Urs Heinz Aerni «Lugano – Konstanz», Edition Baes

Die Schweizer Literatur ist ein einziges Kleinod! Für die Abrundung dieser Würdigung braucht es dann noch die Begriffe pingelig, verschmitzt-kindlich und unschuldig-intellektuell. Die ideale Erzählposition für die Schweizer Literatur ist immer noch das Traumpaar Heidi-Oheim. Die eine fragt klug, und der andere antwortet altklug. 

Gastbeitrag
von Helmut Schönauer, Innsbruck

Urs Heinz Aerni ist ein Buchbesessener, der mit Händen und Füssen Themen zusammenträgt, um daraus ein Buch zusammenzustellen. Seine Genre-Beschreibung für dieses Tun nennt er «eine Art Feuilleton oder Sammelsurium als Buch». Da Literatur zudem überall auftreten kann, wird man ihrer nur Herr, wenn man mit ihr eine Lesereise plant. «Lugano – Konstanz» ist also eine Art Fahrplan für Lektüre. Aufregend, dass dabei das stille Leseörtchen Innsbruck dabei ist.

Einem Buchfan macht es nichts aus, wenn man die angebotenen Bücher mit starken Wörtern auffrisiert, ja selbst das Klischee nimmt er in Kauf, wenn dadurch jemand ins Innere eines Buches gelockt werden kann. Auch hier gilt die kluge Schweizer Tugend: Promotion darf wie ein Schweizermesser alles, wenn dadurch ein überdimensioniertes Ganzes in menschlich kleine Portionen zerlegt werden kann.

Urs Heinz Aerni hat gewissermassen eine eigene Literaturform erfunden. Es handelt sich dabei um einen essayistischen Kurzimpuls, der verlässlich in einen Buchtipp mündet. «Wann immer der Vortragende vorne den Mund aufmacht, kommt hinten ein Buch heraus», lachen die Kenner seiner Vorgehensweise.

Urs Heinz Aerni «Lugano – Konstanz. Mit Umwegen nach Innsbruck, Lenzerheide, Nonnenhorn und…», 2020, 154 Seiten. EUR 14.90, ISBN 978-3-9504833-3-8.

Öffentliches Telefonieren, Gespräche bei einer Zugspanne, Orientierungslosigkeit in einer Grossbuchhandlung, Nebenbemerkungen zu einem Jazzabend oder Suche nach einem verlorenen Buchstaben: Eine Begebenheit kann im Sinne Robert Walsers nicht klein genug sein, dass sich nicht daraus jene feine Stimmung komponieren liesse, mit der im Herbst ein Blatt zu Boden segelt. Diese ‘Verniedlichungsmethode’ hat den Vorteil, dass auch grosse Unglücke dadurch erträglich werden und Menschen unterschiedlichsten Charakters miteinander ins Gespräch kommen. Denn sollte der Diskurs nicht in Gang kommen, ist bei der Kleinheit des Themas nichts verloren.

Mit diesem Denkansatz unterscheidet sich der Autor vehement von den germanistischen Grossanalysten, die immer erst eine Stunde lang Hegel oder Heidegger zitieren, ehe dann daraus ein Sprachproblem herausgefiltert wird, dass verlässlich nichts mit der Menschheit zu tun hat.
Innsbruck kommt durch diese Zuneigung des Büchernarren zu einer Würdigung, die seiner intellektuellen Grösse entspricht. Der Autor zitiert nämlich: «Soeben komme ich zurück aus Innsbruck!» Dann hört man nichts mehr von der Stadt. Es wirkt, als sei der Autor froh, daraus entflohen zu sein, um wieder etwas Vernünftiges denken zu können. «Digitales Grüssen» etwa, mit passendem Buchtipp.

An seine Grenzen kommt der Schweizer Allrounder freilich, als er dem Witz etwas Positives abgewinnen soll. Ein Buch namens «Soll das ein Witz sein?» bringt Aerni an den Rand des Gelächters. Er versucht, den Witz für die Schweiz zu retten, indem er ihn zur Kunst erklärt.
In einem Bonus-Track gibt es Ausschnitte aus früheren Archiven. Als ob Archive nicht immer früher angelegt sein müssten, die Zukunftsarchive wären nämlich für die Literaturbranche ziemlich harte Kost. Aus der Vergangenheit werden einige Interviews hervorgeholt, worin die  längst verstummten Autoren um die Jahrhundertwende herum noch einmal eine Stimme kriegen, ehe dann der hintere Buchdeckel kommt und alles verstummen lässt.

«Aerni: So sitze ich nun mit zwei Dinosauriern hier am Tisch. Thomas Hettche: Dass Sie hier so ein Gespräch aufzeichnen, das länger als zwei Minuten dauert, qualifiziert Sie auch als Dinosaurier.» Schreiben als Verlangsamung des Lebens!
Und die finale Erkenntnis des Urs Heinz Aerni: Bücher, die nicht gelesen werden, sind so, wie wenn sie nicht da wären.

Helmut Schönauer wurde 1953 geboren und lebt heute als Autor und Dramatiker in Innsbruck. 

