Lukas Maisel «Wie ein Mann nichts tat und so die Welt rettete», Rowohlt

Am 26. September 1983 schrammte die Welt einem nuklearen Desaster vorbei. Nur weil Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow, ein sowjetischer Offizier in der Kommandozentrale der Satellitenüberwachung, den scheinbaren Anflug nuklearer Interkontinentalraketen als Fehlalarm interpretierte, verhinderte der Mann den Tod von Millionen.

Alles an dieser Erzählung ist wahr. Was Lukas Maisel an Fiktion beifügt, ist das, was im Innenleben jenes Offiziers geschah, genau das, was uns damals rettete, denn wäre Stanislaw Petrow der eigenständigen Entscheidung nicht fähig gewesen, hätte nichts einen nuklearen Krieg aufhalten können. Nur weil dieser Mann damals in den 17 Minuten zwischen Alarmierung durch ein empfindliches und anfälliges Raketenabwehrsystem und dem Moment der Entwarnung zum eigenen Denken fähig war, durch logisches Entschlüsseln einer falalen Kette von scheinbar gesicherten Informationen Panik relativierte und Vernunft über die Angst siegen liess, blieben sowjetische Nuklearraketen am Boden.

Weil sich das damalige System keine Blösse geben wollte, weil die Sowjets auf jeden Fall ihr Gesicht wahren wollten, das Gesicht der perfekten Abschreckung, wurde Offizier Stanislaw Petrow weder befördert noch bestraft. Man verschwieg den Zwischenfall genauso systematisch wie die Ursachen, die dazu führten; Sonnenreflexionen auf Wolken. Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, in Petrows letzten Jahren in Moskau, erfuhr der ausgemusterte Offizier Ehrungen im In- und Ausland. Nach der Kontaktaufnahme eines deutschen Unternehmers noch zu Lebzeiten Petrows wurde in Oberhausen, dem Heimatort jenes Geschäftsmannes, zum zweiten Todestag des Retters eine Gedenktafel eingeweiht: „Wäre er den Computermeldungen gefolgt, wäre der sofortige atomare Gegenschlag erfolgt und damit der Tod von Millionen Menschen in den USA, in Europa und Russland die Folge gewesen.“

Lukas Maisel «Wei ein Mann nichts tat und so die Welt rettete», Rowohlt, 2025, 128 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-498-00730-0

Lukas Maisel konzentriert sich in seiner Erzählung auf diesen einen Tag, diese 17 Minuten und die drei Tage, die Stanislaw Petrow in der Folge noch in der Kommandozentrale ausharren musste, bis sich die Wogen nach dem Zwischenfall glätteten. Lukas Maisel fokussiert sich auf einen Mann, der in diesen 17 Minuten ganz auf sich gestellt war, der wusste, dass jede Entscheidung, die er fällen würde, existenzielle Folgen nach sich ziehen würde, dass das, was nach der Entwarnung die Schwächen des Systems aufzeigte, nie und nimmer an die Öffentlichkeit dringen durfte, nicht einmal zur Erzählung in seiner Familie. Stanislaw Petrow wurde zum Bauernopfer einer Beinahekatastrophe. 

Lukas Maisel beschreibt die klaustrophobische Situation in jenem Bunker, in dem während ewig lange scheinender Minuten das Schicksal von Millionen in der Schwebe stand, in der jede weitere Reaktion auf die Interpretation eines einzelnen Mannes reduziert war, alles in einem Schrecken ohne Ende hätte ausarten können. Die Geschichte eines Mannes an einem geheimen Ort, einer geheimen Stadt. Die Geschichte eines Mannes, der eigentlich bloss für einen kranken Kollegen eingesprungen war, eine Geschichte, die ohne die klaren Gedanken eines Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow mit Sicherheit ganz anders geendet hätte.

„Wie ein Mann nichts tat und so die Welt rettete“ ist zum einen ein Denkmal für einen Mann, der sich in den Zwängen von Macht und Hierarchie von Vernunft leiten liess, etwas, was in der Gegenwart nicht minder wichtig wäre.  Zum andern ist die Geschichte ein Exempel dafür, das Zurückhaltung, ein Zögern unendliches Leid verhindern kann, erst recht in einer Zeit, in der „Hauruckgehabe“ Politik wird und in der Wirtschaft zur Handlungsmaxime.

Lukas Maisels kleines literarisches Husarenstück liest sich in einem Zug, hoch spannend und mit dem Bewusstsein, wie oft das Glück des Menschen an einem seidenen Faden hängt. Unbedingt lesenswert!

Interview

Der Stoff für ein Buch lag offensichtlich jahrzehntelang da. Erstaunlich, dass die Geschichte im deutschsprachigen Raum nicht schon viel früher literarisch umgesetzt wurde. Was entschied, dass Sie einen so konzentrierten Roman daraus schufen und nicht mit grösserer Geste erzählten, zum Beispiel aus der Sicht des alt gewordenen Stanislaw Petrow?
Ich weiss nicht, ob man sich frei aussuchen kann, wie man einen Stoff erzählt. Beim Schreiben folge ich meinem Instinkt, es fühlte sich einfach richtig an, den Stoff in dieser Kürze zu erzählen, ihn nicht unnötig zu strecken. Ich kann im Nachhinein vermeintlich rationale Gründe suchen, warum ich das so und nicht anders geschrieben habe, aber es bleibt Instinkt. 

Der Mann schleppte das Geheimnis jenes 26. Septembers 1983 bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion als Staatageheimnis mit sich herum. Es ist anzunehmen, dass er nicht einmal seiner Frau von den tatsächlichen Ereignissen erzählen konnte. Die Dramaturgie dieser 17 Minuten in diesem Kommandobunker ist nicht zu überbieten, genauso die Dramaturgie in Stanislaw Petrows Innenleben. Er wusste haargenau, was die Folgen einer falschen Entscheidung sein werden. In all den Kriegen, ob in der Ukraine, im Kongo oder im Sudan. Es ist nur zu hoffen, dass Menschen sich in kollektiv lebensbedrohlichen Situationen nicht instrumentalisieren lassen. Ist das letztlich nicht ein frommer Wunsch?
Natürlich, aber was bleibt uns denn anderes übrig als die Hoffnung? Am Ende wird die Geschichte von den Entscheidungen einzelner Menschen vorangetrieben, die Frage ist, wieviel Macht diese Menschen besitzen. Stanislaw Petrow wollte keine Macht haben, sie fiel ihm zu. Glücklicherweise konnte er klar sehen, sein Blick war nicht von einer Ideologie verzerrt. Er war ein Mann der Wissenschaft und vertraute ihren Methoden, damit war er sicherlich ein schlechter Kommunist.

Sie beschreiben sehr intensiv, was in Stanislaw Petrow passiert, jener Teil der Geschichte, die Fiktion braucht. Ich fiebere mit ihm. Ich spüre, wie sich die Minuten zu Unendlichkeiten ausdehnen. Ich spüre den Kampf, den der Mann in sich austrägt, wie sich alles auf diesen einen Moment einbrennt. Ich fühle seine Verzweiflung, den unsäglichen Druck, den realen Alp. Der Titel ihres Buches meint nicht, dass Stanislaw Petrow nichts tat. Die Weigerung, das Abwarten, der Zweifel, das Nachdenken ist viel mehr als Nichtstun. Was bedeutet die Geschichte von Stanislaw Petrow für sie ganz persönlich?
Wahrscheinlich sprach mich der Stoff an, weil ich mich fragte, ob ich das könnte; abwarten wie Petrow. Ich und die meisten Menschen wollen durch ihre Handlungen möglichst rasch ein Ergebnis herbeiführen, wir halten die Ungewissheit nicht aus. Auch Petrow hält sie fast nicht aus, zum Glück dauert sie nur siebzehn Minuten, die ihm aber wie eine Ewigkeit vorkommen.

Es war nicht das einzige Mal, dass die Welt an einem kriegerischen Nuklearschlag vorbeischrammte. Zwei Jahrzehnte zuvor hätte es während der Kubakrise nicht viel mehr gebraucht, um den Konflikt atomar eskalien zu lassen. Heute wird am russischen Fernsehen ganz offen und hemmungslos mit der Atombombe gedroht, allen voran der TV-Moderator, Scharfmacher und Putin-Propagandist Wladimir Solowjow. Atomsprengköpfe dienen nicht mehr der Abschreckung, sondern der ganz direkten Drohung. Macht ihnen das nicht Angst?
Mein Vater war ein Kind, als die Kubakrise passierte, er war noch zu klein, um das verstandesmässig begreifen zu können, aber die allgegenwärtige Furcht hat er gespürt. Jedenfalls erzählte er, dass damals viele glaubten, der Dritte Weltkrieg stünde bevor. Die stationierten Mittelstreckenraketen waren eine unmissverständliche Drohung, heutzutage ist es schwieriger einzuschätzen. Würde Putin für seine Ziele wirklich Atomwaffen einsetzen? Er ist nicht durchgeknallt, er hat bestimmte Ziele und kalkuliert mit Angst. Ich würde ihm den Besuch des Museums in Hiroshima empfehlen, dort sieht man, durch welche Hölle die Menschen damals gegangen sind.

Nach dem Tod seiner Frau 1997 und dem Auszug seiner Kinder lebte Stanislaw Petrow mit einer Rente von 1000 Rubel. Ein Betrag mit dem man sich in einem schicken Moskauer Café gerade mal 10 Tassen Kaffee hätte leisten können. Ist das das Wesen eines wahren Helden? Dass er das, was er tut nicht der Heldentat wegen tut?
Es würde wohl keine Helden geben, wenn sie nach Anerkennung von aussen streben würden, sie haben innere Motive. Stanislaw Petrow sah sich nicht als Held, er habe einfach seine Arbeit erledigt, betonte er immer wieder. Das ist ja ein Topos, der Held, der einfach nur tut, was er für das Richtige hält.

Lesung im Literaturhaus Thurgau in Gottlieben

Lukas Maisel, geboren 1987 in Zürich, machte eine Lehre zum Drucker, bevor er am Literaturinstitut in Biel studierte. 2020 debütierte er mit seinem Roman «Buch der geträumten Inseln«, für das er einen Werkbeitrag des Kantons Aargau erhielt sowie mit dem Förderpreis des Kantons Solothurn und dem Terra-nova-Preis der Schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet wurde. 2021 las er bei den 45. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt, 2022 erschien seine von der Kritik gefeierte Novelle «Tanners Erde«.

Erzählung «Ewiger Wanderer» auf der Plattform Gegenzauber

Beitragsbild © Christina Brun

Agnes Siegenthaler «So nah, so hell», Zytglogge

Man kennt sie, jene, die in verlassene Häuser steigen, mit Taschenlampe und Rucksack, Fotos von Lost Places machen, Spuren suchen nach verlorenem, vergessenem Leben. In einem kleinen Haus, kurz vor der Räumung, treffen zwei junge Menschen aufeinander, Letta, die ungefragt eingestiegen ist und Paul, der im Haus seiner Grossmutter Ordnung machen will.

Wer ein Leben lang ein Haus bewohnt, hinterlässt einen kleinen Kosmos voller Spuren, Signale, Markierungen, dinggewordener Erinnerungen. Ich erinnere mich gut an die Besichtigung jenes Hauses, in dem wir zehn gute Jahre mit unserer Familie verbringen konnten. Die Frau, die mit ihrem Hund Jahrzehnte in dem Haus wohnte, am Schluss nur noch im Untergeschoss, musste wegen eines Unfalls ins Pflegeheim. Als man uns das Haus zeigte, sah man auf dem kleinen Tisch im Wohnzimmer noch einen Notizzettel und in der Küche auf der Anrichte eine Schale mit Früchten.

Agnes Siegenthaler «So nah, so hell», Zytglogge, 2025, 160 Seiten, CHF ca. 28.00, ISBN 978-3-7296-5182-1

Lore führte vor ihrem Tod ein ruhiges und zurückgezogenes Leben. Nicht einmal ihre nächsten Nachbarn wussten etwas von der stillen Frau. Agnes Siegenthaler verrät nur Verschlüsseltes aus dem Leben der stillen Frau. Das wird auch sichtbar im Aufbau des eigenwilligen Romans. Wenn Agnes Siegenthaler von Lore erzählt, dann sprechen die Dinge im Haus von der Frau und den Menschen, die mit Lore Zeit in diesem Haus teilten. Textpassagen, die sich eindeutig vom Erzählstrang nach ihrem Tod absetzen, lyrische Prosa, gesetzt wie Gedichte. Für mich als Leser sind es Atempausen, Einladungen, meinen Lesefluss zu verlangsamen, dem Text Zeit zu lassen, auf die Stimmen der Dinge einzugehen, auf das Hasenauge, die Porzellanfigur, den Hygrometer, die Kaffeetasse, den Elefanten aus Glas. Agnes Siegenthaler gibt den stumm gewordenen Dingen in Lores Haus ihre Stimme zurück, den eingelagerten Erinnerungen, die sich sonst spurlos verflüchtigen. Jeder, der schon einmal die Pflicht hatte, ein Haus Räumen zu müssen, weiss, wie wertlos mit einem Mal Dinge geworden sind, die in einem anderen Leben unentbehrlichen Wert besassen.

Paul ist Lores Enkel. Als er das Haus seiner Grossmutter aufschliesst, merkt er, dass Spuren zu finden sind, die nicht von seiner Groossmutter stammen. Und irgendwann findet er im grossen Bett der Grossmutter eine junge Frau liegen, jemanden, den er nicht kennt, von dem er aber spürt, das keine schlechten Absichten der Grund dafür sind, dass sich jemand unerlaubt Zutritt in das Haus seiner Grossmutter verschaffte. Letta wacht auf. Vielleicht wacht sie aber nicht nur aus dem Schlaf auf, sondern auch aus deinem Rauschzustand, der sich jedes Mal einstellt, wenn Letta in ein nicht mehr bewohntes Haus einsteigt.

Letta ist keine Einbrecherin. Sie ist nicht an dem interessiert, was Einbrecher interessieren würden. Sie hat sich in ihrer Passion ein eigentliches Protokoll zurechtgelegt, das sie genau befolgt. Sie sucht nach einem Andenken. Aber nach einem Andecken, das nicht sie aussucht, sondern von dem sie ausgesucht wird. Ein Taschentuch mit gehäkeltem Rand und den eingestickten Worten „Mensch nütze den Tag, denn er ist kurz“, eine zerkratzte Schallplatte von Miles Davis, ein einzelner Kinderschuh mit vergilbten Maikäfern als Muster. Letta sucht nach dem Andenken in diesem Haus, sucht viel länger als erwartet, erst recht mit Verzögerung, weil da dieser Mann auftaucht und erklärt, er wäre der Enkel. Letta und Paul sind Suchende; Letta nach dem Andenken, Paul mit der Aufgabe, die Asche an Lores liebstem Ort zu verstreuen.

Das verlassene Haus kurz vor seiner Räumung wird zum Schauplatz vieler Begegnungen. Vordergründig zwischen Letta und Paul, unterschwellig zwischen Lore über all die Dinge mit den Menschen, die einst in diesem Haus ein Stück ihres Lebens verbrachten, mit Lore Leben teilten.

„So nah, so hell“ ist ein zartes Debüt von grosser poetischer Kraft. Ein Buch, das viel Aufmerksamkeit verdient, geschrieben von einer Autorin, die mit diesem Roman einen vielversprechenden Weg begonnen hat. Wir werden noch mehr lesen!

Interview:

Ich las Dein Debüt mit grossem Interesse, mit ungetrübter Freude. Nur schon, weil Du eine mutige Form gewählt hast, Lyrisches mit Prosa mischst, deinem Erzählen ganz verschiedene Stimmen und Tonlagen gibst. War von Beginn weg klar, dass Du mehr als nur eine Art des Erzählens für Dein Debüt wähltest? Wieviel Mut brauchte es?

Die unterschiedlichen literarischen Formen sind zusammen mit den verschiedenen Erzählperspektiven entstanden. Es war klar für mich, dass diese nicht einfach in derselben Weise erzählen können. So haben die Gegenstände eine Art Chorfunktion für mich, wie sie gemeinsam und doch sehr individuell von etwas erzählen, was direkt nicht mehr erfahrbar wäre. Ihre Sprache gleicht der verknappten Form von Lyrics in Liedern und hat auch etwas Künstliches. Die Felsteile ihrerseits erlauben es sich, über Jahrtausende auszuholen und doch kurze Momente hervorzuheben. Wenn über Letta oder Paul erzählt wird, sind wir relativ nah an ihnen dran und folgen ihren Bewegungen und Gedanken. Es ist eine alltäglichere und menschlichere Sprache. Es hat nicht unbedingt Mut gebraucht, den Text auf diese Weise zu schreiben, es war vielmehr schön und hat Spass gemacht, zu entdecken, wie es gelingt, eine Geschichte aus unterstimmlichen literarischen Formen heraus zu erzählen. Danach waren es eher Ausdauer und Standhaftigkeit, die nötig waren, um die unterschiedlichen Formen und Perspektiven, zu verteidigen, nicht davon abzukommen und einen Verlag zu finden, der bereit war, dieses Textgewebe herauszubringen.

In alten Kurzbiographien über Dich heisst es „Für ihre Texte sucht sie nach Zeugenschaft in verlassenen Häusern und bei herumirrenden Steinblöcken. Sie interessiert sich für unwahrscheinliche Perspektiven und für das übersehene Offensichtliche.“ Mit diesen beiden Sätzen könnte man auch Letta, die Protagonistin in deinem Roman beschreiben. Keine alltägliche Leidenschaft. Irgendwie doch knapp an den Rändern zur Illegalität. Auch ein Outing?

Ich glaube, ich habe in dieser Kurzbiografie eine Methode offengelegt, die ich brauchte, um ins Schreiben zu kommen. Für diesen Text bin ich von konkreten Orten ausgegangen, die dann im Laufe des Erzählens zu fiktionalen Orten wurden. In dieser Kurzbiografie übertreibe ich ein wenig. Tatsächlich war ich in nicht mehr als einem verlassenen Haus unterwegs und das im Rahmen der Legalität. Aber zugegeben, das klingt auch etwas nach Letta. Möglicherweise ist aus dieser Methode ihre Figur entstanden. Sie ist da aber deutlich abenteuerlicher und eigenwilliger unterwegs, als ich es war. 

Ich musste in meinem Leben schon mehrfach helfen, eine Wohnung oder ein Haus zu räumen. Ein ganz eigenes, spezielles Erlebnis. Da wandert in eine Entsorgungsmulde, was zuvor ein Leben lang wie ein Schatz gehütet wurde. Man nimmt Dinge in die Hand, die ihren Wert mit einem Mal verloren, ihre Geschichte eingebüsst haben. Letta sucht nach einem Andenken, einem kleinen Denkmal, das auch im Unscheinbaren steckt. Ist Letta eine Anwältin jener, die ins Vergessen zu rutschen drohen?

Was du in der Frage beschreibst, war auf eine gewisse Weise eine Erzählabsicht von mir: über ein Leben zu schreiben, das scheinbar ungesehen vergangen ist und darüber, wie die Dinge, die für diese Person Schätze waren, mit ihrem Tod zu Müll werden. In dem Roman übernehmen diese Anwaltschaft gegen das Vergessen aber eher die Stimmen der verschiedenen Gegenstände. Durch sie wird nochmals ein Licht auf ein zurückgezogenes Leben geworfen, welches sich zunehmend ohne menschliche Beziehungen abspielte.
Ich glaube, Letta verfolgt da egoistischere Motive, sie sucht nach Dingen, die eigentlich mit ihr zu tun haben, sie sucht sich eine Art selbst gewählte Hinterlassenschaft zusammen. Es sind eher die Umstände, die sie dazu bringen, näher an Lore heranzugehen, über sie nachzudenken.

Paul ist mit der Urne seiner Grossmutter in diesem Haus. Er nimmt zum einen Abschied von seiner Grossmutter, zum andern ist er da mit der Aufforderung seiner Grossmutter, ihre Asche an ihren Lieblingsort zu bringen. Paul muss im Haus mit seiner Grossmutter Zwiesprache halten, um herausfinden, wo dieser „Lieblingsort“ sein könnte. Dein Roman ist neben diesem Kammerspiel zwischen Letta, Paul und Lore auch ein Buch über den Abschied. Wie wichtig ist dir dieses Thema?

Hier geht es um den Abschied von einem Menschen, der zurückgezogen lebte und eigentlich von den Menschen, die dableiben auch nicht vermisst wird. Solche Geschichten gibt es ja sehr viele. Und Paul nimmt sicherlich Abschied von Lore, aber auch von einem Teil seiner selbst. Vielleicht geht es um diesen selbstbezogenen Anteil von Abschied. Aber auch andere Lesarten sind möglich, zum Beispiel Abschied zu nehmen, von einem Leben, welches man vielleicht gerne geführt hätte, Abschied nehmen von Bildern, die wir uns von Menschen machen.

Bist Du ein Mensch, der Dinge sammelt? Wie sehen Deine Regale aus? Ist Schreiben eine Form des Festhaltens, den Dingen ihre Stimme zu geben?

Ich glaube nicht, dass ich den Dingen eine Stimme geben wollte, ich wollte eine Form finden, in der ich Lores Geschichte erzählen kann. Es ging um ein Erschrecken darüber, dass ein Menschenleben vergeht und die materiellen Dinge einfach weiterbestehen, dableiben, und würden sie nicht entsorgt, könnten sie unerträglich lange da sein. Es ging um die Imagination darüber, was in diesen Räumen passiert sein könnte; und gesehen haben es halt bloss die künstlichen Augen dieser Gegenstände. Daher benutze ich die Dinge eher, als dass ich ihnen eine Stimme gebe. Um mit ihrer Hilfe die Geschichte von Lore zu erzählen. 

Selbst bin ich keine grosse Sammlerin, so ganz traue ich den Dingen wohl nicht über den Weg.  

Agnes Siegenthaler, geboren 1988 in Bern, hat am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und davor Soziale Arbeit studiert. Sie schreibt Prosa und Lyrik und arbeitet aktuell an ihrem zweiten Roman. Neben dem Schreiben ist sie als Soziokulturelle Animatorin in einer interkulturellen Bibliothek tätig. Aufgewachsen im Emmental, lebt und arbeitet die Autorin rund um die Städte Bern und Fribourg. «So nah, so hell» ist Agnes Siegenthalers Debüt.

Agnes Siegenthaler «Meret 2» & «Café Krokodil» auf der Plattform Gegenzauber

Beitragsbild © Karen Moser & Elias Bannwart

Tommie Goerz «Im Schnee», Piper

Auf seiner Homepace nennt sich Tommie Goerz „fränkischer Krimiautor“, was bis zu seiner Veröffentlichung von „Im Tal“ 2023 auch stimmte. Aber mit diesem ersten, von der Presse „literarisch“ bezeichneten Roman und dem eben erschienen „Im Schnee“ gehört der kreative Tausendsassa mit einem Mal zu einer schreibenden Elite, einem Meister der Stimmungen und Figurenzeichnung.

Tommie Goerz heisst eigentlich Marius Kliesch, legte sich das Pseudonym zu, weil ein Krimiautor mit einer ernsthaften Professur unvereinbar schien. 15 Jahre nach seiner ersten Veröffentlichung, nach 18 Krimis, nun zwei ganz unspektakuläre Romane über das einfache, zurückgezogene Leben. „Im Tal“ spielt zu Beginn des letzten Jahrhunderts, „Im Schnee“ in allernächster Vergangenheit.

Max steht am Fenster und schaut in den Winter. Er lebt allein, schon sein ganzes Leben in diesem Haus, seinem Elternhaus, in diesem Dorf, dass er kaum je verlassen hatte. Er sieht auf seine Apfelbäume, draussen im Garten, den Martini, den Rheinischen Krummstil – und Schorsch, seinen einzigen wirklichen Kumpel, der im letzten Herbst wie jedes Jahr noch von den Äpfeln geholt hatte. Jetzt ist Schorsch tot, liegt in seinem Haus. Im Dorf hört man die Totenglocke, Gunda läutet nur noch, wenn der Tod sie dazu ordert. 

Glück ist, wenn alles vorbei ist.

Max trauert still. Der Tod ist zu einem ständigen Begleiter geworden. Auch weil das Dorf schon lange zu sterben begonnen hat; kein Laden, kein Bäcker, kein Metzger mehr. Irgendwann schleifte man gar das Schulhaus in einer Nacht- und Nebelaktion, weil sich das Gerücht im Dorf festgehakt hatte, es würden Flüchtlinge in dem leeren Haus einquartiert werden. Auch am kleinen Bahnhof hält nur nach im Morgen und am Abend ein Zug. So wie das Dorf sterben auch die Höfe. Was früher noch ganze Familien ernährte, schrumpfte über die Zeit. Man verschuldete sich, stellte um, stellte ein, zog weg oder verkümmerte. Max ist geblieben. So wie Schorsch.

Thommie Goerz "Im Schnee", Piper, 2025, 176 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-492-07348-6
Tommie Goerz «Im Schnee», Piper, 2025, 176 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-492-07348-6

Max macht sich auf zum Haus von Schorsch, der dort aufgebahrt liegt, bis zur Beerdigung, die dann stattfinden muss, wenn der Pfarrer Zeit hat. Man trifft einander zur Wache, sitzt dort und erzählt, isst und trinkt und erinnert sich. Man erzählt sich Geschichten und denkt an all das, was man nicht erzählen kann, nicht zu erzählen traut. Geschichten, die eigentlich nur die Deckel all jener Geschichten sind, die man sich nicht erzählt, von denen aber alle wissen. Schon gar nicht über Liebeszeug. Zumindest die Einheimischen, die Hiesigen, nicht die Neubürger aus der Siedlung. Und schon gar nicht jene, die es immer wieder einmal im Dorf versuchten, aber eigentlich hier nichts verloren hatten. Max bringt zwei Äpfel mit, einen Martini und einen Rheinischen Krummstil.

Max bleibt die ganze Nacht, nicht weil er es dem Schorsch schuldig wäre, sondern weil es nur mit dem Schorsch jene Momente der Zweisamkeit gab, die es nur mit Schorsch gab, weil mit Schorsch auch ein Stück seines Lebens zu Grabe getragen wird, Geschichten, Erinnerungen und jenes immer dünner werdende Gefühl der Vertrautheit; nie wieder Tee trinken im Garten, nie wieder in der Werkstatt oder auf der Chaislongue, den Vögeln oder dem Knacken des Ofens lauschen.

Was bleibt, ist die Einsamkeit, ein Geist, der sich mit dem Sterben im Dorf wie ein Myzel ausbreitet, der einen immer dicker werdenden Teppich aus Schweigen über die Verbliebenen und dieses Dorf legt. Ein Dorf, in dem man Tiere und Motoren wesentlich mehr Zuwendung schenkte, weil es sein musste. Und doch ist und war das Dorf der einzige Ort, an dem Max sich sein Leben hätte vorstellen können.

„Im Schnee“ ist ein Roman von uriger Kraft, holzschnittartig geschrieben, ein Roman über die Bruchstelle zwischen den Zeiten, zwischen Vergangenheit und Zukunft. Tommie Goerz hat das Zeug für ganz grosse Klasse!

Interview

„Im Schnee“ ist ein Buch über aussterbende Welten, eine fest in Rituale und Traditionen eingegrenzte Welt, von der man auf dem Land, in Dörfern noch immer etwas spürt, einer Welt, die man aber in urbaner Umgebung vergessen hat. „Im Schnee“ ist kein romantisierender Blick auf diese Welt. Und trotzdem stirbt die Welt von Max. In Ihrem Roman tauchen Binnengeschichten auf, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen – und trotzdem spürt man so viel Verbundenheit, so viel Respekt. Ist genau das die Spanne zwischen Krimi und Anti-Heimatroman?
In »Im Schnee« versuche ich mich einer Welt zu nähern, die uns gerade zwischen den Fingern zerrinnt, ja schon fast ausgestorben ist und deren immanente Regeln und Selbstverständlichkeiten uns oft gar nicht mehr begreiflich sind. Aber wenn die letzten Alten aus den Dörfern einmal gestorben sind, ist diese Welt unwiederbringlich weg. In diesem Kosmos, vor dem ich sehr grosse Achtung empfinde, habe ich versucht, den Roman anzusiedeln. Vielleicht kann man es so sagen: Die Geschichten der Alten sind manchmal spannend wie ein Krimi – und gleichzeitig sind es Heimatgeschichten. Aber so ist eben Heimat: sie duftet verlockend süss – und stinkt gleichzeitig erbärmlich.

Aquarell des Schriftstellers

Sie sind seit einigen Jahren in Rente. Warum jetzt Bücher wie „Im Tal“ und „Im Schnee“? Brauchte es den weisen Blick des Alters, um so schreiben zu können? Oder lenkt der Blick auf ein Verbrechen zu sehr ab von dem, wovon man auch noch erzählen will? Eine Abkehr vom Krimi?
Gar keine Frage: Für ein Buch wie »Im Schnee« braucht es einen Erzähler mit einem gewissen Alter, und das habe ich nun mal. Und ja, »Im Schnee« ist in gewissem Sinn eine Abkehr vom Krimi, aber aus einem für mich letztlich ganz profanen Grund: Nach dem Gewinn des Glauser mit »Meier« war ich in der Jury für den nächsten Glauser – und da mussten wir über 450 Krimis sichten. Seitdem bin ich absolut Krimi-übersättigt. Geschichten aber habe ich noch genug im Kopf – und wer weiss, vielleicht kommt auch nochmal ein Krimi.

Max lebt schon lange allein, fast nur in seiner einfach eingerichteten Küche. Er fährt nicht einmal in den nächst grösseren Ort, sondern wartet geduldig, bis ihm einer seiner immer weniger werdenden Nachbarn vom nahen Ort bringt, was er zum Leben braucht. Er schaut und sinniert, legt immer wieder einmal ein Scheit nach in seinen Ofen, liest keine Zeitung, schaut und hört keine Nachrichten. Was er durchs Fenster sieht, in der einzigen noch ab und an offenen Gaststube hört oder durch die Totenglocke vernimmt, reicht ihm. Eine Genügsamkeit, die weit weg von der meinigen ist. Steckt da auch eine Portion Sehnsucht?
Wer sehnt sich nicht nach Ruhe – doch was machen wir? Knallen uns jede Minute zu mit irgendwelchen »Aktivitäten«. So wird das aber nichts mit der Ruhe. Dabei kann man die so leicht haben – wenn man sich einfach einmal hinsetzt und nichts tut. Der Sonne zuschaut und den Schatten beim Wandern. Kann keiner. Weil kaum einer mehr bei sich zuhause ist. Stille erträgt keiner mehr, Zeit erst recht nicht. Genügsamkeit aber beginnt beispielsweise schon in dem Moment, in dem man begreift, dass es nicht eine einzige Anschaffung gibt, die glücklich macht. Das erzählt uns nur die Werbung. Zeit und Ruhe zu haben, kann also eigentlich unheimlich einfach sein. Was man dann mit der Zeit macht? Ich nutze sie zum Schreiben, das kostet nicht einmal etwas. Manchmal guck ich dabei stundenlang aus dem Fenster … vielfach auch völlig umsonst. Macht aber nichts, ich kann das gut ertragen.

