Was wird aus einem 13-jährigen Lehrerssohn, wenn er aus Not vom elterlichen Schulhaus weg an einen Ort von Welt gelangt? Ein ausserordentlich schön gestaltetes und reich bebildertes Buch beleuchtet den Beginn und die lebenslange tiefe Beziehung des grossen Komponisten zum Stift Sankt Florian bei Linz.
Gastbeitrag von Urs Abt
«Es gilt, ein vermintes Feld von Zuschreibungen, Vorurteilen und Fehldeutungen der älteren Brucknerliteratur zu bereinigen»
In neun Kapiteln von fünf international renommierten Fachleuten taucht die Leserschaft ein in die oberösterreichische Welt des beginnenden 19. Jahrhunderts. Einerseits in das einfache Leben einer Lehrerfamilie im Dorf, andererseits in den damals blühende Augustiner Stift Sankt Florian mit der grössten und berühmtesten Orgel der Donaumonarchie. Vater und Grossvater des Komponisten lebten und wirkten als Lehrer in Ansfelden. Ein Lehrer wohnte damals mit seiner Familie im Schulhaus, neben Pfarrhaus und Kirche gelegen, was auf die erwünschte Tätigkeit auch im Kirchendienst und an der Orgel hinwies.
Anton war das älteste von 11 Geschwistern, von denen fünf das Erwachsenenalter erreichten. Am 7. Juni 1837 starb Antons Vater an einer Lungenentzündung, die Mutter Theresia Bruckner geriet mit den fünf verbliebenen Kindern in grosse Not.
Glücklicherweise konnte eine Zwangsheirat der Witwe, damals oft üblich, um Pensions- und Fürsorgegeld zu sparen, verhindert werden. Der älteste Sohn Anton wurde nach einem Schreiben von Pfarrer Seebacher an den Propst Michael Arnet als Sängerknabe im Stift Sankt Florian angenommen. Aus der kleinen Lehrerwohnung kam Bruckner an einen Ort von Welt, ein sehr entscheidender Schritt in seinem Leben. Fleissig und talentiert konnte er sich als Sängerknabe, als Musiker, als Lehrer und später als fantastisch improvisierender Orgelspieler und Komponist entwickeln.
Begleitet von reichlich abgebildeten Handschriften, Zeugnissen und Fotografien entsteht ein wunderbar entstaubtes und ausführlich dokumentiertes Bild vom Werdegang des Meisters. Die Welt innerhalb des Stifts, das Leben als Organist und Lehrer in Linz und Wien und viele entscheidende Begegnungen werden lebendig geschildert und dargestellt. Wir erfahren, wie Anton Bruckner sich lebenslang eifrig, oft als Autodidakt, weiterbildete und seine Erfolge auch bestätigt haben will. Aus dem Lehrer-Komponisten wurde so ein selbstbewusster autonomer Künstler. Der wenig auf Äusserlichkeit gebende Musiker eckte oft an, ging aber trotz Widerständen und Krisen beharrlich seinen künstlerischen Weg.
«Liebe Frau Mutter! Recht schön danke ich Ihnen für das Schnupftuch, welches Sie mir schenkten. O! könnte ich auch Gutes Ihnen erweisen, wie so gern würde ichs! Aber recht fromm u. gehorsam zu seyn, das verspreche ich Ihnen recht aufrichtig, so wie täglich für Sie zu Gott zu bethen. Ihr gehorsamer Sohn Anton Bruckner. St.Florian am 2. Jänner 1838»
«Ich wünsche, dass meine irdischen Überresten einem Metallsarge beigesetzt werden, welche in der Gruft unter der Kirche des regulierten lateranischen Chorherrenstiftes St. Florian, und zwar unter der grossen Orgel frei hingestellt werden soll, ohne versenkt zu werden und habe mir hierzu die Zustimmung schon bei Lebzeiten seitens des hochwürdigsten Herrn Praelaten genannten Stiftes eingeholt.»
Diese zwei Beispiele, der Brief des 14jährigen an seine Mutter und das Testament von Anton Bruckner weisen auf die werdende Persönlichkeit und Autonomie Bruckners hin.
Erstmals werden in diesem Prachtband die Kindheit und die lebenslange Beziehung des Komponisten wissenschaftlich auf dem neuesten Stand dargestellt. Reichlich mit Fotos und Bildern ausgestattet können wir handschriftliche Zeugnisse, Briefe und Notenbeispiele und Porträts des Meisters und seiner Fördere betrachten. Die handschriftlichen Dokumente (die meisten aus dem Stiftsarchiv) sind in die aktuelle Schreibweise übersetzt und erläutert. Erste Werke, darunter ein Requiem, eine Missa solemnis und kleinere Chorwerke, werden in Wort und Bild aufgeführt.
Zusammen mit dem 2024 neu eingerichteten Bruckner Museum in Sankt Florian ermöglicht dieses vorzüglich gestaltete Buch einen modernen entmystifizierten Blick auf das Werden und die Herkunft Anton Bruckners und lässt seine einzigartige Musik noch besser verstehen und geniessen.
Den Autoren und Autorinnen ist es gelungen, die kulturelle Ausstrahlung von Sankt Florian einzufangen und zusammen mit dem Leben und Wirken Anton Bruckners umfassend und spannend darzustellen.
Eine Bereicherung für jeden Bruckner Liebhaber!
Friedrich Buchmayr, geboren 1959 in Linz. Seit 1987 Bibliothekar in der Stiftsbibliothek St. Florian. Veröffentlichungen u. a.: «Der Priester in Almas Salon» (2003), «Madame Strindberg oder die Faszination der Boheme» (2011), «Mensch Bruckner! Der Komponist und die Frauen» (2019) im Müry Salzmann Verlag.
Felix Diergarten, geboren 1980, ist studierter Musiker, promovierter Musiktheoretiker und habilitierter Musikwissenschaftler. Nach Professuren an der Schola Cantorum Basiliensis und der Hochschule für Musik Freiburg lehrt er heute an der Musikhochschule Luzern. Diverse Veröffentlichungen, zuletzt «Anton Bruckner: Das geistliche Werk» (2023) im Müry Salzmann Verlag
Neben vielen Beiträgen in Anthologien verfasste die 1977 in Siebenbürgen geborene Schriftstellerin Iris Wolff fünf Romane. Ihr Debüt „Halber Stein“ erschien 2012, ihr letzter „Lichtungen“ im Frühling 2024, der nicht nur bei der Kritik grosse Begeisterung auslöste. Mit „Einladung ins Ungewisse“ macht sich die Autorin Gedanken über das Schreiben.
Für ihre fünf Romane, ihr literarisches Engagement, krönte man Iris Wolff mit mehr als einem Dutzend Preise, darunter den Eichendorff und Solothurner Literaturpreis für ihr Gesamtwerk oder 2024 für „Lichtungen“ den Uwe-Johnsen-Preis. Im Zuge der Verleihung des Chassimo-Preises 2023 hielt Iris Wolff zwei Vorlesungen zu ihrer Poetik und eine Dankesrede, die nun in einem schmucken Bändchen unter dem Titel „Einladung ins Ungewisse“ nachzulesen sind.
Es mag viele Gründe geben, dass die einen Schreibenden einen Nerv treffen, bei Leserinnen und Lesern, in der Buchbranche und in der Kritik und andere, selbst wenn sie über Jahrzehnte Buch um Buch veröffentlichen, tapfer, auch wenn die Verkaufszahlen ihrer Bücher nie und nimmer für ein Leben als Autorin oder Autor reichen. Iris Wolff lebt von ihrem Schreiben. Was ist an ihrem Schreiben, dass Iris Wolff nicht nur die Sympathien ihrer Leserinnen und Leser entgegenfliegen? Auch dafür gibt es viele Gründe, auch solche, die mit Schreiben direkt nicht einmal etwas zu tun haben. Wer der Autorin bei einer Lesung begegnet, lernt eine Frau kennen, die ohne jegliche Allüren, ihrem Gegenüber mit viel Empathie begegnet und in einer Mischung aus Zurückhaltung und Ehrlichkeit selbst jene für sich gewinnt, die ihren Büchern skeptisch begegnen.
„Schlimmer als das Verschwinden ist das Vergessen.“
Iris Wolffs Schreiben ist wie ihre Erscheinung, ihr Auftritt; authentisch, ehrlich, direkt und unverkrampft. So auch ihre Gedanken über das Schreiben. In „Einladung ins Ungewisse“ theoretisiert Iris Wolff nichts. „Einladung ins Ungewisse“ ist eine Selbstvergewisserung, eine Schule des Sehens, der Versuch, Fragen nicht endgültig zu beantworten, sondern sie schreibend einzukreisen. Vielleicht ist die Umschreibung „Schule des Sehens“ auch deshalb nicht ganz falsch, weil Iris Wolff einen tiefen Bezug zur Malerei hat, weil es scheint, als würde für sie das Schreiben eine Art des Malens sein. Wer malt, erinnert sich. Wer malt, stülpt nach aussen, was verinnerlicht ist.
