Svenja Flasspöhler «Streiten», Hanser – Wortlaut Literaturfestival St. Gallen

Streit ist nicht schlecht. Streit braucht es, auch den in der Liebe, in der Ehe. Und mit Sicherheit in der Gesellschaft und in der Politik. Aber dass zwischen Gegnern und Feinden ein grosser Unterschied besteht, dass Streit unter Feinden selbst dann zum Krieg wird, wenn man ihn vordergründig nur mit Worten austrägt – davon schreibt die Philosophin Svenja Flasspöhler leidenschaftlich und sehr persönlich.

Streitet man in Diktaturen? Wird im Kreml gestritten? Wohl kaum. Lager und Gefängnisse füllen sich schnell mit jenen, die sich dem Disput stellen. Navalny wird man so schnell nicht vergessen. Streitet man mit Trump? Stellt sich ihm in seinem engsten Kreis jemand entgegen? Traut sich dort jemand? Oder werden alle, die nur Anzeichen einer Widerrede zeigen, wegspediert, versenkt und geächtet? Wahrscheinlich ist es ein Gradmesser einer funktionierenden Demokratie, ob man den Streit aushält. Aber wo hört Streit auf? Wo beginnt verbale Vernichtungsstrategie? Die Gräben in der Politik zwischen links und rechts, zwischen konservativ und progressiv, zwischen den politischen Polen werden immer gehässiger. ExponentInnen sind immer weniger in der Lage, sich wirklich um die Probleme der Menschen zu kümmern, als um den strategischen Schlagabtausch der Streitenden, die sich stets profilieren müssen, um bei ihren Wählerinnen und Wählern nicht in Ungnade zu fallen.

Ein Streit ist nie harmlos. Der Abgrund der Vernichtung ist immer da.

Die Coronajahre haben mehr als deutlich gezeigt, dass wir die Fähigkeit der respektvollen Auseinandersetzung zu verlieren drohen. Wie schnell wird man abgestempelt und diffamiert, ins Offside gedrängt, in eine Ecke, aus der man, einmal in einen medialen Shitstorm geraten, nicht mehr oder nur mehr schwer herausfindet. Gräben ziehen sich zwischen Freundschaften, bis in Familien. Man schweigt lieber, als sich zu streiten. Sind wir zu zimperlich geworden oder leiden wir an Harmoniesucht, die angesichts der allseitigen Bedrohungen verständlich wird?

Damit ein Streit nicht eskaliert und die Parteien unwiederbringlich auseinandertreibt, müssem die Bindungskräfte grösser sein als der Vernichtungsdrang.

Svenja Flaßpöhler «Streiten», Hanser, 2024, 128 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-446-28004-5

In patriarchalen Strukturen, in Ehen nach alten Mustern, galt der Streit als Schieflage. Unterwerfung schloss Widerrede aus. Anpassung war das Mass jeder funktionierenden „Partnerschaft“ zwischen Chef und Untergebenen. Nicht unähnlich einer Diktatur. Man scheut(e) den Streit. Er ist Gift. Das mag heute in vielen echten Partnerschaften ganz anders sein. Man spricht von Streitkultur. Aber dass es für solche Auseinandersetzungen Raum bräuchte, nicht zuletzt Regeln, die von Streitenden akzeptiert werden, davon ist zumindest in der Politik wenig zu spüren. Wenn es in der Schweiz immer mehr Gemeindeführungsgremien gibt, die im ausufernden Grabenkrieg handlungsunfähig werden, ist das symptomatisch und bedenklich genug.

In der Feindschaft wird dem Anderen das Existenzrecht abgesprochen.

Im Sport akzeptieren wir Regeln, SchiedsrichterInnen, weil Gegner in aller Regel keine Feinde sind. Unterlegene geben sich am Schluss die Hand, Schwinger putzen sich gegenseitig das Sägemehl von den Schultern, man gratuliert dem Sieger. Im Sport scheint zu funktionieren, was in der Politik immer schwieriger wird, in totalitären, diktatorischen Stukturen unmöglich. Gegner werden zu Feinden, die nicht nur zu besiegen sind, sondern zu vernichten. Das Vokabular solcher Brandreden ist unmissverständlich und orieniert sich schamlos am Vorbild ehemaliger Verbrecher an der Menschlichkeit.

Es steht Wille gegen Wille wie in einem Krieg, mit dem Unterschied, dass eine Niederlage akzepiert werden kann.

Svenja Flasspöhlers Buch „Streiten“ ist ein leidenschaftliches Plädoyer für eine Fähigkeit, die mehr und mehr an die Ränder gedrängt wird, sei es in Parlamenten, in Wahlkämpfen oder in Talkshows, bei denen es nicht mehr um Argumente geht, sondern darum, die Gegner zu vernichten. Krieg. Svenja Flasspöhler hat in ihrem Leben genug Erfahrungen gesammelt. Sei es im öffentlich rechtlichen Rundfunk, in Talkshows, an Buchmessen, selbst in Gesprächen mit Menschen, von denen sie glaubte, sie wären ihr gut gesinnt, bis hin in eine Kindheit, als Tochter sich streitender Eltern und drohender Eskalationen. „Steiten“ ist der Versuch einer Einordnung, einer Besinnung.


Philip Kovce im Gespräch mit Svenja Flasspöhler am Montag, 18. November 2024 im Unternehmen Mitte in Basel

Svenja Flasspöhler ist promovierte Philosophin und Chefredakteurin des Philosophie Magazins sowie Gründerin und Co-Geschäftsführerin des neuen Berliner Philosophie-Festivals Philo.live!. Zuletzt erschienen von ihr u. a. «Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren» und «Die potente Frau. Für eine neue Weiblichkeit». Für «Mein Wille geschehe. Sterben in Zeiten der Freitodhilfe» erhielt sie den Arthur-Koestler-Preis. Svenja Flasspöhler lebt mit ihrer Familie in Berlin.

Wegseite der Autorin

Beitragsbild © Johanna Ruebel

Helena Schätzle «9645 Kilometer Erinnerung», Nimbus

Wer Erfahrungsberichte aus Kriegen liest, muss feststellen, dass sie keiner Zeit unterworfen sind. Ob während der Weltkriege oder in den Kriegen in der Ukraine oder in Syrien. Der Schrecken ist universell, genauso wie die Wunden, die sich selbst nach Jahrzehnten nicht schliessen.

Ebenso allgemeingültig ist das Schweigen derer, die diesem Schrecken ausgesetzt waren. Ob als Täter oder Opfer, als Zeugen oder als Verschonte. Die Angst vor Wunden, die aufgerissen wieder zu eitern beginnen, wird dort deutlich, wo sich bis heute in Familien eine Wand des Schweigens, des Verdrängens, jegliches Erinnern, jede Form der Auseinandersetzung verunmöglicht.

Auch Helena Schätzle machte diese Erfahrung, begegnete dem als Fotografin in ihrer ganz speziellen Art. Das wenige, das ihr Grossvater, der im 2. Weltkrieg als Maschinengewehrsoldat an der russischen Front teilnehmen musste, das, was er von seiner langen Flucht aus der Kriegsgefangenschaft zurück nach Hause erzählte, nahm sie als Anlass zu einer Reise zurück in die Zeit, einer Reise mit ihrer Fotokamera. Sie fuhr 9645 Kilometer kreuz und quer durch Osteuropa, um nach Menschen, Landschaften, Bildern zu suchen, die etwas von dem verraten, was im Schweigen ihres Grossvaters zu versinken drohte.