Man ist in diesem Dorf gewandter im Umgang mit Tieren und Maschinen, als mit Menschen, selbst mit seinen Nächsten. Obwohl die Kirche einst zentrale Kraft in einem solchen Dorf war, ist Nächstenliebe keine Selbstverständlichkeit, oder wird zumindest ganz anders interpretiert. Obwohl alle nur ein einziges Leben zur Verfügung haben, tun wir alles, um es uns möglichst schwer zu machen. Ist Schreiben ein Verdauungsvorgang?
Ich würde es eher so sagen: Schreiben ist ein Findungsvorgang, ein Verstehensvorgang, ein Ein-, Mitfühl- und Durchdringungsvorgang, alles in Einem. Doch zur Frage. Klar, man mutet sich in »meinem« Dorf – aber das ist nicht selten so, wo man auf engstem Raum zusammenlebt und aufeinander angewiesen ist – einiges zu. Einem Aussenstehenden mag das wie mangelnde Nächstenliebe erscheinen, doch ist es schlicht ein Modus vivendi, das Leben ist hart. Mit seinen Nachbarn oder Nächsten muss man klarkommen, man kann ja nicht einfach weg. Das aber kann nur gelingen, indem man vieles hinnimmt, so sein lässt, wie es ist, und über vieles schlicht schweigt. Das gewährt das Funktionieren des Zusammenlebens. Irgendwie weiss jeder alles, aber offiziell weiss keiner etwas. Das macht das Leben erst lebensmöglich. Es hilft. Ich vermute ja, dass das in der Stadt kaum anders ist, als es in der Enge eines Dorfes war, nur erscheint es uns auf dem Dorf vielleicht offensichtlicher, weil die Welt scheinbar übersichtlicher ist. In der Stadt rettet uns die Anonymität.

Arbeitszimmer

Ziemlich am Anfang und fast am Ende ihres Romans taucht ein junger Mann auf. Ein Wanderer. Max lässt ihn in seine Küche, gibt ihm etwas zu essen, sie kommen zaghaft ins Gespräch. Ein Wanderer aus einer anderen Welt, einer Welt, die mit der Welt von Max nur wenig gemein hat. Eine Begegnung, die auch mit den BewohnerInnen der Neubausiedlung im Dorf zu einer Begegnung der „anderen Art“ wird. Sie wohnen auch in einem Dorf. Begegnet man ihrem neuen Roman nicht mit Argwohn oder Skepsis, weil sie so gar nichts Landleben-Verherrlichendes präsentieren?
Das Land ist keine Idylle, das wissen die auf dem Land am allerbesten. Das Landleben war nie ein Ponyhof und wer diesem verklärenden Unsinn aufsitzt, macht es sich halt lieber in seiner Illusion gemütlich als in der Realität. Jeder wie er will, nur: Süssliche Geschichten werden Sie aus meiner Feder nie lesen. Max› Begegnung mit dem jungen Mann thematisiert, wie weit sich beide Welten schon voneinander entfernt haben. Inzwischen liegt die eine im Sterben und wird in absehbarer Zukunft endgültig aus der Zeit gefallen sein, und die andere steht vor ihr mit Staunen, ja fast schon Verständnislosigkeit und findet sie vielleicht skurril. Was bleibt, sind ein paar letzte Bilder. Vielleicht atmosphärisch stark, aber sind sie auch dokumentarisch? Oder doch wieder nur verklärend? 

Tommie Goerz (1954) ist gebürtiger Erlanger. Über Jahre machte er sich als mehrfach ausgezeichneter Krimiautor einen Namen. Auch sein literarisches Debüt „Im Tal“ (2023) wurde von Publikum und Kritik begeistert aufgenommen. Goerz war Langzeitstudent, Hüttenwirt, Automatenwart und Schallplattenvertreter, Lehrbeauftragter, Almknecht, erfolgreicher Werber und mehr. Bis heute wohnt er in Erlangen.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Gaby Gerster

Sara Gmuer «Achtzehnter Stock», hanserblau

Eine alleinerziehende Mutter mit ihrem kranken Kind in einem Hochhaus in einer Berliner Platte. Eine Frau vor dem Absturz ins Nichts. «Achtzehnter Stock» ist ein hartes Stück Gegenwart, erzählt von einem gehetzten Leben, mit dem niemand tauschen will, das man tunlichst ausblendet. Wäre dieser Roman Musik, wäre sie laut, schmerzhaft verzerrter Sound.

Wanda wohnt im achtzehnten Stock eines Hochhauses, ein schimmliges Loch, von dem ihr Onkel, der ihr die Wohnung vermietet, behauptet, es sei ein Juwel. Aber das Hochhaus ist ein Ort der Gestrandeten, der Gescheiterten, der Zurückgelassenen, der Resignierten. Für Wanda kein Zuhause, kein Ort, an dem sie sich wohl fühlt. Kein Zuhause, das Wanda sich für ihre fünfjährige Tochter Karlie wünscht. Und doch alles, was sie kriegen kann. „Kriegen“ ist dabei mehr als wörtlich zu verstehen. Für Wanda ist Leben ein Kampf, ein Krieg. Zum einen lebt Wanda mit dem Selbstverständnis, eine Schauspielerin zu sein, auch wenn es schon Monate her ist, seit ihrem letzten Werbefilm. Zum andern wird in der Scheinwelt des Film der Reichtum, dieses Gefühl, man müsse nur wollen, dann erreiche man seine Ziele schon, mit aller Dekadenz zelebriert. Da ist kein Platz für eine Frau mit Kind, für eine alleinerziehnde Mutter, für jemanden wie Wanda, der weder auf Familie noch ein intaktes Betreuungssystem zählen kann. Zum andern die immer grösser werdende finanzielle Not, dieses Gefühl, immer tiefer in ein Loch zu fallen, aus dem es keine Chance mehr gibt, aus eigener Kraft an den glatten Wänden wieder hochzukommen.

Ich habe genug gesehen. Wir müssen weg.

Sara Gmür «Achtzehnter Stock», hanserblau, 2025, 224 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-446-28278-0

Und dann wird auch noch Karlie krank, liegt apathisch auf dem durchgesessenen Sofa und tropft aus den Ohren. Ausgerechnet jetzt, wo ein Angebot winkt, ein Casting, das Wanda aus der Scheisse hieven soll. Da ist zwar ihre Nachbarin mit ihrer Tochter Aylin, die sie immer wieder mal fragt, ob sie auf Karlie aufpassen kann. Aber Aylins Mama spiegelt ihr ziemlich unverblümt, was sie von der Welt hält, in die Wanda um jeden Preis zurückkehren will. Die Situation spitzt sich so sehr zu, dass Wanda mit Karlie von Praxis zu Praxis rennt und sich die Katastrophe zu einem Drama auszuweiten beginnt. Ein Drama, für das man am Set, an dem man ihr tatsächlich eine Rolle anbietet, keinen Platz hat. Alleinerziehende Schauspielerinnen mit kranken Kindern ohne Betreuungsnetz haben keinen Platz in einem Berufsfeld, das weder klare Arbeitszeiten noch Ausfälle, familiäre Notfälle tolerieren will.

Niemand ist frei. Es entscheiden immer die anderen, was man wert ist.

„Achtzehnter Stock“ ist ein schonungsloser Roman. Der Höllentripp einer Frau, einer Mutter, die zwischen Welten zerrissen wird, die in beiden Welten abzustürzen droht, über deren Leben sich ein Sturm zusammenbraut, aus dem es unmöglich scheint zu fliehen, erst recht mit einem kranken Kind. Es ist ein Roman, der die Situation vieler Frauen erzählt, die auf sich selbst gestellt in den Zwängen der Gesellschaft, im Spagat zwischen Erziehungs- und Erwerbsarbeit bis zur Selbstaufgabe abrackern. Von fehlenden Vätern, von Männern, die nur bis zur eigenen Nasenspitze denken und handeln und einer Gesellschaft, die zwar Familie auf ein Podest setzt, aber nicht bereit ist, Berufs-, Betreuungs- und Gesundheitssystem so zu ordnen, dass alleinerziehende Mütter nicht durch die Maschen fallen.

Man vererbt nicht nur Geld, man vererbt auch Armut.

Literatur ist ein Spiegel der Gesellschaft. Dieser Roman ganz bestimmt. Und der Roman überzeugt auch sprachlich. Was Sara Gmuer in ihrer Geschichte erzählt, spiegelt sich in der Sprache, im rauhen Ton, in den Beschreibungen der Szenerien. Das Hochhaus in einer Berliner Platte ist nicht nur ein Funkloch im Netz, auch ein Funkloch im Bewusstsein der Allgemeinheit, zumindest derer, die auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Sara Gmuer hat einen aussergewöhnlich berührenden Roman geschrieben, kein Mutmacher, aber ein fühlbar schmerzender Stich in die Gegenwart, der der Traum wichtiger ist als die Realität.

© Sara Gmuer

Interview

Ein Roman auf der Schattenseite vieler Lebensträume. Und dass dabei ausgerechnet ein Kind zur scheinbaren Ursache aller Not wird, schmerzt. Wanda, ihre Protagonistin, ist in ihrer Zerrissenheit gefangen. Ich behaupte nicht, dass Männer, Väter ebenso davon betroffen sind, aber was fehlt an Struktur und Gesellschaft, dass Muttersein nicht zur Armutsfalle wird? 
Es fehlt an finanzieller Absicherung, flexibler Betreuung und gesellschaftlicher Akzeptanz für Frauen, die mehr wollen als „nur“  funktionieren. Es bräuchte einen anderen Blick auf Mutterschaft. Ein System, das nicht erwartet, dass Mütter ihre Träume kleinhalten. 
Wanda will Mutter sein und ihre Karriere verfolgen, aber ihr Umfeld hält das für naiv oder egoistisch. Das Problem sind nicht die Kinder. Es sind die Strukturen drumherum. 

Wanda will raus, raus aus der versifften Wohnung im achtzehnten Stock, raus aus dem Quartier der Verlierer und Gestrandeten, obwohl genau dort das ist, was nicht an Status und Geld gebunden ist. Ist Wanda ein Opfer ihres Lebenstraums? Warum hat man es geschafft, wenn Geld keine Rolle mehr spielt? 
Wanda ist kein Opfer ihres Lebenstraums – sie kämpft für ihn, weil er ihre einzige Chance ist, aus der Platte rauszukommen. Erfolg bedeutet für sie nicht nur Anerkennung, sondern vor allem finanzielle Sicherheit. Es geschafft zu haben, heisst für Wanda, sich nicht mehr jeden Tag fragen zu müssen, ob sie die Miete bezahlen kann. Geld ist für sie kein Luxus, sondern die Voraussetzung, um selbst zu entscheiden, wie sie leben will. 

© Sara Gmuer

Die Welten zwischen Plattenbau und Filmglamour könnten grösser nicht sein. Sie kennen beide Seiten. In der Welt des Films scheint es für die Unberechenbarkeit eines Familienlebens, des Mutterseins keinen Platz zu haben. Weil sich Wanda in ihrer Not für ihr Kind und gegen Termine entscheidet, ist die Rache an ihr vernichtend. Spiegelt das die Welt des Films? 
Es gibt viele Berufe, in denen für die Unberechenbarkeit des Mutterseins wenig Platz ist. Die Filmbranche ist da keine Ausnahme. In Wandas Fall kann ich die Produktion sogar nachvollziehen. Drehs sind eng getaktet, es hängen viele Menschen und viel Geld daran. Wenn eine Newcomerin plötzlich nicht ans Handy geht, würde ich sie wahrscheinlich auch ersetzen. Gleichzeitig zeigt das genau das Problem: Die Strukturen sind nicht darauf ausgelegt, dass jemand auch nur kurz ausfallen könnte, schon gar nicht eine junge Mutter ohne Status. In Wandas Welt ist kein Spielraum für Fehler oder persönliche Krisen. Wer nicht liefert, ist raus. 

Wanda bekommt dann doch eine Rolle. Aber man macht aus ihr eine Leerstelle. Sie erscheint weder im Abspann der aufgeführten Mitwirkenden, man lässt sie draussen bei der Promotion des Films. Um jene Rolle entsteht in der Folge ein Geheimnis und daraus so etwas wie ein Hype. Wanda will eine Rolle spielen. Ist dieses Wollen mehrdeutig zu verstehen? 
Ja, Wandas Wollen ist definitiv mehrdeutig. Sie will eine Rolle spielen – im Film, aber auch im Leben. Es geht um mehr als nur die Schauspielerei. Sie will sichtbar sein, Teil von etwas Grösserem. Sie will ernst genommen werden. 

„Achtzehnter Stock“ ist ein Roman über all jene Mütter, die es irgendwie alleine schaffen müssen. Ein Roman über den drohenden Verlust von Lebensträumen. Ich unterrichte 13jährige Kinder. Wenn ich sie frage, was dereinst ihr Platz im Leben sein könnte, staune ich nicht schlecht. Von Bescheidenheit keine Spur. Interpretieren wir unser Leben, unser Dasein nicht allzu sehr als Wettkampf, als Streit um jenen kleinen Platz an der Spitze der Pyramide?
Ich glaube, die meisten verlieren ihre Lebensträume erst später, mit 13 sind grosse Träume noch ganz normal und ich finde, man sollte sie sich bewahren. 
Wanda kämpft nicht um die Spitze der Pyramide, sie kämpft darum, unabhängig zu sein und ihr Leben so zu leben, wie sie es will. Für sie ist Erfolg kein Statussymbol, sondern das Ticket raus aus der Platte. 

© Sara Gmuer

Sara Gmuer, 1980 in Locarno geboren, zog nach ihrem Abschluss an der Filmschauspielschule Zürich nach Deutschland. Sie stand für Dominik Graf und Die Ärzte vor der Kamera und als Rapperin auf der Bühne. Sie schrieb Songs, textete für Agenturen und fand dabei ihre ganz eigene Stimme. 2020 erschien bei orange-press ihr Debüt «Karizma», Lovestory, Hiphop-Video und Roadmovie in den Strassen von Berlin. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in Berlin.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Urban Ruths 

Thea Mengeler «Nach den Fähren», Wallstein

Manchmal ragen Bücher wie Monumente aus der Masse der Neuerscheinungen. Der zweite Roman von Thea Mengeler ist so einer. Ein Inselroman, ganz wörtlich. Irgendwo weit draussen eine Insel, auf der ein paar wenige ausharren und hingenommen haben, dass kein Schiff mehr die Insel ansteuert, dass man sie vergessen hat, dass die Zukunft endlich ist.

Früher brachten Fähren Touristen auf die Insel. Die Insel lebte nicht nur von ihnen, sie richtete sich nach ihnen aus. Aber es kommen schon lange keine Fähren mehr am Hafen der kleinen Insel an, auch wenn der Hafenmeister noch immer da ist, auch wenn die Hotels noch immer stehen, der Barmann noch immer öffnet und am Morgen noch immer der Duft von frischen Brötchen über den einstmals belebten Dorfplatz weht. Jene, die geblieben sind, haben sich mit der Eintönigkeit des Daseins eingerichtet. Namenlose. So wie der Hausmeister, der noch immer die Zimmer des Sommerpalasts in Ordnung hält, den Pool reinigt und sich um die Pfauen im Garten kümmert. Oder die Doktorin, die Übriggebliebene aus einem der vielen Appartements, die jeden Tag noch immer an den Strand geht. Oder die Frau des krank und dement gewordenen Generals, die ihren Mann jeden Morgen auf sein Pferd setzt, um ihn am Nachmittag wieder ins Haus zu begleiten, eine Frau, die ihren Mann pflegt und hasst. Oder den Barmann, den alten Soldaten, die Bäckerin, die Krankenschwester, der die Medikamente schon längst ausgegangen sind.

Sie alle harren und warten, wenn auch ohne Hoffnung und Illusionen, die Menschen würden dereinst wieder auf die Insel zurückkehren, auch all jene, denen die Insel damals Verdienst, Gewinn und eine Zukunft bescherte.