Iris Wolff Buchlandschaften gründen in ihren Jahren im rumänischen Siebenbürgen, Bildern aus ihrer Kindheit, Räumen und Landschaften, die sich tief einbrannten. Aber Iris Wolff will nicht einfach abbilden, weder Geschichten, noch Leben, weder Landschaften noch Kulissen. Dass ihr vierter Roman „Die Unschärfe der Welt“ heisst, ist literarisches Programm, denn ihre Bücher reissen schon deshalb mit, weil sie Spielraum lassen, weil sie reiben, weil sie mehr Fragen aufwerfen als Antworten geben. Aber auch weil man in ihren Büchern den Respekt vor dem Leben, das Bewusstsein eines unschätzbaren Geschenks spürt. Weil nichts am Schreiben der Autorin abgehoben, vergeistigt oder elitär erscheint. Weil sie mich als Leser ernst nimmt, kein Spiel mit mir treibt. Weil mich die Autorin mitnimmt, denn ihre Erinnerungen sind gespiegelt auch meine Erinnerungen. Weil sich Iris Wolff bewusst ist, wie viel auf dem Spiel steht, wenn das Vergessen zum Programm wird.
„Einladung ins Ungewisse“ macht Mut, nicht zuletzt um die Bücher von Gerhard Meier, Philippe Jaccottet und anderer wiederzulesen.
Iris Wolff, geboren in Hermannstadt, Siebenbürgen. Die Autorin wurde für ihr literarisches Schaffen mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt, darunter mit dem Marieluise-Fleißer-Preis und dem Marie Luise Kaschnitz-Preis für ihr Gesamtwerk. Zuletzt erschien 2020 der Roman »Die Unschärfe der Welt«, der mit dem Evangelischen Buchpreis, dem Eichendorff-Literaturpreis, dem Preis der LiteraTour Nord und dem Solothurner Literaturpreis ausgezeichnet sowie unter die fünf Lieblingsbücher des Deutschen als auch des Deutschschweizer Buchhandels gewählt wurde. Die Autorin lebt in Freiburg im Breisgau.
Mitte des 18. Jahrhunderts zerschellt die Wager, ein königlich, britisches Eroberungsschiff vor der Küste Chiles. 30 Männern gelingt es, sich auf eine unbewohnte, lebensfeindliche Insel zu retten. Eine Rettung, die zum Todesurteil wird, wenn sich die hilflos zerstrittene Mannschaft nicht zusammenraufen kann, sich aus eigener Kraft aus der Misere zu reissen.
Als Kind sah ich den Film „Meuterei auf der Bounty“ mit Marlon Brando, ein Streifen, der sich mit seinen Szenen auf hoher See unauslöschlich in meine Erinnerung brannte und ein Baustein war für einen verklärten Blick auf Seefahrerromantik und -abenteuer, die so gar nie existierten. Im Schweif dieser Filme und Bücher (zB. „Störtebekker“) zeichnete ich während Jahren mit Vorliebe stolze Dreimaster mit mehreren Reihen Kanonenluken, alle Segel gesetzt, in hohem Wellengang.
Dass Seefahrerei, wie sie im 18. Jahrhundert betrieben wurde, so gar nichts mit Romantik zu tun hat, wie sehr Schiffe damals eine strategische Waffe sowohl in der Kriegsführung, in direkten Auseinandersetzungen und in Wirtschaftskriegen waren, verdeutlicht das Buch „Der Untergang der Wager“. Wie überdeutlich wirtschaftliche Interessen Königreiche, Staaten, Schiffseigner und Mannschaften auf Reisen lockten, von denen alle wussten, wie entbehrungsreich oder gar tödlich sie enden könnten, schildert David Grann in einem Bericht, der sich nicht in die Menschen damals versetzen will, sondern Abläufe, eine Geschichte verstehen will.
Die Wager war damals ein Kriegsschiff einer grösseren Flotte, die von England aus einen Krieg gegen die spanische Seeübermacht führen sollte. Doch nach etlichen Verzögerungen, die schon im englischen Heimathafen ihren Anfang nahmen, erwischte die Wager bei ihrer Passage des Kap Horns am südlichsten Zipfel Südamerikas einen denkbar schlechten Zeitpunkt. Das Schiff geriet bei fatalen Stürmen immer mehr in Bedrängnis, während eine eh schon von Entkräftung, Hunger und Krankheiten geschwächte Mannschaft auf dem Schiff zu rebellieren begann. Im Januar 1742 zerschellte der manövrierunfähige Koloss an der Westküste Patagoniens. Nur mit grösster Not rettete sich eine kleine Gruppe zusammen mit ihrem Kapitän Davis Cheap auf eine unbewohnte Insel (Wager Island, noch heute unbewohnt und weitab aller Zivilisation), die permanenten Stürmen und Unwettern ausgesetzt bloss mit knorrigen Bäumen bewaldet ist. Man schleppte unter Todesgefahr vom Wrack auf die Insel, was sie die ersten Monate überleben liess, um in ihrer Verlorenheit immer deutlicher zu verstehen, dass nichts und niemand sie auf dem unwirtlichen Eiland zurück in die Heimat bringen würde.
Sehr bald zerbrachen die hierarchischen Strukturen, die ein Leben, ein Überleben auf dem Schiff, jetzt auf dem Eiland, auf engstem Raum garantierten. Gepeitscht von Hunger, Krankheit und Entkräftung eskalierte die Situation auf der Insel, die Gruppe spaltete sich, man griff zu den verbliebenen Waffen, es gab noch mehr Tote.
Im Wissen darum, dass eine Rettung nur aus eigener Kraft gelingen konnte, flickte man aus den seeuntüchtig gewordenen Beibooten rudimentär seetüchtige Schiffe zusammen und machte sich in verschiedenen Gruppen auf den hoffnungsvollen Weg zurück ins alte Leben. Aber auch diese Versuche standen unter einem schlechten Stern. Immer wieder waren die überfüllten Boote in ihrer Not gezwungen, Männer zurückzulassen. Fast ein Jahr nach ihrem Schiffbruch und einer 3000 Kilometer langen Reise voller Torturen erreichte eine erste, kleine Gruppe Geretteter die ersten Ausläufer der Zivilisation. Nachdem es noch weitere Monate dauerte, bis sie zurück in England waren, begann in ihrer Heimat aber ein zweiter Kampf; der Kampf um die „Wahrheit“, ein langwieriger Prozess, an dem die sensationslüsterne Öffentlichkeit lechzend teilnahm.
Was die Qualität dieses Buches ausmacht, ist weder Sprache nach Dramatik. David Grann gibt sich erstaunlich sachlich und die Dramatik folgt den Geschehnissen, die durch Log- und Tagebücher einigermassen nachvollzogen werden können. Grann schildert den Schrecken der Seefahrt, die Brutalität eines Lebens auf engstem Raum unter maximalen Entbehrungen. Er verklärt mit keinem Satz und zeigt auf, wie die Geltungssucht der einen und der Hunger nach Reichtum jede Gefahr auszublenden vermag. Wie sehr der Mensch bei einem drohenden Zusammenbruch hierarchischer Strukturen in die Anarchie rutscht und wie staatspolitische Interessen das eine zu einem Schauprozess werden lassen, das andere aber wohlweisslich unter den Teppich kehren.
Ungemein spannend und erhellend!
David Grann, Jahrgang 1967, ist preisgekrönter Journalist und Sachbuchautor. Er arbeitet als Redakteur bei The New Yorker und veröffentlicht Artikel u.a. in The Washington Post, The Atlantic Monthly, The Wall Street Journal. Sein Buch «Killers of the Flower Moon» erschien auf Deutsch bei btb und wurde von und mit Martin Scorsese und Leonardo DiCaprio verfilmt, die sich auch die Rechte an seinem neuesten Bestseller «The Wager» gesichert haben. «The Wager» stand wochenlang auf Platz 1 der New-York-Times-Bestsellerliste und schaffte es auf die Summer Reading List von Barack Obama.
Rudolf Mast, geboren 1958, war Segellehrer und Segelmacher, bevor er Theaterwissenschaft und Philosophie in Berlin studierte. Dort arbeitet er heute als Theaterwissenschaftler, Lektor und Übersetzer.
