Helena Adler «Miserere», Jungundjung

Helena Adler starb Anfang 2024 an einem Hirntumor, nicht einmal 40 Jahre alt. Sie war verheiratet, Mutter eines Sohnes – und begnadete Schriftstellerin. Vielleicht eine der vielversprechendsten im deutschsprachigen Raum, eine der innovativsten, mutigsten. Nach nur drei Romanen brach etwas ab, was grossartig und bahnbrechend immer neue Blüten getragen hätte.

Helena Adler, eigentlich Stephanie Helena Prähauser, war Schriftstellerin und Malerin. 2018 erschien ihr Debüt „Herz 52“, der auf jenen „Hertz 52“ genannten Wal anspielt, der aufgrund seiner falschen Tonhöhe beim Singen von seinen Artgenossen keine Antwort erhält und deshalb völlig einsam ist. 2020 dann ihr vielbeachteter und hochgelobter Roman „Die Infantin trägt den Scheitel links“ und zwei Jahre später „Fretten“, beide beim Verlag Jungundjung. „Die Infantin trägt den Scheitel links“ und „Fretten“ sind Unikate der deutschsprachigen Literatur. Obwohl es in Österreich eine regelrechte Tradition des Wutromas gibt, die mit Thomas Bernhard eine unvergessliche „Leitfigur“ hervorbrachte, sind die beiden Romane Helena Adlers viel mehr. Sie sind sprachliche Feuerwerke, wilde Fahrten, Lichtspiele.

Sie kennen das Gefühl, in ihrem Leben das eine oder andere versäumt zu haben? Vorsätze, die sie nie umsetzten, die ins Leere liefen, die nie mehr nachzuholen sind, weil etwas abgerissen ist? Als ich von Helena Adler ihren zuletzt erschienenen Roman „Fretten“ gelesen hatte, nahm ich Kontakt mit der Autorin auf und bat sie um ein Mailinterview. Daraus wurde ein kleiner Mailverkehr, bei dem sie mir auch ein paar Fotographien ihrer Gemälde zusandte, Bilder die man bei meiner Rezension noch immer entdecken kann, Bilder, die wie ihr Schreiben aufs Ganze gehen und gar nichts mit Schmuck zu tun haben. Schreiben und Malen waren ultimativ, griffen bis aufs Mark, kompromisslos und schonungslos ihrem eigenen Selbst gegenüber. Damals versprach ich ihr, auf einer meiner nächsten Reisen nach Kärnten, ins Heimatland meiner Frau, in ihrem Atelier einen Besuch abzustatten. Ein paar Monate später erhielt sie die Diagnose Hirntumor. 

Die Künsterin, die wie manch andere Schriftsteller*innen auch der Malerei zugewandt war, schrieb auf die Frage, was in ihrem Fall das Malen vom Schreiben unterscheide: „Das Schreiben verlangt mehr ab, hinter der Leinwand kann ich mich besser verstecken. Beim Schreiben bin ich viel ausgesetzter. Das Schreiben ist mein Hirn und Herz, das Malen mein Körper.“

Helena Adler «Miserere», Jungundjung, 2024, 72 Seiten, CHF ca. 24.90, ISBN 978-3-99027-407-1

Im Sommer 2023 war Helena Adler zum Bachmann-Preislesen in Klagenfurt eingeladen, musste diesen Auftritt aber wegen ihrer Diagnose absagen. Nun legt Jungundjung mit „Miserere“ drei Texte vor, die für die Autorin als abgeschlossen galten, aber nie in ein Buch Einzug hielten. Der längste der drei Texte „Miserere Melancholia“ wäre Helena Adlers Beitrag in Klagenfurt zum Bachmannpreislesen gewesen, eingeladen vom Juroren Klaus Kastenberger. Drei Texte, die das konzentrieren, was die Besonderheiten Helena Adlers Schreiben ausmachen. Die Intensität, die pralle Bilderflut und die opulenten Satzkaskaden, die von kaum zu bändigender Musikalität sprühen. „Miserere Melancholia“ hätte mit Sicherheit eingeschlagen und Helena Adler zu noch viel mehr Aufmerksamkeit verholfen, einer Aufmerksamkeit, nach der sie nicht suchte, die ihr aber gebührt hätte.

Im Mailinterview zu ihrem Roman „Fretten“ schrieb die Autorin auf die Frage, was ihr das Schreiben bedeute: „Für mich ist das ganze Leben ein einziges Gfrett. Ein Passionsweg. Ein ständiges «Sichabmühen und Durchwursteln, ein Über-Abhänge-hangeln, ein unentwegtes Luftanhalten, eine Aneinanderreihung von Augen-zu-und-durch-Momenten, ein andauerndes Aushalten, Überwinden und Fortschreiten ohne Rast.“
Diese Aussage passt mit Sicherheit auch zu dem schmalen Band „Miserere“ (lateinisch ‚Erbarme dich‘). „Miserere Melancholia“, der eigentliche Kerntext des Buches, ist ihre Auseinandersetzung mit der Melancholie, der Schwermut, der Depression, dem Selbstzweifel, manchmal monologisch, manchmal im Dialog mit dem Gnom, dem Mistkerl, der Ausgeburt. Der Text sprüht, badet in Metaphern. Nicht zuletzt beschreibt Helena Adler darin auch ihren Kampf im Schreiben: „Jeder Morgen ein Grauen, in dem es mir dämmert, dass es in mir dämmert“. Helena Adler schrieb nicht, um Geschichten zu erzählen, schon gar nicht zur Unterhaltung. So wie ihre Bilder nie Schmuckstück und Zierde sein sollten. Helena Adlers Texte sind Sprachkunst gewordene Auseinandersetzung, die Spur durch eine gebeutelte Seele. Ein Denk- und Mahnmal dafür, was Kunst sein muss und kann.

Wer sich traut, liest Helena Adler!

Helena Adler, geboren 1983 in Oberndorf bei Salzburg, starb am 5. Januar 2024 an einem Hirntumor. Helena Adler ist eine der wesentlichen Stimmen der jüngeren deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Die Autorin und Künstlerin studierte Psychologie und Philosophie an der Universi-tät Salzburg sowie Malerei am Salzburger Mozarteum und debütierte 2018 mit dem Roman „Hertz 52“. Helena Adlers schwarzhumoriger, sprachkünstle-rischer Anti-Heimat-Roman „Die Infantin trägt den Scheitel links“ gelangte 2020 auf die Longlist des Deutschen Buchpreises und auf die Shortlist des Österreichischen Buchpreises. Im August 2022 erschien im Verlag Jung und Jung ihr Roman „Fretten“, der für den Österreichischen Buchpreis 2022 nominiert wurde.

«Fretten» Rezension mit Interview auf literaturblatt.ch (mit Bildern der Malerin Helena Adler)

Beitragsbild © privat

Teresa Präauer «Wie man einen Apfel isst» Rede zum Bremer Literaturpreis 2024, Wallstein

Teresa Präauer gehört mit ihren 45 Jahren zu den Grossen der österreichischen Literatur, zur dortigen Kulturszene überhaupt. Sie schreibt Romane, Essays und Kunstbetrachtungen, illustriert und malt. Sie gewinnt Preise und macht sich in ganz eigener Art und Weise Gedanken darüber, wie wir etwas tun – auch in ihrer Preisrede zum Literaturpreis der Stadt Bremen für ihren Roman „Kochen im falschen Jahrhundert“.

Was Teresa Präauer in den vergangenen 20 Jahren schuf und dafür Preise gewann, ist beachtlich. Nicht nur die Vielfalt ihrer Kunst, auch die Kraft, mit der sie zu einer der wichtigsten Exponentinnen der österreichischen Literatur zählt, einer Szene, die wie in kaum einem anderen deutschsprachigen Land derart viel Originalität ausstrahlt.

