Tarjei Vesaas «Boot am Abend. Nimm meine Hand. Der wilde Reiter», Kleinheinrich

Manchmal begegnet einem in der Flut von Büchern und Neuerscheinungen solche, die sich gleich mehrfach aus der Masse erheben. Bücher, die man schon der Texte wegen liebt, die aber als Kunstwerke selbst lange aufgeschlagen liegen bleiben wollen und Raum fordern. Ein solcher Buchmonolith ist dem norwegischen Dichter Tarjei Vesaas gewidmet. Wundervoll!

Einer meiner Freunde, den ich ganz der Literatur verdanke, den ich nur selten sehe und wenn, dann meistens im Zusammenhang mit Literatur, empfahl mir Tarjei Vesaas. Einen Autor, den ich bisher ganz und gar nicht kannte, nicht einmal seinen Namen. Tarjei Vesaas war Norweger und starb vor mehr als einem halben Jahrhundert. Kein Wunder also, dass jemand, der sich fast ausschliesslich mit Gegenwartsliteratur beschäftigt, dem Namen noch nie begegnete. Was für ein Versäumnis!

Und weil ich weiss, wie sorgfältig und ausgesucht dieser Freund liest, war seine Frage, ob ich den Namen Tarjei Vesaas kenne, mehr als eine Frage, sondern eine Aufforderung. Der im deutschen Sprachraum kaum bekannte Autor, dem sich der Guggolz Verlag verdienstvoll angenommen hat, kann in einer schmucken, dreibändigen Box, die im Verlag Kleinheinrich herausgekommen ist, entdeckt werden. Eine überaus schöne Ausgabe mit Schuber und kongenialen Illustrationen des Malers Olav Christopher Jenssen. Ein Band mit Gedichten und zwei Bände mit Erzählungen, durchsetzt mit den Bildern des Malers, eingefasst in gefaltete Umschläge, die für sich selbst schon Augenweide sind.

Was der Verleger und Kunstkenner Josef Kleinheinrich mit den Texten Tarjei Vesaas› und den Bildern Olav Christopher Jenssens gestaltete und herausgab, ist unvergleichbar, eine Buchperle der ganz besonderen Art!

Nimm meine Hand

Gedichte von 1949 bis zu seinem Tod 1970, ausgewählt von Jon Fosse, einem der Grossen in der norwegischen Gegenwartsliteratur, jeweils norwegisch und deutsch einander gegenübergestellt. Tarjei Vesaas geht es in seinen Naturgedichten nicht um den romantisch verklärenden Blick. Seine Lyrik ist glasklar und zeigt die tiefe Verbundenheit des Autors mit der Natur, seiner Herkunft und den Menschen, die darin leben. Die Liebe zu einem Leben, das sich der Hektik der Städte und Zentren entgegenstellt. Filigrane Beobachtungen, Selbstbefragungen, Bilder, die dunkle Tiefe ausstrahlen.

Boot am Abend

Erzählungen, Erinnerungen, Begegnungen, ob mit der Natur oder mit Menschen – stets stark reflektierend, zu lesen, als wären es Meditationen eines Mannes, der sich auf das Kleine, Feine, Fluide, Zarte zurückzieht, der allem entfliehen will, das ihn in seiner Selbst- und Fremdwahrnehmung ablenkt und stört. Die Texte lesen sich seltsam fremd und fast ein bisschen hölzern. Eine ganz eigene Sprache, archaisch mit starken Farben, kurzen Sätzen, als hätte der Autor seine Empfindung in Jetztzeit notiert – unmittelbar.

Der wilde Reiter

Erinnerungen an das bäuerliche Leben, kleine und grosse Dramen in Familie und Arbeit. Tarjei Vesaas erzählt mit viel Empathie ganz nah an seinen ProtagonistInnen und öffnet vor mir als Leser der Gegenwart ein Tor in eine Vergangenheit, die weit weg erscheint, das Leben unmittelbar war und nichts von den Wichtigkeiten eines wahrhaftigen Lebens ablenkte.

Tarjei Vesaas «Boot am Abend. Nimm meine Hand. Der wilde Reiter», Kleinheinrich, 2022, aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel, ausgewählt vom norwegischen Autor Jon Fosse, alle 3 Bände illustriert mit zahlreichen Bildern des norwegischen Künstlers Olav Christopher Jenssen, 3 Bände in einer Kassette, Format je Band 24 x 16 cm, 214 Seiten, 136 Seiten, 190 Seiten, CHF ca. 117.90, ISBN 978-3-945237-59-5

Tarjei Vesaas (1897–1970) war der älteste Sohn eines Bauern in Vinje/Telemark, dessen Familie seit 300 Jahren im selben Haus lebte. Vesaas wusste früh, dass er Schriftsteller werden wollte, verweigerte die traditionsgemässe Übernahme des Hofes und bereiste in den 1920er und 1930er Jahren Europa. 1934 heiratete er die Lyrikerin Halldis Moren und liess sich bis zu seinem Tod 1970 in der Heimatgemeinde Vinje auf dem nahe gelegenen Hof Midtbø nieder. Vesaas verfasste Gedichte, Dramen, Kurzprosa und Romane, die ihm internationalen Ruhm einbrachten. Er schrieb seine Romane auf Nynorsk, der norwegischen Sprache, die – anders als Bokmål, das »Buch-Norwegisch« – auf westnorwegischen Dialekten basiert. Abseits der Grossstädte schuf Vesaas ein dennoch hochmodernes, lyrisch-präzise verknapptes Werk mit rätselhaft-symbolistischen Zügen, für das er mehrmals für den Nobelpreis vorgeschlagen wurde. Als seine grössten Meisterwerke gelten »Das Eis-Schloss«, für das er 1964 den Preis des Nordischen Rats erhielt, und »Die Vögel«, das Karl-Ove Knausgård als »besten norwegischen Roman, der je geschrieben wurde« bezeichnete.

Tarjei Vesaas im Guggolz Verlag

Hinrich Schmidt-Henkel (1959) übersetzt Belletristik, Theaterstücke und Lyrik aus dem Norwegischen, Französischen und Italienischen. Zu den von ihm übersetzten Autoren gehören Jon Fosse, Kjell Askildsen, Jean Echenoz, Édouard Louis und Louis-Ferdinand Céline.

Olav Christopher Jenssen (1954) ist ein norwegischer bildender Künstler und Professor an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Jenssen und zählt zu den renommiertesten Künstlern skandinavischer Herkunft. Seine Arbeiten werden seit den 1980er Jahren weltweit gezeigt.

Dr. Josef Kleinheinrich, geboren 1953 in Harsewinkel, studierte Skandinavistik, Germanistik und Philoso- phie. Seit der Verlagsgründung im Jahr 1986 hat er rund 130 Titel veröffentlicht. Seine Buchkunst zeigte Kleinheinrich in zahlreichen Ausstellungen ausserhalb des Oer’schen Hofs, darunter im Westfälischen Kunstverein in Münster und im Stedelijk Museum in Amsterdam. Mehrmals zeichnete ihn die Königlich Schwedische Akademie aus, 2019 erhielt er den Deutschen Verlagspreis.

Raoul Schrott «Inventur des Sommers», Hanser

«das unüberbrückbare des Lebens in jedem moment in dem es sich vollzieht vervielfacht den sinn den man ihm geben kann» – Genau das kann Raoul Schrott mit seinem neusten Buch «Inventur des Sommers»; Er nimmt mich mit und setzt Spuren, die überraschen, faszinieren und Türen öffnen, die mir sonst verschlossen blieben.

