Das Tausendjährige Reich bäumt sich in einem Tal in den Ostalpen zum letzten Mal auf – mit all seiner Grausamkeit. Mit «Die letzten Tage» gelingt Martin Prinz ein Stück literarischer Vergangenheitsbewältigung der ganz besonderen Art. Ein dokumentarischer Roman, der mir das Blut in den Adern gefrieren lässt.
In den letzten Tagen des Tausenjährigen Reiches, Wien steht kurz vor dem Fall, die rote Armee wartet in einer Talöffnung nicht weit von St. Pölten auf den letzten Schlag, errichtet Kreisleiter Braun ein letztes Standgericht. „Politisch Unzuverlässige“ werden hingerichtet. Nach dem Krieg, zwei Jahre später werden die Verantwortlichen vor ein Volksgericht geführt. Wieder werden Todesurteile vollstreckt, um danach für Jahrzehnte einen Mantel des Schweigens über die Geschehnisse in den letzten Tagen vor dem Zusammenbruch des Naziregimes zu legen. Erst durch die akribische Aufarbeitung der Geschehnisse damals durch den Autor Alois Kermer, den glücklichen Zufall, dass diese Aufzeichnungen nicht verloren gingen und zehn Jahre Recherchearbeit durch Martin Prinz gerät Frischluft in den modrigen Untergrund. Geschehnisse, die beispielhaft sind für die letzten Tage eines schrecklichen Krieges, eines ebenso schrecklichen Machtapparates, die Martin Prinz zu einem Buch formt, das einem gleich mehrfach in die Knochen fährt.
Wie irrgig zu glauben, ein Krieg sei mit der Kapitulation der einen Seite oder mit dem Erfolg von „Friedensverhandlungen“ zu Ende. Erst recht dann, wenn ein solcher Krieg über Jahre wütet und tiefe Wunden in ganze Landstriche gerissen hat. Wenn Generationen traumatisiert sind, die Gegend von Gräbern überzogen ist und jene, die damals an den Hebeln der Macht waren, noch immer da sind. Wie naiv zu glauben, Kriege wären an einem bestimmt Datum zu Ende. Was Kriege vor Jahrhunderten anrichteten, spürt man in den Ländern des Balkans. Wie tief man sich in der Rolle des Opfers sieht, das nie mehr ohne Gegenwehr Gewalt erdulden will, zeigt die Situation im Nahen Osten. Es scheint, als würde sich der Gräuel des Krieges, der Folter und Misshandlung ins Erbmaterial der Betroffenen fressen, zu einem genetischen Code werden, der von Generation zu Generation weitergegeben wird.

Was bei Kriegsende in der Heimatgegend des Autors geschah, zeigt viel über menschliche Mechanismen, über die man lieber nicht nachdenken und reflektieren will. „Die letzten Tage“ ist ein Buch über Macht, über die Maschinerie von Hirarchien, über blinden Gehorsam und bodenlose Willkür. Über Blindheit und das Bedürfnis der meisten, Gras über Dinge wachsen zu lassen, die nie aufgearbeitet wurden, über die nie umfassenend reflektiert wurde. Über die Sehnsucht, durch das Vergessen jene Harmonie zu schaffen, die glauben macht, neu beginnen zu können.
Martin Prinz, der sich schon mit anderen Büchern durch seine akribische Recherchearbeit einen Namen machte und sich dabei auch schon ins Abseits manörvrierte, wagte mit „Die letzten Tage“ etwas, was nicht den gängigen Mustern literarisierter Vergangenheitsbewältigung entspricht. Martin Prinz erzählt nicht einfach eine Geschichte nach, füllt historische Fakten mit fiktionalen Zwischenräumen. „Die letzten Tage“ bleibt ganz nah an den Fakten, an Protokollen, Zeitdokumenten. Ob „Die letzten Tage“ ein Roman ist, bezweifle ich, lässt sich aber als Buch so bestimmt viel erfolgreicher verkaufen. Martin Prinz sind die Mechanismen von damals, das Psychogramm einer Gegend, die sich in einer Endzeit sieht, die Psychologie der Verdrängung, die Wirkungen von Macht und militärischem Gehorsam viel zu wichtig, als dass er das alles durch Fiktion verwässern, dramatisieren und verfremden will.
Reine Willkür gepaart mit militäischer Blindheit, fatalistischer Hyperaktivität und bodenloser Kälte machte möglich, dass Menschen von der Strasse weg eingesperrt, gefoltert, durch ein Standgericht im Hauruckverfahren abgeurteilt und erschossen wurden. Man schleifte sie durch den Ort und hängte sie mit Schmähtafeln um den Hals auf. Allen im Ort sollte unmissverständlich klar sein, dass man in den regionalen Machtzentralen noch immer an den Endsieg glaubt.

Dass man auch Jahrzehnte nach dem Krieg nicht bereit war, die Geschehnisse von damals publik zu machen, zeigt das Schicksal der Aufzeichnungen jenes Mannes, mit dessen Recherchematerial Marin Prinz dieses Buch verfasste. Man ersuchte Alois Kermer 1993 Nachforschungen anzustellen. