auch seine gefährlichen Auftraggeber über das schleppende Vorankommen seines Unterfangens hinwegtäuschen. Demian Lienhard erzählt die ungeheuerliche (fast bis ins Detail wahre) Geschichte von Mr. Goebbels Jazz Band und des berüchtigten Radiosprechers William Joyce. In furiosem Tempo jagt Lienhard seinen Figuren von New York nach Galway, London, Manchester, Zürich, Danzig und Berlin nach und stellt den menschenverachtenden Zynismus des NS-Staats ebenso bloß wie die Perfidie der Nazi-Propaganda. Gezeigt wird das Scheitern künstlerischer Produktion im Dienste einer Ideologie, wobei auch die eigene Erzählung verschmitzt unterwandert wird, bis hin zum überraschenden Paukenschlag.

Demian Lienhard, geboren 1987, aus Bern, hat in Klassischer Archäologie promoviert. Für sein Romandebüt «Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat» (2019) wurde er mit dem Schweizer Literaturpreis 2020 ausgezeichnet. Lienhards Roman «Mr. Goebbels Jazz Band», für den er u. a. Stipendien von Pro Helvetia, dem Literarischen Colloquium Berlin, der Stadt Zürich und dem Aargauer Kuratorium erhielt und Rechercheaufenthalte in Galway, London und Berlin absolvierte, erschien im Frühjahr 2023 in der Frankfurter Verlagsanstalt. Demian Lienhard lebt und arbeitet in Zürich.

«Bild ohne Mädchen» (Limmat) von Sarah Elena Müller
Die Eltern des Mädchens misstrauen dem Fernsehen, aber beim medienaffinen Nachbarn Ege darf es so lange schauen, wie es will. Eges Wohnung steht voller Geräte, und er dreht Videos, die nie jemand sehen will.
Die Eltern sind überfordert mit dem Kind, das sein Bett nässt und kaum spricht. Der Vater ist Biologe und wendet sich lieber bedrohten Tierarten zu. Die Mutter bildhauert und ist mit ihrer Kunst beschäftigt. Ein Heiler soll helfen. Das Mädchen sucht Zuflucht bei einem Engel, den es auf einer Videokassette von Ege entdeckt hat. Und wirklich, der Engel hält zu ihm.
Durch dieses Kabinett der Hilf- und Sprachlosigkeit nähert sich Sarah Elena Müller dem Trauma einer Familie, die weder den Engel noch die Gefährdung zu sehen imstande ist. Und von der Grossmutter bis zum Kind entsteht ein Panorama weiblicher Biografien seit dem grossen Aufbruch der Sechzigerjahre.

Sarah Elena Müller, geboren 1990, arbeitet multimedial in Literatur, Musik, Virtual Reality, Hörspiel und Theater. Sie tritt im Mundart Pop Duo «Cruise Ship Misery» als Ghostwriterin und Musikerin auf und leitet das Virtual Reality Projekt «Meine Sprache und ich» – eine Annäherung an Ilse Aichingers Sprachkritik. 2019 erschien ihr Szenenband «Culturestress – Endziit isch immer scho inbegriffe» beim Verlag Der gesunde Menschenversand. 2015 erschien die Erzählung «Fucking God» beim Verlag Büro für Problem. Als Mitbegründerin des Kollektivs RAUF ­engagiert sie sich für die Anliegen feministischer Autor*innen in der Schweiz. 

«Glitsch» (Zytglogge) von Adam Schwarz
Pools, Plastikpalmen, Polarsonne: Léon Portmann durchquert auf einem Kreuzfahrtschiff die ganzjährig eisfreie Nordostpassage. Klimakatastrophentourismus mit Schlagerprogramm und Analogfisch auf der Speisekarte inklusive.
Eigentlich wollte seine Freundin Kathrin die Reise allein machen, doch er hat sich ungefragt angehängt. Dabei sind die Risse zwischen den beiden offenkundig. Als Kathrin spurlos verschwindet, macht Léon sich auf die Suche nach ihr. Er taucht immer tiefer in den Schiffsbauch ab und gerät unter Verdacht, ein blinder Passagier zu sein. Weder Kathrin noch er stehen auf der Bordliste. Nach der Beziehung erhält auch die Wirklichkeit Risse: Gibt es Kathrin überhaupt? Und was haben ein neuseeländischer Philosoph, obskure Internetforen und ein 15 Jahre altes Videospiel damit zu tun?
«Glitsch» ist der Trennungsroman zum Ende der Menschheit. Ein abgründiger Abgesang auf die Welt, wie wir sie zu kennen glauben, packend und klug in Szene gesetzt.