Thea Mengeler «Nach den Fähren», Wallstein, 2024, 175 Seiten, CHF ca. 28.90, ISBN 978-3-8353-5585-9

Thea Mengeler zeichnet die Insel mit klaren, meist kurzen Sätzen. Das Personal bleibt gewollt schemenhaft, der Alltag nur durch die Jahreszeiten, einen langen heissen Sommer und einen kurzen, kalten Winter verändert. Bis Ada auftaucht, ein Mädchen. Der Hausmeister nimmt sich ihrer an, wundert sich, weil schon so lange keine jungen Menschen auf der Insel waren, weil er sich nicht erklären kann, woher das Mädchen kommt, zu wem sie gehört. Ada stellt Fragen ohne die Fragen an sie selbst zu beantworten. Sie ist derart selbstverständlich da, dass sich der Hausmeister auch nicht wundert, wie sehr sich sein eintönig gewordenes Leben der Anwesenheit des Mädchens ausrichtet. Bis sie verschwindet wie sie aufgetaucht war. Erst jetzt merkt der Hausmeister, dass er der einzige war, dem Ada begegnete. Niemand sonst weiss von dem Mädchen, was den Hausmeister gleich mehrfach erschüttert. Wird er verrückt?

Mit einem Mal nimmt das Leben auf der still gewordenen Insel einen anderen Lauf. Die Leben, die sich kaum kreuzten, da war höchstens der Barmann, der die reifen Früchte aus dem Garten der Frau des Generals holte, oder die Begegnungen mit der Bäckerin, wenn man beim Brötchen holen noch eine Tasse von dem selbstgerösteten Kaffeeersatz trank, vermischen sich. Die Doktorin beginn zu schreiben. Der General kommt von seinem Ritt nicht zurück, seine Frau macht ein Schiff flott und trifft sich mit dem Barmann, der Hausmeister hört auf, die Zimmer in Stand zu halten, gibt ihnen einen neue Ordnung, setzt neu zusammen.

«Wir sind die Geschichten, die wir erzählen. Was haben wir mehr als das?»

Was passierte auf dem Festland, dass kein Schiff mehr die Insel anfährt? Warum sind ausgerechnet sie geblieben? Wer ist das Mädchen, von dessen Anwesenheit nur der Hausmeister weiss? War das Mädchen real oder Illusion, eine Erscheinung, eine Projektion? Wo ist bei den Übriggebliebenen die Zuversicht geblieben?
Thea Mengeler beantwortet all die Fragen nicht. Umso mehr wabbern sie in mir während der Lektüre, treiben mich durch das Buch, über die Insel, zu den Menschen, die geblieben sind. Ist „Nach den Fähren“ eine Dystopie?

Dieser ungeheuer stimmungsvolle Roman ist eine kalte Decke, die sich mit Melancholie um mich schmiegt, der bis zur letzten Seite rätselhaft bleibt und zeigt, was nur Literatur kann; Thea Mengeler provoziert die Bilder in mir, starke Bilder, archaische Bilder – einen tiefen Eindruck!

Interview

Inselromane sind eine ganz eigene Gattung. Von „Robinson Crusoe“ über „Herr der Fliegen“ bis zu dem ihrigen. Aber bei den meisten Inselromanen ist die Insel bloss exotische Kulisse. Bei Ihrem Roman ist die Insel der heimliche Hauptprotagonist. Ein „wirtschaftlicher“ Organismus, dem man in gewisser Weise die Luft abdrehte, den man vom Netz nahm, den der ursprüngliche Organismus zurückholt, nach und nach. Insofern auch ein Roman über „Klimawandel“?
Ich würde nicht so weit gehen, den Roman als einen Text über Klimawandel zu bezeichnen. Sicherlich ist es jedoch ein Roman über Kapitalismus und die kapitalistische Ausbeutung von Natur und Lebensraum – insofern gibt es zumindest viele Überschneidungen mit dieser Thematik.

Ich traf mich in einer Literaturrunde. Wir sprachen bei Wein über Ihren Roman. Eine grosse Frage, die uns beschäftige, war jene nach den Ursachen, warum die Fähren schon lange ausbleiben. Ich war und bin der Überzeugung, eine Dystopie gelesen zu haben, ohne dass sie als solche deklariert wäre. Vielleicht weil sie diese Portion Ungewissheit beabsichtigten? Oder weil diese Gewissheit den Roman nur ärmer machen würde?
Ich kann verstehen, dass der Roman dystopisch wirkt und er ist sicherlich auch so angelegt – allerdings war es mir wichtig, dass der Grund für das Ausbleiben der Fähren nicht in einer globalen Katastrophe begründet wird. Das hätte für mich tatsächlich den Text ärmer gemacht. Ein Grund für das Ausbleiben der Fähren wird ja zumindest angedeutet: Andernorts werden neuere schönere Hotels gebaut, andere Urlaubsorte haben diesen abgelöst. Es ist ein banaler Grund, der natürlich dennoch für die Bewohner:innen dieser Insel massive Folgen hat. Es ist also eine Katastrophe im Kleinen, die vom Rest der Welt unbemerkt geschieht.

Das Personal ihres Romans gäbe Stoff für eine ganze Buchreihe. Zum Beispiel die Frau des Generals, die ihren Mann pflegt und hasst, dessen Verschwinden mit einem Mal alles möglich macht, selbst das Unmögliche.
Und trotzdem zeichnen Sie Ihr Personal nur ganz durchscheinend. Ausser dem Mädchen Ada trägt niemand einen Namen. Braucht es die Namen nicht mehr, wenn man innerhalb einer Schicksalsgemeinschaft nur noch auf seine Funktion reduziert ist? Oder wollten Sie mir als Leser möglichst wenig „vorsetzen“?
Für mich hatte der Verzicht auf Namen zweierlei Gründe. Einerseits ist die Insel so geografisch weniger zu verorten, andererseits werden die Figuren dadurch auf ihre Funktion bzw. ihre soziale Rolle reduziert. Gerade zu Beginn des Buches sind die Figuren ja wirklich sehr in ihren Rollen gefangen – sogar wenn diese durch das Ausbleiben der Fähren längst ihre Bedeutung verloren haben.

Ada eine Projektion? Eine Erscheinung? Ein Wahn? Ich las das Buch mit der Suche nach Antworten und wurde im Ungewissen gehalten. So wie die Fragen des Lebens nie klare Antworten geben. Und doch bringt dieses Mädchen einen Stein ins Rollen, Bewegung auf die Insel, die erstarrt ist. Auch so eine Metapher, die zu eifrigen Interpretationen einlädt. Sie wollen nicht ausleuchten, nicht klären. Was war die Urintension bei diesem Roman?
Ich schreibe nicht, um eine bestimmte Botschaft zu vermitteln, sondern um mich schreibend mit Themen oder Fragestellungen zu beschäftigen. Bei diesem Buch hat mich zuerst die Atmosphäre von Ferienorten zur Nebensaison interessiert – und dann die Frage, was mit einem solchen Ort und den dort lebenden Menschen passiert, wenn die Nebensaison zum Dauerzustand wird.

Die Doktorin schreibt. In den Schilderungen zu Ihr schreiben Sie viel über das Schreiben selbst, die Art des Sehens. Aber auch den Satz: Ich schreibe, um zu begreifen. Auch ein Schreibmotto für Sie selbst?
Absolut. Schreiben ist für mich immer der Versuch einer Annäherung an Dinge, die ich selbst (noch) nicht begreife.

Thea Mengeler, geb. 1988, aufgewachsen in Krefeld, studierte Literarisches Schreiben und Kommunikationsdesign in Hildesheim, Kiel und Istanbul. Sie war Finalistin beim 28. open mike sowie Styria Artist in Residence 2022. Aktuell lebt sie als freiberufliche Autorin und Texterin in Hannover. 2022 veröffentlichte sie ihr Debüt «connect».

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Caroline Drechsel

Barbara Bonhage «Zwischen Herd und Hakenkreuz. Hilde Bonhage Ehefrau, Mutter, Nationalsozialistin», elfundzehn

Barbara Bonhage, Historikerin und Autorin, ahnt, dass in ihrer Familie Dinge totgeschwiegen werden, ein Stück Familiengeschichte ausgeblendet wird. Bis ein Brieffund im Familienarchiv die Büchse der Pandora öffnet und Licht in ein düsteres Kapitel eben jener Familie bringt. „Zwischen Herd und Hakenkreuz“ ist die Lebensgeschichte einer Grossmutter, die selbst nach dem Krieg mit „Mein Kampf“ an ihrer Seite sterben sollte.

Es hätte der Beginn einer tausendjährigen Geschichte sein sollen. Es hätte die Weltordnung erneuert und den Germanen endlich jenen Platz zugestanden, der ihnen seit Ewigkeiten gebürt. Deutschland wäre wie Phönix aus der Asche des ersten Weltkriegs auferstanden. Im Glanz einer neuen Bewegung hätte die arische Rasse vollbracht, was der Führer in weiser Voraussicht in die Wege gebracht hätte. Hilde Bonhage, die Grossmutter der Autorin dieses Buches, glaubte bis zu ihrem Tod im November 1945, über das Ende des 2. Weltkriegs hinaus, an die Ideale der Nationalsozialisten. Als sie starb, sank sie ins Vergessen. Es brauchte mehr als sieben Jahrzehnte, bis die Enkelin den Mut aufbrachte, eine wahre Geschichte zu erzählen, die einem angesichts der Erstarkung rechtsextremer Bewegungen nicht kaltlassen kann. Dass Barbara Bonhage die Geschichte der eigenen Grossmutter zu einem Exempel macht, verdient vielfachen Respekt. Nicht nur, dass sie sich selbst in der Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte mit keinem Detail schont, nicht einmal mit nicht belegbaren Möglichkeiten und fürchterlichen Eventualitäten, sondern weil die Autorin kühl und ehrlich erzählt, ohne dass mir als Leser nicht immer und immer wieder die Ahnung wie ein kalter Schauer über den Rücken fliesst, dass dieses exemplarische Leben eines von Millionen war.

Barbara Bonhage «Zwischen Herd und Hakenkreuz. Hilde Bonhage. Ehefrau, Mutter, Nationalsozialistin», elfundzehn, 238 Seiten, CHF ca. 29.80, ISBN 978-3-907243-05-3

Hildes Vater war vor dem ersten Weltkrieg ein erfolgreicher deutscher Geschäftsmann in England, der mit seiner Familie ein grossbürgerliches Leben in London führte. Aber die geopolitischen Folgen des ersten Weltkriegs machten aus der deutschen Familie in England Feinde. Man zwang die Familie, das Königreich zu verlassen, vertrieb sie aus ihrem Haus „Glückauf“ in ein Land, das von Krieg und Krisen gebeutelt wurde und sie aller ihrer Privilegien beraubte. Hilde, 1907 geboren, musste mitansehen, wie schwierig es ihren Eltern, ihrer Familie fiel, in ihrer „Heimat“ Fuss zu fassen. Schon als junge Frau war Hilde klar, dass es ihrer eigenen Familie, ihren zukünftigen Kindern einmal viel besser gehen sollte. Früh begann sie sich in Bewegungen zu engagieren, dem Jungnationalen Bund. In Briefen glühte sie für ein Leben nach „völkischen“ Prinzipien, „ganz rein in ihrer Rasse“. 1930 heiratete Hilde Andreas Bonhage, einen Juristen, der wie Hilde zu einem glühenden Verehrer der nationalsozialistischen Idee werden sollte. Und weil die Karriere ihres Mannes nur schleppend in Gang kam, man immer noch gezwungen war, im Haus der Eltern zu leben, begann sich Hilde, obwohl sie schnell Mutter wurde, in der NSF, der Frauenorganisation der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), zu engagieren. Gleichzeitig legte sie sich und ihrer Familie einen über Generationen makellosen Ariernachweis zu, trat wie ihr Mann der Partei bei und begann mit wachsendem Erfolg beider Eheleute immer mehr von den Privilegien der reinen Rasse zu profitieren. Ein makelloses völkisches Leben wurde zum Massstab, ein elitär germanisches Bewusstsein zum einzigen Weg. Dass sie ihre Kinder auch danach erzog, man sich über Juden, Polen, alles Nichtarische herablassend äusserte, gehörte zum Selbstverständnis eines reindeutschen Bewusstseins.

Als Hitlers Partei 1933 an die Macht kam, schien ein Leben in einer neuen Ordnung Tatsache zu werden. Der Erfolg gab der Familie recht, man zog nach der Annektierung vieler Gebiete und dem Einmarsch der Wehrmacht in Polen, nach grossen militärischen Erfolgen des Dritten Reiches in ein 14-Zimmer-Haus in Posen, wo Hilde die Kreisfrauenschaftsleitung der NS-Frauenschaft übernimmt. Endlich die Aufgabe, für die Hilde geschaffen schien! Hilde bekommt ihr sechstes Kind. Andreas ihr Mann leistet seinen Dienst als Freiwilliger an der russischen Front. Ein Leben mit offener Perspektive. 

Aber so wie sich das Kriegsgeschehen 1943 mit aller Deutlichkeit zu drehen beginnt, so nehmen Hildes gesundheitliche Probleme zu. An Tuberkulose erkrankt wird Hilde immer länger aus ihrem Leben als Streiterin der Naziideologie herausgerissen. Was sie vom immer näherkommenden Kriegsgeschehen hört und liest, nimmt ihr den Atem. Aber selbst als im April 1945 die Kapitulation unterzeichnet wird, glaubt Hilde weiter an den Mann mit Schnurrbart, an die Ideologie, die fast ganz Europa in Schutt und Asche legte.

Am 14. Dezember 1945 stirbt Hilde Bonhage in einem ehemaligen Kurhaus in Schwarzwald. Obwohl ihr Mann Andreas noch vier Jahrzehnte weiterlebte, noch einmal heiratete und trotz fragwürdiger Vergangenheit seine Karriere als Jurist wieder aufnehmen konnte, blieb die völkische Euphorie Hildes in der Familiengeschichte der Bonhages lange verborgen. Bis zur Veröffentlichung dieses mutigen, wichtigen und sogfältig geschriebenen Buches. 

„Zwischen Herd und Hakenkreuz“ ist nicht einfach ein Stück Geschichte. Das Buch ist exemplarisch für ein geblendetes Leben. Während sich in Deutschland “völkische Siedlergemeinschaften“ in aller Öffentlichkeit tummeln, sich rechtsradikales Gedankengut wie ein Flächenbrand ausbreitet und Antisemitismus grassiert, sind historisch fundierte Auseinandersetzungen von Gesinnungsverwerfungen bitternötig. Was für ein Irrtum zu glauben, im April 1945 wäre das Schiff mit der Hakenkreuzfahne untergegangen!

Interview

Vor vielen Jahren, ich war noch jung und es ging an einer Weiterbildung um geschichtliche Zusammenhänge, meinte der Kursleiter vor den vier Dutzend Anwesenden; rein statistisch wäre wohl nur eine Person der Anwesenden aktiv im Widerstand gegen den Nationalsozialismus gewesen. In jenem Raum wurde mir klar, wie anmassend es ist zu glauben, man wäre diese eine Person, man hätte doch ganz bestimmt das Zeug gehabt, die Dinge richtig zu lesen und danach zu handeln, mit allen möglichen Konsequenzen. Mit ihrer Offenheit, der Klarheit der Sprache und Tatsachen zeigen sie viel Mut. Sie haben gefragt. Sie haben geforscht. Sie haben sich ausgesetzt. Sie sind Historikerin und damit wohl auch einer Aufgabe verpflichtet. Aber war da nie die Angst, sich damit der Unberechenbarkeit auszusetzen?
Es gab eine Reihe von Ängsten. Es gab die Angst, als Enkelin, Tochter, Nichte, Schwester, Cousine „Nestbeschmutzerin“ zu sein und verstossen zu werden. Stattdessen haben sich die Verwandten bedankt. Sie zeigten sich in Gesprächen erleichtert darüber, dass ich recherchiert und erzählt habe. Viele liessen mich wissen, dass sie endlich verstünden, woher gewisse Gefühle, die sie ein Leben lang begleitet hatten, kämen. Dann gab es die Angst, als Historikerin kritisiert zu werden: als Studie sei das Buch zu unwissenschaftlich, als Romanbiographie sprachlich unterentwickelt, als Biographie nicht sachlich und umfassend genug. Nichts davon ist eingetreten. Unberechenbar ist Geschichte immer; damit leben alle HistorikerInnen. Es kann immer sein, dass jemand Dokumente vorlegt, die man nicht kannte, dass Ergänzendes zutage kommt, das noch nicht zugänglich war, dass man bei aller Sorgfalt Fehler gemacht hat. Dann muss man eine einmal gefasste Position ergänzen, vertiefen, vielleicht korrigieren. Das gehört zur historischen Arbeit. 