Teresa Präauer schaut hin, ob sie es schreibend, malend oder zeichnend tut. In ihrer Preisrede zum Literaturpreis der Stadt Bremen, in einem wunderschön edierten Büchlein bei Wallstein herausgekommen, beobachtet sie ihren Grossvater beim Essen eines Apfels und lässt sich verunsichern durch die Fragen ihres Neffen. Wer nicht beobachten kann, wer sich keine Fragen stellen lässt und sich durch diese nicht verunsichern lässt, schreibt auch keine interessanten Bücher, zumindest keine, die ich lesen möchte. Wer mir nur Antworten aufdrängt und mir zu verstehen gibt, dass ich nicht verstehe, wer mir mit seinem Schreiben keine Türen aufreisst und mich zum Nachdenken zwingt, wer mich nicht überrascht und verblüfft, dem bin ich schlicht nicht bereit, meine Lebenszeit zu schenken.

Zugegeben, das Büchelein ist schmal und mit seinen 30 Seiten wahrhaft kein Schwergewicht. Aber was die vielbegabte Künstlerin darin ausbreitet, ist ein Manifest in Sachen Genauigkeit, Hingabe und Bescheidenheit. Teresa Präauer verrät etwas von den Prämissen ihrer Kunst, was ihren Blick auf die Dinge ausmacht. In „Wie man einen Apfel isst“ sind zwei Texte vereint, die etwas davon erzählen, wie ihr Blick sie prägt, woher sie nimmt, was sie später erschafft.

Teresa Präauer «Wie man einen Apfel isst» Rede zum Bremer Literaturpreis, Wallstein, 2024, 32 Seiten, CHF ca. 19.80, ISBN 978-3-8353-5758-7

Wie essen sie einen Apfel? Mit Stumpf und Stil oder akkurat in Schnitze geschnitten? Teresa Präauer erinnert sich an ihren Grossvater. Der ass nicht einfach einen Apfel. Das Verspeisen der Frucht war Teil eines Rituals, logische Folge einer Lebenseinstellung, einer Haltung. Er setzte sich an einen Tisch, mit Teller und Frucht vor sich auf dem Tischtuch, hatte ein Küchentuhh auf dem Oberschenkel und ein eigens für dieses Zeremoniell dienendes Taschenmesser. Wie er den Apfel verspeist erinnert an ein japanisches Zeremoniell, sei dies nun zur Teezubereitung oder der Herstellung von Speisen. Das Tun an sich ist schon Teil der Handlung, ein Teil des Genusses. Die Hinwendung und Hingabe an ein Tun. Nicht das Sättigungsgefühl, der volle Bauch ist das Ziel, sondern all die Schritte zuvor. Und all diese Schritte entspringen einer Haltung, einem Bewusstsein, einem tiefen Respekt vor dem Objekt und seiner Verwandlung. Weit weg von Bedürfnisbefriedigung.

Aber was hat das Verspiesen eines Apfels mit dem Schreiben zu tun? Oder was hat die Frage eines Neffen „Kennst du den Zufall“ mit dem Schreiben zu tun? Das Schreiben selbst entspringt einer Haltung, ist Teil einer Haltung. Schreiben als eine demütige Form der Entgegnung? Schreiben als langsame Verinnerlichung. Als ritualisierte Handlung, bei der nicht die Sättigung das Ziel ist. Eine behutsame Auseinandersetzung mit Objekt und Subjekt, ein Tun voller Respekt.

Ich mag Texte, die mich zum Nachdenken einladen. Und „Wie man einen Apfel isst“ lädt ein, die Bücher Teresa Präauers noch einmal aus dem Regal zu nehmen.

Teresa Präauer geb. 1979, studierte Germanistik und bildende Kunst. Im Wallstein Verlag erschienen die Romane «Für den Herrscher aus Übersee», «Johnny und Jean» und «Oh Schimmi» sowie der Großessay «Tier werden», das Geschichtenbuch «Das Glück ist eine Bohne» und der Erzählband «Mädchen», dessen theoretischen Unterbau Präauers Ende 2021 gehaltenen Zürcher Poetikvorlesungen bilden. Sie wurde unter anderem mit dem aspekte-Literaturpreis (2012), dem Erich-Fried-Preis (2017), dem Ben-Witter-Preis (2022) und dem Bremer Literaturpreis (2024) ausgezeichnet. Teresa Präauer lebt in Wien.

Beitragsbild © Martin Stöbich

Tarjei Vesaas «Die Vögel», Guggolz

Tarjei Vesaas ist einer der Grossen der norwegischen Literatur. Aber vielleicht ist Tarjei Vesaas mehr. Karl Ove Knausgård bezeichnete „Die Vögel“ einmal als den besten norwegischen Roman, der je geschrieben wurde. Dass der Guggolz Verlag die Romane Tarjei Vesaas in so wunderbaren Ausgaben, meisterhaft übersetzt und wunderschön als Buch, verdienstvoll herausbringt, ist ein grosses Glück – und „Die Vögel“ eine Offenbarung.

Nach seinem Tod 1970 geriet Tarjei Vesaas international in Vergessenheit, obwohl man ihn zu Lebzeiten immer wieder als Anwärter für den Nobelpreis machte. Vielleicht liegt unser Glück darin, dass Karl Ove Knausgård den Autor immer und immer wieder auf einen Sockel stellte, oder in der Tatsache, dass sich seine Romane um das Archaische drehen, so gar nichts mit dem flirrenden Zeitgeist zu tun haben und sich doch um urmenschliche Gefühle und grundlegende Fragen drehen. Vielleicht liegt die Faszination dieser Romane auch in der Nähe zur Natur, in einer Sehnsucht, die angesichts der menschgemachten, klimatischen Bedrohungen immer deutlicher nach Nahrung sucht. Aber vielleicht ist es auch ganz einfach die unbestreitbare Fähigkeit des Autors, in unnachahmlicher Weise Beziehungen, Szenerien und Innenwelten zu beschreiben.
„Die Vögel“ schreibt sich in die Welt eines noch jungen Mannes, der sich in seiner begrenzen Welt mehr und mehr an den Rand, an den Abgrund gedrängt fühlt. Ein Mann, dessen Welt abdriftet, eine Welt, die sich mit der aller anderen streitet, nichts Gemeinsames mehr findet. Tarjei Vesaas beschreibt einen Zustand, der seit der Pandemie auch in der Gesellschaft grassiert.

Tarjei Vesaas «Die Vögel», Guggolz, 2020, aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel, mit einem Nachwort von Judith Hermann, 275 Seiten, CHF ca. 31.90, ISBN 978-3-945370-28-5

Mattis lebt mit seiner älteren Schwester Hege allein in einem kleinen Haus irgendwo in Norwegen, über einem See, nicht weit vom Wald, aber abgeschottet vom nahen Dorf. Mattis ist anders. Seine Welt ist klein. Im Dorf schimpft man ihn einen Dussel. Einer festen Arbeit geht er nicht nach. Vielmehr versinkt er immer wieder in stillen Versuchen, eine Antwort auf seine ganz eigenen Fragen zu finden. Hege, nach dem frühen Tod ihrer Eltern, sorgt für ihn, verdient das wenige Geld, das sie über Wasser hält mit Strickarbeiten. Hege ist hängen geblieben; das kleine Haus, die Abgeschiedenheit, die tägliche Sorge um ein Auskommen und Mattis. Manchmal taucht Mattis im Dorf auf, kauft sich im Kaufhaus Bonbons oder sucht nach den Ermahnungen seiner Schwester Arbeit, die ihn aber meist überfordert, auch wenn ihn der eine oder andere Bauer ein paar Stunden gewähren lässt.

Dafür sitzt Mattis viel am See oder in seinem alten Ruderboot und denkt nach, versucht seine Welt zu ergründen und jene seiner Schwester Hege – eine kleine Welt mit grossen Fragen. Mattis sieht und hört aber auch die Stimmen und Zeichen der Natur. Zuallererst die Vögel, Schnepfen, die in diesem Jahr viel früher ihre Bahnen übers Haus ziehen. Er versteht den jungen Jäger aus dem Dorf nicht, der eine dieser Schnepfen vom Himmel schiesst. Mattis fürchtet sich vor Gewittern, dem Blitz, der eines Tages einen der beiden verdorrten Bäume nicht weit vom Haus zerschlägt, zwei Bäume, die man bis ins Dorf Mattis-und-Hege nennt. Mattis ist überzeugt, dass eine neue Zeit angebrochen ist, dass sich die Dinge verändern werden. Und es wächst die Angst, dass alles, was sich verändert, zu seinen Ungunsten sein könnte, allein schon deshalb, weil niemand verstehen will, nicht einmal Hege.