Adam Schwarz, geboren 1990, studierte Philosophie und Germanistik in Basel und Leipzig. Seit 2011 veröffentlicht der Schriftsteller regelmässig Prosa in diversen Zeitschriften, darunter «entwürfe», «Das Narr», «Delirium», «Kolt» oder «poetin». Von 2016 bis 2020 war er Redaktor der Literaturzeitschrift «Das Narr». Zudem war er redaktioneller Mitarbeiter des «Literarischen Monats». 2017 erschien Adam Schwarz’ Debütroman «Das Fleisch der Welt», eine kritische literarische Auseinandersetzung mit dem Eremiten Niklaus von Flüe. Im selben Jahr wurde er mit einem Werkbeitrag der Kulturstiftung Pro Helvetia ausgezeichnet und war für den Literaturpreis «Aargau 2050» des Aargauer Literaturhauses nominiert. Zudem erhielt er ein Aufenthaltsstipendium vom Literarischen Colloquium Berlin. 

«Der graue Peter» (Rotpunkt) von Matthias Zschokke
Eigentlich müsste Peter ein unglücklicher Mensch sein, aber der Zufall, oder eine gütige Vorsehung, haben dafür gesorgt, dass ihm ein »Empfindungschromosom« fehlt. Schon seine Eltern kamen ihm vor wie fremde Wesen, und seine Frau, vermutet er, wird er bis an sein Lebensende nicht verstehen. Ihr erstes gemeinsames Kind ist bei der Geburt gestorben, und eines unscheinbaren Tages betritt eine Polizistin Peters Verwaltungsbüro, um ihm zu sagen, dass sein zweiter Sohn von einem Lastwagen überrollt wurde.
Sein Leben geht weiter, man schickt ihn nach Nancy, um eine belanglose Grußbotschaft zu überbringen. Als auf der Rückreise eine unvorhergesehene Fahrplanänderung angekündigt wird, vertraut eine verzweifelte Mutter Peter ihren Sohn an. Zéphyr, so heißt der Junge mit der orangefarbenen Schwimmweste, werde in Basel von seinem Onkel abgeholt. Auf der Fahrt versucht Peter dem fremden Jungen ein fürsorglicher Begleiter zu sein. Spontan steigen die beiden in Mulhouse aus, um Zéphyrs Tante (und ihre Carrerabahn) zu besuchen. Stattdessen landen sie in einem winterlich kalten Bach, einem 5-D-Film, der Zéphyr den Magen umdreht, einer Umkleidekabine und für die Nacht in einem Hotelzimmer. Von Unwägbarkeit zu Unwägbarkeit wird Peters Hilflosigkeit Zéphyr gegenüber zarter, ja zärtlicher. Eine schwer fassbare, in Momenten irritierende Beziehung entwickelt sich zwischen den beiden, bis sie doch noch in Basel ankommen und die Reise ein abruptes Ende nimmt.

Matthias Zschokke, geboren 1954 in Bern, ist Schriftsteller und Filmemacher und lebt seit 1979 in Berlin. Für seinen Debütroman «Max» erhielt er 1982 den Robert-Walser-Preis. Später wurde er u.a. mit dem Solothurner Literaturpreis, dem Grossen Berner Literaturpreis, dem Eidgenössischen Literaturpreis, dem Gerhart-Hauptmann- und dem Schillerpreis geehrt – und, als bislang einziger deutschsprachiger Autor, mit dem französischen Prix Femina étranger für «Maurice mit Huhn».

19. November 11 Uhr: Preisverleihung Schweizer Buchpreis 2023
Zum sechzehnten Mal vergibt der Schweizer Buchhandels- und Verlags-Verband SBVV zusammen mit LiteraturBasel den Schweizer Buchpreis. Zur feierlichen Preisverleihung 2023 im Foyer des Theater Basel sind Sie herzlich eingeladen. Der Eintritt ist gratis, Tickets können Sie ab Mitte Oktober über die Webseite des Internationalen Literaturfestivals BuchBasel beziehen.