Helena Schätzle «9645 Kilometer Erinnerung», Nimbus, 168 Seiten
128 Illustrationen, CHF ca. 44.00, auch als Vorzugsausgabe mit Originalfoto erhältlich, ISBN 978-3-907142-71-4

Sie fotografierte Menschen, denen Erinnerungen, ein langes Leben Landschaften ins Gesicht schrieb. Menschen, die im Moment des Fotografierens den Blick ins Zurück zeigen. Menschen, die ihr erzählen, ungekünstelt, ehrlich, manchmal von der Unmöglichkeit, den Schrecken des Krieges in Worte zu fassen, manchmal vom schlichten Überleben, manchmal von dem einen Moment, der das Weiterleben ausmachte, manchmal vom Risiko jemanden zu verstecken, manchmal vom Versprechen einer Mahlzeit.

Sie fotografierte Landschaften, Bilder im Jetzt, vernarbte Landstriche, vergessene Orte, einsame Winkel, trostlose Perspektiven. Helena Schätzles Fotos sind geprägt vom grossen Respekt einer vorsichtigen, zurückhaltenden Betrachterin. Helena Schätzle vertraut auf die Empathie jener, die sich die kurzen Berichte, die Dokumente aus jener Zeit und ihre Fotografien betrachten und alles übereinanderlegen. «9645 Kilometer Erinnerung» ist ein beeindruckendes Monument der Vergegenwärtigung, ein Denk-mal in Buchform, der behutsame Versuch einer Annäherung erlebten Schreckens.

Nichts an den Texten aus der Vergangenheit hat an Aktualität verloren. Die 60 Jahre dazwischen sind ein Hauch, ein Nichts. Umso beeindruckender dieses Buch.

© Helena Schätzle

Helena Schätzle, Jahrgang 1983, studierte Visuelle Kommunikation mit Schwerpunkt Fotografie an der Kunsthochschule Kassel. Seit Jahren unternimmt sie ausgedehnte Reisen in verschiedene Länder, wo sie intensiv an Fotografieprojekten arbeitet. Ihre Arbeiten wurden vielfach ausgezeichnet, unter anderem durch “gute aussichten”, „The Aftermath Projekt“, „Epson Award“, „Inge Morath Award“. Sie hatte u.a. Ausstellungen in Hamburg, Washington, Kassel, Köln, Mumbai, Stuttgart, Berlin. Helena Schätzle arbeitet als freie Fotografin für verschiedene Magazine und Zeitungen.

Webseite der Fotografin

Beitragsbild 

Mireille Zindel „Bald wärmer“, Pano

„Was, wenn ich ehrlich wäre?“ schreibt Mireille Zindel ganz zu Beginn ihrer literarischen Auseinandersetzung mit dem Tod ihrer kleinen Tochter Zoé. 12 Tage lebte das kleine Mädchen, ohne das Spital jemals zu verlassen. Und sechs Jahre dauerte es, bis die Schriftstellerin den einen Roman zur Seite legte, um auf ihre ganz eigene Art und Weise mit dem Abschied fortzufahren.

Adventszeit; man feiert in der Erwartung des Kindes. Kein Ereignis im Leben eines Menschen ist derart einschneidend wie die Geburt eines Kindes. Nichts generiert ein derart tiefes Glücksgefühl wie das erste In-die-Hand-Nehmen eines Kindes. Es ist nicht nur im christlichen Glauben die personifizierte Hoffnung, die menschgewordene Glückseligkeit. Auf der anderen Seite der Tod, das unwiderbringliche Abschiednehmen, die Trennung, das Auseinanderreissen. Die Angst, was dann passiert und danach sein wird. Die Angst vor der Leere, vor dem Verlorensein. Und was ist, wenn Geburt und Tod nur 12 Tage voneinander entfernt liegen? Wenn mit dem Moment des grösstmöglichen Glücks die Angst beginnt, das Bangen, das verzweifelte Greifen nach jedem Halm Hoffnung? Wenn der Tod unmittelbar bevorsteht, unabwendbar, wie ein Urteil, ein übergrosses Schwert, das trennen wird, was zusammengehört, was eine Schwangerschaft lang nicht nur im Bauch wuchs, sondern im Herzen, den Plan für ein gemeinsames Leben, eine Familie ausmachte?

Mireille Zindel «Bald wärmer», Pano, 2024, 244 Seiten, CHF ca. 32.80, ISBN 978-3-290-22073-0

Ich mag Bücher nicht, die mich zum Zeugen und Mitwisser einer Bewältigung, eines Heilungsprozesses machen. Bücher, die mir beweisen wollen, dass ich bloss stark genug sein muss, um mich meinem Trauma zu stellen. Die von mir ein Schulterklopfen provozieren wollen, die Anerkennung, es bravourös gemeistert zu haben. Mireille Zindel nimmt mich ganz behutsam mit auf einen Weg durch diese 12 Tage und weit darüber hinaus. Nicht Mitleid, sondern Selbstreflexion will sie provozieren. Sie zeigt, wie sehr wir uns auf Schienen bewegen, wie leicht es uns aus den Schienen wirft und Leben kippen kann, entgleisen, still stehen. Wie leicht wir uns von der Erwartung des Glücks verführen lassen, alles mit unsäglicher Selbstverständlichkeit erwarten und es mit grösstmöglicher Lockerheit ausblenden, dass neben all dem Glück bodenloses Unglück geschieht.

Spinale Muskelatrophie, SMA, war die Diagnose, die die Eltern zehn Tage nach der Geburt bekamen, zwei Tage vor dem Tod der kleinen Tochter. Ein Gendefekt. Damit war nur erklärt, was seit dem Moment der Geburt eine permanente Hektik und Dramatik auslöste, weil beim Kind schon mit dem ersten Augenblick lebensrettende Sofortmassnahmen ergriffen werden mussten. Weil ganz schnell klar wurde, dass dem Kind nicht jene Zukunft geschenkt werden würde, von der man neun Monate lang hoffte, mit der man Strampelhosen und Kinderbettchen kaufte, das Familienglück werden sollte. Ein Kind, das man der Mutter schon nach der Geburt wegnehmen musste, um es zu beatmen. Die Geburt war keine Fanfare des Glücks, sondern der Beginn langen Leidens, der Verzweiflung darüber, ob man es je schaffen würde. Das Gefühl umfassender Sinnlosigkeit drohte zu einem Lebensgefühl zu werden.

Mireille Zindel erzählt von ihrer grenzenlosen Liebe zu ihrem Kind, das sie nur kurz begleiten konnte, das in jener Zeit trotz allem ihr Glück ausmachte. Ein Glück, dass Mireille Zindel um jeden Preis zu konservieren versucht. „Bald wärmer“ erzählt vom Kampf. Aber auch von den Irrungen, dem Hadern und der Verzweiflung. Alles existiert gleichzeitig, schreibt Mireille Zindel. Spitäler sind Orte eben jener Gleichzeitigkeit.

Eigentlich müssten Männer dieses Buch lesen, denn es beweist, wie viel uns entgeht, wie gross die Welt einer Mutter ist. „Bald wärmer“ rüttelt mich wach, zeigt mir Tiefen, von denen ich nichts weiss. Und nicht zuletzt ist „Bald wärmer“ ein Buch der Hoffnung.

Mireille Zindel, Germanistin und Romanistin, Jahrgang 1973, ist eine Schweizer Schriftstellerin und lebt in Zürich. Für ihren ersten Roman «Irrgast» erhielt sie 2008 den Preis der Literaturperle (art-tv.ch) und den Literaturpreis der Marianne und Curt Dienemann Stiftung. Nach «Laura Theiler», «Kreuzfahrt», und «Die Zone» erschien 2024 ihr neuster Roman «Fest». Mireille Zindel schreibt auch Gedichte, Shortstories, Artikel und Reportagen und veröffentlicht Videos (Rest in poetry, Friedhofforum Stadt Zürich, 2024).

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Ayse Yavas

Friedrich Buchmayr / Felix Diergarten (Hg.) «Anton Bruckner & Sankt Florian – Wie alles begann», Müry Salzmann

Was wird aus einem 13-jährigen Lehrerssohn, wenn er aus Not vom elterlichen Schulhaus weg an einen Ort von Welt gelangt?
Ein ausserordentlich schön gestaltetes und reich bebildertes Buch beleuchtet den Beginn und die lebenslange tiefe Beziehung des grossen Komponisten zum Stift Sankt Florian bei Linz. 

Gastbeitrag von Urs Abt

«Es gilt, ein vermintes Feld von Zuschreibungen, Vorurteilen und Fehldeutungen der älteren Brucknerliteratur zu bereinigen» 

In neun Kapiteln von fünf international renommierten Fachleuten taucht die Leserschaft ein in die oberösterreichische Welt des beginnenden 19. Jahrhunderts. Einerseits in das einfache Leben einer Lehrerfamilie im Dorf, andererseits in den damals blühende Augustiner Stift Sankt Florian mit der grössten und berühmtesten Orgel der Donaumonarchie. Vater und Grossvater des Komponisten lebten und wirkten als Lehrer in Ansfelden. Ein Lehrer wohnte damals mit seiner Familie im Schulhaus, neben Pfarrhaus und Kirche gelegen, was auf die erwünschte Tätigkeit auch im Kirchendienst und an der Orgel hinwies.

Anton war das älteste von 11 Geschwistern, von denen fünf das Erwachsenenalter erreichten. Am 7. Juni 1837 starb Antons Vater an einer Lungenentzündung, die Mutter Theresia Bruckner geriet mit den fünf verbliebenen Kindern in grosse Not.

Glücklicherweise konnte eine Zwangsheirat der Witwe, damals oft üblich, um Pensions- und Fürsorgegeld zu sparen, verhindert werden. Der älteste Sohn Anton wurde nach einem Schreiben von Pfarrer Seebacher an den Propst Michael Arnet als Sängerknabe im Stift Sankt Florian angenommen. Aus der kleinen Lehrerwohnung kam Bruckner an einen Ort von Welt, ein sehr entscheidender Schritt in seinem Leben. Fleissig und talentiert konnte er sich als Sängerknabe, als Musiker, als Lehrer und später als fantastisch improvisierender Orgelspieler und Komponist entwickeln.

Friedrich Buchmayr / Felix Diergarten (Hg.) «Anton Bruckner & Sankt Florian – Wie alles begann», Müry Salzmann, 2024, 272 Seiten, CHF ca. 53.90, ISBN 978-3-99014-258-5

Begleitet von reichlich abgebildeten Handschriften, Zeugnissen und Fotografien entsteht ein wunderbar entstaubtes und ausführlich dokumentiertes Bild vom Werdegang des Meisters. Die Welt innerhalb des Stifts, das Leben als Organist und Lehrer in Linz und Wien und viele entscheidende Begegnungen werden lebendig geschildert und dargestellt. Wir erfahren, wie Anton Bruckner sich lebenslang eifrig, oft als Autodidakt, weiterbildete und seine Erfolge auch bestätigt haben will. Aus dem Lehrer-Komponisten wurde so ein selbstbewusster autonomer Künstler. Der wenig auf Äusserlichkeit gebende Musiker eckte oft an, ging aber trotz Widerständen und Krisen beharrlich seinen künstlerischen Weg.

«Liebe Frau Mutter! Recht schön danke ich Ihnen für das Schnupftuch, welches Sie mir schenkten. O! könnte ich auch Gutes Ihnen erweisen, wie so gern würde ichs! Aber recht fromm u. gehorsam zu seyn, das verspreche ich Ihnen recht aufrichtig, so wie täglich für Sie zu Gott zu bethen. Ihr gehorsamer Sohn Anton Bruckner. St.Florian am 2. Jänner 1838»

«Ich wünsche, dass meine irdischen Überresten einem Metallsarge beigesetzt werden, welche in der Gruft unter der Kirche des regulierten lateranischen Chorherrenstiftes St. Florian, und zwar unter der grossen Orgel frei hingestellt werden soll, ohne versenkt zu werden und habe mir hierzu die Zustimmung schon bei Lebzeiten seitens des hochwürdigsten Herrn Praelaten genannten Stiftes eingeholt.»

Diese zwei Beispiele, der Brief des 14jährigen an seine Mutter und das Testament von Anton Bruckner weisen auf die werdende Persönlichkeit und Autonomie Bruckners hin.

Erstmals werden in diesem Prachtband die Kindheit und die lebenslange Beziehung des Komponisten wissenschaftlich auf dem neuesten Stand dargestellt. Reichlich mit Fotos und Bildern ausgestattet können wir handschriftliche Zeugnisse, Briefe und Notenbeispiele und Porträts des Meisters und seiner Fördere betrachten. Die handschriftlichen Dokumente (die meisten aus dem Stiftsarchiv) sind in die aktuelle Schreibweise übersetzt und erläutert. Erste Werke, darunter ein Requiem, eine Missa solemnis und kleinere Chorwerke, werden in Wort und Bild aufgeführt.

Zusammen mit dem 2024 neu eingerichteten Bruckner Museum in Sankt Florian ermöglicht dieses vorzüglich gestaltete Buch einen modernen entmystifizierten Blick auf das Werden und die Herkunft Anton Bruckners und lässt seine einzigartige Musik noch besser verstehen und geniessen.

Den Autoren und Autorinnen ist es gelungen, die kulturelle Ausstrahlung von Sankt Florian einzufangen und zusammen mit dem Leben und Wirken Anton Bruckners umfassend und spannend darzustellen.

Eine Bereicherung für jeden Bruckner Liebhaber!

Friedrich Buchmayr, geboren 1959 in Linz. Seit 1987 Bibliothekar in der Stiftsbibliothek St. Florian. Veröffentlichungen u. a.: «Der­ Priester­ in­ Almas­ ­Salon» (2003), «Madame­ Strindberg­ oder­ die­ Faszination­ der­ Boheme­» (2011), «Mensch­ Bruckner!­ Der­ Komponist­ und­ die­ Frauen» (2019) im Müry Salzmann Verlag.