Nach seinem Entschluss, nun doch Fährmann über See zu werden, auch wenn niemand darauf gewartet hat, und tatsächlich ein erster Gast auftaucht, der nach seinen Diensten fragt und nach nasser Überfahrt nach einer Unterkunft fragt, nachdem ihn zwei junge Mädchen von der Insel retten und diese Rettung zur triumphalen Einfahrt in den Dorfhafen wird, scheint sich für Mattis alles zum Guten zu wenden. Wenn nur Jørgen, der Holzfäller, den er über den See brachte, sich nicht im Zimmer unter dem Dach einquartiert hätte.
Mit einem Mal glaubt Mattis, die Zeichen stehen gegen ihn, Hege würde sich von ihm abwenden, gegen ihn entscheiden.

Was Tarjei Vesaas an Atmosphäre in diesen Roman hineinbringt, wie gut er sich in Mattis, einen Dussel, seine Welt, seine Sicht, seine Gefühle hineinversetzen kann, wie nah er sich in diesen Dussel hineinversetzt, ohne nur in einem Nebensatz einen solchen aus ihm zu machen, wie perfekt er die Dramatik in seiner Geschichte wachsen lässt, ist ausserordentlich. Mattis versucht seine Welt zu lesen, er sucht nach Erklärungen. Hege, seine Schwester, lebt unter dem gleichen Dach, auf der Schwelle zu einer ganz anderen Welt. Und die Tatsache, dass sie die Welt ganz anders liest, schmerzt Mattis bis aufs Mark.

Ein aussergewöhnliches Buch eines aussergewöhnlichen Dichters!

Tarjei Vesaas (1897–1970) war der älteste Sohn eines Bauern in Vinje/Telemark, dessen Familie seit 300 Jahren im selben Haus lebte. Vesaas wusste früh, dass er Schriftsteller werden wollte, verweigerte die traditionsgemässe Übernahme des Hofes und bereiste in den 1920er und 1930er Jahren Europa. 1934 heiratete er die Lyrikerin Halldis Moren und liess sich bis zu seinem Tod 1970 in der Heimatgemeinde Vinje auf dem nahe gelegenen Hof Midtbø nieder. Vesaas verfasste Gedichte, Dramen, Kurzprosa und Romane, die ihm internationalen Ruhm einbrachten. Er schrieb seine Romane auf Nynorsk, der norwegischen Sprache, die – anders als Bokmål, das »Buch-Norwegisch« – auf westnorwegischen Dialekten basiert. Abseits der Grossstädte schuf Vesaas ein dennoch hochmodernes, lyrisch-präzise verknapptes Werk mit rätselhaft-symbolistischen Zügen, für das er mehrmals für den Nobelpreis vorgeschlagen wurde. Als seine grössten Meisterwerke gelten «Das Eis-Schloss», für das er 1964 den Preis des Nordischen Rats erhielt, und «Die Vögel», das Karl-Ove Knausgård als «besten norwegischen Roman, der je geschrieben wurde» bezeichnete.

Hinrich Schmidt-Henkel, geboren 1959 in Berlin, übersetzt aus dem Französischen, Norwegischen und Italienischen u. a. Werke von Henrik Ibsen, Kjell Askildsen, Jon Fosse, Tomas Espedal, Louis-Ferdinand Céline, Édouard Louis und Tarjei Vesaas. Für seine Arbeit wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. (gemeinsam mit Frank Heibert) mit dem Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW und zuletzt 2018 mit dem Königlich Norwegischen Verdienstorden.

Tarjei Vesaas «Boot am Abend. Nimm meine Hand. Der wilde Reiter», Rezension auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Rolf Chr. Ulrichsen

Anna Katharina Fröhlich «Die Yacht», Friedenauer Presse

Wenn ein schmales Buch mit „Eine Sommernovelle“ untertitelt ist, ist man versucht, es für ein flockig leichtes Geschichtchen zu nehmen. Was in seiner Tonalität ein bisschen verklärt und fast antiquiert daherkommt, offenbart Tiefen, die überraschen. „Die Yacht“ ist ebenso melancholisch wie tiefgründig. Anna Katharina Fröhlichs Novelle mahnt zur Ehrlichkeit.

Anna Katharina Fröhlich lebt in Italien. Sie kennt das Licht, die Gerüche und Geräusche, den Geschmack und den Duft. Wer „Die Yacht“ liest, taucht, nimmt all dies mit, taucht ein in eine Welt, die zumindest ich, nur von Urlauben kenne. Und Anna Katharina Fröhlich beherrscht in ihrer Sprache eine Kunst, die mich staunen lässt, etwas, was mich auf den ersten Seiten misstrauisch machte, weil ich mich selbst beim Schreiben davor hüten würde; Anna Katharina Fröhlich mischt in ihre Novelle Adjektive derart üppig, dass ihre Sprachmelodie im ersten Moment fast aufgeblasen scheint. Aber ihr grosszüger Umgang mit dieser Wortart korrespondiert mit der Welt, die sie beschreibt. Auf der einen Seite lebt dieses Buch von sinnlichen Eindrücken, zum andern beschreibt sie sehr genau die Oberfläche, sei es die der Dinge, der Menschen und der Innenwelten.

„Hinsehen ist besser als denken, weil sehen auch erschaffen bedeutet.“

Martha Oberon ist eine junge Frau, die in einer italienischen Kleinstadt nicht nur die Ruhe, die Distanz, Antworten und eine Richtung sucht, sondern sich selbst. Ausgebrochen aus der Enge ihres Elternhauses und den Verwirrungen ihrer Gegenwart will Martha herausfinden, wie sie dorthin gelangt, wo sie einst ihr Grossvater hinsteuern wollte. Marta zeichnet. Sie besucht in der kleinen Stadt in Italien einen Malkurs. Aber sie will mehr. Sie will Wegweiser.

Anna Katharina Fröhlich «Die Yacht», Matthes & Seitz, 2024, 164 Seiten, CHF ca. 26.90, ISBN 978-3-7518-8012-1

Sie lässt sich ein in das Leben dieser Stadt. An einem Sonntagmorgen lernt sie in einer Bar einen Mann mit einer Rose im Knopfloch kennen. Salvatore Spinelli. Ein seltsam aus der Zeit gefallener Herr, auf den ersten Blick mit gediegener Eleganz, bei genauerem Hinschauen; geflickte Löcher in seinem weissen Hemd, ein Riss im Ärmel seiner Leinenjacke. Sie kommen ins Gespräch und Martha fühlt, bei ihm etwas gefunden zu haben, wonach sie schon so lange gesucht hatte. Spinelli zeigt ihr jeden Winkel der Stadt. Jeder und jede kennt ihn, weiss von seiner Armut, seiner Offenherzigkeit, seinem Charme. Er ist ein Teil dieser alten Mauern, ein Überbleibsel einer Welt, die sich im Bann moderner Kommunikationsmittel und dem Stress der Gegenwart zu verlieren droht. Spinelli öffnet sie in eine Welt, von der sie mit ihrer Art des Zeichnens ahnte. Mit einem Mal scheint sich aufzutun, was ihr bisher verschlossen blieb.

„Spinelli war der einzige Mensch, den sie kannte, der keinen Beruf, keine Versicherung, keinen Status, kein Bankkonto, keine Frau und keine Kinder hatte, in denen er das Erbe seines Wesens hätte sichern können. Er vertrat nichts und niemanden mehr ausser sich selbst.“

Spinelli lädt sie ein zu einer Reise in den Süden, nach Sizilien. Dort kennt er die Tabarins. Ein Paar, das in einem weissen Haus auf einem Felsplateau über dem Meer wohnt, das es vor Jahren im Zuge einer Kunstvermittlung kennengelernt hatte. Dort residiert man, von Bediensteten umgarnt, lädt andere Reiche ein, tummelt sich in der Gewissheit, dass einem die Welt gehört. Martha, gleichsam fasziniert wie verunsichert lernt die Malerin Mrs Moore kennen, eine alte Bekannte von Spinelli. Die eigenwillige Künstlerin macht ihr das Angebot, sie zu malen und sie in ihre Kunst einzuführen. Ein Angebot, das für Martha nach Erfüllung riecht und ihrem Leben mit einem Mal Richtung gibt.

Bei einer der Fahrten mit der Yacht der Tabarins, der Devil’s Kiss, lernt Martha den in Tabarins Diensten stehenden Balthasar kennen, der eigentlich Griša Pavloviç heisst und mit dem Namenswechsel seiner Herkunft zu entfliehen versucht, ein Verbündeter, später ein Geliebter. Aber Martha muss schmerzhaft erfahren, dass die Welt im weissen Haus über dem Meer und der mit allem Luxus ausgestatteten Yacht, wie alles eine Welt des Scheins, eine perfekt inszenierte Kulisse ist.

„Den wahren Träumer sehe ich als Jäger, der in dem unergründlichen Dickicht des eigenen Bewusstseins Jagd auf etwas Fliehendes macht, das seine Existenz auf dieser Welt rechtfertigt.“

Anna Katharina Fröhlich konfrontiert ihre Protagonistin Martha durch eine eigentliche Schule des Sehens mit den Untiefen des Lebens. Einziger Leuchtturm ist Salvatore Spinelli, ein Mann, der sich aus allem herauszuhalten scheint, es aber versteht, den kleinen Geheimnissen des Lebens gegenüber offen zu sein. Ein Mann, der sich der Moderne verweigert. Ein Mann sich in einer Unmittelbarkeit dem Leben stellt, die ihn seltsam fremd und dafür umso faszinierender macht.

Anna Katharina Fröhlich, 1971 geboren, wuchs in Frankfurt a. M. und München auf. Sie veröffentlichte bisher die Romane «Wilde Orangen», «Kream Korner», «Der schöne Gast» und «Rückkehr nach Samthar». Zuletzt erschien ihr Roman «Die Yacht» in der Friedenauer Presse. Sie lebt als Gärtnerin und Vorstandsmitglied des italienischen Verlags Adelphi zwischen Mornaga am Gardasee und Mailand.

Beitragsbild © privat

Claire Keegan «Reichlich spät», Steidl

Claire Keegans Romane sind Konzentrate, sprachlich wie inhaltlich. „Reichlich spät“ beschreibt das Psychogramm eines Mannes, der sich seiner dunklen Seiten nicht bewusst ist, der ganz und gar verklebt ist in der Sicherung seiner eigenen Bedürfnisse. Und Claire Keegan schreibt in einer Intensität, die trunken macht.

Das Buch ist nicht einmal 60 Seiten „dick“. Aber von schmalbrüstig kann keine Rede sein. Nicht dass die Autorin auf Beschreibungen und Stimmungsbilder verzichtet. Aber jeder Satz bebildert das Geschehen. Jede Wendung vervielfacht den Genuss des Lesens, auch wenn die Geschichte bisweilen weh tut.

Cathal lebt und arbeitet in Dublin. Sein Leben spielt sich in der Firma vor seinem Bildschirm, im Bus und seiner Wohnung ab. Nicht dass er einsam wäre. Es ist ein genügsames Leben, ein Leben aber, dass sich von den Dingen um ihn herum nur wenig beeindrucken lässt. Vielleicht ist Cathal ein Prototyp dessen, was Individualismus hervorgebracht hat; eine Sorte Mensch, die sich als absoluter Mittelpunkt des Sein empfindet, alles nach seinen Bedürfnissen misst, ganz auf sich selbst fokussiert ist. Ein Mann, dem Verachtung zum Lebensprogramm wurde. Ein Mann, der sich seine Welt zurechtgelegt hat.

Cathal lernt Sabine kennen, zufällig. Sie verabreden sich öfters. Man verbringt Wochenenden zusammen und immer häufiger Zeit in Cathals Wohnung, weil Sabine keine eigene Wohnung besitzt. Sabine kocht gut. Sie riecht gut. Und sie sieht leidlich gut aus. Für Cathal spricht nichts dagegen, aus dem Provisorischen etwas Festes werden zu lassen, jetzt oder nie. Auch wenn der Heiratsantrag nichts Romantisches an sich hatte und die Gründe dafür einfach bloss triftiger waren als jene dagegen, kaufen die beiden irgendwann Ringe und machen einen Termin aus, an dem die Hochzeit stattfinden soll.

Claire Keegan «Reichlich spät», Steidl, 2024, aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser, 64 Seiten, CHF ca. 21.90, ISBN 978-3-96999-325-5

Aber als Sabine mit ihrem Hausrat in Cathals Wohnung einzieht, wird ihm erst bewusst, dass jenes Leben, mit dem er sich schon Jahre bequem eingerichtet hatte, nicht ohne Einschränkungen weiterzuführen ist. So sehr sich die Dinge in Cathals Wohnung ausbreiten und Sabine sich einnistet, so sehr fühlt er sich in seinem wohl eingerichteten Gefüge bedroht. Und als er sich dann auch noch in Sabines Kaufverhalten, in die Art ihres Haushaltens einmischt und Sabine ihm mehr als deutlich macht, dass sie nicht bereit ist, in der Beziehung die Rolle der Dienenden zu spielen, eskalieren die Auseinandersetzungen. Cathal weiss nicht, wie ihm geschieht.

Auf dem Cover des Buches steht: „In dieser kleinen Geschichte eines gescheiterten Paares erzählt Claire Keegan vom grossen Thema Misogynie (Frauenfeindlichkeit).“ Vielleicht geht es in diesem Buch aber ganz einfach um menschliche Degenerationen, dass Menschen mehr und mehr ihre eigenen Bedürfnisse und Ansichten zum obersten Gesetz erklären, an das sich alles und jeder zu richten hat. Cathal hat schon in seiner eigenen Familie gelernt, dass seine Mutter zu dienen hat, dass eine Frau kein ebenbürtiges Gegenüber ist, dass man sich auch getrost mit Vorsatz und hämischem Lachen über Frauen setzen kann. Frauenfeindlichkeit ist kein Phänomen der Moderne, aber in Zeiten, in denen wie in keiner Epoche zuvor Gleichberechtigung zur erklärten Selbstverständlichkeit hätte werden sollen, schlichter Hohn.

„Reichlich spät“ als Titel bezieht sich nicht nur auf Cathals Augenreiben, als er feststellen muss, dass Sabine die Reissleine gezogen hat. „Reichlich spät“ beschreibt auch den Zustand einer Gesellschaft, die es nicht schafft, sich von Mechanismen zu befreien, die sich über Jahrhunderte in den männlichen Genen festgesetzt zu haben scheinen.

Claire Keegan schreibt sich mitten in den Nerv. In ihrer unspektakulären Erzählart, den feinen Beobachtungen menschlichen Versagens blendet sie mit Spiegeln, die unweigerlich zur Selbstreflexion zwingen.

Claire Keegan, geboren 1968, wuchs auf einer Farm in der irischen Grafschaft Wicklow auf. Sie hat in New Orleans, Cardiff und Dublin studiert. Im Steidl Verlag sind von der vielfach ausgezeichneten Autorin bereits die Erzählungsbände «Wo das Wasser am tiefsten ist» (2004) und «Durch die blauen Felder» (2008) (in einem Band: «Liebe im hohen Gras», 2017), «Das dritte Licht» (2013/2022) und «Kleine Dinge wie diese» (2022) erschienen. «Das dritte Licht» wurde mit dem renommierten Davy Byrnes Award ausgezeichnet und gehört für die englische Times zu den 50 wichtigsten Romanen des 21. Jahrhunderts. Claire Keegan lebt in Irland.