In einer Zeit, in der es keine unentdeckten Inseln mehr gibt, keine weissen Flächen mehr auf Karten, in denen es die Menschen immer weiter ins All hinauszieht und selbst die Tiefen der Meere langsam aus dem Dunkel der Ahnung aufsteigen, ist die Sehnsucht nach dem letzten Ort, dem Rand der Welt nicht kleiner geworden.
2009 erschien ebenfalls bei mare das Buch „Atlas der abgelegenen Inseln“ von Judith Schalansky und entwickelte sich in der Folge zu einem unerwarteten Bestseller. Dass das Buch damals dermassen viele glückliche LeserInnen fand, lässt sich mit der Inselsehnsucht, dem Mythos Insel erklären. Aber ganz bestimmt auch mit Erinnerung. Vielleicht ging es ihnen als Kind wie mir; Karten und Atlanten versprühten gleichermassen Geheimnis und Abenteuer. Mit Augenpaar, Zeigefinger und einer ordentlichen Portion Vorstellungskraft wurde aus dem flachen Papier eine Kulisse, in die man eintauchen konnte. Gedankenreisen mit dem Potenzial zu epischen Ausschweifungen.
Dass der Spanier José Luis Gonzalez Macías mit «Kleiner Atlas der Leuchttürme am Ende der Welt“ die perfekte Weiterführung zeichnete und schrieb, macht aus beiden Büchern ein wunderbares Pendant. Leuchttürme sind so etwas wie Zeigefinger, hochgehoben, mahnend und selbstbewusst angesichts der Naturgewalten, die auf die Mauern und Stahlkonstruktionen einhämmern. Zeigefinger, die ausrufen; Wir sind hier! Wir lassen uns allem zum Trotz nicht vertreiben. Klar haben moderne Techniken, GPS, Sonar und Radar die stolzen Recken menschlichen Willens weitgehend unnötig gemacht. Klar nagen Stürme, Salzwasser, Gezeiten und Verschleiss an den Giganten am Meer. Aber je mehr die Glanzzeiten der Leuchttürme in die Vergangenheit rutschen, desto mehr werden die Geschichten, die sich über die Jahrhunderte an jenen einsamen Orten abspielten, zu Mythen.
Die Sehnsucht des Menschen nach Abgeschiedenheit ist ungebremst. In Zeiten, in denen fast alle stets erreichbar sind, in denen Offlinezeiten für die einen schon Abenteuer genug sind, in denen Einsamkeit zu einer Idylle wird, die sie in den seltensten Fällen war, zumal es für den Leuchtturmwärter im letzten Jahrhundert keine Möglichkeit gab, bei aufkommender Depression um einen Helikopter zu bitten, bedient ein Buch wie dieser Leuchtturmatlas Sehnsüchte und Träume perfekt.
Jules Vernes Abenteuerroman „Der Leuchtturm am Ende der Welt“ machte schon vor mehr als hundert Jahren aus wenigen Quadratmetern den idealen Nährboden für Drama und Tragödie. Dass das Leben eines Leuchtturmwärters, selbst dann, wenn der Turm auf dem Festland steht, kein einfaches war, erzählen all die Geschichten, die José Luis Gonzalez Macías mit Illustrationen und Karten zu den Leuchttürmen verwebt. Geschichten von der Härte, der die Menschen ausgesetzt waren, von Hunger und Krankheit, Wahn und Tod, vom Verschwinden, von Geheimnissen, nie von Reichtum, nie von Ruhm und Ehre, ausser jene von Grace, der man wegen ihrer Heldentat in ihrem Geburtsort Bamburgh ein kleines Museum widmet. Am 7. September 1838 zerbricht die SS Forfarshire in zwei Teile und zerschellt an der Insel Big Harcar vor der britischen Küste. Mit einem kleinen Ruderboot retten Grace und ihr Vater, der Leuchturmwärter einen grossen Teil der Mannschaft und Passagiere. Grace stirbt 28jährig an Tuberkulose, bleibt aber Sinnbild dafür, dass Menschen, die an solchen Orten leben und wirken, aus einem ganz besonderen Holz geschnitzt sind.
Die Namen der Orte, an denen die Leuchttürme stehen, lesen sich wie eine Kette kantiger Steine: Clippeton, Erded Rock, Great Isaac Cay, Maatsuyker, Robben Island… „Der Leuchtturm am Ende der Welt“ ist ein Mahnmal für all jene Orte und Menschen, die der stürmischen See und mit einem solchen Buch dem globalen Vergessen trotzen.
Und nicht zuletzt ein wunderschönes Zeugnis moderner Buchkunst!
José Luis González Macías, geboren 1973 in Ponferrada, ist Grafikdesigner, Autor und Herausgeber und seit seiner Kindheit fasziniert von Karten. In seinem Leuchtturm-Atlas verbindet er seine Leidenschaft für Texte und für Bilder und beweist, dass man nicht am Meer gelebt haben muss, um darüber zu schreiben. Der Atlas wurde 2020 vom spanischen Kulturministerium als schönstes Buch Spaniens ausgezeichnet und bereits in vierzehn Sprachen übersetzt.
Kirsten Brandt, geboren 1963, studierte nach einer Buchhandelslehre Portugiesisch, Englisch und Deutsch in Frankfurt, Hamburg, Lissabon und Braga und lebte anschliessend sieben Jahre in Barcelona. Seit 2002 übersetzt sie aus dem Katalanischen (u. a. Carme Riera, Josep Pla und Jaume Cabré), Spanischen und Portugiesischen.
(Bildmaterial aus dem Buch «Kleiner Atlas der Leuchttürme am Ende der Welt“ mit freundlicher Genehmigung des Verlags!)
Lentille, eine junge Kuh, die ihr erstes Kalb erwartet, liegt im Stall und brüllt. Urs Mannhart arbeitet dort, wenn er nicht schreibt. Aber wenn er schreibt, brüllt die Kuh auch in seiner Schreibstube im Städtchen. Urs Mannhart erzählt von seiner Liebe, jener zu den Tieren in dem jurassischen Stall und jene zu der Art, sich Fragen zu stellen.
Urs Mannhart war am Internationalen Literaturfestival in Leukerbad diesen Sommer mit seinem Roman „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“ in den Walliser Bergen eingeladen. Wie allen hätte man ihm die Spesen für eine Reise mit dem Zug von La Chaux-de-Fonds nach Leukerbad und zurück mit aller Selbstverständlichkeit bezahlt. Aber Urs Mannhart kam mit dem Fahrrad. Circa 200 Kilometer, angekommen mit den ersten Regentropfen eines infernalen Gewitters, am nächsten Tag bereits wieder wie aus dem Ei gepellt bereit für die „Literarische Wanderung“ von Guttet über Albinen bis nach Leukerbad. Urs Mannhart ist ein Tausendsassa, nicht nur was seine körperliche Fitness betrifft und seinen Willen, Dinge mit letzter Konsequenz zu tun, sondern auch als Schriftsteller, Reporter und Landwirt.
Und wenn Urs Mannhart die unabdingbare Fähigkeit eines Schriftstellers, sich in ein „künstliches Gegenüber“ versetzen zu können, Empathie wie Tasten und Stift zu einem Werkzeug macht, wenn er sich so ganz in sein Tun und seine Überzeugung hineingeben kann, ist es auch nicht verwunderlich, dass der Biobauer Urs Mannhart eine Kuh zu seinem Gegenüber machen kann, ohne Pathos, ohne Verklärung.
„Menschen, die sich zu viel Arbeit und zu viele Termine aufhalsen, sollten ärztlich angewiesen werden, eine Kuh aufzusuchen, um ihr nahe zu sein, wenn sie wiederkäut.“
Urs Mannhart ist zwei Tage in der Woche Mitarbeiter auf einem kleinen Bauernhof unweit von La Chaux-de-Fonds. Im Stall stehen nur wenig Kühe; Susi, Ambre, Galia, Amina und Lentille. Urs und Michaël, der Bauer, melken sie von Hand, jeden Tag zweimal, morgens und abends. Wer so eng mit Tieren zusammen ist, seien es Haus- oder Nutztiere, wer mit ihnen lebt, an ihrem Leben teilnimmt, wer den Tieren Namen gibt, der wird auf die Frage, ob Tiere eine Persönlichkeit besässen, mit Verwunderung reagieren. Die Frage ist nicht, ob Tiere eine Persönlichkeit besitzen, viel mehr, ob sie Persönlichkeiten sind. Ob sie zu Gefühlen fähig sind.