Beitragsbild © Jacqueline Aerni-Sanfratello

Peter Bichsel im Gespräch mit Sieglinde Geisel «Was wäre, wenn?», Kampa

Heute feiert Peter Bichsel, der «Grand Old Man der Schweizer Literatur», seinen 85. Geburtstag. Alle, die lesen, gratulieren! Alle, die nicht lesen, haben zu viele Geschenke versäumt. Aber die Tür ist nicht zugeschlagen. Wer das Buch von Sieglinde Geisel liest, das sich ganz eng an die aufgezeichneten Gespräche mit Peter Bichsel hält, betritt den feinen, klugen und mit viel Leidenschaft besetzten Kosmos eines grossen Schriftstellers, der sich seines Erfolgs beinah zu schämen scheint.

Man sieht ihn jedes Jahr an den Solothurner Literaturtagen. Kein Wunder, seine Schreibstube ist in unmittelbarer Nähe und sein Stammlokal in Solothurn für die Dauer der Literaturtage der heimliche Mittelpunkt des Geschehens. Kein Wunder, denn Peter Bichsel ist einer der Gründerväter der Solothurner Literaturtage, die seit 1979 alljährlich stattfinden. Wenn man ihn bei schönem Wetter auf den Bänken vor dem «Kreuz» sitzen sieht, dann ist es ein Familientreffen. All die Kinder und Kindeskinder der Literatur scharen sich um den Dichterfürsten, der einem wie kein anderer das Gefühl gibt, dass Literatur Leben ist, dass Literatur Politik ist, dass Literatur Schule ist, dass Literatur Genuss ist, dass Literatur Gemeinschaft bedeutet, auch wenn Schreiben und Lesen meist Tätigkeiten der Stille und Zurückgezogenheit sind.

«Gute Geschichten sind immer tröstlich.»

Sieglinde Geisels Buch «Was wäre, wenn?» ist das Resultat vieler Gespräche zusammen mit Peter Bichsel, in seinem Arbeitszimmer in der Solothurner Altstadt oder bei Peter Bichsel zuhause. Sorgfältig transkribiert, aufgelockert mit Anekdoten. Und genau diese Nähe macht den Wert dieses Buches aus. Wer Peter Bichsel kennt, hört den Sound seiner nasalen Stimme, darf sich als schweigender Zuhörer mit an den Tisch setzen. Wer Peter Bichsel nicht kennt, dem offenbart sich ein Schriftsteller, dessen Kunst sich durch sein ganzes Wesen zieht, sein Denken, seinen Blick. Dem offenbaren sich die Gründe, warum es Peter Bichsel gelungen ist, sich in den Jahrzehnten als Kolumnist und Geschichtenschreiber ins Bewusstsein einer ganzen Nation geschrieben zu haben. Nicht mit beissender Kritik, nicht mit scharfer Zunge, nicht mit Intellekt und dem Bewusstsein dem grossen Rest der Welt etwas voraus zu haben, sondern mit «urschweizerischer» Bescheidenheit, klugem Witz, träfem Schalk und in vielen Bereichen fast kindlicher Unvoreingenommenheit.

«Lesen ist nicht nützlich, und Schreiben ist auch nicht nützlich.»

Peter Bichsel schafft, was kaum einem Autor sonst gelingt. Obwohl er seit Jahren von sich sagt, er habe das Schreiben aufgegeben, erscheint bei Suhrkamp ein dickes Buch («Auch der Esel hat eine Seele – Frühe Texte und Kolumnen 1963-1971«) und bei Kampa dieses wunderbare Gesprächsporträt. Man wird ihn mit Recht feiern als einer der Grossen der deutschsprachigen Literatur, obwohl er von sich selbst sagt, er sei mehr Sentimentalist als Schriftsteller und: «Ich schreibe, weil ich es nicht kann. Schreiben hat mit Können nichts zu tun, es ist ein andauerndes Umgehen mit dem Nicht-Können.» Eine Aussage, die nichts mit Koketterie zu tun hat, sondern damit, dass Peter Bichsels Schreiben nie Selbstzweck oder Resultat von Selbstliebe und Selbstverzückung war, sondern Resultat einer unmittelbaren Auseinandersetzung.

«Einsam ist man, wenn am keine Geschichten mehr zu erzählen hat.»

Ich habe schon oft den Geschichten des bescheidenen Meisters gelauscht. Einmal besuchte ich eine Lesung im Literaturhaus Thurgau. Der Raum im Dachgeschoss war bis in den letzten Winkel gefüllt, das Publikum erstaunlich gemischt. Meine jüngste Tochter, damals noch nicht zwanzig, begleitete mich, weil ich ihr kurz zuvor ein Buch von ihm geschenkt hatte. Sie ging nach der Lesung zusammen mit mir nach vorne an den Tisch, an dem er fast bewegungslos gelesen hatte, in der Hoffnung, er würde uns unsere Bücher signieren. Und weil Peter Bichsel Peter Bichsel ist, schaute er meine Tochter erst eine Weile an, um dann, nach der Bemerkung, ob das Buch denn wert genug sei, es durch sein Gekritzel zu verschandeln, sich mit aller Sorgfalt an seine Signatur zu machen, eine die seit Jahrzehnten immer gleich aussieht, vielleicht wie eine Blume – eben ein Geschenk!