Hans-Christian Oeser, geboren 1950 in Wiesbaden, ist literarischer Übersetzer, Herausgeber, Reisebuchautor, Publizist, Redakteur und Sprecher. Er hat zahlreiche Klassiker ins Deutsche übertragen, darunter Mark Twains Autobiographie. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis, Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreis und Straelener Übersetzerpreis.

Beitragsbild © Murdo McLeod

Jaroslav Rudiš «Weihnachten in Prag», Luchterhand

Der Schriftsteller Jaroslav Rudiš und sein bester Freund Jaromir 99 nehmen mich an einem Weihnachtsabend mit in ihre Stadt Prag, Jaroslav Rudiš mit seiner literarischen Imagination, der Zeichner, Comiczeichner und Maler Jaromír Švejdík mit seinen wunderschönen Illustrationen. Ein schmales Buch mit einer ganz speziellen Aura!

Prag ist ihre Stadt, ihre Heimat, aufgeladen mit Geschichten von Verstorbenen und Gegenwärtigen, von Geistern und Begeisterten. Ein Winterspaziergang an einem 24. Dezember, wenn alles auf jenes erhellende Licht wartet, wird mit den beiden zu einem ganz besonderen, vielsinnlichen Abenteuer!

Illustration von Jaromir99 © Luchterhand

„Ich wusste nichts von Kafka, von Hašek und Hrabal. Ich wusste nicht, dass ich später einmal in Prag leben und mit dem Ertrunkenen in einer Band singen werde. Dass ich mal eine Italienerin aus Milano treffen werde, deren Mann Strassenbahnfahrer war und sich immer gewünscht hatte, Strassenbahnfahrer in Prag zu sein. Ich wusste nicht, dass sich in Prag Dichter, Maler und Musiker in Vögel und Fische verwandeln. Ich wusste nicht, das mir mal der König von Prag im Anker beibringen will, wie man alle Prager Schlösser aufsperrt.“

Jaroslav Rudiš «Weihnachten in Prag», Illustrationen von Jaromir99, Luchterhand, 2023,

Auch ich weiss nicht viel über diese Stadt. Nur eines weiss ich mit Sicherheit; wenn ich dereinst mit dem Zug nach Prag fahre und wie der Erzähler am Bahnhof stehe, werde ich mich mit diesem Buch in der Tasche auf den Weg machen, über die Karlsbrücke in die schmalen Gassen der Altstadt. Ich werde in die Geschichten eintauchen und in diesen Tagen vielleicht sogar das eine oder andere Bier trinken, weil tschechisches Bier zu den besten gehört, und weil man wohl Bier trinken muss, um einen Schlüssel, einen Zugang in all den alt eingesessenen Spelunken der Stadt mit ihren seltsamen Namen zu bekommen. Einen Schlüssel zu den Menschen, zu den Geistern, zu den Erleuchteten und Verschatteten, zu den Lebenden und den Toten. 

Prag ist die Stadt von Jaroslav Rudiš. Und nur wer wie er eine Stadt kennt, kennt das, was für Touristen unsichtbar in den Zwischenräumen und Mauern, in der Moldau, die leise und träge durch die Stadt fliesst, in den Schichten darunter und darüber ist und wirkt, was die Vogel in die Stadt tragen, was an Schatten durch die Stadt geistert.

Der Erzähler trifft sie wieder; Hana, die er mit 17 kurz vor der Wende im Sommer 1989 in Prag in einer vollen Kneipe, im Schwarzen Ochsen trifft, den Leuchtturm, den Mann, dessen Kopf leuchtet, der ihm vom letzten Atemzug Franz Kafkas erzählt, dass dieser wie alle Künstler nun einer der Krähen wäre, der Leuchtturm, der eigentlich Kavka heisst, alle aber bloss Kafka nennen, so wie jenen Franz, den alle kennen. Er trifft den König von Prag. Nicht jenen von der Burg hoch oben über der Stadt, sondern jenen aus der Gasse, der weiss, wie Schlösser zu knacken sind, durchaus methaphorisch! Er trifft die Italienerin, die von Prag schwärmt als wäre sie die schönste aller italienischen Städte. Sie treffen sich und ziehen von Kneipe zu Kneipe, warten auf den Moment, wo ihnen das Christkind ein Geschenk bringt.

Illustration von Jaromir99 © Luchterhand

„Weihnachten in Prag“ ist ein magisch, surrealer Spaziergang durch eine Stadt, der auch Kälte und Schnee den Liebreiz nicht vertreiben kann – ganz im Gegenteil. Wer eine Stadt so kennt wie Jaroslav Rudiš, der weiss, dass die Stadt nicht von den Fassaden lebt, sondern von den Geschichten dahinter und den Menschen, die dort leben und lebten, von den Eigenwilligen, den Spinnern, den Verschrobenen und Verrückten. Wer diesen literarischen Spaziergang mitmacht, wer sich traut, dem wird ein Geheimnis zuteil. „Weihnachten in Prag“ bezaubert gleich vielfach, nicht zuletzt durch die stimmungsvollen und eigenwilligen, kongenialen Illustrationen von Jaromír Švejdík!

Wir sehen uns im Ausgeschossenen Auge!

Jaromir99 & Jaroslav Rudiš © Vojtěch Veškrna

Jaroslav Rudiš, geboren 1972, ist Schriftsteller, Drehbuchautor und Dramatiker. Er studierte Deutsch und Geschichte in Liberec, Zürich und Berlin und arbeitete u.a. als Lehrer und Journalist. Im Luchterhand Literaturverlag erschienen seine aus dem Tschechischen übersetzten Romane «Grand Hotel», «Die Stille in Prag», «Vom Ende des Punks in Helsinki» und «Nationalstrasse», bei btb ausserdem «Der Himmel unter Berlin». «Winterbergs letzte Reise», der erste Roman, den Jaroslav Rudiš auf Deutsch geschrieben hat, wurde 2019 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Für sein Werk wurde er ausserdem mit dem Usedomer Literaturpreis, dem Preis der Literaturhäuser sowie dem Chamisso-Preis/Hellerau ausgezeichnet.

Jaromír Švejdík alias Jaromir99, geboren 1963, ist Comiczeichner, Maler sowie Sänger und Texter der tschechischen Kultband Priessnitz. Er arbeitet als Musiker für verschiedene Bands, zeichnet Storyboards für Filme und veröffentlichte mehrere Graphic Novels und Comics. Zuletzt auf Deutsch erschienen: «Alois Nebel» und «Alois Nebel ‒ Leben nach Fahrplan». Er lebt und arbeitet in Prag.

Rezension «Der Besuch von Herrn Horváth» auf literaturblatt.ch

Rezension «Nachtgestalten» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Vojtěch Veškrna

Jaroslav Rudiš liest aus «Weihnachten in Prag» an den Schaffhauser Buchtagen 2023 im Bücherfass Schaffhausen

Zsuzsanna Gahse «Zeilenweise Frauenfeld», Edition Korrespondenzen

Buchtaufe im Literaturhaus Thurgau

Ich habe mir zuhause einen Vorrat an Zsuzsanna Gahse Büchern angelegt. Warum? Weil ich ihre Bücher, erschienen in der Edition Korrespondenzen, über alles liebe. Ihre Prosaminiaturen, die für mich reine Poesie sind, nennt sie Störe;„Störe bewegen sich zwischen langen Erzählweisen und Gedichten, zwischen Essays und Novellen, szenischen Texten und Performance-Vorlagen“.

Gastbeitrag von Thomas Kunst
Schriftsteller, Dichter, Kleist-Preiträger

„Zeilenweise Frauenfeld“ ist ein Bühnengewässer, in welchem die Dinge durcheinandergeraten können, wenn man das entlarvende Lesen gegen ein nachdenkliches Lesen eintauscht. Die Frauen an den Treppen. Die Frauen auf den Demos. Die kleine Kellnerin. Die Tochter der Wienerin. Damen und Frauen. Manu. Die Welsche. Nandu. Nora. Die Unbrennbare. Eine schwarz gekleidete Frau. Die Frau in Indigo. Frauen von vor etwa hundertfünfzig Jahren. Frauen beim Stolpern, Stürzen und Sterben. In einer Frauenfelder Inszenierung. Popkonzerte. Illusionen. Bahnhofsvorplätze. Festivals.