Felix Diergarten, geboren 1980, ist studierter Musiker, promovierter Musiktheoretiker und habilitierter Musikwissenschaftler. Nach Professuren an der Schola Cantorum Basiliensis und der Hochschule für Musik Freiburg lehrt er heute an der Musikhochschule Luzern. Diverse Veröffentlichungen, zuletzt «Anton­ Bruckner:­ Das­ geistliche­ Werk»­ (2023) im Müry Salzmann Verlag

Iris Wolff «Einladung ins Ungewisse. Wurzeln uns Einbäume» Chamisso-Preis & Poetikdozentur, Thelem

Neben vielen Beiträgen in Anthologien verfasste die 1977 in Siebenbürgen geborene Schriftstellerin Iris Wolff fünf Romane. Ihr Debüt „Halber Stein“ erschien 2012, ihr letzter „Lichtungen“ im Frühling 2024, der nicht nur bei der Kritik grosse Begeisterung auslöste. Mit „Einladung ins Ungewisse“ macht sich die Autorin Gedanken über das Schreiben.

Für ihre fünf Romane, ihr literarisches Engagement, krönte man Iris Wolff mit mehr als einem Dutzend Preise, darunter den Eichendorff und Solothurner Literaturpreis für ihr Gesamtwerk oder 2024 für „Lichtungen“ den Uwe-Johnsen-Preis. Im Zuge der Verleihung des Chassimo-Preises 2023 hielt Iris Wolff zwei Vorlesungen zu ihrer Poetik und eine Dankesrede, die nun in einem schmucken Bändchen unter dem Titel „Einladung ins Ungewisse“ nachzulesen sind.

Iris Wolff «Einladung ins Ungewisse. Luftwurzeln und Einbäume» Thelem Universitätsverlag, 2024, 74 Seiten, CHF ca. 21.90, ISBN 978-3-95908-715-5

Es mag viele Gründe geben, dass die einen Schreibenden einen Nerv treffen, bei Leserinnen und Lesern, in der Buchbranche und in der Kritik und andere, selbst wenn sie über Jahrzehnte Buch um Buch veröffentlichen, tapfer, auch wenn die Verkaufszahlen ihrer Bücher nie und nimmer für ein Leben als Autorin oder Autor reichen. Iris Wolff lebt von ihrem Schreiben. Was ist an ihrem Schreiben, dass Iris Wolff nicht nur die Sympathien ihrer Leserinnen und Leser entgegenfliegen? Auch dafür gibt es viele Gründe, auch solche, die mit Schreiben direkt nicht einmal etwas zu tun haben. Wer der Autorin bei einer Lesung begegnet, lernt eine Frau kennen, die ohne jegliche Allüren, ihrem Gegenüber mit viel Empathie begegnet und in einer Mischung aus Zurückhaltung und Ehrlichkeit selbst jene für sich gewinnt, die ihren Büchern skeptisch begegnen.

„Schlimmer als das Verschwinden ist das Vergessen.“

Iris Wolffs Schreiben ist wie ihre Erscheinung, ihr Auftritt; authentisch, ehrlich, direkt und unverkrampft. So auch ihre Gedanken über das Schreiben. In „Einladung ins Ungewisse“ theoretisiert Iris Wolff nichts. „Einladung ins Ungewisse“ ist eine Selbstvergewisserung, eine Schule des Sehens, der Versuch, Fragen nicht endgültig zu beantworten, sondern sie schreibend einzukreisen. Vielleicht ist die Umschreibung „Schule des Sehens“ auch deshalb nicht ganz falsch, weil Iris Wolff einen tiefen Bezug zur Malerei hat, weil es scheint, als würde für sie das Schreiben eine Art des Malens sein. Wer malt, erinnert sich. Wer malt, stülpt nach aussen, was verinnerlicht ist.

Iris Wolff Buchlandschaften gründen in ihren Jahren im rumänischen Siebenbürgen, Bildern aus ihrer Kindheit, Räumen und Landschaften, die sich tief einbrannten. Aber Iris Wolff will nicht einfach abbilden, weder Geschichten, noch Leben, weder Landschaften noch Kulissen. Dass ihr vierter Roman „Die Unschärfe der Welt“ heisst, ist literarisches Programm, denn ihre Bücher reissen schon deshalb mit, weil sie Spielraum lassen, weil sie reiben, weil sie mehr Fragen aufwerfen als Antworten geben. Aber auch weil man in ihren Büchern den Respekt vor dem Leben, das Bewusstsein eines unschätzbaren Geschenks spürt. Weil nichts am Schreiben der Autorin abgehoben, vergeistigt oder elitär erscheint. Weil sie mich als Leser ernst nimmt, kein Spiel mit mir treibt. Weil mich die Autorin mitnimmt, denn ihre Erinnerungen sind gespiegelt auch meine Erinnerungen. Weil sich Iris Wolff bewusst ist, wie viel auf dem Spiel steht, wenn das Vergessen zum Programm wird.

„Einladung ins Ungewisse“ macht Mut, nicht zuletzt um die Bücher von Gerhard Meier, Philippe Jaccottet und anderer wiederzulesen.

Iris Wolff, geboren in Hermannstadt, Siebenbürgen. Die Autorin wurde für ihr literarisches Schaffen mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt, darunter mit dem Marieluise-Fleißer-Preis und dem Marie Luise Kaschnitz-Preis für ihr Gesamtwerk. Zuletzt erschien 2020 der Roman »Die Unschärfe der Welt«, der mit dem Evangelischen Buchpreis, dem Eichendorff-Literaturpreis, dem Preis der LiteraTour Nord und dem Solothurner Literaturpreis ausgezeichnet sowie unter die fünf Lieblingsbücher des Deutschen als auch des Deutschschweizer Buchhandels gewählt wurde. Die Autorin lebt in Freiburg im Breisgau.

Iris Wolff «(Er)zählen», Plattform Gegenzauber

Rezension «So tun, als ob es regnet»

Rezension mit Interview von «Lichtungen»

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Max Goedecke

David Grann «Der Untergang der Wager», C. Bertelsmann

Mitte des 18. Jahrhunderts zerschellt die Wager, ein königlich, britisches Eroberungsschiff vor der Küste Chiles. 30 Männern gelingt es, sich auf eine unbewohnte, lebensfeindliche Insel zu retten. Eine Rettung, die zum Todesurteil wird, wenn sich die hilflos zerstrittene Mannschaft nicht zusammenraufen kann, sich aus eigener Kraft aus der Misere zu reissen.

Als Kind sah ich den Film „Meuterei auf der Bounty“ mit Marlon Brando, ein Streifen, der sich mit seinen Szenen auf hoher See unauslöschlich in meine Erinnerung brannte und ein Baustein war für einen verklärten Blick auf Seefahrerromantik und -abenteuer, die so gar nie existierten. Im Schweif dieser Filme und Bücher (zB. „Störtebekker“) zeichnete ich während Jahren mit Vorliebe stolze Dreimaster mit mehreren Reihen Kanonenluken, alle Segel gesetzt, in hohem Wellengang.