Ich gratuliere Peter Bichsel von ganzem Herzen. Nicht für die 85 Lebensjahre, sondern für die vielen Geschenke, die er in diesen Jahren machte, mir dem grossen Bewunderer und allen, denen Peter Bichsel zur Identifikationsfigur wurde, auch darum, weil in seinem Tun, in seinem Schreiben immer eine Portion Subversivität mitschwingt. DANKE!

«Jedes Erzählen ist eine Bitte um Geliebtwerden.»

Sieglinde Geisel, 1965 in Rüti im Kanton Zürich geboren, lebt als Kulturjournalistin in Berlin. Sie arbeitet u. a. für Deutschlandfunk Kultur, NZZ am Sonntag, WOZ, Süddeutsche Zeitung und ist Dozentin für Schreibwerkstätten (Freie Universität Berlin, Universität St. Gallen). 2016 hat sie das Online-Literaturmagazin tell (www.tell-review.de) gegründet. Buchveröffentlichungen: «Irrfahrer und Weltenbummler. Wie das Reisen uns verändert» (2008), «Nur im Weltall ist es wirklich still. Vom Lärm und der Sehnsucht nach Stille» (2010).

Webseite Sieglinde Geisel

Beitragsbild © Lea Frei

Éric Vuillard «14. Juli», Matthes und Seitz

14. Juli: Frankreich feiert seinen Nationalfeiertag mit Paraden, Glanz und Glorie, mit viel Militär, gibt sich macht- und selbstbewusst. Dabei war der 14. Juli 1789 genau das Gegenteil; der Untergang der Aristokratie, jener Kulminationspunkt, der mit dem Sturm auf die Bastille gipfelte und erst im in der Folge das werden liess, was sich heute Französische Revolution nennt.

Am 15. April dieses Jahres brannte Notre Dame in Paris und die ganze Welt schien den Atem anzuhalten. Am 14. Juli vor 240 Jahren brannte die Bastille, ein Bollwerk königlicher Macht. Nicht durch einen unglücklichen Umstand, sondern weil sich ein überschäumender Strom von Menschen durch die Strassen von Paris wälzte, hungrig, zornig, aufgeladen, mit der Absicht, keinen Stein auf dem andern zu lassen, schon gar nicht jene Steine, die die Massen hungern liessen, während der Adel sich hinter Mauern verlustierte. Frankreich war hoffnungslos verschuldet, der Staat drohte, sich mit wehenden Fahnen in den Bankrott zu reiten, während man die Löhne jener Arbeiter kürzte, denen das Geld so schon nicht mehr zum Leben reichte.

Während sich der Hof in Versailles, dieser Moloch aus gepuderten Günstlingen, Zubringern, Dienstboten, Glückssuchern, Profiteuren und Gaunern ganz dem Moment hingab und sich der Monarch in Gottes Gnaden suhlte, kochte und brodelte in der unkontrolliert gewachsenen Grossstadt Paris, damals wahrscheinlich eine der grössten Städte der Welt, das Volk. Versailles, heute strahlende Sehenswürdigkeit, mit seiner ebenso pompösen wie monströsen Infrastruktur war nicht nur riesiges Macht- und Kulturzentrum, sondern ein Abgrund, in dem sich Biographien verloren, Menschen verschwanden, die Dekadenz wilde Feste feierte und Reichtum und Armut Wand an Wand existierten.

Éric Vuillard schildert diesen einen Tag, schrieb mit «14. Juli» ein literarisches Denkmal. Nicht für Frankreich, keine Kulisse für die Paraden auf den Champs-Élysées, nicht für die wieder erstarkte Aristokratie, nicht für Eliten und Prominenz, sondern für all jene, die auch nach diesem Buch, trotz aller Geschichtsschreibung namenlos bleiben, die sich in der Verzweiflung über ein Leben ohne Perspektive mitreissen liessen, die Spiesse, rostige Scheren, Stuhlbeine und Mistgabeln mitnahmen, um ihrem grenzenlosen Unmut Luft zu verschaffen.

Éric Vuillard kann etwas, was ganz eigen ist. Er schreibt Literatur, die Geschichte zum Angelpunkt macht. Obwohl er sich chronologisch an die Geschehnisse jenes Tages hält, ist sein Blick weder wissenschaftlich noch historisch. Er widmet sich jenem Tag, dem Moment, als Tausende starben, unschuldig, im falschen Moment am falschen Ort, als das Chaos die Monarchie zum Sturz brachte, unsägliches Kulturgut ein Raub der blanken Zerstörungswut, die Anarchie der Beginn einer neuen Zeitrechnung wurde. Éric Vuillard beschreibt meisterhaft, mit welch kümmerlicher Arroganz sich die herrschende Elite dem aufgewühlten und euphorischen Mob entgegenstellte und bis zuletzt glaubte, man könne die Revolution mit einem weissen Spitzentaschentuch, Verhandlungen und militärischer Macht aufhalten oder wenigstens in kontrollierbare Bahnen lenken.

Der Autor glorifiziert nichts und niemanden, nicht einmal jene, die aus dem Moment zu «Helden» wurden. Éric Vuillard malt mit starken Farben, kraftvollen Sätzen und einer Eindringlichkeit, die mich als Leser bis ins Mark erschüttert. Was damals geschah, geschieht immer wieder. Weit weg in Venezuela und latent mit gelben Westen ganz nah. «14. Juli» ist perfekter Geschichtsunterricht!

© Melania Avanzato

Éric Vuillard, 1968 in Lyon geboren, ist Schriftsteller und Regisseur. Für seine Bücher, in denen er grosse Momente der Geschichte neu erzählt und damit ein eigenes Genre begründet, wurde er u. a. mit dem Prix de l’Inaperçu und dem Franz-Hessel-Preis ausgezeichnet. 2017 bekam er für «Die Tagesordnung» den renommierten Prix Goncourt.
Nicola Denis, 1972 geboren, arbeitet als freie Übersetzerin im Westen Frankreichs. Sie wurde mit einer Arbeit zur Übersetzungsgeschichte promoviert. Für Matthes & Seitz Berlin übersetzte sie u. a. Werke von Alexandre Dumas, Honoré de Balzac, Pierre Mac Orlan und Philippe Muray.

Michael Köhlmeier «Erwarten Sie nicht, dass ich mich dumm stelle», dtv

Am 5. Mai 2018 hielt der Schriftsteller Michael Köhlmeier in der Wiener Hofburg eine Rede zum Holocaust-Gedenken. Eine Rede, die nur sechs Minuten dauerte und ebenso viel Applaus und Zustimmung erntete wie Kritik und Unterstellung. Genau das, was eine Rede soll, wenn sie nicht bloss mit freundlicher Zustimmung liebäugelt. Michael Köhlmeier traut sich, auch dann, wenn die Kritisierten vor ihm stehen.

Österreich wird von einer schwarz-blauen Regierung geführt, einem jugendlich scheinenden Kanzler, der sich mit dem FPÖ Vizekanzler Strache verbrüdert, der sich in keiner Weise schämt, antisemitisch und fremdenfeindlich aufzutreten. Strache sass mit anderen seiner «freiheitlichen» Partei im Publikum, als Michael Köhlmeier in sechs Minuten ruhig und gelassen einer Regierung die Leviten las, die Verantwortung und historisches Bewusstsein mit Füssen tritt, die mit Argumenten hantiert, mit denen vor 70 Jahren schon einmal die Massen in Wallung gebracht wurden.

Michael Köhlmeier tat es nicht als Intellektueller, sondern als schreibender, denkender und mitfühlender Bürger. Was er sagte, war keine Beschuldigung, keine Mutmassung, keine Interpretation, sondern Spiegel einer Ungeheuerlichkeit. Kein Wunder keifte die FPÖ, schimpfte die ÖVP und applaudierten Linke und Grüne. In Presse und sozialen Medien zeigten die sechs Minuten erstaunliche Resonanz, etwas, was Reden in heeren Hallen sonst nicht zu erreichen vermögen. Michael Köhlmeier tat es nicht als Polterer, sondern als einer, der in einem ganzen Leben und Wirken Empathie zur Lebensspur macht.

Ich lernte Michael Köhlmeier an einer Lesung zusammen mit seiner Frau Monika Helfer kennen, als sie aus ihrem gemeinsamen Buch «Der Mensch ist verschieden» lasen und erzählten. Das Schriftstellerpaar ist Sinnbild für Respekt und Menschenliebe. Ihre beiden Stimmen sind fein ziseliert, klar und bestimmt, spüren auf, was man unter Wahrhaftigkeit versteht. Sie tun, wie sie schreiben. Sie schrieben, wie sie leben.

In den in diesem Band gesammelten Reden schweift Michael Köhlmeier nicht ab. Er bleibt beim Erzählen; von dem Ort, an dem erlebt, den Menschen, die ihn begleiten, seiner Mutter, seiner Grossmutter. Er sieht im Kleinen das Grosse, schildert behutsam und ohne eine Spur von Arroganz. Er liebt seine Figuren, seine Welt, erst recht dann, wenn sie von Hetze, Ignoranz und Menschenfeindlichkeit bedroht sind. Michael Köhlmeiers Reden trösten, wie sie Zeugnis sind, dass der Mut nicht stirbt.

Reden gegen das Vergessen, mit einem Nachwort von Hanno Loewy
«Zum großen Bösen kamen die Menschen nie mit einem großen Schritt, sondern mit vielen kleinen, von denen jeder zu klein schien für eine große Empörung.»
Michael Köhlmeier

© Heike Bogenberger

Michael Köhlmeier wurde 1949 in Hard am Bodensee geboren und lebt heute in Hohenems/Vorarlberg. Er studierte Germanistik und Politologie in Marburg sowie Mathematik und Philosophie in Gießen und Frankfurt. Michael Köhlmeier schreibt Romane, Erzählungen, Hörspiele und Lieder und trat sehr erfolgreich als Erzähler antiker und heimischer Sagenstoffe und biblischer Geschichten auf. Er erhielt für seine Bücher zahlreiche Auszeichnungen, u.a. mit dem Rauriser Literaturpreis, dem Johann-Peter-Hebel-Preis, dem Manès-Sperber-Preis, dem Anton-Wildgans-Preis und dem Österreichischen Würdigungspreis für Literatur.