Raoul Schrott ist ein literarischer Gigant. Kann sein, dass er diese Bezeichnung nicht mag und sie genau das suggeriert, was Raoul Schrott nicht will; Distanz. Ein Gigant nur schon deshalb, weil sich ein Regalbrett allein mit seinen Büchern durchbiegen würde. Ein Gigant deshalb, weil eine Verleihung des Georg-Büchner-Preises, der vielleicht grössten literarischen Auszeichnung im deutschsprachigen Raum, längst logische Konsequenz wäre und dem äussert breitgefächerten Werk des Dichters und Schriftstellers, Übersetzers und Essayisten gerecht werden würde.

Zudem hat Raoul Schrott etwas geschafft, was vielen oder den meisten Lyrikern vergönnt bleibt: Man kennt ihn. Man kennt ihn sogar vom Fernsehen, von Filmen und Sendungen wie dem SRF-Literaturclub. Man kennt seine Leidenschaft für das anspruchsvolle Buch, für das gute Gedicht. Und welcher Kritiker in dieser Runde hätte jemals derart euphorisch Lanzen für die Lyrik gebrochen, nie schulmeisterlich, obwohl er Lehrer und Dozent war und ist, nie elitär, obwohl durch sein Wissen eine ganze Enzyklopädie der Literatur mitzureden scheint, von den Griechen bis in die Neuzeit.

Ich lernte Raoul Schrott mit seinem ersten Roman kennen, mit dem er vor bald 30 Jahren das Bachmannpreislesen aufmischte, «Finis Terrae», eine phantastische Reise in eine erfundene Vergangenheit, die sich in der Wirklichkeit spiegelt. Ein Roman, der funkelt und von den Farben der Sprache lebt. Zweites Buch war «Hotels», tagebuchartige Aufzeichnungen in Gedichtform – zwei Bücher, die schon einmal zeigten, dass es für den Dichter und Schriftsteller weder in Themen, Form und Zugang Grenzen gibt.

TRAUREDE

der alte boden unter neuen schuhen verschwunden
wirst du dich aus der luft greifen
mit einem mal · unumwunden
eine zeitlang wirst du noch an den dingen streifen
doch vor lauter glück fühlt sich hernach alles anders an
der himmel breit · eine einzige stoffbahn
faltenlos und aus vogelseide
               dein hochzeitskleid das schneide
dir daraus zurecht · zeige- und mittelfinger als schere
für diese wunderbare drehung in der leere
rüschen und rauschen · dazwischen gesplissener saum
               schönheit zeigt sich in unterschiedlichen posen
sie ist deine selbst wenn du sie nicht siehst
sie stellt dich in den raum
mit diesen deinen dunklen augen · unverdrossen
solange du weiterhin dem unerwarteten entgegen ziehst

oruro 19.11.17

 

platons sokrates erklärt, dass zwischen zwei formen des begehrens zu unterscheiden sei: ›himeros‹ als verlangen, das sich auf anwesendes richtet, und ›pothos‹ als jenes nach dem abwesenden – die leidenschaft für etwas, das gerade anderswo ist oder ganz fehlt. vorstellen lässt sich dieses abwesende als geisterhaftes ›phasma‹, ablesen an den von ihm hinterlassenen spuren und darstellen in form von ›kolossoi‹, unter denen man ursprünglich puppen verstand, wachs- oder tonfigürchen als lebensähnliche nachbildungen einer person.

(mit freundlicher Genehmigung des Verlags wiedergegeben)


Raoul Schrott kommentiert, untermalt seine Gedichte mit Ergänzungen, Gedanken, Erklärungen, Reisenotaten, macht aus seinem Gedichtband eine Mischung zwischen Poesie und Essay. Wie immer lädt diese Form der Präsentation zum Verbleiben ein; Man möchte das Buch auf einem separaten Möbelstück offen liegen lassen, um immer wieder zu verweilen, um etwas in den Tag mitzunehmen.

Raoul Schrott «Inventur des Sommers. Über das Abwesende», Hanser, 2023, 176 Seiten, CHF 35.90, ISBN 978-3-446-27633-8

Raoul Schrott zeigt mit «Inventur des Sommers» seine grenzenlose Lust, sich mit Welt auseinanderzusetzen, auch wenn es die dunklen Seiten der Gegenwart sind. Wir wissen sehr wohl, dass da mehr ist, als was sichtbar ist. In der Literatur weiss man das schon lange, liest man doch auch zwischen den Zeilen. «Inventur des Sommers» ist eine Sprachreise ins Dazwischen. Im Intro zu seinem neusten Buch steht der Satz: „Denken braucht Distanz, um abstrahieren, sich von den Dingen, abziehen, entfernen und trennen zu können.“ Raoul Schrotts Distanz, aus der er schreibt, ist aber nie distanziert und unterkühlt. Raoul Schrott ist nicht nur ein Freund der Muse, wartet auch nicht, bis er gnädigst von ihr geküsst wird. Er reist ihr entgegen, reist ihr nach – mit Kopf, Herz und Hand. «Inventur des Sommers», ein Buch, das auch in den kommenden Sommer passen wird.

Raoul Schrott, geboren 1964, erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Peter-Huchel- und den Joseph-Breitbach-Preis. Raoul Schrott arbeitet zurzeit im Auftrag der Stiftung Kunst und Natur an einem umfangreichen Atlas der Sternenhimmel. 2023 wird er die Ernst-Jandl-Dozentur der Universität Wien innehaben.

Beitragsbild © Wortlaut-Literaturfestival St. Gallen (Raoul Schrott bei seiner Lesung in der Kellerbühne)

Wilhelm Hauff «Das kalte Herz», 8 grad

Auch wenn es fast 200 Jahre her ist, dass der Romantiker Wilhelm Hauff das Märchen „Das kalte Herz“ schrieb, hat die Geschichte nichts von ihrer Gültigkeit verloren. Dass der kleine Verlag „8 Grad“ daraus ein derart wunderschönes Lesegeschenk macht, erfreut und fasziniert den Haptiker so sehr, dass man das Buch gar nicht ins Regal zwischen all die andern schieben möchte.

Das schöne Buch!

Peter Munk soll nach dem Tod seines Vaters die Köhlerei weiterführen. Eine Arbeit, die er eigentlich gerne macht. Aber weil er sehen muss, wie andere durch viel weniger schmutzige Arbeit einen viel pralleren Geldbeutel mit sich herumtragen und in der Wirtsstube damit Staat machen, juckt ihn die Gier und die Frage, wie er zum schnellen Geld kommen könnte. Er erfährt, dass im Schwarzwald ein Waldgeist, das Glasmännlein haust, der jedem Sonntagskind drei Wünsche erfüllt, wenn dieser ihn mit einem besimmten Vers beschwört. Drei Wünsche, die dem Jungspund alles andere als langfristiges Glück bringen, so wie in Märchen zu erwarten. Erst recht als der Kohlenmunk-Peter sich in seiner Verzweiflung an den Holländermichel wendet, einen anderen Waldgeist im Schwarzwald, der mit dem Bösen im Bunde steht. Dieser hilft ihm, schenkt ihm sackweise Geld zum Preis für sein Herz. Holländermichel setzt ihm einen kalten Stein in die Brust und die Dinge nehmen ihren Lauf. Nicht nur, dass der Kohlenmunk-Peter weder Freude, Trauer oder Liebe empfinden kann – er wird zu einem herzlosen Geist seiner selbst und zieht eine Spur der Verwüstung hinter sich her. Bis ihm das Glasmännchen durch eine List zurück in die Welt der Glücklichen verhilft.