Das Bühnenwasser der Murg. Die Brücken und Stege von Frauenfeld. „Viele setzen sich bei der diesjährigen Trockenheit einfach ins Gras, aber wir haben uns vor Kurzem kleine, leichte Klappstühle besorgt, mit denen wir sogar durch die Stadt ziehen und beliebig Pausen einlegen, die zu unserer Langsamkeit passen.“ Die Chance, dass Texte zu großer Literatur werden, ist ihre Nicht-Nacherzählbarkeit. Zsuzsanna Gahse schafft es, uns auf ihre Prosafelder zu entführen, ohne uns daran zu erinnern, dass das Denken auch eine konzentrierte Fortbewegungsart des Sehens sein kann.

Ich musste beim Lesen von Zsuzsannas Buch an ein Gedicht von einem meiner amerikanischen Lieblingsdichter denken, das ich Mitte der neunziger Jahre zufällig beim Durchblättern einiger Ausgaben der Grazer Literaturzeitschrift „Manuskripte“ gefunden hatte: „Kriminalroman“ von Robert Kelly, ein Titel, der in seiner deutlichen Bezeichnung hoffentlich nur liebevolle Genreirritationen ausgelöst hat. Dieses Gedicht hatte von Anfang an kein Entkommen für mich parat, zog mich, von seinem Tempo, von seiner Gelassenheit her, sofort in seinen ambivalenten Kreis, beeindruckte mich vor allem durch die verhaltene Ökonomie im Gebrauch seiner Mittel, ein Gedicht, das klar und stringent war, elliptisch und karg, fast nur aus Hauptwörtern bestehend, wie es vielleicht seinerzeit Gottfried Benn in seiner Rede „ Probleme der Lyrik“ vorgeschwebt sein mag, ein Gedicht, geräumig entschlackt von verbalem Geraune und adjektivistischer Ausgelassenheit, einer der unverbindlichen Arten überzeichneter Wahrnehmungsplusterung.

„…Bei der Klinke. In der Schublade.
Mit einem Taschentuch in der
Hand. In der Hand. Im Zimmer
die Hand. Im Zimmer. Auf dem Vorleger
neben dem Bett. Neben dem Bett. Im
Bett. Chenille. Auf dem Bett. Im Bett.
Im Zimmer im Bett. In dem Zimmer
In dem Bett…“

Zsuzsanna Gahse «Zeilenweise Frauenfeld», Edition Korrespondenzen, 2023, 150 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-902951-78-6

Genauso fühle ich mich beim Lesen der grandiosen Bücher von Zsuzsanna Gahse, das Glücksgefühl der Anstrengung bei der Lektüre auf sich zu nehmen, nicht nachzulassen in einer Art von musikalischer Konzentriertheit, den Einzelsätzen zu vertrauen, den sprachlichen Herzstücken der Gedanken niemals die Kondition bei der Durchblutung der poetisch-intuitiven Verästelungen zu versagen, wie es der kubanische Dichter José Lezama Lima einmal formuliert hat. „Nur die Anstrengung kann uns anregen, nur der Widerstand, der uns herausfordert, kann unser Erkenntnisvermögen geschmeidig krümmen, es wecken und in Gang halten.“ 

Verzeih mir, liebe Zsuzsanna, dass ich versucht habe, mich mit fremden Federn deinem neuen Buch zu nähern. Es ist deine Freiheit. Es ist meine Demut und auch ein Scheitern in Liebe.

Die Chance von Texten, große Literatur zu sein, ist ihre Nicht-Nacherzählbarkeit.

Es gibt Störe in der Murg. Wenn man sich Klappstühle ans Wasser stellt, kann man sie zählen, bestaunen und bei austauschbaren Temperaturen auswendig lernen, denn Die alten Jahreszeiten gehören zum Weltkulturerbe. Für diese Sätze liebe ich dich und deine Bücher. 

„Ein Buch soll eine innige Mischung meiner wahren und falschen Erinnerungen sein, meiner Ideen, Hypothesen und imaginären Erfahrungen – all meiner verschiedenen Stimmen, ein Buch, das sich als Ausdruckswille dessen zu erkennen gibt, der da spricht, mit der freiesten Phantasie und mit äußerster Genauigkeit, in Prosa und Vers, beim Erwachen des Denkens zu sich selbst.“ (Paul Valery, Faust III)

Zsuzsanna Gahse, geb. 1946 in Budapest, aufgewachsen in Wien und Kassel, lebte längere Zeit als Schriftstellerin in Stuttgart und Luzern, zurzeit wohnt sie in Müllheim, Schweiz. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u. a. aspekte-Literaturpreis (1983), Adelbert-von-Chamisso-Preis (2006), Italo-Svevo-­Preis (2017), Werner-Bergengruen-Preis (2017), Schweizer Grand Prix Literatur (2019).

Webseite der Autorin

Illustration © leale.ch / Literaturhaus Thurgau

Tanja Maljartschuk «Hier ist immer Gewalt. Hier ist immer Kampf.» Klagenfurter Rede zur Literatur 2023, Edition Meerauge

Tanja Maljartschuk gewann 2018 den Ingeborg-Bachmannpreis, in einer anderen Zeit, einer anderen Welt, als hätten sich Gewalt und Kampf danach mit infernalem Grinsen gegen sie, ihr Volk, ihr Land, den Glauben an Menschlichkeit und die Kraft der Kunst gerichtet.

Dass die ukrainische Schriftstellerin die Einladung annahm, im Sommer 2023 das Wettlesen in Klagenfurt mit einer Rede zu eröffnen, ist ebenso mutig wie bewundernswert. Eine Veranstaltung zu eröffnen, die das eben Gesagte, das, was Tanja Maljartschuk nach Klagenfurt mitbrachte, postwendend wieder zu einer Nebensache macht, in der Texte und ihre ErschafferInnen ebenso im Rampenlicht stehen wie KritikerInnen, die sich zwischen Selbstinszenierung und Profilierung bewegen. Dass die Autorin angesichts der Ungeheuerlichkeiten, die sich in ihrem Land, in ihrem Freundeskreis, ihrer Familie abspielen, überhaupt noch Worte findet, treibt zumindest mir, der ich in meiner Bibliothek diesen Text schreibe und meine kleine Welt wohl geordnet sehe, Schamesröte in den Kopf.

«Ich betrachte mich selbst als eine gebrochene Autorin, eine Autorin, die ihr Vertrauen in die Literatur und – noch viel schlimmer – in die Sprache verloren hat.» Wenn das eine Schriftstellerin vor Publikum offenbart, eine Frau, die der Sprache ihr Glück, ihr Sein zu verdanken hat, ist ermesslich, was dieser Krieg mit all jenen anrichtet, die sehenden Auges miterleben müssen, dass ein Krieg nicht einfach ein Schauplatz irgendwo ist, dass Detonationen der Bomben, das Zischen der Kugeln, das Rasseln der Panzer mitten im eigenen Herz stattfindet mit dem Wissen, dass das eigene Leben niemals ausreichen wird, um die offenen Wunden vernarben zu lassen.