Fotos © Heike Bogenberger

Michael Köhlmeier mit «Das Mädchen mit dem Fingerhut» auf dem 30. Literaturblatt:

Perikles Monioudis «Robert Walser», Deutscher Kunstverlag

Robert Walser (1878 – 1956) ist unbestritten einer der Grossen in der Schweizer Literatur. Die Verehrung für ihn und sein Werk mag auch ein klein wenig im Wunsch nach Wiedergutmachung liegen einem Mann, einem Künstler gegenüber, den man zeitlebens nicht erkannte, dessen grosse Literatur sich nicht verkaufen liess, schon gar nicht in seinem Heimatland. Einem Mann gegenüber, der sich in der zweiten Hälfte seines Leben fast ganz in sich selbst zurückzog.

Robert Walser stirbt am Weihnachtstag 1956 78jährig auf einem einsamen Spaziergang im Schnee. Einsam. Fast vergessen. Obwohl er in renommierten deutschen Verlagen seine Romane («Fritz Kochers Aufsätze» bei Insel, «Geschwister Tanner», «Der Gehülfe» und «Jakob von Gunten» bei Cassirer) veröffentlichte, obwohl einmal Feuilletonist in fast allen grossen literarischen Zeitschriften, gelobt von Hermann Hesse und Franz Kafka, hatte man den stillen Schreiber fast vergessen.

Glücklicherweise besann man sich, wenn auch viel zu spät. Und dass es heute in Bern ein sehr umtriebiges Robert-Walser-Zentrum gibt, zeigt, wie gross, tiefgründig und vielgestalt der Kosmos Robert Walser ist. In seinem «geistigen Exil» in der Heilanstalten Waldau und schon zuvor in Bern begann Robert Walser winzig klein auf alle mögliche Zettel, Karten und Blätter zu schreiben. Seine «Mikrogramme» entstanden, die man erst nach dem Tod Robert Walsers ernst nahm; kleine Texte, Gedichte und ganze Romanentwürfe. Auch ein Zeichen seines Rückzugs, seiner Enttäuschung. Genauso wie seine Neigung, seine Schmerz mit Alkohol zuzudecken.

Robert Walser wuchs in der Enge des Kleinbürgertums in Biel auf, als siebtes von acht Kindern. Das Glück meinte es mit der Familie nicht gut; sozialer Abstieg, Sorgen um Sorgen, Depressionen der Geschwister, Selbstmord seines Bruders. Robert Walser wird Kommis (kaufmännischer Angestellter) in einer Bank, träumt von einer Schauspielerkarriere, die ihm versagt bleibt. Er beginnt zu schreiben. Sein erstes Buch erscheint im renommierten Insel Verlag in Berlin. Aber niemand kauft, niemand liest das Buch. Robert Walser verliert sich in der Grossstadt, kehrt zurück in die Enge eines Büros, schreibt weiter.

Robert Walser beginnt sich erst recht zurückzuziehen, als auch die weiteren Bücher nicht die erhoffte Aufmerksamkeit erreichen. Auch sein Beziehungsnetz ist klein und fragil. Sein Bruder Karl, der an den Bühnen Berlins ein gefragter Bühnenbildner, Maler und Illustrator wird, heiratet und scheint weniger Zeit zu haben. Frauenbekanntschaften sind schwierig. Alles Motive in seinen Texten.

Perikles Monioudis nähert sich mit viel Respekt und sehr behutsam der zerbrechlichen Figur Robert Walser, einer Figur, die sich in vielen seiner Lebensphasen allzu leicht dem heutigen Verständnis entzieht. Man spürt Monioudis› Verehrung für den grossen Schweizer, ohne dass er Robert Walser mit verklärtem Blick betrachten würde. Perikles Monioudis ruft in Erinnerung, was in einer Zeit, in der das Allerneuste das Neuste jagt, in der auch im Literaturgeschäft Sternchen viel zu schnell verblassen und man auf Klappentexten über Superlativen strauchelt, kaum mehr Platz hat: Da schrieb einer «Kleiner», der Grosses schuf, einer, den man übersah und überhörte.

Das Buch aus dem Deutschen Kunstverlag gehört zu einer ganzen Reihe überaus attraktiver Bände quer durch die Literatur: Marcel Proust, Else Lasker-Schüler, Selma Lagerlöf, Kurt Vonnegut… Ein idealer Einstieg oder Wiedereinstieg in die Werke grosser Literaten.