Illustrationen © leale.ch

literaturblatt.ch begleitet den Schweizer Buchpreis 2023, #SchweizerBuchpreis 23/01

Jedes Jahr im November wird im Theater Basel der Schweizer Buchpreis für das beste erzählerische oder essayistische deutschsprachige Werk von Schweizer oder seit mindestens zwei Jahren in der Schweiz lebenden Autorinnen und Autoren überreicht. Am 13. September gibt der Schweizer Buchhandels- und Verlags-Verband die fünf Nominierten bekannt.

Letztes Jahr war es Kim de l’Horizon mit seinem Debüt «Blutbuch», einem Roman, der die Jury durch seine Sprache, seine Erzählweise aber auch durch seine Offen- und Direktheit überzeugte: «Der Text lässt Erzählkonventionen hinter sich und erzählt auf verblüffend eigenwillige Art eine Familiengeschichte vor dem Hintergrund der aktuellen Gender- und Klassendebatten.» Eine Entscheidung, die nicht zuletzt deshalb zu Diskussionen führte, weil bei den Nominierten mit Thomas Hürlimann und seinem Roman «Der rote Diamant» ein Grosser der deutschsprachigen Literatur stand, der es, gemessen an seinem Werk, sehr wohl verdient hätte, für diesen Roman mit einem grossen, publikumswirksamen Preis ausgezeichnet zu werden.

Nachdem Kim de l’Horizons Roman «Blutbuch» im vergangenen November mit dem Schweizer Buchpreis 2022 ausgezeichnet wurde, schlugen die Wellen regelrecht über dem jungen Autor zusammen. Sinnbildlich dafür die unendlich lange Schlange bei den letzten Solothurner Literaturtagen, als der grösste Saal des Festivals übervoll wurde, weil sowohl Buch wie Autor in aller Munde waren. Der Roman «Blutbuch» verkaufte sich schon vor der Verleihung des Schweizer Buchpreises ausgezeichnet. Kim de l’Horizon gewann mit seinem Buch im gleichen Jahr auch schon den Deutschen Buchpreis, ein Doppelerfolg, der erst Melinda Nadj Abonji 2010 mit dem Roman «Tauben fliegen auf» verbuchen konnte. Mit den beiden Preisen schlugen die Verkaufszahlen, zumindest für Schweizer Verhältnisse, durch die Decke.

Literaturpreise gibt es viele. Es gibt zwei Kategorien; jene, die ein Buch alleine auszeichnen und jene, die das Werk einer Schriftstellerin oder eines Schriftstellers auszeichnen. Preise sind wichtig, denn sie schenken nicht nur Aufmerksamkeit, sondern ermöglichen mit der Preissumme eine gewisse Zeit des Schreibens ohne wirtschaftliche Sorgen. Aber Preise sind letztlich immer der Entscheidung einer Jury unterworfen, die Vorlieben und Präferenzen unmöglich blockieren kann. Und sehe ich die Listen der Preise gewisser Autorinnen und Autoren durch, kann ich mich nicht gegen den Eindruck wehren, dass gewisse Preise weitere Preise regelrecht provozieren.

Nun denn. Der Schweizer Buchpreis prämiert das beste «Schweizer» Buch. Eine heere Absicht, der niemals und in keiner Weise entsprochen werden kann. Das eine Buch, das man im November auf den Sockel hieven wird, ist jenes Buch, das den Konsens in der Jury traf, das den Bedürfnissen des Schweizer Buchhandels in Sachen Qualität, Lesbarkeit und Verkäuflichkeit am meisten dient. 
Im vergangenen Jahr war mit «Pommfritz aus der Hölle» von Lioba Happel ein äusserst spannendes Buch unter den fünf Nominierten. Ein Buch, dass durch seine Radikalität, seine Eigenwilligkeit und Sprachkunst überzeugte. Aber das Buch war und ist keines, das man der alt gewordenen Mutter unter den Christbaum legt. Nicht mal meine Söhne hätten es gelesen. Nicht weil sie Anspruchsvolles grundsätzlich verschmähen. Aber die meisten lesen doch, weil sie unterhalten werden wollen.