Tanja Maljartschuk «Hier ist immer Gewalt. Hier ist immer Kampf.» Klagenfurter Rede zur Literatur 2023, Edition Meerauge, mit Linolschnitten von Valentyna Pelykh, 2023, 32 Seiten, CHF ca. 18.90, ISBN 978-3-7084-0686-2

Tanja Maljartschuk erzählt, wie sie zu Beginn des russischen Vernichtungskriegs an einem Roman schrieb, einem Roman, der für immer unvollendet bleiben werde, so die Autorin. Ihre literarische Auseinandersetzung mit dem Thema Holocaust in der Ukraine. Verständlich! Wie soll man sich mit etwas final auseinandersetzen, das noch immer geschieht; eine Vernichtung. In jenem Dorf, in dem sie aufwuchs, geschah gegen Ende des Weltkriegs ein schauerliches Massaker an der jüdischen Bevölkerung. Nichts und niemand schien sich mehr daran zu erinnern, auch ihre eigene Familie nicht. Und nun dieser Krieg gegen Zivilisten, gegen Mütter und ihre Kinder, alte Leute. Ein Krieg, der sich für viele Europäer nur in der Brieftasche und auf Bildschirmen abspielt. Ein Krieg, mit dem sich Betroffene nicht einfach auseinandersetzen können, als wäre es ein Objekt, das man schriebend umkreisen könnte.

Die Sprache ist alles, was Tanja Maljartschuk hat. Und der Krieg macht sie mehr und mehr sprachlos, hat ihr das Vertrauen in das Gute der Sprache vernichtet, nicht bloss genommen. Sie schreibt. Die Sprache ist ihre Stimme. Die genau gleiche Sprache, mit der andere Soldaten in den Krieg peitschen, mit der Politiker und Generäle lügen, mit der man Millionen Russinnen und Russen blendet und im verbalen Dauerfeuer zur gefügigen Masse macht. Die selbe Sprache, mit der man Gedichte schreibt.

Das schmale Büchlein mit den Linolschnitten von Valentyna Pelykh endet mit einem hoffnungsvollen Zitat von Ingeborg Bachmann, dass einst ein Tag komme, an dem die Hände der Menschen begabt sein werden für die Liebe und […] für die Güte – ein Tag der den Menschen verheisst sie werden vom Schmutz befreit sein und von jeder Last, sie werden sich in die Lüfte heben, sie werden unter Wasser gehen, […] sie werden frei sein, es werden alle Menschen frei sein, auch von der Freiheit, die sie gemeint haben.

Grafiken: Valentyna Pelykh, Gesichter von Ukrainern, die durch russische Raketen und Geschosse verletzt wurden, Linolschnitte, 2023. Die Schnitte basieren auf Fotos von Danil Pavlov aus dem Reporters-Projekt Patched Up Souls. https://reporters.media/en/patched-up-souls/

Tanja Maljartschuk, 1983 in Iwano-Frankiwsk, Ukraine geboren, studierte Philologie an der Universität Iwano-Frankiwsk und arbeitete nach dem Studium als Journalistin in Kiew. 2009 erschien auf Deutsch ihr Erzählband »Neunprozentiger Haushaltsessig«, 2013 ihr Roman »Biografie eines zufälligen Wunders«, 2014 »Von Hasen und anderen Europäern«, 2019 ihr Roman »Blauwal der Erinnerung«. 2018 erhielt Tanja Maljartschuk den Ingeborg-Bachmann-Preis. Die Autorin schreibt regelmässig Kolumnen und lebt in Wien.

Rezension von „Überflutet“ auf literaturblatt.ch

Beitragsfoto © Tarima Darim

Tarjei Vesaas «Boot am Abend. Nimm meine Hand. Der wilde Reiter», Kleinheinrich

Manchmal begegnet einem in der Flut von Büchern und Neuerscheinungen solche, die sich gleich mehrfach aus der Masse erheben. Bücher, die man schon der Texte wegen liebt, die aber als Kunstwerke selbst lange aufgeschlagen liegen bleiben wollen und Raum fordern. Ein solcher Buchmonolith ist dem norwegischen Dichter Tarjei Vesaas gewidmet. Wundervoll!

Einer meiner Freunde, den ich ganz der Literatur verdanke, den ich nur selten sehe und wenn, dann meistens im Zusammenhang mit Literatur, empfahl mir Tarjei Vesaas. Einen Autor, den ich bisher ganz und gar nicht kannte, nicht einmal seinen Namen. Tarjei Vesaas war Norweger und starb vor mehr als einem halben Jahrhundert. Kein Wunder also, dass jemand, der sich fast ausschliesslich mit Gegenwartsliteratur beschäftigt, dem Namen noch nie begegnete. Was für ein Versäumnis!

Und weil ich weiss, wie sorgfältig und ausgesucht dieser Freund liest, war seine Frage, ob ich den Namen Tarjei Vesaas kenne, mehr als eine Frage, sondern eine Aufforderung. Der im deutschen Sprachraum kaum bekannte Autor, dem sich der Guggolz Verlag verdienstvoll angenommen hat, kann in einer schmucken, dreibändigen Box, die im Verlag Kleinheinrich herausgekommen ist, entdeckt werden. Eine überaus schöne Ausgabe mit Schuber und kongenialen Illustrationen des Malers Olav Christopher Jenssen. Ein Band mit Gedichten und zwei Bände mit Erzählungen, durchsetzt mit den Bildern des Malers, eingefasst in gefaltete Umschläge, die für sich selbst schon Augenweide sind.

Was der Verleger und Kunstkenner Josef Kleinheinrich mit den Texten Tarjei Vesaas› und den Bildern Olav Christopher Jenssens gestaltete und herausgab, ist unvergleichbar, eine Buchperle der ganz besonderen Art!

Nimm meine Hand

Gedichte von 1949 bis zu seinem Tod 1970, ausgewählt von Jon Fosse, einem der Grossen in der norwegischen Gegenwartsliteratur, jeweils norwegisch und deutsch einander gegenübergestellt. Tarjei Vesaas geht es in seinen Naturgedichten nicht um den romantisch verklärenden Blick. Seine Lyrik ist glasklar und zeigt die tiefe Verbundenheit des Autors mit der Natur, seiner Herkunft und den Menschen, die darin leben. Die Liebe zu einem Leben, das sich der Hektik der Städte und Zentren entgegenstellt. Filigrane Beobachtungen, Selbstbefragungen, Bilder, die dunkle Tiefe ausstrahlen.

Boot am Abend

Erzählungen, Erinnerungen, Begegnungen, ob mit der Natur oder mit Menschen – stets stark reflektierend, zu lesen, als wären es Meditationen eines Mannes, der sich auf das Kleine, Feine, Fluide, Zarte zurückzieht, der allem entfliehen will, das ihn in seiner Selbst- und Fremdwahrnehmung ablenkt und stört. Die Texte lesen sich seltsam fremd und fast ein bisschen hölzern. Eine ganz eigene Sprache, archaisch mit starken Farben, kurzen Sätzen, als hätte der Autor seine Empfindung in Jetztzeit notiert – unmittelbar.

Der wilde Reiter

Erinnerungen an das bäuerliche Leben, kleine und grosse Dramen in Familie und Arbeit. Tarjei Vesaas erzählt mit viel Empathie ganz nah an seinen ProtagonistInnen und öffnet vor mir als Leser der Gegenwart ein Tor in eine Vergangenheit, die weit weg erscheint, das Leben unmittelbar war und nichts von den Wichtigkeiten eines wahrhaftigen Lebens ablenkte.

Tarjei Vesaas «Boot am Abend. Nimm meine Hand. Der wilde Reiter», Kleinheinrich, 2022, aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel, ausgewählt vom norwegischen Autor Jon Fosse, alle 3 Bände illustriert mit zahlreichen Bildern des norwegischen Künstlers Olav Christopher Jenssen, 3 Bände in einer Kassette, Format je Band 24 x 16 cm, 214 Seiten, 136 Seiten, 190 Seiten, CHF ca. 117.90, ISBN 978-3-945237-59-5

Tarjei Vesaas (1897–1970) war der älteste Sohn eines Bauern in Vinje/Telemark, dessen Familie seit 300 Jahren im selben Haus lebte. Vesaas wusste früh, dass er Schriftsteller werden wollte, verweigerte die traditionsgemässe Übernahme des Hofes und bereiste in den 1920er und 1930er Jahren Europa. 1934 heiratete er die Lyrikerin Halldis Moren und liess sich bis zu seinem Tod 1970 in der Heimatgemeinde Vinje auf dem nahe gelegenen Hof Midtbø nieder. Vesaas verfasste Gedichte, Dramen, Kurzprosa und Romane, die ihm internationalen Ruhm einbrachten. Er schrieb seine Romane auf Nynorsk, der norwegischen Sprache, die – anders als Bokmål, das »Buch-Norwegisch« – auf westnorwegischen Dialekten basiert. Abseits der Grossstädte schuf Vesaas ein dennoch hochmodernes, lyrisch-präzise verknapptes Werk mit rätselhaft-symbolistischen Zügen, für das er mehrmals für den Nobelpreis vorgeschlagen wurde. Als seine grössten Meisterwerke gelten »Das Eis-Schloss«, für das er 1964 den Preis des Nordischen Rats erhielt, und »Die Vögel«, das Karl-Ove Knausgård als »besten norwegischen Roman, der je geschrieben wurde« bezeichnete.