Robert Walser in Berlin, um 1907, © Keystone / Robert Walser-Stiftung Bern

Ein kleines Interview mit Perikles Monioudis:

In diesem Buch über Robert Walser wird nichts darüber verraten, warum gerade sie der sind, der dieses schreibt. Wie kam es dazu?
Ich wurde direkt vom Verlag angefragt, ganz ohne Agentur. Das Angebot ehrte mich, denn für die Reihe schreibt die Crème des deutschen Feuilletons. Für mich stand von Anfang an fest: ich verfasse keine sekundärwissenschaftliche Arbeit, sondern ich schreibe über Walser entlang dessen, was mich und alle anderen Literaten mit ihm verbindet, nämlich entlang des – wie ich es nenne – poetischen Instinkts. So habe ich Fakten zu Leben und Werk Walsers zum Teil gänzlich anders gewertet und gewürdigt als seine früheren Biografen, die erstens weit weg vom literarischen Schreiben als Lebensinhalt und Mittel der Lebensführung entfernt waren und zweitens Walser mangels anderer Möglichkeiten über ihren eigenen Kamm scherten, ihn also über ihre eigene Lebensauffassung sich zurechtschrieben und als armen, verkannten Tropf stilisierten. Dabei suchten sie Walser über weniger wichtige Momente wie etwa das vielzitierte Dienen zu fassen. Das ist kein guter Ansatz. Walser war zu seiner Berliner Zeit der bestvernetzte Schweizer Schriftsteller. Er war stolz – und er hatte jeden Grund dazu. Ich bin glücklich darüber, dass die Walser-Forschung heute neu aufblüht, junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Künstlerinnen und Künstler nehmen sich Walsers Leben und Werk wunderbar innovativ und substantiell an. Walser wird erstmals sehr breit gelesen – auch im Ausland, wie die vielen neuen Übersetzungen zeigen.

Was liegt ihnen ganz speziell an der Figur Robert Walser?
Er suchte den Erfolg in Berlin mit aller Kraft, aber er blieb ihm versagt. Er versuchte, sein Schicksal zu zwingen. Wir wissen aus der griechischen Tragödie, dass man das nicht tun sollte, man darf sein Schicksal nicht zwingen, denn die Strafe folgt auf dem Fuss. Spass beiseite: Walser ertrug es nicht, keinen Publikumserfolg zu haben, obwohl doch für praktisch alle massgeblichen Literaten und Kritiker seiner Zeit sein Talent unbestritten war. Er schämte sich, er machte sich unsichtbar, so peripher wie möglich, auch vor sich selbst. Alles, was er in Berlin und anschliessend – vor seinem literarischen Verstummen – in der Schweiz wollte, war ein Ort, an dem er schreiben konnte. Der Ort wechselte häufig. Viele halten das an sich für wichtig und veranstalten etwa in Bern Spaziergänge zu den Wohnungen Walsers. Das ist grober Unfug. Walser folgte seinem poetischen Instinkt, er war kein Zirkustier, das man über seine «Unstetigkeit» zu fassen und auszustellen versuchen sollte. Zum Glück ist da als Korrektiv das Walser-Zentrum in Bern, das auch vor Ort eine vorzügliche Arbeit leistet.

Robert Walser, Spaziergang in Gais, 16.4.1956 (Karfreitag)
Foto: Carl Seelig, © Keystone / Robert Walser-Stiftung Bern

Ich las das Buch von „Wanderungen mit Robert Walser“ von Carl Seelig wie die Bücher Robert Walser schon als Student. Ihre Wirkung war fast noch stärker als jene der Bücher von Hermann Hess. Was wäre mit Robert Walser und seinem Nachlass passiert, hätte es Carl Seelig nicht gegeben?
Walser wäre uns ohne Seelig bestimmt ein ganz dickes Buch mit sieben Siegeln statt wie heute ein etwas weniger dickes Buch mit sieben Siegeln geblieben. Sie dürfen dabei aber nicht vergessen, dass Walser alles dafür getan hat, ein solches zu sein. Er verwischte seine Spuren, setzte falsche, wollte seine Nachwelt narren. Das ist ihm – nicht nur zu Lebzeiten – auch geglückt.

Erinnern Sie sich an Ihre erste „Begegnung“ mit Robert Walser?
In der Kantonsschule brachte uns unser Deutschlehrer die Werke Walsers richtig nahe. Meine grüne Walser-Gesamtausgabe aus jener Zeit ist von Eintragungen übersäht … ich habe sie aufbewahrt. Daneben stehen Bände der ersten Walser-Gesamtausgabe aus dem Kossodo-Verlag. Ich hatte Helmut Kossodo, den Berliner Verleger mit Westschweizer Wohnsitz, in den frühen Neunzigerjahren kurz vor seinem Tod in Genf noch besuchen dürfen.

Perikles Monioudis, geboren 1966 in Glarus, hat rund zwanzig literarische Bücher veröffenticht, zuletzt die Romane «Frederick» (dtv Hardcover, 2016) und «Land» (dtv, 2017). Er wurde u.a. mit dem Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis, dem Preis des Schweizerischen Schriftstellerverbands und zuletzt mit dem Glarner Kulturpreis ausgezeichnet.