Dass Seefahrerei, wie sie im 18. Jahrhundert betrieben wurde, so gar nichts mit Romantik zu tun hat, wie sehr Schiffe damals eine strategische Waffe sowohl in der Kriegsführung, in direkten Auseinandersetzungen und in Wirtschaftskriegen waren, verdeutlicht das Buch „Der Untergang der Wager“. Wie überdeutlich wirtschaftliche Interessen Königreiche, Staaten, Schiffseigner und Mannschaften auf Reisen lockten, von denen alle wussten, wie entbehrungsreich oder gar tödlich sie enden könnten, schildert David Grann in einem Bericht, der sich nicht in die Menschen damals versetzen will, sondern Abläufe, eine Geschichte verstehen will. 

David Grann «Der Untergang der «Wager»
Eine wahre Geschichte von Schiffbruch, Mord und Meuterei», C. Bertelsmann, 2024, aus dem Englischen von Rudolf Mast, 432 Seiten, mit Karten und Farbbildteil, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-570-10546-7

Die Wager war damals ein Kriegsschiff einer grösseren Flotte, die von England aus einen Krieg gegen die spanische Seeübermacht führen sollte. Doch nach etlichen Verzögerungen, die schon im englischen Heimathafen ihren Anfang nahmen, erwischte die Wager bei ihrer Passage des Kap Horns am südlichsten Zipfel Südamerikas einen denkbar schlechten Zeitpunkt. Das Schiff geriet bei fatalen Stürmen immer mehr in Bedrängnis, während eine eh schon von Entkräftung, Hunger und Krankheiten geschwächte Mannschaft auf dem Schiff zu rebellieren begann. Im Januar 1742 zerschellte der manövrierunfähige Koloss an der Westküste Patagoniens. Nur mit grösster Not rettete sich eine kleine Gruppe zusammen mit ihrem Kapitän Davis Cheap auf eine unbewohnte Insel (Wager Island, noch heute unbewohnt und weitab aller Zivilisation), die permanenten Stürmen und Unwettern ausgesetzt bloss mit knorrigen Bäumen bewaldet ist. Man schleppte unter Todesgefahr vom Wrack auf die Insel, was sie die ersten Monate überleben liess, um in ihrer Verlorenheit immer deutlicher zu verstehen, dass nichts und niemand sie auf dem unwirtlichen Eiland zurück in die Heimat bringen würde.

Sehr bald zerbrachen die hierarchischen Strukturen, die ein Leben, ein Überleben auf dem Schiff, jetzt auf dem Eiland, auf engstem Raum garantierten. Gepeitscht von Hunger, Krankheit und Entkräftung eskalierte die Situation auf der Insel, die Gruppe spaltete sich, man griff zu den verbliebenen Waffen, es gab noch mehr Tote.

Im Wissen darum, dass eine Rettung nur aus eigener Kraft gelingen konnte, flickte man aus den seeuntüchtig gewordenen Beibooten rudimentär seetüchtige Schiffe zusammen und machte sich in verschiedenen Gruppen auf den hoffnungsvollen Weg zurück ins alte Leben. Aber auch diese Versuche standen unter einem schlechten Stern. Immer wieder waren die überfüllten Boote in ihrer Not gezwungen, Männer zurückzulassen. Fast ein Jahr nach ihrem Schiffbruch und einer 3000 Kilometer langen Reise voller Torturen erreichte eine erste, kleine Gruppe Geretteter die ersten Ausläufer der Zivilisation. Nachdem es noch weitere Monate dauerte, bis sie zurück in England waren, begann in ihrer Heimat aber ein zweiter Kampf; der Kampf um die „Wahrheit“, ein langwieriger Prozess, an dem die sensationslüsterne Öffentlichkeit lechzend teilnahm.

Was die Qualität dieses Buches ausmacht, ist weder Sprache nach Dramatik. David Grann gibt sich erstaunlich sachlich und die Dramatik folgt den Geschehnissen, die durch Log- und Tagebücher einigermassen nachvollzogen werden können. Grann schildert den Schrecken der Seefahrt, die Brutalität eines Lebens auf engstem Raum unter maximalen Entbehrungen. Er verklärt mit keinem Satz und zeigt auf, wie die Geltungssucht der einen und der Hunger nach Reichtum jede Gefahr auszublenden vermag. Wie sehr der Mensch bei einem drohenden Zusammenbruch hierarchischer Strukturen in die Anarchie rutscht und wie staatspolitische Interessen das eine zu einem Schauprozess werden lassen, das andere aber wohlweisslich unter den Teppich kehren.

Ungemein spannend und erhellend!

David Grann, Jahrgang 1967, ist preisgekrönter Journalist und Sachbuchautor. Er arbeitet als Redakteur bei The New Yorker und veröffentlicht Artikel u.a. in The Washington Post, The Atlantic Monthly, The Wall Street Journal. Sein Buch «Killers of the Flower Moon» erschien auf Deutsch bei btb und wurde von und mit Martin Scorsese und Leonardo DiCaprio verfilmt, die sich auch die Rechte an seinem neuesten Bestseller «The Wager» gesichert haben. «The Wager» stand wochenlang auf Platz 1 der New-York-Times-Bestsellerliste und schaffte es auf die Summer Reading List von Barack Obama.

Rudolf Mast, geboren 1958, war Segellehrer und Segelmacher, bevor er Theaterwissenschaft und Philosophie in Berlin studierte. Dort arbeitet er heute als Theaterwissenschaftler, Lektor und Übersetzer. 

Beitragsbild © Rebecca Mansell

José Luis Gonzalez Macías «Kleiner Atlas der Leuchttürme am Ende der Welt», mare

In einer Zeit, in der es keine unentdeckten Inseln mehr gibt, keine weissen Flächen mehr auf Karten, in denen es die Menschen immer weiter ins All hinauszieht und selbst die Tiefen der Meere langsam aus dem Dunkel der Ahnung aufsteigen, ist die Sehnsucht nach dem letzten Ort, dem Rand der Welt nicht kleiner geworden.

2009 erschien ebenfalls bei mare das Buch „Atlas der abgelegenen Inseln“ von Judith Schalansky und entwickelte sich in der Folge zu einem unerwarteten Bestseller. Dass das Buch damals dermassen viele glückliche LeserInnen fand, lässt sich mit der Inselsehnsucht, dem Mythos Insel erklären. Aber ganz bestimmt auch mit Erinnerung. Vielleicht ging es ihnen als Kind wie mir; Karten und Atlanten versprühten gleichermassen Geheimnis und Abenteuer. Mit Augenpaar, Zeigefinger und einer ordentlichen Portion Vorstellungskraft wurde aus dem flachen Papier eine Kulisse, in die man eintauchen konnte. Gedankenreisen mit dem Potenzial zu epischen Ausschweifungen.

Dass der Spanier José Luis Gonzalez Macías mit «Kleiner Atlas der Leuchttürme am Ende der Welt“ die perfekte Weiterführung zeichnete und schrieb, macht aus beiden Büchern ein wunderbares Pendant. Leuchttürme sind so etwas wie Zeigefinger, hochgehoben, mahnend und selbstbewusst angesichts der Naturgewalten, die auf die Mauern und Stahlkonstruktionen einhämmern. Zeigefinger, die ausrufen; Wir sind hier! Wir lassen uns allem zum Trotz nicht vertreiben. Klar haben moderne Techniken, GPS, Sonar und Radar die stolzen Recken menschlichen Willens weitgehend unnötig gemacht. Klar nagen Stürme, Salzwasser, Gezeiten und Verschleiss an den Giganten am Meer. Aber je mehr die Glanzzeiten der Leuchttürme in die Vergangenheit rutschen, desto mehr werden die Geschichten, die sich über die Jahrhunderte an jenen einsamen Orten abspielten, zu Mythen.