Die Gegenwart scheint uns beweisen zu wollen, dass es für das Glück sehr wohl einiges an finanzieller Sicherheit braucht. Wir spazieren mit einer ordentlichen Portion Neid an Häusern mit Sicht aufs Wasser vorbei, lesen die Klatschspalten in Zeitschriften, auch wenn sie uns nur bezeugen, dass es auch denen dreckig gehen kann. Wir sehen mit Befremden, dass die einen mit dem Niedergang einer Grossbank Millionen scheffeln, während anderen ein Leben lang Arbeit nicht reicht, um mit der Rente Ruhestand zu finden. Und vielleicht bekräftigen Märchen wie jenes des Romantikers Wilhelm Hauff unsere stille Hoffnung, dass Red- und Ehrlichkeit doch irgendwann belohnt werden.

Was das Buch „Das kalte Herz“ aber zum idealen Geschenk aller BücherfreundInnen macht, ist das Buch selbst. Die wunderschönen, kongenialen Illustrationen von Christian Sobeck und die einzigartige Buchbindung des Buches. Die mit kräftigem Strich gemalten Ilustrationen unterstreichen die Stimmung, malen eine Kulisse wie im Theater, illustrieren nicht einfach den Text, sondern unter- und übermalen ihn. 

Während des Lesens wird man gezwungen, die Seiten vor sich aufzufalten. Jedes „Blättern“ wird zu einer fast rituellen Handlung. Die Geschichte breitet sich förmlich aus.

Dass sich ein Kleinverlag an ein solches Unterfangen wagt, ist verdienstvoll. Und dass eine solche Geschichte, ein Märchen, diese Wirkung erzeugt – erstaunlich.

Ein Buch, das die Seele wärmt!

Wilhelm Hauff «Das kalte Herz», illustriert von Christan Sobeck, 8 Grad, 2023, 101 Seiten, CHF 33.90, ISBN 978-3-910228-16-0

Wilhelm Hauff, geboren 29. November 1802 in Stuttgart, gestorben am 18. November 1827 in Stuttgart, war ein deutscher Schriftsteller des Biedermeier. Er war ein Hauptvertreter der Schwäbischen Dichterschule.

Christian Sobeck wurde 1991 im Allgäu geboren. Nach einer Ausbildung zum Grafikdesigner absolvierte er den Studiengang Mediendesign an der DHBW Ravensburg. Seit seinem Studium gestaltet und illustriert er für einen Schulbuchverlag Unterrichtsmaterialien und Lektürehilfen zu Romanen. Parallel führt er ein Designstudio im Illertal.

Beitragsbilder © Christan Sobeck / Lucra-Design

José Luis Gonzalez Macías «Kleiner Atlas der Leuchttürme am Ende der Welt», mare

In einer Zeit, in der es keine unentdeckten Inseln mehr gibt, keine weissen Flächen mehr auf Karten, in denen es die Menschen immer weiter ins All hinauszieht und selbst die Tiefen der Meere langsam aus dem Dunkel der Ahnung aufsteigen, ist die Sehnsucht nach dem letzten Ort, dem Rand der Welt nicht kleiner geworden.

2009 erschien ebenfalls bei mare das Buch „Atlas der abgelegenen Inseln“ von Judith Schalansky und entwickelte sich in der Folge zu einem unerwarteten Bestseller. Dass das Buch damals dermassen viele glückliche LeserInnen fand, lässt sich mit der Inselsehnsucht, dem Mythos Insel erklären. Aber ganz bestimmt auch mit Erinnerung. Vielleicht ging es ihnen als Kind wie mir; Karten und Atlanten versprühten gleichermassen Geheimnis und Abenteuer. Mit Augenpaar, Zeigefinger und einer ordentlichen Portion Vorstellungskraft wurde aus dem flachen Papier eine Kulisse, in die man eintauchen konnte. Gedankenreisen mit dem Potenzial zu epischen Ausschweifungen.

Dass der Spanier José Luis Gonzalez Macías mit «Kleiner Atlas der Leuchttürme am Ende der Welt“ die perfekte Weiterführung zeichnete und schrieb, macht aus beiden Büchern ein wunderbares Pendant. Leuchttürme sind so etwas wie Zeigefinger, hochgehoben, mahnend und selbstbewusst angesichts der Naturgewalten, die auf die Mauern und Stahlkonstruktionen einhämmern. Zeigefinger, die ausrufen; Wir sind hier! Wir lassen uns allem zum Trotz nicht vertreiben. Klar haben moderne Techniken, GPS, Sonar und Radar die stolzen Recken menschlichen Willens weitgehend unnötig gemacht. Klar nagen Stürme, Salzwasser, Gezeiten und Verschleiss an den Giganten am Meer. Aber je mehr die Glanzzeiten der Leuchttürme in die Vergangenheit rutschen, desto mehr werden die Geschichten, die sich über die Jahrhunderte an jenen einsamen Orten abspielten, zu Mythen.

José Luis González Macías «Kleiner Atlas der Leuchttürme am Ende der Welt», mare, 2023, aus dem Spanischen von Kirsten Brandt, 160 Seiten, CHF 49.90, ISBN 978-3-86648-693-5

Die Sehnsucht des Menschen nach Abgeschiedenheit ist ungebremst. In Zeiten, in denen fast alle stets erreichbar sind, in denen Offlinezeiten für die einen schon Abenteuer genug sind, in denen Einsamkeit zu einer Idylle wird, die sie in den seltensten Fällen war, zumal es für den Leuchtturmwärter im letzten Jahrhundert keine Möglichkeit gab, bei aufkommender Depression um einen Helikopter zu bitten, bedient ein Buch wie dieser Leuchtturmatlas Sehnsüchte und Träume perfekt.

Jules Vernes Abenteuerroman „Der Leuchtturm am Ende der Welt“ machte schon vor mehr als hundert Jahren aus wenigen Quadratmetern den idealen Nährboden für Drama und Tragödie. Dass das Leben eines Leuchtturmwärters, selbst dann, wenn der Turm auf dem Festland steht, kein einfaches war, erzählen all die Geschichten, die José Luis Gonzalez Macías mit Illustrationen und Karten zu den Leuchttürmen verwebt. Geschichten von der Härte, der die Menschen ausgesetzt waren, von Hunger und Krankheit, Wahn und Tod, vom Verschwinden, von Geheimnissen, nie von Reichtum, nie von Ruhm und Ehre, ausser jene von Grace, der man wegen ihrer Heldentat in ihrem Geburtsort Bamburgh ein kleines Museum widmet. Am 7. September 1838 zerbricht die SS Forfarshire in zwei Teile und zerschellt an der Insel Big Harcar vor der britischen Küste. Mit einem kleinen Ruderboot retten Grace und ihr Vater, der Leuchturmwärter einen grossen Teil der Mannschaft und Passagiere. Grace stirbt 28jährig an Tuberkulose, bleibt aber Sinnbild dafür, dass Menschen, die an solchen Orten leben und wirken, aus einem ganz besonderen Holz geschnitzt sind.

Die Namen der Orte, an denen die Leuchttürme stehen, lesen sich wie eine Kette kantiger Steine: Clippeton, Erded Rock, Great Isaac Cay, Maatsuyker, Robben Island… „Der Leuchtturm am Ende der Welt“ ist ein Mahnmal für all jene Orte und Menschen, die der stürmischen See und mit einem solchen Buch dem globalen Vergessen trotzen.

Und nicht zuletzt ein wunderschönes Zeugnis moderner Buchkunst!

José Luis González Macías, geboren 1973 in Ponferrada, ist Grafikdesigner, Autor und Herausgeber und seit seiner Kindheit fasziniert von Karten. In seinem Leuchtturm-Atlas verbindet er seine Leidenschaft für Texte und für Bilder und beweist, dass man nicht am Meer gelebt haben muss, um darüber zu schreiben. Der Atlas wurde 2020 vom spanischen Kulturministerium als schönstes Buch Spaniens ausgezeichnet und bereits in vierzehn Sprachen übersetzt.