Urs Mannhart erzählt in seiner essayistischen Reportage von einer Kuh, von Lentille. Ganz zu Beginn des Buches kämpfen Michaël und der Tierarzt an der Seite Lentilles um ihr erstes Kalb, während Urs sich sonst irgendwie nützlich zu machen versucht, während das tiefe Brüllen der Kuh die Ruhe des sonst stillen Hofes zerreisst. Das Kalb kommt tot zur Welt. Michaël legt es neben die Mutterkuh. Sie stupst es sanft mit den Hörnern. Empfindet eine Kuh Trauer nach einer solchen Todgeburt? Urs Mannhart schildert die Begegnungen mit der Kuh danach, versucht sie zu verstehen, krault und streichelt ihr Fell, beobachtet sie auf der Weide. Urs Mannhart nimmt Lentille gedanklich mit nach Hause, an seinen Schreibtisch in seiner kleinen Wohnung in La Chaux-de-Fonds.
Urs Mannhart setzt sich nicht nur mit seiner Arbeit auseinander. Das mit Farbfotos illustrierte Buch ist Zeugnis einer tiefen Befragung, darüber, ob all das, was in europäischen Ställen geschieht noch in irgend einer Weise etwas mit Tierwohl gemein hat, oder ob sich eine perfekt organisierte Fleisch- und Milchindustrie das Tier nicht längst zum reinen Objekt und Lieferanten herangezüchtet hat. Ob eine Gesellschaft, die frag- und kritiklos in Bergen eingeschweisster Billigfleischangebote wühlt noch weiss, was es bedeutet, einer Kuh den Schmerz anzusehen, wenn sie mit ihrer feuchten Schnauze den toten Körper ihres Kalbs berührt. Wir haben uns entfernt. Urs Mannhart ist ganz nah. Er erzählt in seiner Auseinandersetzung mit ethischen Fragen von seiner Liebe zum Tier, mitunter gar von seinem Werben um sie.
„Lentille. Aus dem Leben einer Kuh“ ist keine Kampfschrift gegen den Verzehr von Fleisch- oder Milchprodukten, nicht einmal gegen Massentierhaltung. Das Buch zwingt mich zur Auseinandersetzung, zur Selbstbefragung. Darüber, dass ich mich viel zu selten frage, was ein Tier empfindet, wo wir ihnen doch zugestehen, dass sie zu Kommunikation fähig sind. Wie sehr wir uns die Welt zurechtbiegen, um sie „untertan“ zu machen; einsperren, abschneiden, kupieren, schleifen und veröden. „Lentille. Aus dem Leben einer Kuh“ ist eine Liebeserklärung.
Urs Mannhart, geboren 1975, lebt als Schriftsteller, Reporter und Biolandwirt in der Schweiz. Er hat Zivildienst geleistet bei Grossraubwildbiologen und Drogenkranken, hat ein Studium der Germanistik und der Philosophie abgebrochen, ist lange Jahre für die Genossenschaft Velokurier Bern gefahren, war engagiert als Nachtwächter in einem Asylzentrum und absolvierte auf Demeter-Betrieben die landwirtschaftliche Ausbildung. Mannhart beschäftigt sich mit Tierphilosophie, dem bedingungslosen Grundeinkommen, mit Suffizienz und entschleunigter Mobilität. Für sein literarisches Werk erhielt er eine Reihe von Preisen, darunter den Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis 2017. Im selben Jahr war er zum Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb eingeladen; sein Text stand auf der Shortlist.
Was macht ein Land, das von einer Grossmacht bedroht wird? Was, wenn die Bedrohungen eines Landes von ganz vielen Mächten ausgehen? Alice Grünfelder schreibt mit einem Herz voller Leidenschaft.
Erstaunlich, wie wenig deutsche Buchveröffentlichungen über Taiwan in den letzten Jahren erschienen sind. Auch erstaunlich, wie wenig Literatur, sei es Lyrik oder Prosa, aus Taiwan ins Deutsche übersetzt wurde. Eine der löblichen Ausnahmen ist der bei Matthes & Seitz von Wu Ming-Yi erschienene Roman „Der Mann mit den Facettenaugen“. Ein Autor, Künstler, Umweltaktivist und Professor, der schon für den Man Booker International Prize nominiert wurde, bei uns aber weitgehend unbekannt blieb. Wesentlich bekannter im deutschen Sprachraum ist Stephan Thome, der viele Jahre und immer wieder auf der Insel Taiwan lebt und seinen Roman „Pflaumenregen“ dort spielen lässt.
Dass sich die Sinologin, Germanistin und Schriftstellerin Alice Grünfelder seit Jahrzehnten mit Taiwan beschäftigt, ist nicht weiter verwunderlich. Aber sehr wohl erstaunlich ist die Art und Weise, wie Alice Grünfelder sich mit diesem Inselstaat zwischen den Fronten der Grossmächte beschäftigt. Sie tut das in der Tradition der klassischen Pinselnotizen, biji, essayistischer Miniaturen, die Reiseeindrücke, Gedanken, Beobachtungen, Anekdoten, Betrachtungen bis hin zu Gedichten und eigentlichen Reportagen in einem Buch versammelt, in Überschriften alphabetisch geordnet. „Wolken über Taiwan. Notizen aus einem bedrohten Land“ ist weder Reiseführer noch Sachbuch. Da ist mehr als Faszination für ein Land, das gleich auf mehreren Ebenen bedroht ist und wird. Aus Alice Grünfelders Buch ist Liebe zu spüren, die Liebe für ein Land, eine ganz besondere Insel, eine Geschichte und mit Sicherheit auch die Liebe für einen David, der angesichts eines riesigen Goliaths weder in Lethargie noch Depression verfällt.
Taiwan, eine Insel wesentlich kleiner als die Schweiz aber mit dreimal höherer Bevölkerungszahl, ist ein hoch technisierter Staat, von den wenigsten Staaten als solcher anerkannt und ganz im Gegensatz zu seinem übermächtigen und aggressiven Grossnachbarn seit einem Vierteljahrhundert ein weitgehend demokratisch funktionierender Vielvölkerstaat. Seit dem 16. Jahrhundert immer wieder von fremden Mächten besetzt, droht die Volksrepublik China offen mit der gewaltsamen Eroberung der Insel. Dass solche Drohungen ernst zu nehmen sind, beweist uns die Geschichte nicht erst seit der Annektierung der Krim durch Russland und den Eroberungs- und Vernichtungskrieg seit dem 24. Februar auf dem gesamten Staatsgebiet der Ukraine. Aber ganz offensichtlich lässt sich die Inselbevölkerung Taiwans durch die unmissverständlichen Drohgebärden des Einparteistaats China nicht einschüchtern. Ganz im Gegenteil. Taiwan prosperiert. Nicht nur dank ihrer marktbeherrschenden Stellung in der Produktion von Computerchips.
Alice Grünfelder wollte eigentlich wegen eines Sprachaufenthalts für ein halbes Jahr, zur Auffrischung ihrer Sprachkenntnisse auf die Insel. Ich werde nichts über Taiwan schreiben. Nur Postkarten, das muss genügen, schreibt sie unter dem Titel „Schreiben“. Und nun ist doch viel mehr aus dem halben Jahr geworden; eine Annäherung an ein Land, eine Kultur, die wechselseitige Geschichte, die Landschaft und die vielfältigen Bedrohungen. Die Stürme, die Taifune, die Erdbeben, die Vulkane, die Unwetter, der steigenden Meeresspiegel, die klimatischen Veränderungen – und China.
Was sie schreibt, ist behutsam und voller Respekt, eingetaucht in Liebe für ein Land, dass sich selbstbewusst und demokratisch allen Widrigkeiten zum Trotz diesen Bedrohungen stellt. „Wolken über Taiwan“ ist eine Annäherung mit Mehrfachperspektive, eine vielfältige Einladung, sich mit einem Land zu beschäftigen, das sich all den Bedrohungen stemmt, geschrieben von einer Frau, die mit literarischen Stimmen umzugehen weiss.
Alice Grünfelder, geboren im Schwarzwald, aufgewachsen in Schwäbisch Gmünd, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und Chengdu (China), war 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Vermittelte und übersetzte Literaturen aus Asien. Seit 2010 unterrichtet sie Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Februar bis Juli 2020 war sie für ein Sabbatical in Taipei (Taiwan). Sie ist Herausgeberin mehrerer Asien-Publikationen, zuletzt «Vietnam fürs Handgepäck» (2012) und «Flügelschlag des Schmetterlings» (2009). Sie veröffentlichte eigene Gedichte, Essays und Erzählungen. Ihr Roman «Wüstengängerin» erschien 2018, der Essay «Wird unser MUT langen» 2019. Nominiert für den Irseer-Pegasus-Literaturpreis 2019, Werkjahr der Stadt Zürich 2019.