Am 13. September werden wieder fünf nominierte Bücher präsentiert. Ganz viele Bücher, die es wert gewesen wären, werden fehlen, wie immer, jedes Jahr. Ganz viele Verlage und noch mehr Autorinnen und Autoren werden sich die Augen reiben. Die einen, weil sie nie und nimmer damit gerechnet hätten bei den fünf Nominierten zu sein, die anderen, weil ihre Namen schlicht fehlen auf der kurzen Liste. Und ein paar wenige werden gar beleidigt sein, weil man sie (wieder) nicht berücksichtigte.
Auch bei den Lesenden wird es viele geben, die die Nase rümpfen oder verkünden, die Liste ginge sang- und klanglos an ihnen vorbei.

Ob dem so ist oder nicht, es werden fünf spannende Bücher sein mit fünf spannenden Namen und Geschichten dahinter. Ich freue mich darauf, auch wenn es eigentlich unmöglich ist, fünf Bücher in einem Wettbewerb ohne transparente Kriterien gegeneinander antreten zu lassen.

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„Blutbuch“ von Kim de l‘Horizon gewinnt den Schweizer Buchpreis 2022 #SchweizerBuchpreis 22/11

Laudatio zu Kim de l’Horizon «Blutbuch» (DuMont Buchverlag) von Sieglinde Geisel, Jurymitglied

Kim de l’Horizons Debüt «Blutbuch» ist ein Chamäleon von einem Roman. Es ist die Coming of Age-Geschichte eines Menschen, der sich geschlechtlich nicht definieren will und zugleich eine Sozialstudie über die Gesellschaft, die das nicht akzeptiert. Es ist ein Buch über die Kindheit und eine Suche nach den Vorfahrinnen. Es ist ein Buch, das sämtliche Diskurse der Political Correctness verarbeitet, von der Diversität der Geschlechter über den Rassismus bis zu Klassenunterschieden – und das doch kein non-binärer Thesenroman ist.

«Blutbuch» feiert die Sprache als ein Medium des Erfindens und Ausprobierens, er bedient sich aller Register des Sprechens. So wird im Berner Dialekt aus der «Mutter» eine «Meer» und aus der «Grossmutter» eine «Grossmeer», und auf einmal ahnen wir ein Meer, in dem wir untergehen könnten.

In jedem der fünf Kapitel spricht eine andere Stimme. Wir lesen konzentrierte Kindheitsprosa («Grossmeers Hände … packen meine Kinderarme (…) und streicheln sie unbarmherzig») und poetisch aufgeladene Einsichten («Die Kindheit fühlt sich an wie ein toter Hase an einem Feldwegrand, der langsam von Ameisen, Fliegen, Bakterien und Pilzen zersetzt wird.»). Wir lesen sozialkritische Analysen (über «den Rassismus, den mensch uns mit dem Schnuller eingetrichtert hat und der nicht einfach aufhört zu wirken, auch wenn wir uns gegen ihn entscheiden»), und dann wieder werden wir von rhapsodisch verwilderten Sexszenen an die Grenze des Zumutbaren katapultiert. Wir lesen Stammbaum-Einträge der Vorfahrinnen, die die «Meer» in ihre Schreibmaschine getippt hat, Frauenporträts, die den viele Jahrhunderte umfassenden Echoraum der Unterdrückung öffnen. Auch die «Meer» selbst hat ihr Studium dem Kind geopfert, das nun dieses Buch schreibt und ihr eine dialektgefärbte, bisweilen um Formulierungen ringende Stimme verleiht. Das letzte Kapitel schliesslich ist auf Englisch geschrieben: Die in die Dem‹enz versinkende Grossmeer soll diese Briefe nicht lesen können, denn was der Ich-Erzähler ausdrücken möchte, kann er ihr nicht sagen. «I am still scared of you, Grandma, scared of what you will do when you read all of this.»
Ein sprachlich überbordender Roman über die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen – auch so könnte man dieses vielgestaltige Buch benennen. Zusammenfassen kann man es nicht, es strebt in alle Richtungen. «This naughty text, der einfach nicht straight sein will, der sich einfach ständig unter meinen schlecht lackierten Nägeln wegdreht wegquengelt wegqueert.» Der Ich-Erzähler reflektiert sich ständig selbst: «Vielleicht ist es das, was ‹Autofiktion› bedeutet: mit eigenem Tempo, eigenem Fokus und eigenem Modus durch die Wirklichkeit zu fahren.» In der Tat begegnen wir hier einer Sprache, die beschleunigt, abbremst, ausbricht, nach innen horcht, ausschert, dann wieder überraschend die Spur hält – zwischen all diesen Stühlen, auf die der Autor sich nicht setzen will.

Mit diesem Debüt hat Kim de l’Horizon der literarischen Sprache der Schweiz einen neuen Kosmos eröffnet. Ich gratuliere Kim de l’Horizon im Namen der Jury zur Nominierung für den Schweizer Buchpreis.

Illustration © Charlotte Walder

Wer gewinnt den Schweizer Buchpreis 2022? #SchweizerBuchpreis 22/10

Am Sonntag, den 20. November, kurz vor Mittag, ist es soweit; die Preisträgerin oder Preisträger des Schweizer Buchpreises 2022 wird im Theater Basel bekanntgegeben. Kameras, Blitzlichter, Blumensträusse, Enttäuschung da, Freude dort.

Ich gebe Alex Capus recht, Schreiben ist keine Olympische Disziplin. Schreiben ist Kunst. Und Kunst lässt sich höchstens mit Verkaufszahlen vergleichen, was aber nichts mit der Kunst selber zu tun hat, höchstens mit der Fähigkeit anderer oder jener, sich dementsprechend zu verkaufen. Ich gebe Alex Capus auch recht, dass AutorInnen nicht zu Zirkuspferden degradiert werden dürfen und sollen, die vorgeführt werden; ein Leitpferd mit hübschem Kopfschmuck und vier Begleitpferden, die das eine einrahmen. Dass es bei der Preisverleihung einen solchen Moment gibt, der nie ohne eine kleiner oder grösser werdende Peinlichkeit auskommt, streite ich auch gar nicht ab.

Aber bei einem Buchpreis wird auch nicht das wirklich beste Buch des Jahres ausgezeichnet. Wie sollte ein solches auch bestimmt werden. Schon die Frage, ob es ein solches überhaupt gibt, kann zumindest ich mit einem unmissverständlichen Nein beantworten. Das beste Buch? Da liest eine fünfköpfige Jury das, was von den Verlagen eingesandt wird. Sie lesen und geben dem einen Buch mehr Gewicht als den anderen, bis fünf Bücher nach einer Ausscheidung zurückbleiben. Aus der Politik wissen wir, dass am Schluss eines Prozesses der Kompromiss, der grösstmögliche gemeinsame Nenner präsentiert wird. Das ist auch hier so, auch wenn sich die diesjährige Jury sehr mutig gezeigt hat und alles andere als eine „Einheitssuppe“ präsentierte.

Thomas Hürlimann, Kim de l’Horizon, Lioba Happel, Simon Froehling und Thomas Röthlisberger


Das beste Buch des Jahres? Es ist wohl eher so, dass sich eine Jury auf ein Buch einigen konnte, auf das man einen extragrossen Scheinwerfer richten will. Der Schweizer Buchpreis ist vom Schweizerischen BuchhändlerInnenverein organisiert und mitfinanziert. Verkaufstechnische Überlegungen stehen im Vordergrund. Der Buchpreis ist eine PR-Aktion. Wie viel Bedeutung man diesem Preis zugestehen will, sei jedem selbst überlassen.

Viele Künstler, SchriftstellerInnen leben nicht allein vom Verkauf ihrer Kunst, ihrer Bücher. In der Schweiz mag es ein Dutzend AutorInnen geben, die das schaffen. Es braucht Lesungen, Stipendien, Förderbeiträge – und Preise. Preise generieren Aufmerksamkeit. Zu hoffen ist, dass alle Nominierten von solcher Aufmerksamkeit profitieren, auch Kim de l’Horizon, der in den letzten Monaten peinlich viel Unsinn über sich ergehen lassen musste.

Ich glaube, dass sich die Bücher von Thomas Hürlimann und Kim de l’Horizon in der Pole-Position die Nase vorn haben. Die Jury wird in jedem Fall mit der Bekanntgabe des Schweizer Buchpreises ein Statement abgeben. Sei es ein Statement für Tradition oder eines für Aufbruch. Grosse Preise, auch wenn der Schweizer Buchpreis im Ausland nur mässig wahrgenommen wird, sind immer Statement. Selbst die Vergabe des diesjährigen Nobelpreises für Literatur an die französische Altmeisterin Annie Ernaux kann als Statement verstanden werden. Mit «Das Ereignis» schrieb sie einen Roman über (oder gegen) staatlich kriminalisierte Abtreibung. Über die infernalische Einsamkeit einer jungen Frau im Kampf für ihr Recht auf Selbstbestimmung. Wenn man sieht, was in den USA oder auch in europäischen Ländern geschieht, ist diese Wahl mit Sicherheit auch ein Stück weit Signal.