Kirsten Brandt, geboren 1963, studierte nach einer Buchhandelslehre Portugiesisch, Englisch und Deutsch in Frankfurt, Hamburg, Lissabon und Braga und lebte anschliessend sieben Jahre in Barcelona. Seit 2002 übersetzt sie aus dem Katalanischen (u. a. Carme Riera, Josep Pla und Jaume Cabré), Spanischen und Portugiesischen. 

(Bildmaterial aus dem Buch «Kleiner Atlas der Leuchttürme am Ende der Welt“ mit freundlicher Genehmigung des Verlags!)

Beitragsbild © Ediciones Menguantes

Claire Keegan «Kleine Dinge wie diese», Steidl

Aus der Irischen Proklamation von 1916: „… Die Republik garantiert allen ihren Bürgern religiöse und bürgerliche Freiheit, gleiche Rechte und gleiche Chancen und erklärt ihre Entschlossenheit, nach Glück und Wohlstand der ganzen Nation und aller ihrer Teile zu streben, indem sie alle Kinder der Nation gleichermassen wertschätzt.“ Ob 1916 oder 1984 – i wo!

Ein kleiner Ort in Irland. Winter, Weihnachten 1984. Furlong, Eileen und ihre fünf Mädchen machen sich an die Vorbereitungen zum Weihnachtsfest. Furlong spürt Unruhe in sich. Diese Unruhe wird zu einem Beben, als er bei einer Kohlelieferung zum nahen Nonnenkloster ein verschrecktes Mädchen, eingesperrt im klösterlichen Kohlekeller, findet. Und schlussendlich nimmt er ein Mädchen ohne Schuhe, in Lumpen gekleidet, mit Haaren, als wären sie blind geschnitten worden mit nach Hause, in die Wärme seiner Familie. Eine Weihnachtsgeschichte?

Ein kleiner Ort in Irland. Ganze Schwärme von Raben machen sich über alles Fressbare in dem kleinen Dorf her, besetzen Dachgiebel, machen aus kahlen Bäumen schwarze, krächzende Gebilde. Furlong sieht eines Tages bei einem seiner Spaziergänge durch sein Dorf, das seine Welt ist, eine Katze über dem Kadaver eines Raben. Dreht sich die Welt? Werden die schwarzen Schwärme, die den Ort in den Weihnachtsvorbereitungen regelrecht heimsuchen, mit einem Mal zum „Opfer“? Eine Umkehrung? Doch nicht eine Weihnachtsgeschichte?

Claire Keegan «Kleine Dinge wie diese», Steidl, übersetzt von Hans-Christian Oeser, 112 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-96999-065-0

Ein kleiner Ort in Irland. Nicht weit vom Ort steht seit Urzeiten ein Nonnenkloster mit Wäscherei. Alle im Ort, die es sich leisten können, bringen ihre Wäsche ins Kloster, denn zum Kloster gehört ein Magdalenenheim, wie es damals viele in Irland gab und das letzte erst Jahre nach den Geschehnissen dieser Geschichte schliessen würde. Ein Heim für „gefallene“ Mädchen. Mädchen, denen man sich in der konservativen, katholischen Gesellschaft entledigen (was für ein Wort!) wollte. Was von aussen aussehen sollte, als wäre es Zeichen christlicher Mildtätigkeit, institutionalisierter Fürsorge, war in Wirklichkeit ein perfides System grausamer Peinigung, Zwangsarbeit und Humanentsorgung. Zehntausende junge Frauen wurden bis zur totalen Erschöpfung in konzentrationslagerähnlichen Zuständen wie Tiere gehalten und zur Arbeit gezwungen. Und die Kinder dieser Mädchen wurden zu Hunderten hinter den hohen Mauern dieser Klöster in Massengräbern verscharrt. Alles unter dem Schutzmantel der Kirche, erst in der Gegenwart in seiner fatalen Tragweite realisiert, immer noch ein irisches Trauma. In einem Land, das in seinen Traumata wohl noch lange nicht zur Ruhe kommen wird.

Claire Keegan erzählt genau dort, an der Schnittstelle dieser Geschehnisse. Sie erzählt die Geschichte eines Mannes, der seinen Vater nie kennenlernte, dessen Mutter, in ihrer Schwangerschaft allein gelassen, das Glück hatte, eine wohlgesinnte Arbeitgeberin zu haben, ihre Stelle als Haushälterin nicht verlor und den kleinen Furlong im Haus ihrer Arbeitgeberin aufziehen konnte. Furlong, zeitlebens Aussenseiter, findet Eileen, geniesst sein kleines Glück als Vater von fünf gesunden Töchtern. Die einen gehen sogar in die Musikschule des nahen Nonnenklosters! Aber Furlong weiss und spürt, wie brüchig dieses Glück ist. Und jetzt, in den Vorbereitungen zu Weihnachten, die Töchter schreiben Briefe an Santa Claus und man backt Kuchen, ahnt Furlong, dass hinter den Klostermauern nicht die Liebe regiert und es Leben gibt, die vom Glück verlassen sind. Selbst Eileen und er reagieren ganz unterschiedlich auf die Bedrohungen des Glücks. Bis Furlong die Zeichen nicht mehr leugnen kann und er sich gezwungen sieht, ein Zeichen zu setzen. Bis er eines der blossfüssigen Mädchen an der Hand nimmt und es in seinen Mantel gehüllt durch sein Dorf nach Hause zieht, während man auf den Strassen raunt oder die Strassenseite wechselt.

Claire Keegan stellt sich einem Trauma ihres Landes. Vordergründig erzählt sie eine zärtliche Geschichte von einem feinsinnigen Mann, der nicht mehr wegschauen kann. Hintergründig erzählt sie von diesen schwarzen Gestalten, die in Schwärmen ihren unbegrenzten Hunger stillen, die sich hinter Mauern verstecken und sich über Jahrhunderte in Mechanismen hineinmanövrierten, aus die sie nur die Umkehrung zwingen kann.

Claire Keegan erzählt so feinsinnig und zart, wie Furlong seiner Welt begegnet. Seine Art Licht ins Dunkel zu bringen, ist seinem Wesen geschuldet. Er tut es in Liebe. Claire Keegan hätte die alten Mauern des Schweigens auch mit Knall und Rauch niederreissen können, effektheischend und mit aller Macht anklagend. Tat sie aber nicht, weil die Autorin weiss, dass die Wirkung mit ihrer Art des Erzählens viel subtiler ist.

Es dauerte bis 2013, bis sich die Irische Regierung öffentlich entschuldigte!

Claire Keegan, geboren 1968, wuchs auf einer Farm in der irischen Grafschaft Wicklow auf. Sie hat in New Orleans, Cardiff und Dublin studiert. Bei Steidl sind von der vielfach ausgezeichneten Autorin bereits die Erzählungsbände
«Wo das Wasser am tiefsten ist» und «Durch die blauen Felder» (in einem Band: «Liebe im hohen Gras», 2022) erschienen. Ihre Erzählung «Kleine Dinge wie diese» (2022) stand auf der Shortlist des Booker Prize.

Hans-Christian Oeser, geboren 1950 in Wiesbaden, ist literarischer Übersetzer, Herausgeber, Reisebuchautor, Publizist, Redakteur und Sprecher. Er hat zahlreiche Klassiker ins Deutsche übertragen, darunter Mark Twains Autobiographie. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis, Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreis und Straelener Übersetzerpreis.

Beitragsbild © Murdo McLeod

Gertrud Leutenegger «Partita», Nimbus – Solothurner Literaturpreis für das Gesamtwerk

Manchmal erscheinen im Meer der Neuerscheinungen Bücher, die wie Leuchttürme aus der schieren Unendlichkeit der grossen und kleinen Wellen ihre Strahlen bis in den Horizont werfen. «Partita» ist ein solcher Leuchtturm. Ein Schatz mit 77 Funkelsteinen, die mich rauschig machen!