© Barbara Bonhage

Hilde Bonhage war eine Frau voller Ideale. Sie wollte eine neue Welt, ein neues Deutschland. Sie setzte sich mit all ihrer verfügbaren Kraft für ihre Ideale ein. Sie schickte sich hinein, für ein grosses Ziel, die Gemeinschaft der Auserwählten. Damals war es die Ideologie der Nazis, die längst nicht untergegangen ist. Sektiererische Gemeinschaften leben genauso vom bedingungslosen Engagement ihrer AnhängerInnen – bis in den Tod. Haben wir nichts gelernt?
Sie sprechen vermutlich die Parallelen an – es gibt sie heute, zweifelsohne. Trotzdem finde ich: Wir haben viel gelernt. Wir schauen hin, erzählen die Geschichte der Opfer, erzählen die Geschichte der Täter – wenigstens tun wir dies in einigen wenigen Familien. Wir setzen Stolpersteine, eröffnen Gedenkstätten und Museen, schreiben Sachbücher und Romane, lesen sie, drehen Filme und schauen sie uns an, durchblättern gemeinsam Fotoalben. Und wir gehen mit dem Stoff so um, dass auch die nächste Generation, die Urenkelgeneration, den Faden aufnehmen und weiterführen kann. Oft werde ich von Gymnasien zu Lesungen eingeladen. Das ist wichtig. Ich habe aber vor allem eins gelernt: Mensch sein bedeutet immer gut und böse in einer Person zu sein. Menschliches Verhalten tritt nicht nur dann zutage, wenn jemand in einer friedvollen, konstruktiven Zeit lebt und sein Leben so zu gestalten vermag, dass nur die guten Seiten zum Ausdruck kommen. Das ist zwar wünschenswert. „Menschlich“ verhalten sich aber leider auch die, welche Böses anrichten. Sie sind Menschen wie wir alle. Das, denke ich, das müssen wir noch besser zu verstehen lernen. Erst wenn wir akzeptieren, dass wir es an Stelle von Hilde vielleicht nicht besser vermocht hätten, können wir erkennen, dass es einfach nur Menschen gibt – es gibt keine bösen oder guten Menschen. Es gibt keine Religion, keine Herkunft, keine Geburt, kein Geschlecht oder kein Sonstwas, das uns zu besseren oder schlechteren Menschen macht. Solches Denken ist überheblich. Im Verlauf eines Lebens kann es sein, dass wir gut und böse handeln. Deshalb müssen wir unser Tun immer wieder neu hinterfragen, um das Gute zu suchen – und es kann sein, dass wir uns trotzdem irren. 

Ich stelle mir Hilde mit ihren Kindern auf einem Spaziergang im von den Deutschen besetzten Polen vor, wie die Kinder von der Mutter ermutigt, die „Einheimschen“, Zwangsarbeiter beleidigen und applaudieren, wenn sie an verrammelten und beschmierten Läden ehemaliger jüdischer Geschäftsleute vorbeigehen. Ist dieses Buch der Versuch, mit einer nicht zu negierenden Scham fertigzuwerden?
Erzählen zu können, ist befreiend. Schämen sollten wir uns nur dann, wenn uns bewusst wird, dass wir selbst Unrecht getan haben. Wenn das Unrecht die Tat anderer ist, sogar eines Vorfahren oder Familienangehörigen, brauchen wir uns eigentlich nicht zu schämen. Solange ich nicht genau wusste, was Hilde getan hatte, habe ich mich trotzdem geschämt. Wofür, wusste ich eigentlich nicht. Sobald ich Hildes Geschichte dann aber öffentlich erzählt hatte, ist meine Scham verschwunden. 

© Barbara Bonhage

Die Fotoalben meiner Familie sind stumm. Sie erzählen nur wenig, je weiter sie zurückliegen. Als mein Vater starb, wurde mir bewusst, wie viel Geschichte und Geschichten er mit ins Grab nahm. War dieses Buch der Versuch, Fotos, Bilder zum Sprechen zu bringen, Idyllen zu hinterfragen?
Zuerst war es der Versuch, die vielen Briefe zu verstehen und in einen Kontext zu bringen. Dann haben mir die wenigen Fotos geholfen, noch mehr zu sehen, als ich aus den Texten herausgelesen hatte. Manche Fotos decken viel auf, daher gefällt mir die Idee, man könnte Fotos zum Sprechen bringen. Und ja, insbesondere bilden Fotos, die vor hundert Jahren entstanden, oft Idyllen ab, da es aufwändig war, ein einzelnes Bild zu produzieren. Es ist daher richtig und wichtig, die alten, vielleicht idyllischen Bilder zu hinterfragen.  

Die Verehrung ihrer Grossmutter Hilde Bonhage für Adolf Hitler hatte religiöse, missionarische Züge. Nichts und niemand konnte dieses Bild in Frage stellen. In der Geschichte zeigt sich immer wieder, wie sehr sich Menschen im blinden Glauben an Personen oder Überzeugungen verlieren können. Sie sind Historikerin. Muss man sich die Hand verbrennen, um die Gefahren von heissen Herdplatten zu „be-greifen“?
Nein, das glaube ich nicht. Diskutieren, lesen, Filme anschauen, nachdenken, recherchieren, und immer wieder auf Fremde und Fremdes zugehen hilft! Man kann viel lernen von anderen Menschen. Gut hinzuhören und mit allen Sinnen wahrnehmen zu versuchen, was gerade geschieht, ist eine wichtige Voraussetzung dazu.

Ich habe das Buch in einer Nacht durchgelesen, erschüttert und belehrt, Man erfährt – ich erfahre – zum ersten Mal, wie geschlossen und lebenfüllend und -erfüllend das NS-System war. Es ist ein im besten Sinn empfindliches Buch, das ohne summarisches Todesurteil auskommt und eben dadurch überzeugt. Adolf Muschg, Schriftsteller

Barbara Bonhage wurde 1972 in Zürich geboren und lebt heute mit ihrer Familie am Zürichsee. Sie studierte Germanistik und Geschichte in Zürich und Paris. Das Schwerpunktthema der promovierten Historikerin ist die Geschichte des Nationalsozialismus. Ihre wissenschaftlichen Publikationen sowie ein Lehrbuch befassen sich mit der Wirtschaftsgeschichte des «Dritten Reichs» aus Schweizer Perspektive. Barbara Bonhage arbeitete als Professorin für öffentliches Management an der Hochschule Luzern und heute als Beraterin im Auftrag von öffentlichen und Nonprofit Organisationen sowie als Autorin.

«Meine Grossmutter war Nationalsozialistin» SRF-Kontext von Sabine Bitter, Host: Monika Schärer, Produktion: Anna Jungen, Technik: Lukas Fretz (22.10.2021, 06:05 Uhr)

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Reto Schlatter

Jessica Lind «Kleine Monster», Hanser Berlin

Wie filigran die Normalität ist, wie leicht scheinbare Harmonie in Schieflage geraten kann und wie nagend und zerstörerisch Schuldgefühle sein können, davon erzählt Jessica Linds Roman „Kleine Monster“. Familie ist alles. Aber eben nicht nur im Guten.

Pia und Jakob werden für ein Gespräch in die Schule geordert. Man glaubt, dass es zwischen Luca, ihrem Sohn, und einem Mädchen in der gleichen Klasse zu einem Übergriff gekommen sein muss. Luca ist sieben und ein „lieber Junge“. So sehr Jakob davon überzeugt ist, dass das, was zwischen den Kindern vielleicht passiert war, nur eine Bagatelle sein kann, so sehr lässt sich Pia verunsichern, weil sie nicht erst seit diesem Vorfall und der Verstocktheit ihres Sohnes, der Weigerung, endlich zu erzählen, was in jenem unbeobachteten Moment passiert war, spürt, dass der Anteil dessen, was ihr an ihrem Sohn fremd, immer grösser wird. Es wächst die Erkenntnis, dass ihr Sohn mehr und mehr ein eigenes Leben führt, dass der Anteil an deckungsgleichem Leben, an Harmonie und totaler Verbundenheit immer kleiner wird. Da wächst ein Mensch, der eigenständig wird, mit all dem Hellen und Dunklen.

Pias Verunsicherung gründet in ihrer eigenen Geschichte, der Geschichte ihrer Familie, ihrer Kindheit, jenem einen Trauma, jenem einen Tag, den die Familie damals zerriss. Was mit Luca passiert, spiegelt die Verwundung aus einer Zeit, die sie lange überwunden glaubte. Pias Eltern wollten Kinder. Weil der Kinderwunsch aber nicht gleich in Erfüllung gehen wollte, entschlossen sich ihre Eltern zu einer Adoption, obwohl sich dann doch noch Kindersegen einstellte. So hatte Pia eine grosse Schwester, Romi – und etwas später gar eine kleine Schwester, Linda. Bis zu jenem Tag, als Pia krank zuhause war. Romi und Linda liefen in den Wald hinterm Haus, zum kleinen See. Pia wunderte sich noch über eine offen gelassene Haustür, dass niemand mehr zuhause war und Romi plötzlich ohne Linda nach Hause kam, alles drunter und drüber ging, Vater und Mutter am Abend am Tisch weinten und man ihr erklärte, es wäre etwas Schlimmes passiert. Linda sei ertrunken. 

Jessica Lind «Kleine Monster», Hanser Berlin, 2024, 256 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-446-28144-8

Der Titel des Romans bezieht sich nicht nur auf die Einsicht, dass sich selbst in kleinen Kindern kleine „Monster“, Ungeheuerlichkeiten verbergen können. Viel mehr sind es die kleinen Monster in jedem von uns, die uns blenden, verleiten, die uns Dinge tun lassen, die wir sonst so niemals gedacht oder getan hätten, die die Wahrnehmung verzerren und uns zu Handlungen nötigen, die eigentlich nicht unserem Naturell entsprechen.

Pia sieht in ihrem Sohn ihre kleine Schwester, einen Engel, der ein Geheimnis birgt. Gleichzeitig spült die Verstimmung zwischen Pia und ihrem Sohn Luca ein altes Schuldgefühl hoch. 

Pias Mutter liebte ihre Kinder alle, wenn auch die leiblichen anders wie das adoptierte. Die drei Schwestern empfanden sich stets als Einheit und Linda tat alles, um ihrer grossen Schwester Romi zu gefallen. Mit jener Katastrophe zerbrach, was zuvor fast alles ausmachte; jenes untrennbare Dreiergespann, die Liebe ihrer Mutter, die in masslose Strenge kippte und nicht zuletzt die Ehe zwischen den Eltern. Irgendwann verschwand Romi aus der Familie, weil man sie für den Tod der Jüngsten verantwortlich machte, weil jener schwarze Tag den Eltern die Gewissheit brachte, einen Kuckuck ausgebrütet zu haben, die drohende Katastrophe nicht früh genug erkannt zu haben.

Zwar weiss Pia auch als Erwachsene von Romi, die mittlerweile zu einer erfolgreichen Influenzerin geworden ist, aber da ist nicht mehr, keine Verbindung. Genauso wie zu den Eltern, die zwar da sind, aber hinter dem schweren Vorhang des Schweigens verborgen.

Mit dem Konflikt Mutter Sohn bricht auf, was im Untergrund über Jahrzehnte mottete. Warum fühlt man sich so sehr ausgeschlossen von der Welt der Nächsten? Warum hat man so wenig Einfluss auf die Reaktionen dessen, was ein Unglück auslöst? Jessica Lind verwebt geschickt zwei Handlungsstränge, die sich gegenseitig spiegeln, die sichtbar machen, wie sehr man geführt, geleitet und bestimmt wird von Erfahrungen und Erlebtem aus der Vergangenheit. Jessica Lind erzählt, ohne zu psychologisieren, ohne die Szenerie über die Massen aufzuladen. Aber weil die Autorin durch ihre Erfahrungen als Drehbuchschreiberin sehr gut weiss, dass gut dosiertes Erzählen reicht, um im Kopf von Leserinnen und Lesern Kaskaden von Deutungen auszulösen, leuchtet die Autorin mit Bedacht aus. 

„Kleine Monster“ ist auch ein Roman über das überstrapazierte Soziobiotop Familie. In diesem kleinen, vermeintlich stillen See blubbert es ganz ordentlich aus dem Untergrund. Ein Roman, der mich begeisterte!

Interview 

Ich bin mir nicht sicher, ob sich der Titel Ihres Buches so sehr auf die unguten, verborgenen Schattenseiten eines Kindes, auf die Art und Weise, wie Kinder die Situation so ganz anders einschätzen können, bezieht. Sind kleine Monster nicht auch all die Schuldgefühle, Versäumnisse, die wir ein Leben lang mit uns herumschleppen, die dauernd in unser Tun eingreifen?
Ich verstehe meine Texte immer als Einladung an die Lesenden, mitzufabulieren. Dafür arbeite ich sehr gerne mit Leerstellen, Versatzstücken aus der Mythologie und auch Metaphern. Ich freue mich also, wenn der Titel auf verschiedene Weisen interpretiert werden kann. Auch das Cover, auf dem eine Kinderhand die Idylle durchbricht, hat einen doppelten Boden. Ihre Interpretation trifft den Kern der Erzählung sehr gut, wenn wir uns nicht mit unserer Vergangenheit auseinandersetzen, wird sie uns irgendwann einholen.
 
Familien sind heikle Gebilde. Ich bin Vater von fünf Kindern. Zusammen mit meiner Frau haben wir es geschafft, uns einigermassen schadlos durch die intensivste Familienzeit zu schiffen. Wobei ich mir dessen nicht restlos sicher bin, würden wir wirklich in die Tiefe tauchen. Geholfen hat uns damals unsere unverkrampfte, instinktive Art, mit Problemen umzugehen. Und doch gibt es kein Rezept, wie man an Katastrophen vorbeischippern kann. Was wird sein, wenn dereinst Ihre Kinder Ihre Romane lesen?
Mir ist es sehr wichtig, meinen Kindern die Freude am Lesen zu vermitteln. Bis jetzt hat das ganz gut geklappt und ich hoffe, dass sie zu neugierigen Lesern heranwachsen werden. Bücher sind eine hervorragende Übung zur Empathiebildung und ermöglichen in ganz verschiedene Lebensrealitäten einzutauchen. Ich bin gespannt, in welchem Alter sie sich für die Probleme meiner Hauptfigur interessieren werden.
 
Familie wird seit Jahrhunderten idealisiert. Die „heilige Familie“ steht ganz oben an der Spitze aller Ideale. Heute macht es den Eindruck, als wäre für viele Paare die Familie ein Projekt. Man hat eine Familie, ohne je eine Familie zu sein. Familie ist Arbeit, Auseinandersetzung, Konfrontation, Hingabe und Kraftakt. Die Angriffsflächen für Familien werden immer grösser, sei es der Einfluss der Medien, die düster scheinende Zukunft oder all die Ängste, die im Netz geschürt werden. Ist ihr Roman nicht auch ein verschriftlichter Kippzustand zwischen den Extremen?
Für meine Arbeit sind Familien vor allem ein wunderbares Experimentierfeld. Die Familie ist eine Kernzelle, in die sich von aussen schwer hineinschauen lässt, die einzelnen Rollen sind stark aufgeladen – jede*r hat eine Vorstellung davon, wie eine gute Mutter, wie ein guter Vater zu sein hat. Diese grosse Nähe ist auch ein idealer Nährboden für alles Unheimliche, was ja meinem Schreiben auch innewohnt. Politisch betrachtet, finde ich es immer wieder Schade, wie eng Familien gedacht und wie sehr sie dazu benutzt werden, Entscheidungen auf die individuelle Ebene abzuwälzen, Stichwort Kinderbetreuung.
 