Alles ist eine Frage der Zeit. Wohl auch das Ende der Menschheit. Dieses schmale, unscheinbare Buch, dass daherhommt, wie eines der unzähligen Katzenbücher, die sich auf Büchertischen ausbreiten, seziert mit messerscharfer Klinge und Spitze am noch lebenden Objekt. „Gegenangriff“ ist das Protokoll eines Untergangs.
Nadja Niemeyer ist ein Pseudonym. Angesichts dessen, womit mich die Schreibende konfrontiert, verstehe ist diesen Schritt. Sie wolle nicht an Debatten teilnehmen, habe dem Buch nichts hinzuzufügen. Ich hätte ihr gerne ein paar Fragen gestellt, vielleicht auch nur, um nach der Lektüre ihres Buches meine Fantasie zu beruhigen. Ihr Pamphlet hat nichts Beschwörendes, ist weder Drohung noch Warnung, vielleicht nicht einmal als Gedankenspiel zu verstehen. Nadja Niemeyer beschreibt mit aller verfügbarer Sachlichkeit nicht weniger als das baldige Ende der Spezies Mensch, das schnelle Ende eines Schädlings, der sich über die Jahrtausende wie ein Geschwür über diesen einen Globus ausbreitete.
Ameisen leben in riesigen Gemeinschaften. Wälder sind nicht bloss Ansammlungen von Bäumen und Gesträuch, sondern Pflanzengemeinschaften, die miteinander verbunden sind. Pilze ebenfalls. Wie irrig zu glauben, diese Art von kollektiver Intelligenz wäre der unsrigen weit unterlegen, zumal man beim Menschen in keiner Weise von einer kollektiven Intelligenz sprechen kann. Was den Menschen ausmacht, seine Individualität, hat durchaus das Zeug, das Gift für seinen Untergang zu werden. Die Geschichte und die Gegenwart macht überdeutlich, wie sehr die Menschen in den Würgegriff eines einzelnen Individuums geraten können, wie leicht die Intelligenz seiner Untergebenen in soldatischen Gehorsam ausgelöscht werden kann. Indizien gibt es genug, dass das Horrorszenario, das Nadja Niemeyer beschreibt, einen bedrückenden Anteil Wirklichkeit in sich trägt.
Bis vor zweihundert Jahren waren es die Menschen, die sich in Städten einschlossen, um sich vor der Natur zu schützen. Besiedlung war ein Kampf gegen die Tücken der Natur. In der Gegenwart ist es die Natur, die man vor den Menschen und ihrer aggressiven Ausbreitung schützen muss, mit Stacheldraht und Mauern. Warum sollte sich der Rest, der geblieben ist, die kollektive Intelligenz, über die das Tier- und Pflanzenreich verfügt, nicht mit einem Mal kurzschliessen, um sich in einem finalen Kraftakt gegen jene Spezies zu stemmen, die alles unternimmt, um diesen Planeten für restlos alle und alles unbewohnbar zu machen?
Zuerst sind es die Ratten in den grossen Städten, zum Beispiel in New York. Es gibt Millionen von ihnen, kampferprobt. Sie zerbeissen Stromleitungen. Das genügt nicht nur, um das Leben in der riesigen Stadt zum Erlahmen zu bringen; die U-Bahn bleibt stehen, Menschen verhungern in Aufzügen, selbst Notstromaggregate können nicht verhindern, dass Menschen in Spitälern reihenweise sterben, auch das Internet regt sich nicht mehr. Alle Informationsströme sind gekappt, Panik bricht aus.
Ich glaube ebenso an eine kollektive Intelligenz der Natur wie an die grenzenlose Naivität und Dummheit der Menschheit. Solange wir mit einem SUV zum Einkaufen fahren, zum Shopping nach New York fliegen, Kleidungsstücke wie Souvenirs kaufen und unser Geld in Bitcoins investieren, statt in direkte Projekte, die sich um den Fortbestand eines friedlichen Miteinanders von Menschheit und Natur bemühen, solange der Mensch dem Untertan Natur noch mit dem immer gleichen Prinzip der Unterwerfung und Ausbeutung an den Kragen geht, sind Szenarien, wie denen von Nadja Niemeyer nur wenig entgegenzuhalten. Und wenn sich die Autorin durch ein Pseudonym vor all den Entschuldigungen, Beteuerungen und Verniedlichungen schützen will, verstehe ich das sehr wohl. Nichts desto Trotz ist „Gegenangriff“ absolut lesenswert, auch wenn das Buch mit den zwei niedlichen Kätzchen auf dem Cover das Zeug hat, sich in Alpträume zu mischen!
Die Autorin schreibt absolut sachlich, ohne jeden Pathos, schildert das Fallen der Dominosteine. Irgendwann wird es wieder ruhig auf dem Planeten, denn die eigentliche Ausrottung der Menschheit übernimmt der Mensch selbst – Männer.
100 Jahre, 135 Autorinnen und Autoren: Charles Linsmayers Anthologie «20/21 Synchron» besichtigt die viersprachige Buchschweiz.
von Peter Surber, Kulturredaktor
«Boden unter den Füssen zu gewinnen, flüchtet man in Erinnerung, sieht sich, wie Lenz, der den 20. Jänner durchs Gebirg ging, als kleiner Bub mit Vater nach dem Vesperbrot, wenn der diffuse Tag unmerklich in die Nacht überzukippen beginnt, vom Dorf durch den frischen Schnee die Aufforstung hinauf zum Glaspass stapfen…» – ein erster Satz, der hier noch lange nicht zu Ende ist, ein typischer Hänny-Satz. Reto Hänny, 1947 im bündnerischen Tschappina geboren, hat vor wenigen Tagen den Schweizer Grand Prix Literatur 2022 zugesprochen erhalten. Darum haben wir ihn als ersten gesucht im Lesebuch zu hundert Jahren Schweizer Literatur, das Charles Linsmayer herausgegeben hat. Hänny ist natürlich drin – aber nicht mit einem Auszug aus seinen Romanen mit den rabiaten Kurztiteln Ruch, Flug oder Sturz, sondern mit einem original für das Lesebuch geschriebenen Text: Glaspass.
Von «überraschend vielen» noch lebenden Autorinnen und Autoren habe er solche bisher unveröffentlichten Beiträge für die Anthologie erhalten, schreibt Linsmayer im Nachwort und bedankt sich für das «intensive Jahr» mit Schweizer Literatur, das ihm die Gespräche mit den Angefragten und die Arbeit am Buch beschert hätten.
Kanon und Entdeckungen Eine solche intensive Entdeckungsreise durch Regionen, Themen und Jahrzehnte bietet das Buch auch den Leserinnen und Lesern. Es schlägt einen gewaltigen Bogen von 1920 bis 2020, aber geordnet ist es nicht chronologisch, sondern thematisch in kleinen, eher ad hoc gebildeten als systematisch wirkenden Gruppen. «Frühe Erfahrungen» stehen am Anfang, es folgen Texte über die Liebe, über «Väter und Mütter», «Freundschaften», «Städte und Landschaften», die Schweiz wird verhandelt oder der Tod, Schicksale «Auf der Schattenseite» oder Erlebnisse «Jenseits des Realen», Witziges steht neben Tragischem – ein beinah unerschöpfliches Kaleidoskop von Stimmen und Stimmungen.
Walser, Hesse, Ramuz, Hohl, Inglin und so weiter: Die Klassiker sind drin, die Grossschriftsteller von Frisch bis Dürrenmatt bis Burger bis Nizon, die erste Autorinnengarde von Annemarie Schwarzenbach, Alice Rivaz, Amélie Plume, Agota Kristof, Luisa Famos bis Helen Meier. Linsmayer hat den (inoffiziellen, aber über ein Jahrhundert herauskristallisierten) Kanon des viersprachigen Literaturschaffens intus und teils mitgeprägt: Er erinnert auch an Namen, die vermutlich vergessen wären, wenn er sie nicht selber seit den Achtzigerjahren in den 30 Bänden der Reihe «Frühling der Gegenwart» oder in der vierzigbändigen Edition «Reprinted by Huber» ans Licht geholt hätte: Francis Giauque, Cilette Ofaire, Monique Saint-Hélier, Kurt Guggenheim…
Man kommt mit Aufzählen nicht nach. Die Jüngsten? Arno Camenisch, Dorothee Elmiger, Meral Kureishi, Anna Stern, alles Achtzigerjahrgänge. Die Ostschweiz? Neben Elmiger, Meier und Stern sind Regina Ullmann, Niklaus Meienberg, Eveline Hasler, Peter Stamm und Peter Weber in Linsmayers «Long List aufgenommen. Dagegen fehlen wichtige regionale Stimmen wie Christoph Keller, Christian Uetz, Christine Fischer, Renato Kaiser, Lara Stoll und andere.
Generell sind Spoken-Word-Stimmen rar, wohl dem ausdrücklichen Lesebuch-Charakter geschuldet. «Vollständigkeit wurde nicht angestrebt», schreibt Linsmayer gleich selber im Nachwort – bei schweizweit rund 2500 Schriftstellerinnen und Schriftstellern wäre das auch ein Ding der Unmöglichkeit. Die Auswahl habe sich aus seinen Vorlieben und Erfahrungen ergeben. Begründungen, Gewichtungen und Tonalitäten, Wahlverwandtschaften und Kontraste schält das Nachwort heraus, und eine unübertreffliche Leistung sind die 135 Kurzbiografien, je eine Seite lang, die alle im Buch vertretenen Autorinnen und Autoren samt Bild vorstellen.
Vögel und Pilze Am besten folgt man also als Leser ebenfalls seinen Vorlieben. Findet zum Beispiel Dorothee Elmigers Lockdown-Reflexion Schlafprotokoll, verfasst für eine Produktion am Zürcher Schauspielhaus 2020. Oder einen gespenstisch apokalyptischen Text mit dem Titel Vögel, frittiert der Zürcher Romanautorin Silvia Tschui. Darin ist die Welt, überhitzt und zu Tode ausgebeutet, am Ende, die Farben verloren, der Boden ausgetrocknet, die Wörter vergessen, «und man hatte nie eine Chance». «Verhängnis und Vision» heisst das Kapitel, in dem auch eines der wenigen Gedichte im Band zu finden ist, Raphael Urweiders tropische Trauer. Zur Aufheiterung folgt ein paar Seiten weiter Peter Webers Pilzöffentlichkeit, in der die Hallimasche das letzte Wort haben.
In einer kulturpessimistischen Schlussbetrachtung warnt der Herausgeber vor der «digital unterfütterten Jekami-Unterhaltungskultur globalen Zuschnitts», die das gedruckte Wort zunehmend «in eine Randexistenz» dränge. Er hofft im Gegenzug auf ein Lesepublikum, das, statt «Trends und Moden» zu folgen, dem Geschriebenen wieder mehr Zeit widmet und «zu neugierigen, aufnahmebereiten, geduldigen Adressaten und echten, begeisterungsfähigen Komplizen der Schreibenden» wird. Sein Lesebuch will dazu einen Beitrag leisten.
Bei der Veranstaltung vom 10. März im Literaturhaus Thurgau sind Klaus Merz uns Silvia Tschui mit auf der Bühne. Begleitet werden Sie vom Gitarristen Philipp Schaufelberger. Moderation Peter Surber
Silvia Tschui, geb. 1974 in Zürich, studierte Germanistik und Grafikdesign. Ihr erster Roman „Jakobs Ross“ war in der Schweiz ein preisgekrönter Bestseller. Ihr aktueller Roman „Der Wod“ erschien bei Rowohlt. Klaus Merz, geb. 1945, lebt in Unterkulm/Schweiz. Zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt Rainer-Malkowski-Preis (2016) und Christine-Lavant-Preis (2018).
Die ganzheitliche Suche nach Schönheit Silvia Boadella widmet sich mit einem lesens- und betrachtungswerten Buch dem Leben der Künstlerin und ihrer Großtante Sophie Taeuber-Arp.
Urs Heinz Aerni: Auf dem leider nicht mehr im Umlauf befindlichen 50-Franken-Geldschein war Sophie Taeuber-Arp abgebildet. Haben Sie als deren Grossnichte noch ein paar von diesen Scheinen aufbewahrt?
Silvia Boadella: Ja, ich habe einige davon zurückgelegt und werde sie später verschenken. Was mir darauf besonders gefällt ist ihr aufmerksamer Blick, mit dem sie uns anschaut.
Aerni: Durch Retrospektiven im Kunstmuseum Basel, in der Tate Modern in London und im Museum of Modern Art in New York wird die Künstlerin, die auch im Zentrum der Zürcher Dada-Bewegung stand, wieder ins mediale Bewusstsein gerückt. Sie widmen ihr nun mit diesem Buch in Ihrer eigenen literarischen Sprache eine Hommage. Was hat Sie dazu bewogen?
Boadella: Ich bin aufgewachsen mit Sophie Taeuber-Arps Kunst und mit Menschen, die ihr sehr nahe standen. In Erzählungen über sie und in ihrem Werk habe ich immer eine enorme Lebensenergie dieser Frau und Künstlerin wahrgenommen. Dieser Kraft wollte ich in einem eigenen Werk nachspüren. Auch hatte ich einen entscheidenden Traum über sie. Darin hörte ich den Satz: „Sophie hat einen Albtraum in einen Traum verwandelt.“ Ich wollte in diesem Buch ergründen, was es damit auf sich hat und wie Sophie dies geschafft hat. Ich habe das Buch also auch aus einem eigenen Interesse heraus geschrieben, um von Sophie zu lernen.
Aerni: Sie wurden fünf Jahre nach dem Tod Ihrer Grosstante Sophie Taeuber-Arp, 1943, geboren. Wie präsent war sie in Ihrer Familie?
Boadella: Die Erinnerung an Sophie war sehr wach und es wurde vieles über sie erzählt, gerade weil sie eine so lebendige und vielseitige Frau war und ein aussergewöhnliches Leben führte. Sophie war eine Ausnahmekünstlerin unter den Künstlerinnen ihrer Zeit. Sie war schon zu ihren Lebzeiten sehr bekannt, renommiert und international angesehen. So wurde sie zum Beispiel bereits damals vom Museum of Modern Art in New York ausgestellt. In den 13 Jahren, in denen sie nicht mehr unterrichten musste – 1929-1943, nahm sie an vierzig internationalen Ausstellungen teil – auch das zeigt ihre enorme Lebenskraft.
Aerni: In Ihrem Buch zeigen Sie nicht nur ausgesuchte Werke und Illustrationen von Taeuber-Arp, Sie verknüpfen diese mit Ihrer persönlichen Art der Poesie. Eigentlich im Sinne der porträtierten Künstlerin, da sie ebenso interdisziplinär gestaltete. Oder anders gefragt: Warum keine klassische Biografie?
Boadella: Ich habe in meinem Buch eine neue Form des Porträtierens entwickelt. Biografische Details werden mit den Prozessen verflochten, die Sophie Taeuber-Arps vielseitiges Schaffen antrieben. Das Buch fühlt sich wie ein Roman an und hat auch dessen Form, basiert aber eher auf Fakten als auf Fiktion. Und doch wagt es zugleich, uns einen Einblick in das Denken und Fühlen der Künstlerin zu geben. Es soll gleichzeitig persönlich und informativ sein. Ich habe versucht, es mit genauso viel Sorgfalt und Aufmerksamkeit fürs Detail zu schaffen wie Sophie Taeuber-Arp ihre eigenen Werke. So pflege ich das Vermächtnis der Künstlerin und beschreibe es auf eine poetische und innige Weise, die ebenso voller Sehnsucht ist wie die Werke der Künstlerin.
Aerni: Die Welt, in der Sophie Taeuber-Arp lebte, geriet aus den Fugen. Flucht, Angst und Unsicherheiten hinderten sie nicht, künstlerisch aktiv zu bleiben. Vielleicht nicht auch ein Weg, das alles ertragen zu können?
Boadella: Ja, es war ihr Weg, dies alles auszuhalten. Trotz der Bedrohung durch zwei Weltkriege widmete sie sich leidenschaftlich ihrer Kunst. Sie fand und bewahrte durch ihre Arbeit nicht nur unter äusserst schwierigen Umständen ihr inneres Selbst und ihre Freude, sondern schöpfte daraus auch eine grosse Kraft, um zu überleben, den Herausforderungen standzuhalten und sich selbst treu zu bleiben.
Aerni: Bewirkte Ihre erzählerische Hinwendung an Taeuber-Arp eine Veränderung in Ihrem Verhältnis zu ihr?