1975 veröffentlichte Gertrud Leutenegger mit „Vorabend“ ihren ersten Roman – bei Suhrkamp. Eine beeindruckende Steilvorlage! Drei Jahre später gewann sie, nachdem sie bei Suhrkamp auch ihren zweiten Roman „Ninive“ herausgebracht hatte, dreissig Jahre alt, am Ingeborg-Bachmann-Wettlesen den Preis der Klagenfurter Jury. Seither veröffentlichte die Dichterin Gedichte, Romane und dramatische Poems stets im Suhrkamp Verlag – und nun mit „Partita“ ihre zweite Veröffentlichung bei Nimbus. Eine überaus erstaunliche und beeindruckende schriftstellerische Karriere, die sie schon lange zu einer der ganz Grossen der deutschsprachigen Literatur macht. Aber da sich der Zeitgeist wenig um Qualität kümmert und schon gar nicht um die grossen Leistungen eines ganzen Lebens, ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich das Scheinwerferlicht allzu schnell von den dicken Stämmen im Literaturwald abwendet. (Lieber die bunten Büsche mit knallig leuchtenden Beeren und Blüten!)

«Meine Stimme nicht als ein Teil, sondern als eine Grenze der Welten.»

Aber schon der Umstand, dass auf der Nimbus Verlagswebseite zwei Rezensenten der Extraklasse aufgezählt werden, lässt erahnen, dass dieses scheinbar unspektakuläre Bändchen einen ganz besonderen Schatz birgt. Dass Charles Linsmayer und Michael Krüger sich vor dem Buch der Altmeisterin verneigen, beeindruckt mich so sehr, dass es mich zweifeln lässt, ob ich überhaupt noch etwas Relevantes zu diesem Kleinod beitragen kann.

Gertrud Leutenegger «Partita», Nimbus, 2022, 92 Seiten, CHF 22.00, ISBN 978-3-03850-089-6

„Partita“ ist ein Begriff aus der Musik und beschreibt einen Teil einer Tanzfolge oder einer Variationsreihe. Genau das tut Gertrud Leutenegger; sie tanzt in ganz verschiedenen Schrittfolgen durch die Welt ihres Tuns, durch das Schreiben, das Erschaffen, ihre Kreativität. Und ihr Tanz ist derart leicht, anmutig und graziös, dass die Lektüre einem demütig macht. „Partita“ sind 77 Notate, manchmal nur ein einziger Satz, ein andermal eine Betrachtung, sprachliche Meditationen, Schritte, Tanzschritte, Tanzfolgen nach Innen. Die 77 Sprachperlen entstanden wohl nicht, um sie irgendwann zu publizieren. Es waren, wie die Autorin in einem kurzen Nachwort beschreibt, Notate, die über viele Jahrzehnte im Kontext ihres literarischen Schaffens entstanden. Glücklicherweise lässt mich Gertrud Leutenegger an diesen Leichttürmen ihres Lebens teilnehmen.

«Echoraum werden für die geliebten Menschen.»

Fast alle diese Notate drehen sich vordergründig um das Schreiben, ihre Arbeit am Text, was Sprache mit ihr macht, wie sie ringt und ihr Schaffen prüft. Aber wenn man sich während der Lektüre einen Schritt zurück begibt und das Thema ihres Schreibens „verallgemeinert“, denn für Gertrud Leutenegger ist ihr Schreiben ihr Leben, ihr Sein, ihr ganzen Tun, dann werden diese Notate zu Aufforderungen an ein Tun ganz allgemein. Sie erinnern mich durchaus auch an Ermahnungen, dem Geschenk des Lebens, des Erschaffens jenen Respekt zu zollen, den dieses Geschenk einfordert. Gertrud Leutenegger reflektiert ihr Tun. Diese Notate sind die Prüfsteine, mit denen sie ihr Schaffen hinsichtlich ihrer Wahrhaftigkeit prüft. Schon alleine die Ernsthaftigkeit dieses steten Prüfens beeindruckt – und noch viel mehr die Leuchtkraft der Notate selbst. Der Dichterin geht es nie um Effekte, so wie „Partita“ in nichts nach Effekt hascht. Eine Seite – ein Satz. Als wären es die in den Leutenegger-Boden versenkten Mark- und Merksteine ihres Schaffens.

«Unter Tränen zum Leben verführen.»

„Partita“ ist ein Geschenk an all jene, für die Lesen auch Kontemplation sein soll.

Der Solothurner Literaturpreis geht in diesem Jahr an Gertrud Leutenegger.

Erst im letzten Jahr wurde der Preis neu aufgestellt; seither wird er vom Verein Solothurner Literaturtage getragen. Der Preis ist mit 15’000 Franken dotiert und zeichnet ein Gesamtwerk aus.

Die fünfköpfige Preisjury begründet ihren Entscheid für die 74-jährige Schweizer Autorin Gertrud Leutenegger damit, dass sie in ihrem Werk Persönliches und Weltwahrnehmung miteinander verbinde. Sie erforsche «auf zeitlose Weise die menschliche Existenz», heisst es in einer Mitteilung von Mittwoch.
Der Solothurner Literaturpreis wird ihr am 21. Mai im Rahmen der Solothurner Literaturtage verliehen. Zu den bisherigen Preisträgerinnen und Preisträgern gehören unter anderem die deutsche Autorin Iris Wolff (2021), die Österreicherin Monika Helfer (2020), Peter Stamm (2018) und Lukas Bärfuss (2015).

Gertrud Leutenegger, geboren 1948 in Schwyz, studierte nach Aufenthalten in Florenz und Berlin an der Schauspielakademie Zürich Regie und arbeitete als Regieassistentin am Schauspielhaus Hamburg. Seit 1975 veröffentlicht sie Romane, Theaterstücke und Essays. Sie lebte viele Jahre in der italienischen Schweiz, einige Zeit in Rom und Japan. Heute wohnt sie in Zürich. Ihre letzten Publikationen sind «Pomona» (2004), «Gleich nach dem Gotthard kommt der Mailänder Dom» (2006), «Matutin» (2008), «Panischer Frühling» (2014) und «Späte Gäste» (2020).

Rezension von «Das Klavier auf dem Schillerstein» auf literaturblatt.ch

Andri Perl «Im Berg ist ein Leuchten», Elster & Salis

Sulvaschin ist ein Ort im Kanton Graubünden, ein fiktiver Ort in einem Bergtal. Lisa, die Erzählerin in Andri Perls Erzählung kehrt auf Forschungsreise zurück an den Ort ihrer Kindheit, an den Ort ihrer Familie, an den Ort, an dem Ihr Vater verschwand und sich über sein Verschwinden ein Mantel des Schweigens legte.

Es gibt Bücher, die sich ganz leise gebärden. Neben seiner Tätigkeit als Schriftsteller ist Andri Perl Musiker. Seine Erzählung „Im Berg ist ein Leuchten“ ist ein leises Stück Literatur, eine Erzählung, die nicht nur in ihrem schönen Titel ein Leuchten zurücklässt. “Im Berg ist ein Leuchten“ ist eine Liebesgeschichte an einen Ort, ein Dorf, ein Tal, auch an die Menschen, ihre Besonderheiten, die fest mit den Besonderheiten des Tals, der Gegend, der Topographie verbunden sind. 

Sulvaschin hat eine lange Geschichte, eine Geschichte, die mit dem Berg, dem Stein verbunden ist, denn über Jahrhunderte versprach der Berg Reichtum. Man glaubte, im Bergbau dem Fels jene Geheimnisse entlocken zu können, die dem Tal weit über die Grenzen Bedeutung geschenkt hätten. Ein Unternehmen, das immer wieder scheiterte, im Berg aber viele Narben hinterliess, Löcher, Stollen, Minen. Scheiterte und Opfer hinterliess, Leben, die sich im und am Berg verloren.