Ich danke ganz speziell dem Robert-Walser-Zentrum für die beiden von ihnen zur Verfügung gestellten Bilder!

Webseite von Perikles Monioudis

Robert Walser Zentrum

Ich danke Perikles Monioudis für das Interview.

Beitragsfoto © Keystone / Robert Walser-Stiftung

Catalin Dorian Florescu «Die Freiheit ist möglich», Residenz

«Wie kann man den Menschen befähigen, eine integrierte Persönlichkeit zu werden? Will er das überhaupt? Ist ihm der fragile Frieden, den er mit sich selbst für die Dauer seiner virtuellen Manipulationen geschlossen hat, nicht dienlicher?» Catalin Dorian Florescu hat keinen Ratgeber geschrieben, aber einen streitbaren Essayband darüber, was die unbegrenzten Möglichkeiten der virtuellen Vernetzung erreichen und verhindern. Und wer das Buch zum Anlass einer Diskussion lassen will, besuche die Hauslesung vom 1. September in Amriswil!

Ob uns die «Freiheit» vom Tier unterscheidet, scheint mir unsicher. Aber ich als Mensch hätte die Fähigkeit, mir durch mein Tun und Handeln, durch mein Denken und Fragen Freiheiten zu schaffen. Nutze ich diese Möglichkeit? Oder bin ich nicht längst ein fleissiger Knecht von Gesellschaft, Konsum, Politik, Medien und allgegenwärtiger Manipulation?

Nicht nur durch sein Studium der Psychologie, auch durch sein Sehen und Schreiben, «Schreiben und bewusst Leben, sind zwei Seiten der gleichen Medaille» formuliert Catalin Dorian Florescu Fragestellungen, die nachhallen, Aufforderungen zum Tun und Handeln, denen ich mich bei der Lektüre nicht selbstgefällig entziehen kann. Sei es im Umgang mit den modernen Medien, in der Art und Weise wie ich konsumiere, wie ich mich fortbewege, wie ich reise. Oder wie ich mich meinen Mitmenschen gegenüber verhalte.

Wie sehr uniformiere ich mich selbst in meinem Tun? Wie weit blende ich mich freiwillig in meiner Absicht ein Individuum zu werden, gehe den Verlockungen der virtuellen Welt auf den Leim? Bin ich einer derer, die Ökologie schätzen, aber einen grösseren, leistungsfähigeren Wagen kaufen? Bin ich gegen soziale Missstände, kaufe aber gerne bei Zalando und Amazon? Bin ich kritisch und skeptisch der Politik gegenüber, mache mich aber nicht auf, bei Wahlen und Abstimmungen mein Papier einzuwerfen?

Wir laufen Populisten mit wehenden Fahnen in ihre offenen Arme, sei es in der Schweiz, in Deutschland oder Österreich. Populisten ködern uns mit einfachen Antworten auf schwierige Fragen und Herausforderungen. Ob es bei diesen genügt, sich in eine kindliche Trotzhaltung zu begeben, sich abzugrenzen, abzuschotten, ist mehr als hinderlich bei der wirklichen Bewältigung anstehender Probleme.

Warum akzeptieren wir, dass wir die Welt, die uns die Werbung als Ziel vor Augen setzt, in der Roger Federer lässig seinen Kaffee schlürft und uns die Geissens die Welt erklären, nie erreichen werden, dass wir uns allerhöchstens den Billigurlaub an einem Strand in der Türkei leisten können. Von Genuss keine Spur, denn die permanente Angst vor dem Verlust der eigenen Sicherheit, der Arbeit oder Gesundheit lähmt uns viel zu sehr. Warum grassieren Depressionen, Burnouts und Selbsttötungen in einer Gesellschaft, die doch so perfekt ist? Warum liefern wir uns bei Erklärungen der Welt dem Einfachen und Polaren aus, statt zu akzeptieren, dass es schwierig ist, dass es Bewegung, Handeln, Erwachen braucht, um den tatsächlichen Problemen der modernen Gesellschaft entgegenzutreten?

Catalin Dorian Florescu stellt die Fragen, die es braucht. Er stellt sie mutig und genau. Er reisst die Kulissen herunter, die uns die Sicht verstellen, geht mit seinen Fragen so nahe ran, dass es zuweilen weh tut, wenn diese einem zur Reflexion zwingen. «Die Freiheit ist möglich» liest sich leicht, provoziert und verliert sich nicht in wissenschaftlichen, philosophischen oder gesellschaftlichen Erklärungen. Florescu hat es nicht nötig, seine Glaubwürdigkeit zu demonstrieren, denn was er schreibt, ist erlebt.