Tarjei Vesaas im Guggolz Verlag

Hinrich Schmidt-Henkel (1959) übersetzt Belletristik, Theaterstücke und Lyrik aus dem Norwegischen, Französischen und Italienischen. Zu den von ihm übersetzten Autoren gehören Jon Fosse, Kjell Askildsen, Jean Echenoz, Édouard Louis und Louis-Ferdinand Céline.

Olav Christopher Jenssen (1954) ist ein norwegischer bildender Künstler und Professor an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Jenssen und zählt zu den renommiertesten Künstlern skandinavischer Herkunft. Seine Arbeiten werden seit den 1980er Jahren weltweit gezeigt.

Dr. Josef Kleinheinrich, geboren 1953 in Harsewinkel, studierte Skandinavistik, Germanistik und Philoso- phie. Seit der Verlagsgründung im Jahr 1986 hat er rund 130 Titel veröffentlicht. Seine Buchkunst zeigte Kleinheinrich in zahlreichen Ausstellungen ausserhalb des Oer’schen Hofs, darunter im Westfälischen Kunstverein in Münster und im Stedelijk Museum in Amsterdam. Mehrmals zeichnete ihn die Königlich Schwedische Akademie aus, 2019 erhielt er den Deutschen Verlagspreis.

Raoul Schrott «Inventur des Sommers», Hanser

«das unüberbrückbare des Lebens in jedem moment in dem es sich vollzieht vervielfacht den sinn den man ihm geben kann» – Genau das kann Raoul Schrott mit seinem neusten Buch «Inventur des Sommers»; Er nimmt mich mit und setzt Spuren, die überraschen, faszinieren und Türen öffnen, die mir sonst verschlossen blieben.

Raoul Schrott ist ein literarischer Gigant. Kann sein, dass er diese Bezeichnung nicht mag und sie genau das suggeriert, was Raoul Schrott nicht will; Distanz. Ein Gigant nur schon deshalb, weil sich ein Regalbrett allein mit seinen Büchern durchbiegen würde. Ein Gigant deshalb, weil eine Verleihung des Georg-Büchner-Preises, der vielleicht grössten literarischen Auszeichnung im deutschsprachigen Raum, längst logische Konsequenz wäre und dem äussert breitgefächerten Werk des Dichters und Schriftstellers, Übersetzers und Essayisten gerecht werden würde.

Zudem hat Raoul Schrott etwas geschafft, was vielen oder den meisten Lyrikern vergönnt bleibt: Man kennt ihn. Man kennt ihn sogar vom Fernsehen, von Filmen und Sendungen wie dem SRF-Literaturclub. Man kennt seine Leidenschaft für das anspruchsvolle Buch, für das gute Gedicht. Und welcher Kritiker in dieser Runde hätte jemals derart euphorisch Lanzen für die Lyrik gebrochen, nie schulmeisterlich, obwohl er Lehrer und Dozent war und ist, nie elitär, obwohl durch sein Wissen eine ganze Enzyklopädie der Literatur mitzureden scheint, von den Griechen bis in die Neuzeit.

Ich lernte Raoul Schrott mit seinem ersten Roman kennen, mit dem er vor bald 30 Jahren das Bachmannpreislesen aufmischte, «Finis Terrae», eine phantastische Reise in eine erfundene Vergangenheit, die sich in der Wirklichkeit spiegelt. Ein Roman, der funkelt und von den Farben der Sprache lebt. Zweites Buch war «Hotels», tagebuchartige Aufzeichnungen in Gedichtform – zwei Bücher, die schon einmal zeigten, dass es für den Dichter und Schriftsteller weder in Themen, Form und Zugang Grenzen gibt.

TRAUREDE

der alte boden unter neuen schuhen verschwunden
wirst du dich aus der luft greifen
mit einem mal · unumwunden
eine zeitlang wirst du noch an den dingen streifen
doch vor lauter glück fühlt sich hernach alles anders an
der himmel breit · eine einzige stoffbahn
faltenlos und aus vogelseide
               dein hochzeitskleid das schneide
dir daraus zurecht · zeige- und mittelfinger als schere
für diese wunderbare drehung in der leere
rüschen und rauschen · dazwischen gesplissener saum
               schönheit zeigt sich in unterschiedlichen posen
sie ist deine selbst wenn du sie nicht siehst
sie stellt dich in den raum
mit diesen deinen dunklen augen · unverdrossen
solange du weiterhin dem unerwarteten entgegen ziehst

oruro 19.11.17

 

platons sokrates erklärt, dass zwischen zwei formen des begehrens zu unterscheiden sei: ›himeros‹ als verlangen, das sich auf anwesendes richtet, und ›pothos‹ als jenes nach dem abwesenden – die leidenschaft für etwas, das gerade anderswo ist oder ganz fehlt. vorstellen lässt sich dieses abwesende als geisterhaftes ›phasma‹, ablesen an den von ihm hinterlassenen spuren und darstellen in form von ›kolossoi‹, unter denen man ursprünglich puppen verstand, wachs- oder tonfigürchen als lebensähnliche nachbildungen einer person.

(mit freundlicher Genehmigung des Verlags wiedergegeben)


Raoul Schrott kommentiert, untermalt seine Gedichte mit Ergänzungen, Gedanken, Erklärungen, Reisenotaten, macht aus seinem Gedichtband eine Mischung zwischen Poesie und Essay. Wie immer lädt diese Form der Präsentation zum Verbleiben ein; Man möchte das Buch auf einem separaten Möbelstück offen liegen lassen, um immer wieder zu verweilen, um etwas in den Tag mitzunehmen.

Raoul Schrott «Inventur des Sommers. Über das Abwesende», Hanser, 2023, 176 Seiten, CHF 35.90, ISBN 978-3-446-27633-8

Raoul Schrott zeigt mit «Inventur des Sommers» seine grenzenlose Lust, sich mit Welt auseinanderzusetzen, auch wenn es die dunklen Seiten der Gegenwart sind. Wir wissen sehr wohl, dass da mehr ist, als was sichtbar ist. In der Literatur weiss man das schon lange, liest man doch auch zwischen den Zeilen. «Inventur des Sommers» ist eine Sprachreise ins Dazwischen. Im Intro zu seinem neusten Buch steht der Satz: „Denken braucht Distanz, um abstrahieren, sich von den Dingen, abziehen, entfernen und trennen zu können.“ Raoul Schrotts Distanz, aus der er schreibt, ist aber nie distanziert und unterkühlt. Raoul Schrott ist nicht nur ein Freund der Muse, wartet auch nicht, bis er gnädigst von ihr geküsst wird. Er reist ihr entgegen, reist ihr nach – mit Kopf, Herz und Hand. «Inventur des Sommers», ein Buch, das auch in den kommenden Sommer passen wird.

Raoul Schrott, geboren 1964, erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Peter-Huchel- und den Joseph-Breitbach-Preis. Raoul Schrott arbeitet zurzeit im Auftrag der Stiftung Kunst und Natur an einem umfangreichen Atlas der Sternenhimmel. 2023 wird er die Ernst-Jandl-Dozentur der Universität Wien innehaben.

Beitragsbild © Wortlaut-Literaturfestival St. Gallen (Raoul Schrott bei seiner Lesung in der Kellerbühne)