Andri Perl «Im Berg ist ein Leuchten» Elster & Salis, mit Illustrationen von Adina Andres, 2022, 120 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-03930-041-9

Auch Lisas Vater ist eines dieser Opfer. Er verschwand, sehr wahrscheinlich im Berg. Lisa besucht jenen Ort, das Tal, in dem das Militär nach der endgültigen Aufgabe aller Bergbauversuche, einen Schiessplatz einrichtete, einen Übungsplatz, sich auch wieder zurückzog und das Tal sich selber und all den Geistern überliess. Dort, wo über Jahrhunderte das Hämmern am und im Berg am Fels hallte, später das Schiessen aus allen möglichen todbringenden Rohren, eroberte sich in den letzten Jahrzehnten die Natur ihren Platz zurück. Jenes Stück Tal unweit des Dorfes wurde zu einem Refugium vieler Pflanzen und Tiere, die nur dort noch einen Lebensraum finden; Vögel, Fledermäuse, Falter, Blumen.

Sulvaschin war über die Jahrhunderte Schauplatz aller möglichen wirtschaftlichen Interessen. Selbst in der Gegenwart hätte man es gerne gesehen, im Tal mit einem Steinbruch Fels zu Geld zu machen. Lisas Vater hatte sich damals gegen die Zulassung eines solchen Steinbruchs gewehrt, stellte sich den Interessen der Dorfregierung entgegen. Und als er verschwand, förmlich vom Boden verschluckt wurde, war sein Verschwinden erst einmal Ursprung wildester Vermutungen. Lisa erforscht eben diese Höhlen, diese Löcher im Berg, diese Narben im Berg. Aber eigentlich erforscht sie auch das Verschwinden ihres Vaters, jenen seltsamen Ort unweit des Dorfes, der Blumen und Tieren eine Heimat gibt, die sonst kaum anzutreffen sind. Einen Ort, mit dem Geschichten verbunden sind, die nicht zu erklären sind. Einen Ort, wo das Unmögliche verschwindet und das Ewige zu Leuchten beginnt. Einen Ort, der über die Jahrhunderte einen Schatz versprach, den man nie fand, der mit dem Suchen danach aber nie zu leuchten aufgehört hat.

Andri Perls wunderschön gestaltetes und von Adina Andres illustrierte Erzählung ist ein funkelndes und leuchtendes Stück Literatur, dass auch sprachlich mit feinen und zarten Strichen zeichnet. Eine Erzählung, die das Mythische, Unerklärbare mit sich nimmt und die Erzählstimme in einer ganz eigenen Mischung zwischen Legende, Sage und Erzählung schweben lässt. Andri Perls Erzählung steht in einem seltsamen Kontrast zur eigentlichen Absicht der Protagonistin, die Erklärungen und wissenschaftliche Erkenntnisse sucht.

Andri Perl (1984) aus Chur ist Rapper bei Breitbild und Autor der Romane «Die fünfte, letzte und wichtigste Reiseregel» (2010) sowie «Die Luke» (2013). Perl hat an der Universität Zürich Germanistik und Kunstgeschichte studiert und ein Masterstudium in Dramaturgie an der Zürcher Hochschule der Künste absolviert. Ausserdem sitzt er für die SP im Bündner Kantonsparlament und ist ein zusehends lahmender Hobbyfussballer der Schriftstellernationalmannschaft. 2019 ist er Träger des Bündner Literaturpreises. 

Webseite des Künstlers

Hélène Gestern «Schwindel», Schöffling

Jetzt, da Annie Ernaux den Nobelpreis erhielt, ist die Patina, die autofiktionales Schreiben für die einen angesetzt zu haben schien, mit einem Mal weggewischt. In „Schwindel“ schreibt sich Hélène Gestern aus dem Taumeln heraus, weil das Verlassen worden sein ein ganzes Leben in Schieflage brachte. „Schwindel“ macht schwindlig!

Das Buch ist klein und schmal, passt in eine Jackentasche. Ich lese es am See bei Wind und es ist, als ob die Frau auf dem Cover, die schräg im Wind zu stehen scheint, die Haare wie eine Fahne hinter sich trägt, die inmitten entwurzelten Grünzeugs steht, vor einer hohen grauen Mauer, jenen Wind, der bei mir allerhöchstens säuselt, um ein Vielfaches potenziert ertragen muss. Es ist, als ob das, was ich in meinem Leben immer wieder als Verlust von Liebe hinnehmen muss, in und an diesem Buch als Tragödie der Zerstörung wütet. 

Die allergrösste Tragödie des Buches ist nicht die Zerstörung der Liebe, sondern die Tatsache, dass sie unauslöschlich geblieben ist, dass die Erzählerin sie noch immer spürt, trotz aller erlebter Grausamkeiten und Erniedrigungen. Alles, wovon Hélène Gestern erzählt, hat eine riesige Wunde aufgerissen, die nicht heilen will, die die Erzählerin wie ein verstecktes Mahnmal mit sich herumtragen muss, das die Gegenwart abdunkelt, den Schmerz permanent spüren lässt.

Hélène Gestern «Schwindel», Schöffling, 2022, aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky, 96 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-89561-344-9

„Schwindel“ ist kein Buch für LeserInnen mit ähnlich offenen Wunden. Nichts für all jene, die sitzengelassen und hingehalten wurden, denen mit falschen Versprechungen ein Teil ihres Lebens verhindert wurde, die Gefühle mit sich tragen, die sich kaum kontrollieren lassen. „Schwindel“ ist das Protokoll eines Verlusts. Wie man sehenden Auges über den Abgrund hinaus in die Tiefe stürzt. Wie alles mitgerissen wird. So wie die Liebe, die Leidenschaft alles über die Massen in Sphären der Glückseligkeit entrücken kann, so kann das Verlassenwerden, der Verlust von Hoffnung und Vertrauen alles in die Gegenrichtung reissen, bis, wie auf dem Cover des Buches, alles niedergerissen ist bis auf Erinnerungen zwischen Schmerz und Wehmut.

„Man kann sich erst von der emotionalen Erinnerung lösen, sie tilgen, den Hunden zum Frass vorwerfen, wenn man sich bis zum bitteren Ende mit ihr auseinandergesetzt hat.“

Hélène Gestern erzählt von einer Frau, die einen Mann kennen und lieben lernt. Was sich zu Beginn wie Reisen ins Glück anfühlt, wird zu einem jahrelangen Ringen, einem nicht enden wollenden Schmerz, einer Geschichte, in der alle Logik ausgehebelt zu sein scheint. Der Mann ist verheiratet, Vater und als Geschäftsmann viel unterwegs, weit über die Grenzen Frankreichs hinaus. So wie die Frau lange Wege auf sich nimmt, kreuz und quer durch ganz Europa fährt um einige Stunden mit jenem Mann zu verbringen, so schleift der Mann die Frau in einer Spur aus Zweifeln, Verletzungen, Missachtung und Narzissmus hinter sich her. Selbst nach einer ersten Trennung, die nur oberflächlich ist, kommt es fast ein Jahrzehnt später, die Gefühle der Frau für den Mann waren nie erloschen, zu einem umso leidenschaftlicheren Aufflammen der Hoffnung, der Liebe, der Leidenschaft, nur um kurze Zeit später alles endgültig in Trümmern zu sehen.