José Luis González Macías «Kleiner Atlas der Leuchttürme am Ende der Welt», mare, 2023, aus dem Spanischen von Kirsten Brandt, 160 Seiten, CHF 49.90, ISBN 978-3-86648-693-5

Die Sehnsucht des Menschen nach Abgeschiedenheit ist ungebremst. In Zeiten, in denen fast alle stets erreichbar sind, in denen Offlinezeiten für die einen schon Abenteuer genug sind, in denen Einsamkeit zu einer Idylle wird, die sie in den seltensten Fällen war, zumal es für den Leuchtturmwärter im letzten Jahrhundert keine Möglichkeit gab, bei aufkommender Depression um einen Helikopter zu bitten, bedient ein Buch wie dieser Leuchtturmatlas Sehnsüchte und Träume perfekt.

Jules Vernes Abenteuerroman „Der Leuchtturm am Ende der Welt“ machte schon vor mehr als hundert Jahren aus wenigen Quadratmetern den idealen Nährboden für Drama und Tragödie. Dass das Leben eines Leuchtturmwärters, selbst dann, wenn der Turm auf dem Festland steht, kein einfaches war, erzählen all die Geschichten, die José Luis Gonzalez Macías mit Illustrationen und Karten zu den Leuchttürmen verwebt. Geschichten von der Härte, der die Menschen ausgesetzt waren, von Hunger und Krankheit, Wahn und Tod, vom Verschwinden, von Geheimnissen, nie von Reichtum, nie von Ruhm und Ehre, ausser jene von Grace, der man wegen ihrer Heldentat in ihrem Geburtsort Bamburgh ein kleines Museum widmet. Am 7. September 1838 zerbricht die SS Forfarshire in zwei Teile und zerschellt an der Insel Big Harcar vor der britischen Küste. Mit einem kleinen Ruderboot retten Grace und ihr Vater, der Leuchturmwärter einen grossen Teil der Mannschaft und Passagiere. Grace stirbt 28jährig an Tuberkulose, bleibt aber Sinnbild dafür, dass Menschen, die an solchen Orten leben und wirken, aus einem ganz besonderen Holz geschnitzt sind.

Die Namen der Orte, an denen die Leuchttürme stehen, lesen sich wie eine Kette kantiger Steine: Clippeton, Erded Rock, Great Isaac Cay, Maatsuyker, Robben Island… „Der Leuchtturm am Ende der Welt“ ist ein Mahnmal für all jene Orte und Menschen, die der stürmischen See und mit einem solchen Buch dem globalen Vergessen trotzen.

Und nicht zuletzt ein wunderschönes Zeugnis moderner Buchkunst!

José Luis González Macías, geboren 1973 in Ponferrada, ist Grafikdesigner, Autor und Herausgeber und seit seiner Kindheit fasziniert von Karten. In seinem Leuchtturm-Atlas verbindet er seine Leidenschaft für Texte und für Bilder und beweist, dass man nicht am Meer gelebt haben muss, um darüber zu schreiben. Der Atlas wurde 2020 vom spanischen Kulturministerium als schönstes Buch Spaniens ausgezeichnet und bereits in vierzehn Sprachen übersetzt.

Kirsten Brandt, geboren 1963, studierte nach einer Buchhandelslehre Portugiesisch, Englisch und Deutsch in Frankfurt, Hamburg, Lissabon und Braga und lebte anschliessend sieben Jahre in Barcelona. Seit 2002 übersetzt sie aus dem Katalanischen (u. a. Carme Riera, Josep Pla und Jaume Cabré), Spanischen und Portugiesischen. 

(Bildmaterial aus dem Buch «Kleiner Atlas der Leuchttürme am Ende der Welt“ mit freundlicher Genehmigung des Verlags!)

Beitragsbild © Ediciones Menguantes

Urs Mannhart «Lentille. Aus dem Leben einer Kuh», Matthes & Seitz

Lentille, eine junge Kuh, die ihr erstes Kalb erwartet, liegt im Stall und brüllt. Urs Mannhart arbeitet dort, wenn er nicht schreibt. Aber wenn er schreibt, brüllt die Kuh auch in seiner Schreibstube im Städtchen. Urs Mannhart erzählt von seiner Liebe, jener zu den Tieren in dem jurassischen Stall und jene zu der Art, sich Fragen zu stellen.

Urs Mannhart war am Internationalen Literaturfestival in Leukerbad diesen Sommer mit seinem Roman „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“ in den Walliser Bergen eingeladen. Wie allen hätte man ihm die Spesen für eine Reise mit dem Zug von La Chaux-de-Fonds nach Leukerbad und zurück mit aller Selbstverständlichkeit bezahlt. Aber Urs Mannhart kam mit dem Fahrrad. Circa 200 Kilometer, angekommen mit den ersten Regentropfen eines infernalen Gewitters, am nächsten Tag bereits wieder wie aus dem Ei gepellt bereit für die „Literarische Wanderung“ von Guttet über Albinen bis nach Leukerbad. Urs Mannhart ist ein Tausendsassa, nicht nur was seine körperliche Fitness betrifft und seinen Willen, Dinge mit letzter Konsequenz zu tun, sondern auch als Schriftsteller, Reporter und Landwirt.

Und wenn Urs Mannhart die unabdingbare Fähigkeit eines Schriftstellers, sich in ein „künstliches Gegenüber“ versetzen zu können, Empathie wie Tasten und Stift zu einem Werkzeug macht, wenn er sich so ganz in sein Tun und seine Überzeugung hineingeben kann, ist es auch nicht verwunderlich, dass der Biobauer Urs Mannhart eine Kuh zu seinem Gegenüber machen kann, ohne Pathos, ohne Verklärung.

Urs Mannhart „Lentille. Aus dem Leben einer Kuh“, Matthes & Seitz, Reportagen, 2022, 151 Seiten, CHF 21.90, ISBN 978-3-7518-0809-5

„Menschen, die sich zu viel Arbeit und zu viele Termine aufhalsen, sollten ärztlich angewiesen werden, eine Kuh aufzusuchen, um ihr nahe zu sein, wenn sie wiederkäut.“

Urs Mannhart ist zwei Tage in der Woche Mitarbeiter auf einem kleinen Bauernhof unweit von La Chaux-de-Fonds. Im Stall stehen nur wenig Kühe; Susi, Ambre, Galia, Amina und Lentille. Urs und Michaël, der Bauer, melken sie von Hand, jeden Tag zweimal, morgens und abends. Wer so eng mit Tieren zusammen ist, seien es Haus- oder Nutztiere, wer mit ihnen lebt, an ihrem Leben teilnimmt, wer den Tieren Namen gibt, der wird auf die Frage, ob Tiere eine Persönlichkeit besässen, mit Verwunderung reagieren. Die Frage ist nicht, ob Tiere eine Persönlichkeit besitzen, viel mehr, ob sie Persönlichkeiten sind. Ob sie zu Gefühlen fähig sind.