Boadella: Es vertiefte meine Beziehung zu ihr. Beim Schreiben über sie fühlte es sich so an, als würden wir uns in einem gemeinsamen Resonanzraum befinden. Wenn ich also die Entstehung eines Werkes von ihr beschrieb, versuchte ich in den Raum einzutauchen, aus dem heraus sie ihre Kunst erschuf. Was mir bei der Arbeit am Buch besonders bewusst wurde, ist ihre holistischer Weltsicht. Sophie hat ganzheitlich nach Schönheit gesucht. Mit Schönheit meine ich hier nicht etwas rein Visuelles, auch nichts Fertiges, sondern ein Handeln. Schönheit ist für Sophie ein Vollzug, ein Lebensbezug. Zudem findet in ihrer Arbeitsweise ein Ausscheidungsprozess von Überflüssigen und ein Einkreisungsprozess auf das Wesentliche statt – wie es in einem japanischen Lehrspruch heisst: Beschränke dich auf das Wesentliche, ohne die Poesie zu entfernen. Diese Einstellung hat mich sowohl für meine Arbeit als Schriftstellerin als auch als Psychotherapeutin beeinflusst.
Aerni: Sie selber stammen aus Basel und leben als Psychotherapeutin und Schriftstellerin in der Ostschweiz. Zudem studierten Sie Philosophie, Literatur und Kunstgeschichte. In welchen Bereichen finden Sie denn die Energie und Inspiration, um mit den Unabwägbarkeiten der Zeit umgehen zu können?
Boadella: Alle diese Bereiche inspirieren mich und vitalisieren meine Kreativität. Inspiration und Kreativität sind mein Schutz und geben mir Stabilität, denn sie verbinden mich mit meinen inneren Ressourcen. Ein Leitsatz auch von unserer psychotherapeutischen Arbeit ist: Anstelle von burn out: light up! Anstelle von Ausbrennen: aufleuchten lassen.
Aerni: Sie entwickelten zusammen mit Ihrem Ehemann David Boadella die psychotherapeutische Methode «Biosynthese». In den grossen Krisenjahren anfangs des 20. Jahrhunderts reagierten viele Kunstschaffende auf die Industrialisierung und den Nationalismus mit der Suche nach neuen Formen der Kunst und des Lebens, wenn wir an den Dadaismus oder an den Monte Verità denken. Wie sehen Sie heute die Kraft der Kunst als Kontrastmittel zur jetzigen Gesellschaft?
Boadella: Die Kunst hat die Fähigkeit, eine Gegenwelt zu bestehenden Verhältnissen aufzubauen, sei dies zu allgemeinen Gesellschaftsformen oder zu persönlichen Lebensweisen. Insofern wohnt ihr eine subversive Kraft inne, die das Bewusstsein für Missverhältnisse schärft und dadurch Veränderung anregen kann – heute auch gerade in Bezug auf die zunehmende „Instrumentalisierung“ von Mensch und Welt. Ich habe dies in meinem Buch „Erinnerung als Veränderung“ ausgeführt.
Aerni: Wenn Sie die Chance hätten, Ihrer Grosstante Sophie Taeuber-Arp eine Frage stellen zu können, wie würde sie lauten?
Boadella: Sophie, du bist durch deinen Unfalltod – einer Kohlenmonoxyd-Vergiftung – mitten aus deinem Leben und deinem künstlerischen Schaffen herausgerissen worden. Würdest du es trotzdem als erfüllt anschauen? Wie würde ein Neubeginn in der jetzigen Zeit für dich aussehen, als Frau und als Künstlerin?
Das Buch: «Sophie Taeuber-Arp – Ein Leben für die Kunst» von Silvia Boadella, zweisprachige Ausgabe (Englisch – Deutsch) 224 Seiten mit 80 Abbildungen, Skira Verlag Mailand, ISBN 978-88-572-4332-0, 2021
Silvia Boadella ist die Grossnichte von Sophie Taeuber-Arp, wurde 1948 geboren und lebt heute als Psychotherapeutin und Schriftstellerin in Heiden. Nach dem Studium der Philosophie, Literatur, Psychologie und Kunstgeschichte in Basel promovierte sie in Philosophie an der Universität Tübingen. Sie war Gastprofessorin an der Universität Kanazawa in Japan und lehrte Philosophie am Goethe-Institut in Neu-Delhi. Seit 1985 leitet sie zusammen mit ihrem Ehemann David Boadella das internationale Institut für Biosynthese in Heiden. 2014 erschien von ihr der Roman «Die tragende Haut».
In seinem neuen Buch setzte der Philosoph Martin Kunz den Untertitel: «Philosophische und andere Notizen in einem merkwürdigen Jahr». Was machte die Pandemiezeit mit einem Philosophen und wie könnte der Alltag eine neue Qualität erhalten?
Urs Heinz Aerni: Ich beginne mit einem Zitat: «Vom Einzelnen wird Autonomie verlangt, diese ist aber im Grunde eine Bürde». Wissen Sie, wo ich diesen Satz las?
Martin Kunz: Alle, die über Autonomie nachdenken, kommen darauf zu sprechen, dass sie, also die Konkretisierung der Freiheit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, eine Aufgabe ist und nicht einfach ein Geschenk. Autonom bin ich, wenn ich den Willen habe zu wollen. Das heisst, ich muss nachdenken können, und zwar so, dass schliesslich das, was ich will, handlungsleitend wird. Aber nun zu Ihrer Frage. Ich habe das so oder ähnlich sicher in einem meiner Essays geschrieben.
Aerni: Dieser Satz findet sich auf Seite 55 in Ihrem Buch «Die stille Erotik der Melancholie». Ich komme auf dieses Buch zurück. Doch nun zu diesem hier vorliegenden, das ja mitten in eine Zeit hinein oder aus ihr heraus geschrieben worden ist, in der die Frage nach Freiheit und Autonomie eine zusätzliche Brisanz bekommt. Das Buch enthält aber durchaus auch Notate, wie «Was koche ich für Vera?». Es scheint, dass Alltagsfragen wie diese, durch die Pandemiekrise geadelt werden. Weisst du noch, was du ihr dann gekocht hast?
Kunz: Ich erinnere mich nicht. Wahrscheinlich gab‘s zwei Gänge, etwas Vegetarisches und dann vielleicht einen Fisch. Sie sagen es übrigen sehr eindrücklich: Alltagsfragen werden in einer solchen Krise geadelt. Viele Verrichtungen habe ich bewusster ausgeführt. Das scheinbar Unwichtige erhält einen besonderen Glanz.
Aerni: Auch in diesem Buch hier reflektieren Sie über Ihre Existenz – mit Fragen und Gedankenspielen. Die letzten Bücher sind entstanden in Zeiten, in denen die Welt pulsierte: mit Events, Kinos, offenen Konzerthäusern und Theatern. Könnte es sein, dass Ihre Zurückgeworfenheit in die eigenen vier Wände mit Tätigkeiten wie Entkalken der Kaffeemaschine das Schreiben gelähmt hat? Oder war es für Sie eine Art Rettung?
Kunz: Das Warten der Kaffeemaschine habe ich gewissermassen zelebriert. Wenn die Grossräume des Heiligen, also Kirchen, Kinos und Wellnesstempel, geschlossen sind, stellt sich die Frage, ob andere seelische Verdichtungen bzw. Öffnungen gefunden werden können. Vielleicht eben Würdigungen des Nebensächlichen. Als es hiess ‹Bleibt zu Hause›, habe ich zunächst gedacht, dass ich ja nun etwas Grösseres anpacken könnte, ein Buch über den utopischen Aspekt der Romantik zum Beispiel.
Aerni: Da höre ich nun das berühmte «Aber»…
Kunz: Genau … Ich habe dann eben gemerkt, dass ich energetisch dazu nicht in der Lage war, und kam deshalb aufs Tagebuchschreiben wie viele andere ja auch. Es wurde für mich existentiell wichtig. Man könnte geradezu sagen, dass das Tagebuchschreiben Ausdruck der Suche nach Selbstbestimmung ist. Ich schreibe, also bin ich im Quadrat. Dazu kommt noch das Klavierspielen, künstlerische Arbeit und die Kunst des alltäglichen Tuns. Deshalb schreibe ich auch übers Essen, über Liebesgefühle und nicht nur über die Kopfarbeit. Interessant dabei auch die Frage, worüber ich nicht schreibe …
Aerni: … was vielleicht durch das Lesen erahnt werden könnte…
Kunz: Auch habe ich mich Immer wieder gefragt, wie andere Alleinlebende, denen all das nicht zur Verfügung steht, mit der Situation umgehen. Ich bin in dieser Hinsicht privilegiert.
Aerni: Ob es Ihr persönlichstes Buch von allen ist, sei hier mal offengelassen, aber wir erfahren zwischen den Zeilen allerhand über Ihre inneren Konflikte und Sehnsüchte. Gab es auch Momente, in denen Sie die Philosophie und die Kunst als gescheiterte Stützen empfandest?