„Schwindel“ ist ein Buch des Schmerzes. Nie aber ein Buch des Selbstmitleids. Die Erzählerin scheint ein Buch lang eine Erklärung zu versuchen, eine Erklärung, um die sie kämpft und ringt. „Schwindel“ ist ein Versuch der Einordnung, weil das, was mit ihr geschah und geschieht, letztlich unerklärbar bleibt. Es ist, als ob diese Stimme mir gegenüber sitzt, ihre Hände auf die meinigen legt, um mir zu bedeuten, bitte nur zuzuhören – und erzählt.
Liebe ist ein Gefühl, ein Zustand, der sich uns entziehen kann. Die Erzählerin ist nicht geheilt, die Wunde noch immer da, selbst die Liebe noch. Und alles korrespondiert, geht mit einer solch intensiven Sprache einher, dass mich die Lektüre schwindlig macht.

Ich schiebe das Buch ins Regal mit dem Gefühl, an etwas ganz Besonderem teilgenommen zu haben.

Hélène Gestern wurde 1971 geboren, ist Schriftstellerin und lehrt an der Universität von Lorraine Literatur. Sie befasst sich intensiv mit der Geschichte der Fotografie und den Möglichkeiten des autobiografischen Schreibens. Ihre Bücher erscheinen in vielen verschiedenen Sprachen, ihr Roman «Der Duft des Waldes» wurde von Patricia Klobusiczky und Brigitte Grosse ins Deutsche übersetzt und war ein grosser Erfolg. Gestern lebt in Paris und Nancy.

Patricia Klobusiczky, 1968 in Berlin geboren, hat in Düsseldorf Literarisches Übersetzen studiert und ist seit mehr als 25 Jahren in der Branche tätig. Sie übersetzt aus dem Englischen und Französischen, Autoren der klassischen Moderne wie Jean Prévost oder Henri-Pierre Roché oder Zeitgenössisches, beispielsweise Romane von Marie Darrieussecq, William Boyd oder Petina Gappah

Beitragsbild © Philippe Matsas

Enzo Pelli «Plötzlicher Schatten / Ombra improvvisa», Gedichte Italienisch und Deutsch, Limmat

Manchmal taucht ein Name unvermittelt und überraschend aus der Weite der Namenlosen auf. Man ist überrascht und reibt sich die Augen (und Ohren). Aber manchmal, wie bei Enzo Pelli, steckt grosse Genugtuung darin, wenn der Name endlich den Glanz bekommt, der ihm zusteht!

Ich traf Enzo Pelli und seine Frau diesen Sommer. Ich fasste Mut und fragte während eines Ferienaufenthalts im Tessin, ob er Zeit für ein Treffen habe, trafen wir uns doch zum bisher einzigen Mal vor etlichen Jahren in einer kleinen Buchhandlung in Hitzkirch anlässlich eines Literaturfestivals. Da damals noch keine seiner Gedichte in Deutsch erhältlich waren, freute ich mich umso mehr, als er mir vor ein paar Jahren eine kleine Auswahl seiner Gedichte in Italienisch und von Christoph Färber ins Deutsche übersetzt für die «Plattform Gegenzauber» zur Veröffentlichung freigab.

Enzo Pelli gehört in eine lange Reihe grosser Tessiner Dichter. Giovanni und Giorgio Orelli, Alberto Nessi, Fabio Pusterla, Elena Spoerl-Vögtli oder Pietro De Marchi, um nur einige zu nennen. Ganz zu schweigen von all den grossen Namen, die im Tessin in den vergangenen hundert Jahren eine Oase für ihre Kunst fanden. Als ob das Tessin der Lyrik einen ganz besonderen Boden bieten würde!
Dass nun endlich unter dem Titel «Plötzlicher Schatten / Ombra improvvisa» eine Auswahl Enzo Pellis Gedichte erscheint, ist höchst erfreulich und höchste Zeit:

Plötzlicher Schatten

Plötzlicher Schatten
über Fluss und Stein.
Ich zögere, bleibe
kurz stehen, erhebe
den Blick; nur
eine vorüberziehende Wolke.

So wie der plötzliche Schatten nur eine vorüberziehende Wolke ist, so sind die Momente, aus denen Enzo Pelli seine Gedichte schafft, jene Momente, die einem bewusst machen, dass mehr ist, als bloss das, was man dauernd erwartet. Enzo Pellis Schatten ist kein dunkler Schatten, sondern das Vorüberhaschen eines Moments, der eine Tür sein könnte. Enzo Pelli streift kurz und reisst mir die Augen auf. Genau das, was Lyrik wie keine andere Kunstform kann, wenn man sich auf sie einlässt.

Enzo Pelli «Plötzlicher Schatten / Ombra improvvisa», Gedichte Italienisch und Deutsch, übersetzt von Christoph Ferber, Limmat, 2022, 180 Seiten, CHF 38.00, ISBN 978-3-03926-033-1

Enzo Pelli veröffentlichte erst spät erste Gedichtbände, lange nach seiner Pensionierung. Was nicht heisst, dass er mit Lyrik erst im „Ruhestand“ begonnen hätte. Umso erfreulicher, wenn es einmal mehr dem Limmat Verlag gelungen ist, eine Stimme einer anderen Landessprache ins Scheinwerferlicht zu bringen. (Unermesslich, was der Limmat Verlag in den vergangenen Jahrzehnten an literarischer Entwicklungsarbeit geleistet hat. Gäbe es einen Preis für die Lesbarkeit vielsprachiger Kostbarkeiten der Schweiz, dann müsste dieser Preis an den Limmat Verlag verliehen werden! Ich verneige mich.) 

Enzo Pellis Gedichte sind keine Kopfgeburten, auch wenn ich jede erdenkliche intellektuelle Sorgfalt spüre. Als ob Enzo Pelli durch sein kompositorisches Geschick Emotionen aus all seinen Sinnen durch den Bauch aufs Papier bringt. So wie der Dichter für das Signieren meines mitgebrachten Buches für kurze Zeit ins Nebenzimmer entschwindet, um mit ganzer Konzentration und Hingabe nicht nur die richtigen Wörter zu finden, sondern diesen auch noch die richtige Form, den ästhetischen Schwung gibt, so wird es mit seinem dichterischen Schaffen sein. Ich spüre grenzenlose Sorgfalt, liebenden Respekt, eine Stimme, die sehend macht.

Neben seiner Dichtkunst malt Enzo Pelli in seinem Atelier in Lugano. Kalligraphie, der gestalterischen Umsetzung von Schrift, Form und Farbe. Selbstverständlich ist auch diese Kunstform, die Enzo Pelli immer wieder in Ausstellungen präsentieren konnte, Auseinandersetzung mit Sprache, Rhythmen, Ausdrucksform. Nicht verwunderlich, dass es dann irgendwann die Sprache selbst war, das Gedicht.

Pfad, Fels

Pfad, Fels,
knirschender Schritt,
Wart, im Gestein:
Pfeift’s da nicht? Moos.
Atem, Wind
Zeit.

Man würde an den Momenten vorbeigehen. Aber ein Dichter wie Enzo Pelli ist sich der Einmaligkeit eines Moments bewusst, dem Fingerzeig, dem Hinweis, den man in der Eile übersehen würde. Er gibt mir den Moment zurück, eine zweite Chance. Pellis Gedichte sind Einladungen.

Für den Freund von damals

Im gossen Nichts
findest du die Fragmente,
die Worte, die Erinnerungen,
die du vorzeitig
verloren hast:
Endlich im Frieden,
zwischen Gestirnen,
wo alles schweigt.

Viele seiner Gedichte sind Erinnerungen an Menschen, Freundschaften, Begegnungen. Eindrücklich die Bilder, die Enzo Pelli von seiner Mutter in seine Gedichte einbringt, einer Frau, die in den 40er Jahren von Frankreich ins Tessin kam. Sie verbringt die Stunden, indem sie vor sich eindöst / und ferne Gedanken verfolgt. Bilder von unsäglicher Zartheit und Liebe. Die Mutter, alt, wartend auf die Leere, die sie erwartet.