Urs Mannhart erzählt in seiner essayistischen Reportage von einer Kuh, von Lentille. Ganz zu Beginn des Buches kämpfen Michaël und der Tierarzt an der Seite Lentilles um ihr erstes Kalb, während Urs sich sonst irgendwie nützlich zu machen versucht, während das tiefe Brüllen der Kuh die Ruhe des sonst stillen Hofes zerreisst. Das Kalb kommt tot zur Welt. Michaël legt es neben die Mutterkuh. Sie stupst es sanft mit den Hörnern. Empfindet eine Kuh Trauer nach einer solchen Todgeburt? Urs Mannhart schildert die Begegnungen mit der Kuh danach, versucht sie zu verstehen, krault und streichelt ihr Fell, beobachtet sie auf der Weide. Urs Mannhart nimmt Lentille gedanklich mit nach Hause, an seinen Schreibtisch in seiner kleinen Wohnung in La Chaux-de-Fonds. 

Urs Mannhart setzt sich nicht nur mit seiner Arbeit auseinander. Das mit Farbfotos illustrierte Buch ist Zeugnis einer tiefen Befragung, darüber, ob all das, was in europäischen Ställen geschieht noch in irgend einer Weise etwas mit Tierwohl gemein hat, oder ob sich eine perfekt organisierte Fleisch- und Milchindustrie das Tier nicht längst zum reinen Objekt und Lieferanten herangezüchtet hat. Ob eine Gesellschaft, die frag- und kritiklos in Bergen eingeschweisster Billigfleischangebote wühlt noch weiss, was es bedeutet, einer Kuh den Schmerz anzusehen, wenn sie mit ihrer feuchten Schnauze den toten Körper ihres Kalbs berührt. Wir haben uns entfernt. Urs Mannhart ist ganz nah. Er erzählt in seiner Auseinandersetzung mit ethischen Fragen von seiner Liebe zum Tier, mitunter gar von seinem Werben um sie.

„Lentille. Aus dem Leben einer Kuh“ ist keine Kampfschrift gegen den Verzehr von Fleisch- oder Milchprodukten, nicht einmal gegen Massentierhaltung. Das Buch zwingt mich zur Auseinandersetzung, zur Selbstbefragung. Darüber, dass ich mich viel zu selten frage, was ein Tier empfindet, wo wir ihnen doch zugestehen, dass sie zu Kommunikation fähig sind. Wie sehr wir uns die Welt zurechtbiegen, um sie „untertan“ zu machen; einsperren, abschneiden, kupieren, schleifen und veröden. „Lentille. Aus dem Leben einer Kuh“ ist eine Liebeserklärung.

Urs Mannhart, geboren 1975, lebt als Schriftsteller, Reporter und Biolandwirt in der Schweiz. Er hat Zivildienst geleistet bei Grossraubwildbiologen und Drogenkranken, hat ein Studium der Germanistik und der Philosophie abgebrochen, ist lange Jahre für die Genossenschaft Velokurier Bern gefahren, war engagiert als Nachtwächter in einem Asylzentrum und absolvierte auf Demeter-Betrieben die landwirtschaftliche Ausbildung. Mannhart beschäftigt sich mit Tierphilosophie, dem bedingungslosen Grundeinkommen, mit Suffizienz und entschleunigter Mobilität. Für sein literarisches Werk erhielt er eine Reihe von Preisen, darunter den Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis 2017. Im selben Jahr war er zum Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb eingeladen; sein Text stand auf der Shortlist.

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Alice Grünfelder «Wolken über Taiwan. Notizen aus einem bedrohten Land», Rotpunkt

Was macht ein Land, das von einer Grossmacht bedroht wird? Was, wenn die Bedrohungen eines Landes von ganz vielen Mächten ausgehen? Alice Grünfelder schreibt mit einem Herz voller Leidenschaft.

Erstaunlich, wie wenig deutsche Buchveröffentlichungen über Taiwan in den letzten Jahren erschienen sind. Auch erstaunlich, wie wenig Literatur, sei es Lyrik oder Prosa, aus Taiwan ins Deutsche übersetzt wurde. Eine der löblichen Ausnahmen ist der bei Matthes & Seitz von Wu Ming-Yi erschienene Roman „Der Mann mit den Facettenaugen“. Ein Autor, Künstler, Umweltaktivist und Professor, der schon für den Man Booker International Prize nominiert wurde, bei uns aber weitgehend unbekannt blieb. Wesentlich bekannter im deutschen Sprachraum ist Stephan Thome, der viele Jahre und immer wieder auf der Insel Taiwan lebt und seinen Roman „Pflaumenregen“ dort spielen lässt.

Dass sich die Sinologin, Germanistin und Schriftstellerin Alice Grünfelder seit Jahrzehnten mit Taiwan beschäftigt, ist nicht weiter verwunderlich. Aber sehr wohl erstaunlich ist die Art und Weise, wie Alice Grünfelder sich mit diesem Inselstaat zwischen den Fronten der Grossmächte beschäftigt.
Sie tut das in der Tradition der klassischen Pinselnotizen, biji, essayistischer Miniaturen, die Reiseeindrücke, Gedanken, Beobachtungen, Anekdoten, Betrachtungen bis hin zu Gedichten und eigentlichen Reportagen in einem Buch versammelt, in Überschriften alphabetisch geordnet. „Wolken über Taiwan. Notizen aus einem bedrohten Land“ ist weder Reiseführer noch Sachbuch. Da ist mehr als Faszination für ein Land, das gleich auf mehreren Ebenen bedroht ist und wird. Aus Alice Grünfelders Buch ist Liebe zu spüren, die Liebe für ein Land, eine ganz besondere Insel, eine Geschichte und mit Sicherheit auch die Liebe für einen David, der angesichts eines riesigen Goliaths weder in Lethargie noch Depression verfällt.

Alice Grünfelder «Wolken über Taiwan. Notizen aus einem bedrohten Land», Rotpunkt, 2022, 260 Seiten, CHF 32.00, ISBN 978-3-85869-943-5

Taiwan, eine Insel wesentlich kleiner als die Schweiz aber mit dreimal höherer Bevölkerungszahl, ist ein hoch technisierter Staat, von den wenigsten Staaten als solcher anerkannt und ganz im Gegensatz zu seinem übermächtigen und aggressiven Grossnachbarn seit einem Vierteljahrhundert ein weitgehend demokratisch funktionierender Vielvölkerstaat. Seit dem 16. Jahrhundert immer wieder von fremden Mächten besetzt, droht die Volksrepublik China offen mit der gewaltsamen Eroberung der Insel. Dass solche Drohungen ernst zu nehmen sind, beweist uns die Geschichte nicht erst seit der Annektierung der Krim durch Russland und den Eroberungs- und Vernichtungskrieg seit dem 24. Februar auf dem gesamten Staatsgebiet der Ukraine. Aber ganz offensichtlich lässt sich die Inselbevölkerung Taiwans durch die unmissverständlichen Drohgebärden des Einparteistaats China nicht einschüchtern. Ganz im Gegenteil. Taiwan prosperiert. Nicht nur dank ihrer marktbeherrschenden Stellung in der Produktion von Computerchips.