Kunz: Noch in der ärmlichsten Hütte wird sich ein Väschen mit einem Zweig, die Figur einer Gottheit oder ein einfaches Spielzeug finden. Genau dies, Anteil zu haben am Reich des Ästhetischen, der Phantasie, des Sakralen, trägt hindurch. Fragen zu stellen, Gedankenreichtum, Spiel, Schönheit und die Erfahrung von Sprengendem, von etwas, das uns aus unserem Weltimmanenzgefängnis hinausschauen lässt, das hilft. Und es ist kein Widerspruch zum Gedanken der Nobilitierung des Alltags. All dies mit Fragezeichen. Mich beflügelt`s. Meistens.
Aerni: «Weltimmanenzgefängnis», ein Wort, das man sich auf der Zunge zergehen lassen muss. Wir erleben hier, bei der Lektüre, nicht nur eine Reise durch Ihre Gedanken, sondern erfahren auch, was Sie gelesen haben. Befanden sich darunter Titel oder Texte, die Sie als Gewinn empfunden haben oder die Sie vielleicht enttäuscht haben?
Kunz: Enttäuscht haben mich jene Intellektuellen, die vorschnell wissen, wie alles ist, es besser wissen als die Experten, die in der Regel bescheiden sind. Schreibende, die zu Kurzschlüssen neigen, mag ich nicht besonders. Ein Kurzschluss ist das Ergebnis eines Zusammenbruchs der Spannung zwischen zwei Schaltungspunkten mit verschiedenem Potential. Oder anders gesagt: Wem der Doppelblick mangelt, der denkt nicht.
Aerni: Zum Glück gibt es auch noch andere Geister…
Kunz: In der Tat, ich bin bewegt worden durch Philosophen, die letztlich angetrieben sind vom Versuch, «alle Dinge so zu betrachten, wie sie sich vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten» – so Adorno. Immer wieder hat mich da auch der Philosoph Ernst Bloch vereinnahmt mit seiner Utopie des transzendenzlosen Transzendierens. Jetzt verwende ich wohl wieder eine etwas strapazierende Formel. Nun ja, Philosophen sind in den Fragen der seelisch-geistigen Vertikalspannung manchmal mutiger als Theologen.
Aerni: Und die Kunst am Text, sprich Literatur?
Kunz: Philosophisches zu lesen genügt mir, wie Sie ahnen, noch nicht. Hölderlin, Trakl, Celan – Poesie, gehört dazu. Auch eigene Versuche. Und Klavier zu spielen, mich mit Kunst auseinanderzusetzen und nach dem Göttlichen zu fragen, unabhängig davon, ob es dieses gibt. All dies hat, wie schon erwähnt, rettende Kraft. Und ich habe es nie ganz aufgegeben, Menschen zu treffen. Zu spüren, dass es Menschen gibt, die uns mögen, ist lebenswichtig. Es gibt keine Kunst des Seins ohne Mitsein.
Aerni: Was hat Sie mehr verändert, die zwei Lockdowns, das Leben auf Halbmast oder das Schreiben dieses Textes?
Kunz: Wir stecken ja noch ziemlich in der Krise. Zurzeit sind meine Gedanken gerade dort, wo Menschen ins Elend gestürzt werden; bei den Kindern – es sind weltweit schätzungsweise eine halbe Milliarde, die nicht zur Schule gehen dürfen; bei den Mädchen, die statt sich emanzipieren zu können, ungewollt schwanger werden …
Aerni: Ein gewaltiges Thema, das uns wohl noch lange beschäftigen wird. Währenddessen verbeissen sich viele Flachdenker in festgezurrte Thesen und Weltbilder…
Kunz: Nun, wir denken immer lokal, schauen auf die Entwicklung der Zahlen bei uns, jammern, wenn wir nicht shoppen gehen können und die Bars geschlossen sind. Einzelne verrennen sich da gedanklich, kommen auf abstruse Behauptungen. «Scheinmeinungen» nannte das ein Vorsokratiker. Wir wissen leider nicht genau, welcher Umgang mit der Krise wirklich gut wäre. Und ich verstehe, dass es schwierig ist, Nichtwissen auszuhalten.
Aerni: Zudem wurde auch unsere Endlichkeit wieder mehr ins Bewusstsein gerückt.
Kunz: Sie sagen es. Ich denke über den Tod nach, ohne da sehr weit zu kommen. Und ich bin selbstverständlich besorgt, was die rettenden Massnahmen in unserer Gesellschaft für Schäden hinterlassen werden, ökonomische, soziale, psychische. Und ja, philosophisch stellt sich die Frage der Autonomie durchaus, um nochmals auf diese Frage zurückzukommen. Darf und soll «der Staat», den wir unversehens als strenges Gegenüber wahrnehmen, derart eingreifen in unsere Lebenswirklichkeit?
Aerni: Lassen Sie mich auf die Frage zurückkommen…
Kunz: Was mich verändert habe?
Aerni: Ja genau.
Kunz: Stellen Sie mir die Frage in ein paar Jahren nochmals.
Aerni: Sehr gerne. Das Lesen dieses Textes führte mich bei aller Neugier auf Ihre persönlichen Erlebnisse auch hin zum Mitdenken über Hegel, Adorno usw., aber auch in Phasen der Rat- ja sogar Hilflosigkeit bin ich geraten, bis hin zur Melancholie. Ich denke an Ihr bereits erwähntes Buch «Die stille Erotik der Melancholie». Hand aufs Herz, wie viel Erotik steckt nach diesem Jahr noch in ihr?
Kunz: Wir sind wohl nicht fürs Alleinsein vorgesehen. Etwas drängt zum Leben in einem Stamm, in einer Sippe, einer Gruppe und seit noch nicht langer Zeit zur Dialektik in einer Zweierkiste. Ich halte es aber für eine gute Übung, sich dem Alleinsein auszusetzen. Komme ich in ein weiterführendes Gespräch mit mir? Oder gerate ich in die Seelenwüste der Einsamkeit? In einem meiner Bücher
Aerni: … im «Wider die Selbstvergessenheit» …
Kunz: Genau, da habe ich ja nachgedacht über die sogenannte Individuation, also den Imperativ Werde, der du bist. Werde die, die du bist. Damit ist gemeint, den Weg der Schatten-Erkenntnis und Ichdistanzierung zu gehen, was der Ganzwerdung dient. Wir müssten wieder ernstnehmen, was Seele ist: das Medium, durch das sich etwas zeigt, was nicht meiner Wenigkeit zu verdanken ist. Trotzdem: Nur für den mystischen Menschen ist Einsamsein Eins-Sein. Einsam kann man sich übrigens auch mitten unter Menschen fühlen.
Aerni: Und für mich als Nichtmystiker?
Kunz: Ungewollte soziale Isolation ist keineswegs mehr süsse Melancholie, darauf wollen Sie wohl hinaus, sondern kann krank machen. Sprachlich und gedanklich unsorgfältig hat man uns soziale Distanz empfohlen.
Aerni: Irgendwo karikieren Sie «Freunde», die nur über sich selber reden, aber sich nie nach der Befindlichkeit des Gegenübers erkundigen. Nun, welche Fragen würden Sie den Leserinnen und Lesern dieses Buches gerne stellen wollen?
Kunz: Das will ich so abstrakt gar nicht beantworten. Ich käme gerne ins Gespräch mit einzelnen Lesenden. Und dieses Gespräch würde sich abhängig vom jeweils entstehenden Resonanzraum ganz anders entfalten.
Aerni: Trotzdem…
Kunz: Ja, um Ihrer Frage doch noch gerecht zu werden: Mich würde interessieren, welche Passagen beeindruckt, irritiert, geärgert, zum Staunen bewegt oder zu was auch immer angeregt haben.
Aerni: Danke, Martin Kunz, bleiben wir im Austausch. Über die fragile Freiheit, über das, was wir wollen und können. Unser Leben und unsere Welt befinden sich im Kippzustand, um so wichtiger bleiben das Lächeln und die Gelassenheit als unsere Stützen, und Bücher, wie dieses hier.
Martin Kunz studierte Philosophie, anthropologische Psychologie, Pädagogik und deutsche Literatur in Zürich und Berlin. Ferner studierte er am Konservatorium und an Kunstschulen und liess sich zum analytisch orientierten gestaltenden Psychotherapeuten ausbilden. Er war Professor an der Pädagogischen Hochschule in Zürich. Heute führt er am Rande des Zivilisationslärms ein Atelier für Kunst und Philosophie in Zürich. Publikationen (Auswahl): «Honig und Quarz. Lyrik und philosophische Zuspitzungen» (2017), «Die stille Erotik der Melancholie» mit Bildern von Jeanine Osborne (2018), «Wider die Selbstvergessenheit»(2020).