Mein Siegerbuch ist «Blutbuch» von Kim de l’Horizon. Sollte Kim de l’Horizon am Schluss der Preisvergabe nicht im Blitzlichtregen auf der Bühne stehen wird, ist Kim de l’Horizons Buch mein Buch.
Weil es sich traut, weil es mutig ist.
Weil es dermassen vielschichtig, verflochten und klug ist.
Weil es mich ohne Arroganz zu lehren weiss.
Weil es mich überrascht und aus den Socken haut.
Weil Kim de l’Horizon sprachlich derart viele Register ziehen kann.
Weil die Diskussionen über dieses Buch und aus diesem Buch nicht enden werden.
Weil mich die Tatsache, dass «Blutbuch» ein Debütroman ist, verblüfft.

Und die anderen vier Bücher? Mein Kompliment an die Jury, denn die Shortlist des Schweizer Buchpreises hat es in sich. Fünf literarische Würfe, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Fünf Bücher, deren Lektüre sich lohnt, die es mir aber, weil sie mehr als blosse Unterhaltung sein wollen, nicht immer leicht machten.

«Blutbuch» von Kim de l’Horizon
«Der Rote Diamant» von Thomas Hürlimann
«Steine zählen» von Thomas Röthlisberger
«Pommfritz aus der Hölle» von Lioba Happel 
«Dürrst» von Simon Froehling

Gallus Frei

Illustrationen © leafrei.com

Buchgeflüster 2 #SchweizerBuchpreis 22/9

Hier flüstern Manuela Hofstätter von lesefieber.ch und ich über Bücher, die Nominierten, den Schweizer Buchpreis 2022 und überhaupt … 

Liebe Manu

Dein Optimismus ehrt Dich. Vielleicht hat meine Ernüchterung damit zu tun, dass das Lesen, die Lektüre für mich weit mehr als Unterhaltung und Zeitvertreib ist. Ich messe ein Buch nicht an seiner Zersteuungswirkung. Ganz im Gegenteil. Ich messe ein Buch an dem, was es in mir auslöst; an Gedanken, Reflexion, Resonanz, Emotion, Konzentration.

In meinem Brotberuf bin ich in der Bildung tätig. Dort ist die Versuchung gross, Bücher bloss als Stoffträger einzubinden. Selbst Literatur wird degradiert zu fremd gewordener Auseinandersetzung, einem Frage-Antwortspiel, blutleer und seelenlos. Jüngeren Kindern muss das Buch gegen all die anderen „Unterhaltungen“ standhalten. Dabei ist Literatur ein Tor zu Dimensionen, die einem sonst verschlossen bleiben. Literatur ist Türöffner. Und manchmal reisst der Himmel auf und Sprache leuchtet durch mich hindurch, löst ein Schaudern aus.

Ich bin mir alles andere als sicher, ob der Schweizer Buchpreis jenes Buch auszeichnen wird, dessen Tiefenwirkung am grössten ist. Das ist auch gar nicht die Aufgabe dieses Preises. Der Preis will Aufmerksamkeit. Das ist alles. Ehrenhaft, dass die Jury „Pommfritz“ von Lioba Happel in die Endausscheidung aufgenommen hat. Aber „Pommfritz“ ist pure Auseinandersetzung. Keine Nachttischchen-, keine Strand- und schon gar keine Unterhaltungslektüre. Bücher wie „Pommfritz“ in der Shortlist sollen wohl der Ernsthaftigkeit dieses Preises dienen. Ob ich „Pommfritz“ weiterempfehlen würde? Nur mit einem Beipackzettel, der vor unerwarteten Nebenwirkungen (, die durchaus schwindlig machen können!) warnt – aber nicht zum Abtauchen – höchstens zum Aufschrecken. „Pommfritz“ ist kein Lesefutter, sondern Medizin.