Alice Grünfelder wollte eigentlich wegen eines Sprachaufenthalts für ein halbes Jahr, zur Auffrischung ihrer Sprachkenntnisse auf die Insel. Ich werde nichts über Taiwan schreiben. Nur Postkarten, das muss genügen, schreibt sie unter dem Titel „Schreiben“. Und nun ist doch viel mehr aus dem halben Jahr geworden; eine Annäherung an ein Land, eine Kultur, die wechselseitige Geschichte, die Landschaft und die vielfältigen Bedrohungen. Die Stürme, die Taifune, die Erdbeben, die Vulkane, die Unwetter, der steigenden Meeresspiegel, die klimatischen Veränderungen – und China.

Was sie schreibt, ist behutsam und voller Respekt, eingetaucht in Liebe für ein Land, dass sich selbstbewusst und demokratisch allen Widrigkeiten zum Trotz diesen Bedrohungen stellt. „Wolken über Taiwan“ ist eine Annäherung mit Mehrfachperspektive, eine vielfältige Einladung, sich mit einem Land zu beschäftigen, das sich all den Bedrohungen stemmt, geschrieben von einer Frau, die mit literarischen Stimmen umzugehen weiss.

Alice Grünfelder, geboren im Schwarzwald, aufgewachsen in Schwäbisch Gmünd, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und Chengdu (China), war 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Vermittelte und übersetzte Literaturen aus Asien. Seit 2010 unterrichtet sie Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Februar bis Juli 2020 war sie für ein Sabbatical in Taipei (Taiwan). Sie ist Herausgeberin mehrerer Asien-Publikationen, zuletzt «Vietnam fürs Handgepäck» (2012) und «Flügelschlag des Schmetterlings» (2009). Sie veröffentlichte eigene Gedichte, Essays und Erzählungen. Ihr Roman «Wüstengängerin» erschien 2018, der Essay «Wird unser MUT langen» 2019. Nominiert für den Irseer-Pegasus-Literaturpreis 2019, Werkjahr der Stadt Zürich 2019.

Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ I
Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ II
Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ III
Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ IV
Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ V
Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ VI
Alice Grünfelder «Postkarten aus Taiwan» VII

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Alice Grünfelder

Nadja Niemeyer «Gegenangriff. Ein Pamphlet», Diogenes

Alles ist eine Frage der Zeit. Wohl auch das Ende der Menschheit. Dieses schmale, unscheinbare Buch, dass daherhommt, wie eines der unzähligen Katzenbücher, die sich auf Büchertischen ausbreiten, seziert mit messerscharfer Klinge und Spitze am noch lebenden Objekt. „Gegenangriff“ ist das Protokoll eines Untergangs.

Nadja Niemeyer ist ein Pseudonym. Angesichts dessen, womit mich die Schreibende konfrontiert, verstehe ist diesen Schritt. Sie wolle nicht an Debatten teilnehmen, habe dem Buch nichts hinzuzufügen. Ich hätte ihr gerne ein paar Fragen gestellt, vielleicht auch nur, um nach der Lektüre ihres Buches meine Fantasie zu beruhigen. Ihr Pamphlet hat nichts Beschwörendes, ist weder Drohung noch Warnung, vielleicht nicht einmal als Gedankenspiel zu verstehen. Nadja Niemeyer beschreibt mit aller verfügbarer Sachlichkeit nicht weniger als das baldige Ende der Spezies Mensch, das schnelle Ende eines Schädlings, der sich über die Jahrtausende wie ein Geschwür über diesen einen Globus ausbreitete.

Ameisen leben in riesigen Gemeinschaften. Wälder sind nicht bloss Ansammlungen von Bäumen und Gesträuch, sondern Pflanzengemeinschaften, die miteinander verbunden sind. Pilze ebenfalls. Wie irrig zu glauben, diese Art von kollektiver Intelligenz wäre der unsrigen weit unterlegen, zumal man beim Menschen in keiner Weise von einer kollektiven Intelligenz sprechen kann. Was den Menschen ausmacht, seine Individualität, hat durchaus das Zeug, das Gift für seinen Untergang zu werden. Die Geschichte und die Gegenwart macht überdeutlich, wie sehr die Menschen in den Würgegriff eines einzelnen Individuums geraten können, wie leicht die Intelligenz seiner Untergebenen in soldatischen Gehorsam ausgelöscht werden kann. Indizien gibt es genug, dass das Horrorszenario, das Nadja Niemeyer beschreibt, einen bedrückenden Anteil Wirklichkeit in sich trägt.

Nadja Niemeyer «Gegenangriff. Ein Pamphlet», Diogenes, 2022, 176 Seiten, CHF 26.90, ISBN 978-3-257-07183-2

Bis vor zweihundert Jahren waren es die Menschen, die sich in Städten einschlossen, um sich vor der Natur zu schützen. Besiedlung war ein Kampf gegen die Tücken der Natur. In der Gegenwart ist es die Natur, die man vor den Menschen und ihrer aggressiven Ausbreitung schützen muss, mit Stacheldraht und Mauern. Warum sollte sich der Rest, der geblieben ist, die kollektive Intelligenz, über die das Tier- und Pflanzenreich verfügt, nicht mit einem Mal kurzschliessen, um sich in einem finalen Kraftakt gegen jene Spezies zu stemmen, die alles unternimmt, um diesen Planeten für restlos alle und alles unbewohnbar zu machen?

Zuerst sind es die Ratten in den grossen Städten, zum Beispiel in New York. Es gibt Millionen von ihnen, kampferprobt. Sie zerbeissen Stromleitungen. Das genügt nicht nur, um das Leben in der riesigen Stadt zum Erlahmen zu bringen; die U-Bahn bleibt stehen, Menschen verhungern in Aufzügen, selbst Notstromaggregate können nicht verhindern, dass Menschen in Spitälern reihenweise sterben, auch das Internet regt sich nicht mehr. Alle Informationsströme sind gekappt, Panik bricht aus.

Ich glaube ebenso an eine kollektive Intelligenz der Natur wie an die grenzenlose Naivität und Dummheit der Menschheit. Solange wir mit einem SUV zum Einkaufen fahren, zum Shopping nach New York fliegen, Kleidungsstücke wie Souvenirs kaufen und unser Geld in Bitcoins investieren, statt in direkte Projekte, die sich um den Fortbestand eines friedlichen Miteinanders von Menschheit und Natur bemühen, solange der Mensch dem Untertan Natur noch mit dem immer gleichen Prinzip der Unterwerfung und Ausbeutung an den Kragen geht, sind Szenarien, wie denen von Nadja Niemeyer nur wenig entgegenzuhalten. Und wenn sich die Autorin durch ein Pseudonym vor all den Entschuldigungen, Beteuerungen und Verniedlichungen schützen will, verstehe ich das sehr wohl. Nichts desto Trotz ist „Gegenangriff“ absolut lesenswert, auch wenn das Buch mit den zwei niedlichen Kätzchen auf dem Cover das Zeug hat, sich in Alpträume zu mischen!

Die Autorin schreibt absolut sachlich, ohne jeden Pathos, schildert das Fallen der Dominosteine. Irgendwann wird es wieder ruhig auf dem Planeten, denn die eigentliche Ausrottung der Menschheit übernimmt der Mensch selbst – Männer.

Nadja Niemeyer heisst in Wirklichkeit anders. 

Beitragsbild © Sandra Kottonau