Pia ist eine Gefesselte, eine Mutter, die auf Abwehr geht, jenen Teil eines Geheimnisses nicht lüften will, das Pia wie einen Alp durch ihr Leben begleitet. Ein Mann, dem scheinbar alles viel leichter fällt, nicht zuletzt der Zugang zu seinem Sohn in einer schwierigen Zeit. Warum lassen wir uns so leicht fesseln, zurückbinden?
Was mich seit meinem ersten Roman sehr beschäftigt, sind Rollenbilder. Welche Erwartungen an eine Rolle sind in uns eingeschrieben? Und was passiert, wenn sie nicht erfüllt werden? Dabei braucht es die Verurteilung von aussen nicht einmal unbedingt, weil wir selbst streng mit uns ins Gericht gehen. Die Rolle des Vaters hat sich in den letzten Jahrzehnten mehr verändert, als die der Mutter. Väter werden immer mehr in die Erziehung eingebunden. Dadurch ist das klassische Rollenbild aufgebrochen und mir kommt es vor, als könnten sie freier agieren. Zum Beispiel, bringt der Vater das Kind zu spät in den Kindergarten, wird er trotzdem gelobt, weil er sich kümmert. Ist die Mutter zu spät dran, hat sie ihr Leben nicht im Griff. Das ist natürlich überspitzt formuliert – aber ich schaffe ja auch in meinen Romanen Situationen, die die Figuren über ihre Grenzen hinaustreiben.
 
Sie sind selber Mutter. Dass man ihren Roman zu ihrer eigenen Geschichte machen will, kann leicht passieren. Es scheint in der Literatur zu einer Mode zu werden, Texte nach ihrem „Wahrheits-, Realitätsgehalt“ prüfen zu wollen. Man scheint der Fiktion nicht mehr zu trauen. Dabei ist doch alles ebenso Realität wie Fiktion. Aber in Zeiten, in denen Schreibende wie Annie Ernaux zu Göttinnen der Literatur erklärt werden und autobiographisches Schreiben zum Mass aller Dinge (zumindest bei einem Teil der LeserInnen). Braucht Literatur bald einen Beipackzettel?
Ich glaube, der Unterschied zwischen Fiktion und Autofiktion ist gar nicht so gross. Von der „Realität“ ist beides entfernt, weil ja jeder Roman gestaltet wird. Der Unterschied liegt im Material, benutze ich Selbst-Erlebtes, bediene ich mich an Fabeln oder mache ich eine ausgiebige Recherche und verwende die gewonnenen Erkenntnisse, um daraus meine Geschichte zu bauen? Beipackzettel halte ich für unnötig, weil ja so oder so das Ergebnis tragfähig sein muss.
 

Jessica Lind, 1988 in St. Pölten, Österreich, geboren, lebt heute mit ihrer Familie als Drehbuchautorin und Schriftstellerin in Wien. Sie studierte an der Filmakademie Wien und schrieb u. a. mit der Regisseurin Magdalena Lauritsch den Film «Rubikon«. 2015 gewann sie mit der Erzählung «Mama» den open mike, woraus ihr gleichnamiger Debütroman hervorging. 

Beitragsbild © Pamela Russmann

Hans Augustin «Als ich mit Z zu Abend aß», edition laurin

Wenn Literatur fiktional erzählt, ist alles möglich. Dabei spielt auch die Frage, wie raelistisch eine solche Fiktion sein könnte, keine Rolle. Literatur darf alles, fast alles. Hans Augustin hat sich in „Als ich mit Z zu Abend aß“ keine Grenzen gesetzt, keine räumlichen, schon gar keine, die sich an der Realität messen müssten. Sein Roman ist köstlich!

Einen Tarnmantel nutzte schon Siegfried im Nibelungenlied, als er einen solchen vom Zwerg Alberich erringt. Die Vorstellung, was man mit einem solchen alles tun könnte, hat den Schriftsteller Hans Augustin so sehr fasziniert, dass er seinen Protagonisten etwas tun lässt, was sonst undenkbar wäre.

Noah Greenfield ist Regisseur einer Theatertruppe, die ganz überraschend eine Einladung ins russische W (Wladiwostok?) bekommt, um dort Shakespeares Sommernachtstraum aufzuführen. Man entschliesst sich hinzufliegen, obwohl ausgerechnet während der Hinreise der kriegerische Überfall Russlands auf die Ukraine beginnt, Putins „militärische Spezialoperation“. Noah Greenfield spricht leidlich russisch und findet wegen einer zerrissenen Hose in der Maxim-Gorki-Ulica eine Änderungsschneiderei, Shlomo Stoff, wo ihm ein Sakko auffällt, das er anprobiert, obwohl ihn der Schneider darauf hinweist, es wäre für einen ganz bestimmten Kunden, der das Kleidungsstück aber erst noch abholen werde. Zu Greenfields Überraschung verspricht ihm der Schneider ein ganz exklusives Abenteuer, in jenem Sakko eine Begegnung mit Z, dem Präsidenten, dem Mann im Kreml. Greenfield, der die Inszenierung ungewöhnlicher Situationen liebt, lässt sich auf das Angebot ein und findet sich mit einem Mal, das Sakko angezogen, in den Räumen des russischen Präsidenten in Moskau.

Hans Augustin «Als ich mit Z zu Abend aß», edition laurin, 2024, 104 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-903539-42-6

Schon als Greenfield die Schneiderei verlässt, merkt er, dass sein Spiegelbild in den Schaufenstern fehlt, dass man ihn im Supermarkt nicht bemerkt. Und als er sich am Empfang in den Regierungsräumen des Diktators unter den geladenen Gästen bewegt, bemerkt den unsichtbaren Gast niemand. Man wundert sich höchstens, dass immer wieder ein Häppchen auf einem Teller verschwindet oder der eine oder andere Gast einen ziemlich ungeschminkten Kommentar hinter seinem Rücken hören muss, Bemerkungen, die man nicht einmal auf den Strassen Moskaus ungestraft aussprechen könnte, nachdem mit dem Einmarsch der russischen Truppen ein Gesetz verabschiedet wurde, dass nur schon die Verwendung des Wortes Krieg mit 15 Jahren Gefängnis bestraft.

Greenfield kümmert das wenig. Er pirscht sich gar an den kleinen, gedrungenen Mann, dem ergebene Gefolgsleute und Speichellecker den Hof machen, flüstert auch dort, bis im Saal Unruhe ausbricht und der eine oder andere glaubt, dem Wahnsinn verfallen zu sein. Nach dieser ersten Konfrontation mit dem Präsidenten Z (auch wenn diese mit einem Unsichtbaren ungleich ist), einer eigentümlichen Nacht in einem Hotel und der Begegnung mit der Künstlerin Daria Bulak, schleicht sich Greenfield am nächsten Tag in Putins Privatvilla in der Rubljowka-Chaussee, vorbei am Wachpersonal, bis er im stillen Obergeschoss auf den einsamen kleinen Mann trifft, den ehemaligen Geheimdienstoffizier, der sich an einem kleinen Tisch an sein Abendessen macht. Greenfield nimmt sich ein zweites Gedeck und setzt sich dazu, ganz zur Verwunderung der Bediensteten Alissa, die sonst mit keinen Gästen in den Privatgemächern ihres Präsidenten rechnet.

So sitzen sich Greenfield und Z gegenüber. Greenfield zieht sein Sakko aus und konfrontiert den perplexen Mann mit Wahrheiten und Forderungen, die dem russischen Präsidenten sonst niemand zu formulieren traut, nicht zuletzt einem Ausweg, sich ungesehen zum Verschwinden zu bringen, um in seiner mehr und mehr verfahrenen Lage nicht irgendwann ein Ende mit Schrecken zu finden.

Was Hans Augustin auf seiner kleinen Bühne inszeniert, ist köstlich und befriedigt einem bei der Lesung wenigstens in der Fantasie, auch wenn die Realität damit nicht beschönigt werden kann. Hans Augustin beschreibt das Groteske, sowohl das Groteske der Realität, wie auch das Groteske des Fantastischen. So sehr die Argumentationen, das Gehabe und die Inszenierung einer alternativen Wahrheit aus offizieller russischer Perspektive eine Groteske ist, ein inszeniertes Theater mit Zehntausenden von Statisten, die ihren Einsatz am Rand der Bühne mit dem Leben bezahlen müssen und im Hintergrund, an der Front dieser „militärischen Spezialoperation“ für Generationen kein Stein auf dem anderen bleibt, so sehr ist die kleine Bühne in den Privatgemächern des Präsidenten eine Groteske. Der Mann, der Greenfield gegenübersitzt, ist bloss ein Mann.

Interview

Ich amüsierte mich köstlich, auch wenn mich bei meinem Spass ein beklemmendes Gefühl beschlich, ist doch Z der Kopf einer Maschinerie, der bisher Tausende zum Opfer fielen, unsägliche Grausamkeiten mit sich brachte und einen Landstrich so gross wie die Schweiz in Schutt und Asche legte. Aber einen Stellvertreter zu begleiten, der dem Mann in Moskau ungeschönt die Meinung sagt, das allein war die Fantasie wert. Und doch scheint in diesem Roman auch viel Ratlosigkeit zu stecken. Wie soll man angesichts der Ausweglosigkeit Hoffnung aufrecht erhalten?

Ratlosigkeit, insofern, als diese Geschichte mit größter Wahrscheinlichkeit nicht stattfinden wird. Risiko, daß Greenfield im Moment des Sichtbarwerdens, eliminiert wird. Das habe ich – literarisch – ausgeschlossen. 

Die Frage nach der Aufrechterhaltung von Hoffnung, rührt stark an die Frage, warum ist mit dem Leben überhaupt die Erfahrung von Leiden verknüpft? Wie viele unserer Handlungen dienen der Vermeidung von Leiden und Schmerz? 
Selbst in der Erfahrung der Freude ist eine Ahnung von Schmerz verborgen, denn Freude ist oft nur von kurzer Dauer. Lao Tse äußert sich dahingehend, daß der Sieger (nach einer Schlacht) die Feier eher einer Totenklage ähnlich sein soll. Dieses Thema ist Kern der Theodizee: wie ist Leiden mit der Allmacht Gottes zu vereinbaren? Falls Gott ein Thema ist.

Mit der Dauer unerfüllter Hoffnung, wird Ausweglosigkeit oder Hoffnungslosigkeit deutlicher. (Wie sieht der Widerstandswille in der Ukraine nach fünf Jahren Krieg aus?) Ist Ausweglosigkeit eine Koordinate des Schicksals? Wer oder was trägt Schuld daran? Sie beschäftigt die Menschen von jeher. 
Sind Leid und Hoffnung (vom Leiden befreit zu werden) der Schöpfung immanent? Muß man – als Hoffender – religiös sein? Hoffen Tiere auch? Bisweilen könnte man das durchaus in Betracht ziehen. Die Treue eines Hundes, der jahrelang auf die Rückkehr seines Besitzers am Bahnhof wartet, hofft. (Film: „Das Leben von Hachiko“)

Woran denken Menschen oder was empfinden sie, wenn sie von Hoffnung sprechen? Von der Beendigung einer un(aus)haltbaren Situation? Manche verwechseln Hoffnung mit der Erfüllung eines Wunsches (Lotto-Gewinn).
Was passiert, wenn Hoffnung enttäuscht wird? oder man nicht (mehr) hoffen kann? Es gibt in der Literatur nicht wenige Charaktere, an deren Schicksal Hoffnung – trotz allem – deutlich wird (Hiob); Hoffnung beinhaltet auch das Unerwartete.

Ist Hoffnung ausschließlich das Gefühl, daß etwas gut werden wird? Aber wie groß ist die Gewißheit? Die Frage nach dem Aufrechterhalten von Hoffnung angesichts einer ausweglosen Situation ist individuell, und allgemein schwer zu beantworten.

Und man darf die Fähigkeit des Menschen, sich etwas wünschen zu dürfen, nicht unterschätzen; auch wenn Wunschdenken bisweilen belächelt wird.
Unter Umständen ist der Wunsch der Bruder der Hoffnung.

Die Idee einer Tarnkappe, eines Tarnmantels ist alt und bis in die moderne Kriegsführung Ziel vieler Anstrengungen. Selbst bei Tolkiens „Herr der Ringe“ gibt es Elbenmäntel, mit denen man vor Blicken unliebsamer Augen bewahrt wird. Es gäbe auch in der hiesigen Politik Machtmenschen genug, denen ich beim Blick in den Spiegel gerne unsichtbar etwas ins Ohr flüstern würde. In ihrem Roman lese ich viel Vergnügen ihrerseits. Aber auch die Lust, den Machthaber in Moskau in seiner eigentlichen Normalität zu zeigen?

Ich habe beim Schreiben des Romans (eigentlich eine Art Märchen) sehr große Lust verspürt, jemandem, dem man unter normalen Umständen nie nahe kommen kann, mitzuteilen, was Sache ist. 

Normalität ist ein schwieriger Begriff; ist Normalität der „Standard“? Ist das Adjektiv “normal“ normal? Was bedeutet es, “abnormal“ zu sein? Wo verläuft hier die Grenze?
Waren Nero, Stalin, Pol Pot, Pinochet etc. normal? War Bonhoeffer – angesichts der Kenntnis der Folgen seines Widerstandes – normal? Wäre es nicht besser gewesen, in den USA zu bleiben; aber nein, er geht zurück nach Deutschland, in den „Widerstand“. War die Rückkehr des Alexej Nawalny „normal“? Was läßt diese Menschen eine Entscheidung treffen, die in uns Befremden und Unverständnis auslöst?
Z in seinem „normalen“ Umfeld zu zeigen, was realiter nicht möglich ist, war ein starkes Motiv; ich habe mir die Freiheit genommen, ein Abendessen mit Z – durch den Trick der Unsichtbarkeit – zu erzwingen. Es hat Z ratlos gemacht. (Auf so etwas sind Geheimdienstleute nicht vorbereitet).

Wir haben diplomatisch, politisch, wirtschaftlich (bis jetzt) keinen Erfolg erzielt; vielleicht gelingt es einer literarischen Herangehensweise; das „Entzaubern“ eines Präsidenten, der alle Anzeichen eines Diktators hat; Z ißt und trinkt wie jeder andere Mensch, er lebt abgeschirmt von der Öffentlichkeit, verfügt über mehrere Adressen, die nicht aufscheinen, um Attentaten aus dem Weg zu gehen, d.h. er hat auch Angst; er verfügt über eine große Anzahl an Geheimdienstleuten, und dennoch gelingt es einem Theaterregisseur, an seinem Tisch zu sitzen. Rein fiktiv, aber der Fiktion haftet eine gewisse Dimension realer Umsetzung an – es könnte sein, daß …

Der Konflikt rund um den kriegerischen Einmarsch der Russen in die Ukraine ist derart verfahren, dass pragmatische Lösungen kaum mehr möglich sind. Wie sollte Putin, ohne sein Gesicht zu verlieren, das Begonnene stoppen? Er führt einen „heiligen“ Krieg mit dem Segen seiner Vertauten, all jener, die wirtschaftlich und machtpolitisch von der Nähe zu Putin profitieren, die mit ihm untergehen werden, wenn sein Stern dereinst sinken oder gar fallen sollte. Die Stimme Greenfields könnte auch das Gewissen sein. Auch Putin wird eines haben. Kann man sich derart taub stellen?

Offenbar gibt es so etwas wie einen „Mechanismus“, der Mitgefühl ausblendet; dafür muß man ausgebildet sein; für mich ist das Verhalten von Z Beweis der Ausbildung zum KGB Offizier. Sie belegt ihre Faktizität, ihre Funktionalität. Was immer die Inhalte dieser Ausbildung gewesen sind, das Ergebnis beweist es. Z ist ein Geheimdienstoffizier (das übersehen Gesprächspartner ausländischer Regierungen ständig; Z ist als Präsident nicht vergleichbar mit dem Präsidenten von Norwegen oder Portugal).

Sich „taub-stellen“ wäre ein Hinweis auf eine bewußte Entscheidung, in bestimmten Momenten, bei Ereignissen taub zu sein; Taubheit und Blindheit sind physische Defekte, Einschränkungen, die (teilweise) medizinisch therapierbar sind; in diesem Fall ist die Medizin (mit Ausnahme der Psycho-Pathologie) außen vor. 
Wer sich taub stellt, hat ein Motiv. Und das ist auch antrainiert, um etwas zu erreichen. Und um gegen Empathie immun zu sein. 
Diese Fähigkeit außer Betrieb zu nehmen, ist eine bewußte Entscheidung.

Sie schicken Greenfield ihren Protagonisten als friedsamen Menschen in die Höhle des Löwen. Dieser nennt den Diktator bei seinen Einflüsterungen gar „Wobitschka“, wohl eine Art Kosewort. Hätten Sie den Mann mit einer Waffe geschickt, wäre das Buch ein ganz anderes geworden. Aber eines, das man auch schreiben könnte und das wahrscheinlich viel mehr Aufmerksamkeit und Leser*innen generieren könnte. Greenfield ist Theaterregisseur. Er inszeniert. Und mit einem Mal ist er mitten in einer ganz speziellen Inszenierung. Glaubt er tatsächlich, oder glauben Sie an die Macht der Vernunft?

Die Theaterliteratur oszilliert immer zwischen Sein und Schein; am Ende einer Tragödie stehen die Toten auf und gehen nach Hause (nach dem Applaus), in der Realität werden sie begraben.

Am Beginn des Interviews war die Frage nach der Hoffnung; Vernunft beinhaltet meistens die Sehnsucht nach Hoffnung einer Veränderung, ob sie erfüllt wird, ist ein anderes Thema. Ob die Vernunft siegt, ebenso.
Vernunft hat Macht, solange Vernunft anerkannt ist; solange keine Begehrlichkeiten als „Vernunft“ vorgeschoben werden; Greenfield glaubt als Mensch und Regisseur, daß über Vernunft etwas erreicht werden, was am Theater (oder Film) gezeigt werden kann, auch wenn das Ende nicht nach Vernunft aussieht; man darf nicht übersehen, daß Kunst eine Ersatz-Funktion hat; die Darstellung einer Realität, bedient sich der „Übersetzung“ und wirkt mehr als das direkte Erleben.
Die griechische Tragödie hat den Politikern vor Augen geführt, was passiert, wenn z.B. die Perser Athen angreifen. 
Zwischen „an die Vernunft glauben“ und sie umsetzen liegen bisweilen Kriege und Katastrophen.

In der Literatur scheint reine Fiktion aus der Mode gekommen zu sein. Man misstraut ihr. Dabei ist Literatur, Kunst doch genau der Ort, wo alles möglich sein sollte. Es geht Ihnen doch auch nicht nur darum, Ihrer Fantasie Platz zu geben. Ihr Roman soll doch auch zur Selbstreflexion animieren. Oder darf Literatur bloss noch unterhalten?

Es ist gar nicht die Frage des Dürfens; Literatur unterhält, das ist ihr immanent. Literatur bildet auch. Bereits der Titel eines Werkes ist Unterhaltung; das Problem scheint mir zu sein, daß der Begriff „Unterhaltung“ eine Bedeutung der Oberflächlichkeit hat. Als ob man Unterhaltung vermeiden sollte, weil der Inhalt viel zu ernst ist. Bei manchen Werken ist die Wirkung, die als Unterhaltung gesehen wird, peinlich, unangenehm.
Manchmal wirkt der erhobene Zeigefinger, aber die elegantere Form einer Kritik ist die Unterhaltung (mit Augenzwinkern).

Unterhaltung ist Mittel zur Selbstreflexion (s. z.B. Nestroy u.a.) Man darf das Lachen (bis in das Restaurant) und die „Unterhaltung“ danach, nicht unterschätzen; denn das auf der Bühne Erlebte wirkt lange nach. Je nach Ereignis (Theater, Oper, Lektüre): manche bringt eine Szene in einem Buch oder im Film zum Weinen; eine sterbende Desdemona ist im Moment ihrer Arie tragisch, aber mit dem Tod ist das Schicksal beendet; das Motiv (Eifersucht) der Ermordung weckt Abscheu. Und kommt trotzdem immer wieder vor. 
Über menschliche Schwächen der Anderen läßt sich vortrefflich lachen (und unterhält sich darüber), und lacht dabei mitunter über sich selbst.

Hans Augustin, 1949 in Salzburg geboren, Studium der Philosophie, Archäologie und Kunstgeschichte in Salzburg, Medizin- und Italienischstudium in Innsbruck, 1981 Gründung der Handpresse, lebt seit 1976 in Tirol, zahlreiche Publikationen, Ausstellungen und Auszeichnungen, zuletzt Salzburger Lyrikpreis 2006.

Beitragsbild © edition laurin

Monika Maron «Die Katze», Hoffman & Campe

Von Katzenhaltung zu sprechen, wird den meisten Beziehungen zwischen Katze und Mensch nicht gerecht. Wie kein anderes Tier schaffte es die Katze, trotz ihrer Eigenwilligkeit, Synonym für Wohlbefinden, Nähe und Zweisamkeit zu werden. Dass sich die Begegnung mit einer Katze aber auch zum Alptraum auswachsen kann, davon erzählt Monika Maron, eine der ganz Grossen der Deuschen Literatur.

Vielleicht ist es genau diese Eigenwilligkeit, die die Katze zu einem Kuscheltier macht. Man muss sich ihre Zuwendung verdienen. Katzen haben nichts von hündischer Ergebenheit. Und weil Katzen ihre Reinlichkeit ganz offen demonstrieren und damit ihren Jagdinstinkt zu kaschieren verstehen, wird die Katze, obwohl ursprünglich Raubtier, zum Kuschelprototypen. Dass Monika Maron keine Katzenhalterin ist, sondern seit Jahren begleitet von einem Hund, verwundert mich nicht. Zwei prägnante, eigenwillige Individuen unter gleichem Dach? Aber weil Monika Maron, oder zumindest die Erzählerin in diesem schmalen, schmucken Buch, ein Herz für Tiere hat, erweicht sie der Anblick einer räudigen Katze am Strassenrand, kurz vor einer Reise nach Budapest. Die nimmt sie mit nach Hause, tut alles, dass es der Katze wieder besser geht, unterschätzt aber die Eifersucht ihres Hundes. Und so kommt es, wie es kommen muss. Nur dass der Biss weder die Katze noch den Hund erwischt, sondern die Erzählerin.

Monika MAron «Die Katze», Hoffmann und Campe, 2024, 64 Seiten, CHF ca. 24.90, ISBN 978-3-455-01884-4

Wird man so für seine Fürsorge, seine Hingabe, die Hilfe, die Liebe belohnt? Ob dieses Buch auch eine Zustandsbeschreibung für die Trennung des ehemaligen „Heimatverlags“ S. Fischer nach 40 Jahren Veröffentlichungen mit der Autorin ist, weil sie bei einem rechtsnahen Verlag ein Essay veröffentlichte, weiss ich nicht, lässt dies aber im Hintergrund vermuten. Monika Maron war und ist eine eigenwillige Schriftstellerin, eine die polarisiert und sich mit ihrer eigenen Meinung nicht zurückhält, einer Meinung, die durchaus kontrovers und sperrig ist. Aber man kann die Erzählung auch einfach als Parabel lesen, wie schnell sich eine gute Absicht gegen einem selbst wenden kann. Raubtier bleibt Raubtier.

Gebissen, verwundet, mit wenigen Handgriffen verarztet macht sich die Erzählerin auf den Weg nach Budapest, auch wenn sie schon auf dem Flughafen und noch mehr im Flugzeug spürt, dass sich die Entscheidung, den Biss auf die leichte Schulter zu nehmen, rächt. In Budapest angekommen, eingespannt in Termine, beginnt ein Amoklauf der Bakterien im Körper der Autorin. Ihr Zustand verschlechtert sich zusehends. Und obwohl ihr eine fürsogliche Begleitung zur Seite steht, wird aus dem Spiessrutenlauf zwischen Ärzten und Terminen ein Kampf bis ganz nahe an die Katastrophe.

Klar liest man jedes neue Bücher dieser Autorin nach Zeichen jener Trennung, nach Ursachen und Wirkungen. Monika Maron wollte vielleicht auch bloss eine gute Geschichte erzählen, was ihr unzweifelhaft gelungen ist, sowohl handwerklich wie sprachlich. Ob ich als Leser dieser Geschichte nun die eine oder andere Bedeutungsebene unterschiebe, bleibt Leserinnen und Lesern überlassen. Aber ich traue der Autorin viel mehr zu. Auf jeden Fall hat die Erzählung Biss!

Interview

Man kann ihre Erzählung einfach als gute Geschichte lesen, weil jeder weiss, wie schnell sich eine gute Absicht in eine verfahrene Geschichte auswachsen kann. Das sind Geschichten, die Resonanz, durch eigene Erfahrung genügend Bestätigung finden. Dass die eigenwillige Schriftstellerin beinahe durch eine eigenwillige Katze ausgebremst wird, ist Stoff genug. Was entscheidet, ob ein Text zu einem Buch wird?
Geschichten mit katastrophalem Potenzial, die aber gut ausgehen, offenbaren nachträglich ja auch ihre Komik. Man erzählt sie natürlich seinen Freunden, und mit dem wiederholten Erzählen verdichten sie sich und man selbst entdeckt dahinter Zusammenhänge und Zeichen, an die man, während man es erlebt hat, gar nicht gedacht hat. Und irgendwann sagt dann jemand: die Geschichte solltest du eigentlich schreiben. Und dann schreibe ich sie, so war das mit Bonnie Propeller und mit der Katze auch. 

Gebissen, verwundet, mit wenigen Handgriffen verarztet macht sich die Erzählerin auf den Weg nach Budapest. Es beginnt ein Spiessrutenlauf zwischen Ärzten und Terminen bis zur drohenden Katastrophe. Bei uns in der Schweiz nennt man eine Katze „Büsi“, noch etwas niedlicher als in Deutschland „Schmusekatze“. Die Verkörperung der scheinbaren Harmlosigkeit beisst. Eine Metapher?
Nein, bestimmt nicht. Außerdem war diese Katze ja überhaupt nicht bösartig. Das war einfach ein Unfall. Die Katze wollte sich gegen den wütenden Hund verteidigen und traf versehentlich meine Hand.

Vor ein paar Jahren veröffentlichten Sie die Erzählung „Bonnie Propeller“, eine Liebeserklärung an den verstorbenen Hund und die Erklärung dafür, einen „Neuen“ anzuschaffen. So gross die Liebeserklärung an Bonnie Propeller, so gross die Ernüchterung darüber, was die Eifersucht seines Nachfolgers auslösen kann. Sie zählen zu den bedeutensten Schriftstellerinnen der Deutschen Gegenwartsliteratur, seit bald 45 Jahre, seit ihrem Debüt „Flugasche“. Die beiden Erzählungen sind aber nicht einfach die Hinwendung zum Kleinräumigen. Wir leben in einem Klima des überhöhten Harmoniebedarfs. Streiten ist keine Fähigkeit mehr. Die Katze beisst, das wars. Wie weit steckt Gesellschaftskritik in dieser Erzählung?
Das hieße, dieser Erzählung zu viel aufzuladen. Natürlich spielt sie nicht im luftleeren Raum, ich war nicht nur einfach in Budapest, sondern war eingeladen vom Matthias-Corvinus-Collegium, das oft als Orbans Kaderschmiede bezeichnet wird, das ich aber als eine großzügige Bildungsstätte mit offenem Meinungsstreit erlebt habe, was in der Geschichte auch vorkommt wie kleine Erinnerungen an Vergangenes oder Beobachtungen am Rande. Einen überhöhten Harmoniebedarf in der Gesellschaft erkenne ich eigentlich nicht, eher das Bedürfnis nach ergebnisoffenem Streit ohne Diffamierungen und Verdächtigungen. Die Katze hat damit nichts zu tun. Sie wollte sich verteidigen, das ist ihr Recht.

Nach 40 Jahren kündigte S. Fischer die Partnerschaft mit ihnen, weil sie kein Blatt vor den Mund nehmen. Steckt in dieser Erzählung auch der Schmerz über jenen Biss?
Oh Gott, nein. Ich fühle mich bei Hoffmann und Campe gut aufgehoben. 

Sie schreiben Den Katzenbiss interpretiere ich als eine Mahnung und eine Vorbereitung auf meine möglich Zukunft und nahm mir vor, mich in Sanftmut und Freundlichkeit zu üben. Beobachtet man die aktuellen Debatten auf politischer und gesellschaftlicher Ebene, wären das doch durchaus allgemeingültige Tugenden, die man sich vornehmen müsste. Gelingt es ihnen?
Sanftmut und Freundlichkeit in politischen Debatten halte ich für unangemessen. Da geht es eher um die Bereitschaft, andere Meinungen ernst zu nehmen und zu ertragen, auch wenn sie scharf und provozierend geäußert werden und den eigenen Positionen extrem widersprechen. Mir ging es um die Demut gegenüber der eigenen Sterblichkeit und ihren kränkenden Vorboten, womit ich zum ersten Mal leibhaftig konfrontiert war. 

Monika Maron, geboren 1941 in Berlin, ist eine der bedeutendsten
Schriftstellerinnen der Gegenwart. Sie wuchs in der DDR auf, übersiedelte 1988 in die Bundesrepublik nach Hamburg und lebt seit 1993 wieder in Berlin. Sie veröffentlichte zahlreiche Romane und mehrere Essaybände. Ausgezeichnet wurde sie mit zahlreichen Preisen, darunter der Kleistpreis (1992) und der Deutsche Nationalpreis (2009).

weitere Besprechungen auf literaturblatt.ch zu Büchern von Monika Maron

Beitragsbild © Jonas Maron

Jürg Beeler «Der blinde König und sein Narr», Dörlemann

Manchmal gibt es das eine nicht ohne das andere, selbst in der Liebe. In „Der blinde König und sein Narr“ verliebt sich der Erzähler, ein Schriftsteller, in eine Antiquarin. Beide lieben die Sprache, Bücher. Wenn Mara nur diesen Papagei nicht hätte, ein Tier, das sich mehr und mehr nicht nur zwischen die beiden stellt, sondern dem Schriftsteller all die lieben Gewohnheiten nimmt.

Jürg Beeler ist kein Plotschreiber. Seine Geschichten sind die Träger seiner Sprache. Seine Sprache ist sein Instrument. Welches Stück er spielt, ist sekundär. Wichtig ist, dass er spielt, dass ich Gelegenheit habe, seiner Sprachmusik zuzuhören. Es ist der Klang, die Melodie, es sind die leisen Töne, das Dazwischen, das mich an Jürg Beelers Schreiben fasziniert. Da sind die Störungen eines krächzenden Papageien sinnbildlich, eigentlich kaum zu übertreffen. Vor allem dann, wenn es der blinde König (Maras Papagei ist auf einem Auge blind und auch das andere trübt mehr und mehr ein.) schafft, seinen Narr zu seinem getreuen Untergebenen macht, wenn aus der unliebsamen Begleiterscheinung über die Zeit eine manchmal fast grotesk erscheinende Zweisamkeit wird, auf die der König nicht verzichten kann und sein Narr nicht verzichten darf.

Der Erzähler lebt als Schriftsteller schon einige Jahre im Norden Deutschlands, blieb wegen einer Frau hängen. Weil der Süden, das Meer, die lauen Winde, die mediterane Landschaft aber Sehnsuchtsort geblieben sind, setzt der Erzähler alles daran, seinen damals verlassenen Schreibort wieder zurückzugewinnen. Er kauft sich aus der Ferne ein Haus, an dem Ort, wo er die Stille wiederfindet, die Cafés, Bistros und Bars, die ihm zu Schreib- und Lebensorten wurden, weg aus der feuchten Kühle des Nordens.

Jürg Beeler «Der blinde König und sein Narr», Dörlemann, 2024, 176 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-03820-142-

Ausgerechnet in dieser Zeit des Aufbruchs, der Neuorientierung, verliebt sich der Erzähler in Mara, die in der Stadt ein Autiquariat führt. Und weil sie mit dem Gedanken spielt, ihr Antiquariat an einen Nachfolger, der bereits feststeht, weiterzugeben, ist der Gedanke, mit ihrem Liebsten in den Süden zu ziehen, ein durchaus reizvoller. Wenn da nur Friedolin nicht wäre. Ein gefiederter Schreihals, ein Krachmacher, ein Senegalpapagei, ein Tier, das an ihr hängengeblieben war und sich längst zum fixen Familienmitglied gemacht hatte. Friedolin mit ie strahlt so gar keinen Frieden aus. Da ist ein Tier, das durch sein besitzergreifendes Gehabe sehr schnell klar macht, dass mit keinerlei Entscheidungen an ihm vorbeigegangen werden kann. Friedolin schafft es mit Leichtigkeit, den Erzähler in seine Absichten einzubinden. Erst recht, als Mara ihn bittet, in der Zeit der Geschäftsübergabe für Fiedolin da zu sein. Noch viel mehr als Maras Nachfolger gesundheitliche Probleme bekommt und Maras Absenzen in der sich langsam auflösenden Wohnung immer länger werden.

Zwischen dem Tier und dem Erzähler entwickelt sich eine Schicksalsgemeinschaft, ein Machtkampf, der bis zum Überlebenskampf wird. An Schreiben ist nicht mehr zu denken. Im Gegenteil. Der Erzähler wird mehr und mehr zum Narr des blinden Königs und als man sich mit dem Auto zu zweit unterwegs in den Süden macht, weil der Erzähler glaubt, seine Anwesenheit dort sei unbedingt erforderlich, wird aus dem ungleichen Miteinander in der Stadt ein wilder Roadtripp in den Süden. Was würden Sie sagen, wenn sie an einer Rezeption eines Hotels einem Mann mit einem Papagei auf der Schulter begegnen würden, einem sonst stillen Mann, dessen Vogel am Ohr seines „Herrchens“ knabbert und seinen Unwillen über dessen Entscheidungen mit lautem Krächzen quittiert.

So poetisch die Formulierungen, wenn es um das Daseins eines Schriftstellers geht, um die Ergebenheit in ein überstülptes Schicksal, in die Liebe zur Sprache, ebenso wie zur Stille, so witzig und grotesk sind die Szenerien mit dem Vogel. Es gab schon lange kein Lesevergnügen mehr, dass mir ein so nachhaltiges Lächeln schenkte, wie dieses Buch. „Der blinde König und sein Narr“ ist köstlich.

Und ganz nebenbei ist dieses Buch ein rührendes Porträt einer aussterbenden Gattung Mensch. Jürg Beelers Roman ist durchaus metaphorisch zu verstehen, wenn man die Präsenz der Gegenwart als aufsässiges Kreischen, besitzergreifendes Gehabe versteht.

Interview

Sie erzählen das Buch so, dass die Frage nach Fiktion schnell beantwortet werden kann, auch wenn man dieses Zugeständnis durchaus literarisch verstehen kann. Wie leben in einer Zeit, in der man der Fiktion nicht mehr zu trauen scheint, dabei ist Literatur doch die einzige Möglichkeit, stilvoll zu lügen. Aber im Zeitalter alternativer Fakten und Fakenews ist das Bedürfnis nach möglichst realem Erzählen gross, ob das nun autobiographisch oder autofiktional heisst. Mich ärgert diese Entwicklung. Nicht einmal die Bibel kann wörtlich genommen werden, auch wenn es welche gibt, die das versuchen. Darf Literatur, Kunst nicht viel, viel mehr, als bloss abzubilden?

Wer ist der König, wer der Narr? Der Ich-Erzähler oder der Autor? Eine schwierige Frage. Man setzt sich ein Krönchen auf, und bleibt doch ein Narr. Nun bin ich schon so alt geworden, und immer noch ist es mir nicht gelungen, mein durchsichtiges Krönchen abzulegen, das zum Glück niemandem auffällt.

Was ist fiktiv, was nicht? Das bleibt das Geheimnis des Autors. In diesem Sinne ist „Der blinde König und sein Narr“ ein zugleich offenes und verschlossenes Buch. Dichtung und Wahrheit zugleich, denn die eine ist nicht ohne die andere zu haben.

Natürlich verstehe ich mich mit meinem Ich-Erzähler gut. Aber da verstand ich mich auch mit den Protagonisten meiner früheren Romane. Trotzdem steht unzweifelhaft fest: hätte nicht auch ich mich mit einem Papagei angefreundet, wäre ich mit diesem Erzähler nicht so gnädig verfahren. Trotzdem ärgert er mich immer wieder, und ich erhebe Einspruch und sage ihm, nun, übertreib mal nicht. Natürlich hörte er nicht auf mich. Ich muss aufpassen, dass ich nicht über ihn herziehe. Zum Glück führt er ein eigenständiges, anderes Leben als ich, das mildert mein Urteil ein wenig. 

Der Erzähler ist wegen einer Beziehung im Norden Deutschlands, weit weg von den Orten, an denen er weiss, dass sie ihm beim Schreiben helfen, weit weg vom Süden. Es kommt zur Trennung, weil jene Frau ihn einen Schriftsteller schimpft, der nichts für seine Karriere tut, der noch von Hand schreibt, keine Homepage bewirtschaftet, ohne Facebook oder Twitter. Mir sind solche Menschen höchst sympathisch. Und ich weiss von vielen jungen Menschen, die sich gerne aus den Schlingen der Neuzeit befreien würden. Schwierig bloss, dass sich der Kultur- und Literaturbetrieb ganz stark diesem Intrumentarium bedient, der einsame, stille Schiftsteller ein auslaufendes Modell zu sein scheint. Gibt es eine Angst vor dem Verschwinden?

Das ist eine weitläufige Frage. Was heißt verschwinden? Man kann aus den Medien verschwinden oder in die Medien verschwinden, in beiden Fällen ist man auf unterschiedliche Weise nicht mehr existent. Wir leben in beiden, im privaten wie im öffentlichen Raum. Ist aber das Spiel entschieden, ist die Öffentlichkeit der Sieger, wie das heute der Fall zu sein scheint, so nehmen die Ängste naturgemäß zu: Die Angst, sich selbst zu verlieren, und gleichzeitig die Angst, im öffentlichen Raum niemand mehr zu sein. Das führt, wie der Literaturbetrieb lehrt, zu einer eigentümlichen, mich immer wieder erheiternden Hektik: Jeder versucht sich panisch der eigenen Präsenz im medialen, virtuellen Raum zu versichern. In solchen Zeiten hat es die Literatur schwer, denn die Revolte (oder die existentielle Selbstversicherung) kommt nicht aus dem öffentlichen Raum, sondern aus dem privaten. Und dieser private Raum ist nicht medial verhandelbar. Für eine jüngere Generation ist das nicht einfach. Der öffentliche Raum bietet ihr immer weniger Möglichkeiten der existentiellen Selbstversicherung. Das stimmt mich traurig. 

Die Liebe des Schriftstellers heisst Mara. Sie ist Antiquarin. Auch eine aussterbende Gattung Mensch. Auch Mara kannte die Stille. Die Stille der Bücherschluchten, die Stille der erzählenden Canyons. Still schon. Aber hinter all den Buchrücken rumort es ganz ordentlich. Alle, die lesen, befreien die aufgestauten Geschichten, Stimmen aus dem Papier. Bei mir zuhause ummanteln mich auch Bücher. Sie umarmen mich, betten mich und schützen mich vor der Oberflächlichkeit der Welt. Ob Jürg Beeler oder der Erzähler in ihrem Buch. Er sucht die Stille. Ist Schreiben die Spur durch diese Stille?

Schreiben kann die Spur durch diese Stille sein. Das hängt davon ab, was man unter Stille versteht. Stille ist kein akustisches Phänomen, nicht die Abwesenheit von Lärm. Darin bin ich mit dem Protagonisten einig. Sie ist auch kein Rückzug aus dem Leben. Mein Protagonist stellt fest, dass Stille in jedem Land anders wahrgenommen wird, so wie der Umgang mit der Zeit in verschiedenen Kulturen ein anderer ist. Er sucht, was ihm oft fehlt: die Stille. In diesem Sinne versetzt sie ihn immer wieder in Unruhe.  

Die Spur, die der Erzähler durch die Zeit gelegt hat, ist seine eigene und die durch Jahrhunderte. Sie ist zugleich persönlich und unpersönlich. Auf seinem Weg scheint er etwas gefunden zu haben, das ihm Gelassenheit gibt. Dieses Phänomen versucht er immer wieder in Worte zu fassen. Ich glaube, dass „Der blinde König und sein Narr“ ein gelasseneres Buch ist als seine Vorgänger, dass der Ich-Erzähler den Autor in gewisser Weise angesteckt hat. 

Eine Stille, die sich ausgerechnet in Cafés, Bistros oder Bars findet. Im gleichförmigen Teppich aus Stimmen und Geräuschen. Ein Teppich, der im Süden anders sein muss als im Norden. Warum?

Es ist weniger der Geräuschteppich, der den Norden vom Süden unterscheidet. Deutschland kennt die Tradition des Bistros und Cafés nicht. Es imitiert sie aus Modegründen, doch das Imitat ist immer etwas anderes als das Original. Dort, wo ich lebe, in Südfrankreich, in einer der ärmsten Gegenden des Landes, ist das Bistro oder das Café immer noch Treffpunkt für alle Generationen. Im Café oder Bistro sitzt die Oma mit der Enkelin, der Geschäftsmann, der Rentner und der Schüler. In Bremen oder Berlin war ich in einem Lokal oft nur von Rentnern umgeben oder von einer mehr oder weniger homogenen Altersklasse, die einer bestimmten Szene angehörte. In Berlin, viel schlimmer, gab es noch die Schriftstellercafés. Man ist gut sortiert in Deutschland. 

Es ist nicht der Geräuschteppich, der eine Bar, ein Bistro oder Café im Süden zu einem anderen Ort macht, sondern die andere Lebensweise. Wenn ich nun von mir rede, von mir als Schriftsteller, nicht vom Protagonisten meines Romans: Nicht von Anfang an waren Cafés meine Schreiborte. Ich bewohnte als Student und auch später nie ruhige Zimmer. Also flüchtete ich ins Café, um arbeiten zu können. Ich gewöhnte mich daran, und diese Gewohnheit ist mir geblieben. Alle meine bisherigen Versuche, dies wieder zu ändern, scheiterten bisher. 

Nicht immer ist der Geräuschteppich in einem Café angenehm oder dem Schreiben zuträglich. Doch das Café kann ich wechseln, meine Wohnung nicht. Diese Möglichkeit schafft eine ganz andere Leichtigkeit. Geräusche lullen ein, lenken ab, erlauben eine „gleichschwebende Aufmerksamkeit“. Man ist konzentriert und doch nicht, man läßt sich ablenken, und plötzlich schreibt sich der Text wie von selbst weiter. Menschen im Café sind meist friedlich, ich bin also an meinem kleinen Tisch von friedlichen Zeitgenossen umgeben. Ich sitze vor meinem kleinen Kaffee und denke, diese armen Teufel, die jetzt eingekerkert in ihrer Schreibstube sitzen, auf den Bildschirm starren und am nächsten Satz ihres Romans herumlaborieren. 

Der Papgei, der sich ziemlich entschlossen und deftig ins Leben des Erzählers einmischt, heisst Friedolin. Mit ie! „Der Friedensreiche“. Ein ziemlicher Gegensatz zu seiner Lebensweise, seinen Geräuschen, seiner Aufsässigkeit. Und trotzdem wird aus dem genervten Erzähler ein Kämpfer und Streiter, ein Tierfreund. Müsste ich es mit meiner Hundephobie ähnlich angehen?

Die Literatur kennt keine Ratschläge, die findet man in den Buchhandlungen unter „Lebenshilfe“. Dort findet man alles, was im Leben nicht hilft. 

Ihr Roman ist auch ein Roman über Ihr Schreiben. Eine Vergewisserung. Ein Sehnsuchtsroman?

Sehnsucht wonach? Nach einer Welt, wie sie war? Diese Art der Sehnsucht scheint mir ein Phänomen des Alterns zu sein. Es ist nicht mehr meine Generation, die das Sagen hat. Plötzlich entdeckt man, dass man alleine ist, immer alleine war. Schwierig, sehr schwierig, wenn einem das erst in vorgerücktem Alter aufgeht. 

Meist halten wir die Welt für schlecht, weil sie sich beim Älterwerden immer mehr von uns entfernt. Wir wollen die Welt so alt, wie wir selber sind, wir nehmen in unserer Umgebung meist nur uns selber wahr, aber selten die andern. Der Welt ein faltiges Gesicht zu wünschen, nur weil man selber runzelig geworden ist, gehört zu einer verbreiteten Verhaltensweise, deren Egozentrik merkwürdigerweise kaum je auffällt. 

Sehnsucht hat viele Farben. Sie ist und war auf jeden Fall eine literarische Triebkraft für viele Autoren. Augustinus und Rousseau, Stendhal, Baudelaire, Flaubert oder Joseph Roth kannten sie, auch Tolstoj und Turgenjew, ebenso viele japanische Autoren wie Tanizaki, Kawabata oder Soseki. Die Sehnsucht nach dem entschwundenen Paradies, von dem sie nur zu gut wußten, dass es auch eine Hölle war, schärfte ihren Blick für die Gegenwart und schürte die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. 

Die Welt des Handels und der Werbung ist eine Welt ohne Zukunft und Vergangenheit, eine Welt purer Gegenwart, sie produziert täglich das immer Neue und Aktuelle. Ihre Sprache ist identisch mit dem Produkt, das sie verkauft. In dieser Dialektik ist das Aktuelle und Neue immer schon der Schrott von morgen. Es ist die Dialektik der virtuellen und medialen Welten, in denen wir uns immer mehr einrichten. Sie kennt keine Scham und keine Sehnsucht. 

Auch die Literatur und ihr Betrieb wird nicht davon verschont. Das weiß mein Protagonist natürlich. Nicht ohne Grund schreibt er noch von Hand, verzichtet auf Homepage und Handy, nicht ohne Grund ist er Nomade und schreibt in Cafés, Bistros oder Bars. Ich kann es ihm nicht verübeln. Ich kenne das Glück und den Rausch dieser Freiheit.

Jürg Beeler, geboren 1957 in Zürich, studierte Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft in Genf, Tübingen und Zürich. Arbeitete als Reisejournalist, Magaziner, bei verschiedenen Institutionen, u.a. Aids-Hilfe-Schweiz. Lebt in Südfrankreich und Zürich. Für seine literarische Tätigkeit wurde er verschiedentlich ausgezeichnet, u.a. mit dem Schweizerischen Schillerpreis 2003 für «Die Liebe, sagte Stradivari». Bei Dörlemann erschienen Zuvor erschien 2022 «Die Zartheit der Stühle«.

Beitragsfoto © Werner Gadliger