Liebgruss
Gallus

 

Lieber Gallus,

ich habe dir so lange nicht geantwortet, weil ich deine Zeilen setzen lassen musste. Sie erzeugten im ersten Moment Groll in mir, Groll, der an meiner Berufsehre als Buchhändlerin entflammte und auch gegenüber dem Berufsstand der Lehrer. Literatur an den Schulen; ich ärgere mich zuweilen, wenn ich merke, wie an Schulen jedes Jahr erneut derselbe, meiner Meinung nach schon an Schwachsinn grenzende, gleiche «Klassiker» gelesen wird oder eben eher der Schülerschaft angetan wird. Da bin ich mir sicher, das wirkt nicht lesefördernd, öffnet kein Tor zur Literatur. Das richtet viel mehr Schaden an, denn nach dieser Lektüre ist klar, Lesen, Literatur ist nichts für die junge Generation. Zum grossen Glück gibt es aber doch Lehrkräfte, die da anders unterwegs sind und es verstehen, eine Klassenlektüre zu wählen, welche überzeugt. Den grossen Anspruch, welchen du da nennst, den erwarte ich da noch gar nicht, den sehe ich erst auf der gymnasialen Stufe. Aber die Freude am Lesen wecken, aufzeigen, dass ein Buch so vieles bewegen kann, helfen kann, anregen kann zum Nachdenken, neue Wege eröffnen … das funktioniert, ich habe es schon mehrmals erleben dürfen und appelliere an die Mündigkeit der Leserschaft, egal welchen Alters.

Das beginnt ja bereits beim Bilderbuch. Was mir gefällt, was ich kunstvoll und toll finde, gar noch eine wertvolle pädagogische Botschaft übermittelt sehe, das gefällt der vierjährigen Lilli allermeistens nicht die Bohne. Wenn die Patentante ein Jugendbuch für ihr Patenkind auswählt, geht es oft schief, das Buch bleibt ungelesen, was die Käuferin des Buches nicht erfahren wird. Als Buchhändlerin liebe ich an meinem Beruf am allermeisten; diese Fähigkeit zu erlernen, jeden Tag aufs Neue mein Gegenüber wahrzunehmen, nur dann kann ich versuchen, eine Buchempfehlung zu machen. Die Mündigkeit der Leserschaft ist für mich unantastbar, von daher rührte auch mein anfänglicher Groll deinen Zeilen gegenüber, denn die Überheblichkeit ist der Tod jeglicher Buchempfehlung.
Ich las als allererste Werke in meinem Dasein Comics, das galt damals als Schund oder dein schönes Wort, Stoffträger. Es ist und bleibt für mich weitaus mehr als das. Comics sind und waren immer schon ein höchst wertvoller Einstieg ins Lesen, hin zum Buch, zur Literatur.

Nun, ich schweife ab. Der Schweizer Buchpreis hat also die Aufgabe, Aufmerksamkeit für diese fünf nominierten Werke zu schaffen. Hier zweifle ich nun an, ob das erreicht wird. Hat schon jemals ein Verlag ein Buch verlegt, für welches er sich keine Aufmerksamkeit wünschte? Welchen Werken versucht man nun mit dem Schweizer Buchpreis diese Aufmerksamkeit zu verschaffen? Was möchte man damit erreichen? Ist der Schweizer Buchpreis der Leseförderung zuträglich? Hilft dieser Preis den Buchverkauf der nominierten Werke anzukurbeln?
Lieber hochgeschätzter Gallus, ich bin sehr gespannt, ob du dich diesen schlichten Fragen stellen magst. Ich danke dir für unseren Austausch, möge er noch ein paar Menschen erreichen, oder auch nicht, mir bereitet er jedenfalls Freude und Auseinandersetzung.

Herzlich grüsst dich

Manu

Simon Froehling «Dürrst», bilgerverlag #SchweizerBuchpreis 22/8

„Dürrst“ ist eine gnadenlose Achterbahnfahrt eines aufstrebenden Künstlers zwischen euphorischen Höhenflügen, ekstatischer Arbeit und trostloser Abstürze in die Tiefen psychischer Abgründe. Alles an diesem Leben ist Auseinandersetzung. Auch die Lektüre dieses Romans!