Enzo Pelli wandelt das Banale in lichte Poesie. Nichts an seinen Gedichten ist Effekt, nichts übersteigert, alles durchdrungen von Ehrlichkeit, nicht nur den Menschen auch den Dingen gegenüber.
Seine Gedichte entziehen sich nicht durch Abstraktion, Umwege und Verschlüsselungen. Alles in seiner Lyrik orientiert sich am Bild. Enzo Pelli zeichnet klar, licht, auch dann, wenn seine Themen schwer sind, wenn man den Schmerz spürt.

Ich gönne Enzo Pelli, dass seine Gedichte, die er mit vollkommener Geste …. auf dieses dünne Blatt zeichnen kann, die LeserInnen findet, die der Dichter verdient!

Ombra improvvisa

Ombra improvvisa
sul fiume sui sassi.
Esito, sospendo il passo,
levo lo sguardo: solo
una nube che passa.

Enzo Pelli, 1948 in Lugano geboren, war lange Zeit Kulturredakteur beim Tessiner Fernsehen. 2014 veröffentlicht er seinen ersten Lyrikband, dem drei weitere folgen. Der letzte: «Il tempo breve» (2020). Er ist auch als Maler, Grafiker und Kalligraf tätig.

Webseite des Autors

Christoph Ferber, geboren 1954. Aufgewachsen in Sachseln, Obwalden. Studium der Slawistik, Romanistik und Kunstgeschichte in Lausanne, Zürich und Venedig. Dort Promotion mit einer Arbeit zum russischen Symbolismus. Tätigkeit als freier Übersetzer. Wohnt auf Sizilien. 2014 Auszeichnung mit dem Spezialpreis Übersetzung des Schweizerischen Bundesamts für Kultur, 2016 dem Paul Scheerbart-Preis.

Enzo Pelli „Stalla in rovina“ auf der Plattform Gegenzauber

Beitragsbild © Matteo Fieni

Lukas Maisel «Tanners Erde», Rowohlt

„Buch der geträumten Inseln“ war sein furioses Debüt! Und nun liegt mit „Tanners Erde“ eine Novelle von Lukas Maisel bereit, der ich ein Heer von LeserInnen wünsche. Ein kleiner Hof im hügeligen Irgendwo. Und dann, mit einem Mal, tut sich die Erde auf.

Tanner ist Bauer. So wie es sein Vater war. Ein Kleinbauer irgendwo im Alpenvorland; ein paar Kühe, ein bisschen Getreide, immer Arbeit. So viel, dass es immer reichte für Marie und ihn. Vielleicht versteht Tanner seine Kühe besser als seine Frau Marie. Wenn das Vreni im Stall eine harte Zitze hat, weiss er genau, was es braucht, um der Kuh zu helfen. Aber gegen das stille Zusammensein mit seiner Frau, das alltägliche Einerlei des Alltags in Stube und Bett ist kein Kraut gewachsen. Wahrscheinlich wäre alles wie immer seinen Lauf gegangen, wenn eines Morgens der Kirschbaum in der Weide vor dem Haus nicht schief gestanden, wenn nicht in der Folge alles in Schieflage geraten wäre.

Huswil liegt abseits und Tanners Hof noch etwas mehr. Das ändert sich komplet, als sich in Tanners Weide über Nacht zwei Löcher öffnen, das eine gross, mehr als fünf Meter breit, das andere etwas kleiner. Zwei schwarze Löcher in Tanners Erde. Was sich da auftut, kann Tanner nicht fassen, denn das einzig Beständige waren bisher immer die Weiden und Wiesen, die Äcker und Hügel auf denen Tanner sein ganzes Leben verbrachte. Die Erde wankt nie. Und jetzt, mit einem Mal, von gestern auf heute, bricht sie weg, macht sich auf in schwarze Untiefen. Und über Löcher spricht man nicht, so wie man auch über die Löcher in Körpern nicht spricht.

Lukas Maisel «Tanners Erde», Rowohlt, 2022, 115 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-498-00308-1

Tanner sperrt die Wiese um die Löcher ab. In seiner Stube und im Schlafzimmer hat er das mit seiner Marie schon lange vorher getan. Auch wenn er sie noch immer liebt. Dabei hat der Frühling gut begonnen, galoppieren Tanners Kühe wie jedes Jahr wild springend auf die fetten Matten, nachdem sie während Monaten im halbdunklen Stall den Winter wörtlich durchstanden. Und nun? Tanner traut sich nicht einmal mehr, mit seinen Maschinen sein Land zu befahren, Gras einzuholen. Tanner traut sich auch nicht, Marie von seinen Löchern zu erzählen, nicht bloss von denen, die sich auf der Wiese auftun. 

Sind die Löcher Strafe? Tanner geht zur Polizei, Tanner geht in den Staubigen Esel, den Gasthof in Huswil. Tanner geht zum Pfarrer. Tanner geht zur Gemeindevorsteherin. Aber Tanner ahnt, dass er sich nur selber helfen kann. Irgendwann klingelt das Telefon, man habe da von Löchern auf seinem Grundstück gehört, ob man für einen Exklusivbericht zusammenkommen könne. Dann sind es Wissenschaftler, die sich abseilen lassen, die Messungen machen, dann ist es das Fernsehen, irgendwann sogar solche aus dem Ausland.

„Das Loch kommt aus dem Nichts, es ist ja selber ein Nichts: ein Nichts aus dem Nichts. Tanner wird fast schwindlig von so viel Nichts.“

Im Stall beginnen die Tiere zu hungern. Marie rückt immer weiter weg, weil Tanner nicht in Worte fassen kann, was mit ihm geschieht. Da sind die schwarzen Löcher auf seiner Wiese. Aber es öffnet sich auch ein schwarzes Loch in seinem Innern. Ein Loch, mit dem er ganz alleine bleibt. Ein Loch, das immer mehr alles Licht zu schlucken droht.

Lukas Maisels Novelle ist ein Juwel. Selten habe ich so zärtlich Erzähltes gelesen! Kein Schmalz, kein Kitsch, auch kein Gotthelf-Verschnitt. Lukas Maisel erzählt gradlinig, eindringlich, lässt viel Platz für die verschiedensten Lesarten und Interpretationen. Es öffnen sich Metaphern, die sich niemals anbiedern. Es ist nicht die Geschichte des armen Bauern. Aber die Geschichte von Sicherheiten, die mit einem Mal wegrutschen, die ein Leben unkorrigierbar aus den Angeln heben. Es ist die Geschichte eines Verlorenen, eines Gefangenen, den der Sog eines schwarzen Lochs in den Abgrund zieht.

„Er würde wohl kaum irgendwas anders machen, wenn er sein Leben noch mal leben könnte. Ausser vielleicht die Marie häufiger auf die Stirne küssen.“

„Tanners Erde“ ist der Beweis, das schwergewichtige Literatur nicht an der Anzahl Seiten gemessen werden kann. Diese Novelle liest man gerne immer wieder, weil unsäglich viel Güte darin liegt, sei es jene des Erzählers oder jene des verzweifelnden Bauern! Danke Lukas Maisel!

© Sandra Kottonau

Lukas Maisel, geboren 1987 in Zürich, machte eine Lehre zum Drucker, bevor er am Literaturinstitut in Biel studierte. Für seinen ersten Roman «Buch der geträumten Inseln» erhielt er einen Werkbeitrag des Kantons Aargau, den Förderpreis des Kantons Solothurn und zuletzt den Terra-nova-Preis der Schweizerischen Schillerstiftung.

Lukas Maisel «Ewiger Wanderer», Plattform Gegenzauber

Beitragsbild © Internationales Literaturfestival Leukerbad 2021