Catalin Dorian Florescu, geboren 1967 in Timisoara, Rumänien. 1982 Flucht mit den Eltern in den Westen, lebt seitdem in Zürich. Studium der Psychologie und Psychopathologie an der Universität Zürich, 1995–2001 Arbeit als Psychologe in einem Rehabilitationszentrum fur Drogenabhängige, Weiterbildung in Gestalttherapie, seit 2001 freier Schriftsteller. Zahlreiche Stipendien und Preise, u. a. Anna Seghers-Preis 2003, Schweizer Buchpreis 2011, Joseph von Eichendorff-Literaturpreis 2012. Veröffentlichungen u. a.: „Zaira“ (2008), „Jacob beschließt zu lieben“ (2011), „Der Mann, der das Glück bringt“ (2016), „Der Nabel der Welt“ (Erzählungen, 2017). Zuletzt erschienen: «Die Freiheit ist möglich. Über Verantwortung, Lebenssinn und Glück in unserer Zeit» (2018).

In der Reihe unserer Hauslesungen an der St. Gallerstrasse 21, in 8580 Amriswil, liest Catalin Dorian Florescu am 1. September 2018 aus seinem Erzählband «Der Nabel der Welt» und dem Essayband «Die Freiheit ist möglich». Die Veranstaltung beginnt um 11 Uhr. Eine Anmeldung ist unbedingt erforderlich (info@literaturblatt.ch)! Eine einmalige Gelegenheit mit dem Schriftsteller und Schweizer Buchpreisträger in Kontakt zu kommen. Ein Büchertisch ist organisiert. Weitere Informationen hier.

Webseite des Autors

Beitragsbild: Sandra Kottonau

Alice Piciocchi und Andrea Angeli „Kiribati“, Sieveking Verlag

Kiribati ist ein Inselstaat in Pazifischen Ozean, kleine Punkte im weiten Blau am Rande der Weltkarte. Experten gehen davon aus, dass Kiribati als Folge der Klimaerwärmung in nicht allzu langer Zeit im Meer versinken wird. Grund genug für einen Zeichner und eine Texterin, uns auf eine ganz besondere Reise mitzunehmen.

Einst ging man auf Entdeckungsreise, um fremde Länder, unbekannte Gebiete zu entdecken und zu erforschen. Alice Piciocchi und Andrea Angeli tun es, um uns eine Tatsache in Erinnerung zu rufen. Auch wenn es kein literarischer Text ist und
und man in der Einleitung zum Buch den erhobenen Zeigefinger spürt – in diesem Buch spricht Leidenschaft und grosse Empathie für ein Volk, dem eine Massenumsiedlung droht. Anote Tong, der Präsident Kiribatis, kaufte auf den Fidschiinseln in 3000 Kilometer Entfernung Land. Wer glaubt, dass sich mit diesen Aussichten die Bevölkerung auf den 32 Atollen und drei Inselgruppen auf halbem Weg zwischen Hawaii und Australien in Unruhe versetzen lässt, täuscht sich. Auf die drohende Zukunft angesprochen, meinen Inselbewohner, man hoffe, nie gezwungen zu sein, an die Zukunft denken zu müssen.

Was wie grenzenlose Naivität klingt, ist schlicht eine andere Lebensweise. Und davon erzählt dieses Buch in einer unüblichen Weise. Nicht mit sachlichen oder gar wissenschaftlichen Texten und schönen Fotos, sondern mit einfachen Texten, die so nah wie möglich an eine Lebensform gehen, die uns fremd ist und Zeichnungen, die Wesentliches zeigen und deplatzierte Emotionen gar nicht zulassen.Als Alice Piciocchi und Andrea Angeli vom Inselstaat Kiribati hörten, reifte in ihnen der Wunsch, für zwei Monate dort hinzureisen. Doch statt verzweifelter, auf gepackten Koffern sitzender Bewohner trafen sie auf Menschen, die so gar nicht ans Weggehen dachten. Hier sind ihre Familien seit Generationen zu Hause, werden alte Traditionen gelebt, fahren die Fischer wie ihre Vorfahren aufs Meer hinaus, folgt das Leben immer noch dem Rhythmus von Ebbe und Flut. Natürlich sind die Zeiten längst vorbei, wo der Austausch mit der Aussenwelt nur sporadisch bis gar nicht stattfand. Doch man erzählt sich noch heute die alte Legenden und zelebriert magische Riten. So gibt es ein Lied, das man singt, um den Walfisch zu rufen. Und wer eine Venusmuschel findet, sagt man, findet einen Schatz.

Dieses Buch ist ein Reisebericht der besonderen Art und ein bibliophiles Meisterstück, bei dem es den Autoren gelingt, uns die Alltagskultur und das Denken der Menschen von Kiribati nahezubringen, die von ihrer tiefen Verbundenheit mit dem Meer und dem Universum zeugen. Ein Buch, das es zu entdecken gilt. Wieder so ein Kunstwerk, das nur als wirkliches Buch funktioniert. Von einem Verlag, der noch weitere Perlen anzubieten hat!

Alice Piciocchi und Andrea Angeli teilen die Leidenschaft für das Reisen: An den Wänden ihrer Wohnung hängen überall Landkarten, die Bücherregale sind angefüllt mit Reiseberichten, und ihre italienischen Pässe zieren unzählige Stempel aus allen Ländern der Erde. Der Illustrator Andrea Angeli, Jg 84, ist ursprünglich Architekt und Alice Piciocchi, Jg 85, Industriedesignerin und mittlerweile Geographiestudentin.