Je nach Lebenssituation ist der Blick in eine andere Richtung gerichtet. Bei den einen zurück, bei den andern in die Zukunft. Dürrsts Blick geht nur nach vorne, auch wenn es sich nur schwer erschliesst, was sich im Nebel der Zukunft abzeichnet. Was Vergangenheit ist und war, stösst er ab, wie die Eidechse ihren Schwanz. Was nachwächst, ist nur mehr rudimentär und hilft gerade noch so, um im Tempo des Lebens das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Ein Elternhaus, das nicht verstehen will, Mutter und Vater, die an die Macht des Geldes glauben, jene Macht, die sie selber stets auf der Welle des Erfolg reiten liess. Dürrst weiss, dass er nicht nach dem Rhythmus seiner Eltern tickt, dass er anders ist, dass sein Schwulsein keine Laune der Natur ist, dass sich sein Wunsch, als Künstler etwas erschaffen zu wollen, genauso wenig einer Laune der Natur zuordnen lässt. Dass sein Leben sich nicht nach Kompromissen richten soll. Dass alles Risiko ist.

Simon Froehling «Dürrst», Bilger, 266 Seiten, CHF 32.00, ISBN 978-3-03762-100-4

Dürrst ist nicht zu fassen. Auch für seine Freunde nicht, seinen Freund. Ein permanent unter Druck stehendes Leben, dass sich kaum zwischen seinen Extremen einpendeln lässt. Einmal wird er als zukünftiger Star von seiner Galeristin gefeiert, ein andermal lässt er sich freiwillig von einem Mantel an Medikamenten zudecken, weil es die einzige Möglichkeit ist, zur Ruhe zu kommen. Manchmal bricht er aus, manchmal bricht er ein.

Einmal wirbelt er wie ein Derwisch durch die wilden Parties der Stadt, verliert sich im Arbeitswahn, in den Ideen zu seiner Kunst. Ein andermal sackt er ab in die Untiefen menschlichen Verlorenseins, vegetiert, ergibt sich der Maschinerie, die hinter verschlossenen Kliniktüren das Zepter in die Hand nimmt.

Eigentlich will Dürrst nur leben, will sein, was er ist, was er in hellen Zeiten seines Lebens als treibende Kraft in sich spürt. Aber weil sein Leben zu einer permanenten Demonstration gegen alles Biedere und „Bünzlihafte“ wird, ist alles Kampf. Ein Kampf der Abnützung, des Anrennens, des Verschleisses. Ich möchte Dürrst beim Lesen an der Hand nehmen, möchte ihn drosseln, weil ich die drohenden Katastrophen erahne.

Simon Froehlings zweiter Roman nach „Lange Nächte Tag“ ist eine buchgewordene Performance, der Schrei einer Generation, die alle Muster ablegen will, die nicht bereit ist, sich all jenen Zwängen zu beugen, die die Generationen zuvor als Selbstverständlichkeit hinnahmen. Aber vielleicht ist „Dürrst“ auch das Manifest einer Generation, die angesichts der Fülle an Eingebrocktem einfach nur die Nase voll hat.

Simon Froehling macht es mir nicht einfach. Sein Roman ist keine Geschichte zur Erbauung, sondern der Schrei von Verlorenen. Auf dem Klappentext steht: „Froehling erzählt den Weg einer brutal schmerzhaften Selbstfindung in Bildern stupender Schönheit.“ „Dürrst» ist nicht Selbstfindung, sondern das unendliche Suchen.

Simon Froehling wurde 1978 geboren, ist schweizerisch-australischer Doppelstaatsbürger und lebt in Zürich. Anfang der Nullerjahre machte er sich hauptsächlich als Lyriker und Dramatiker einen Namen – mit über einem Dutzend Theaterstücken und Hörspielen, die in der Schweiz, Deutschland und Österreich uraufgeführt oder gesendet wurden. Sein erster Roman «Lange Nächte Tag» erschien 2010 im Bilgerverlag. Für sein Werk wurde er mit diversen Preisen ausgezeichnet, u. a. dem Publikumspreis der St. Galler Autorentage, dem Dramatikerpreis der Schweizerischen Autorengesellschaft, einem Heinz-Weder-Anerkennungspreis für Lyrik und dem Network-Kulturpreis der schwulen Führungskräfte. Simon Froehling ist Absolvent des Schweizerischen Literaturinstituts in Biel/Bienne. Neben seiner Tätigkeit als freier Autor und Übersetzer arbeitet er am Tanzhaus Zürich als Dramaturg und Kommunikator.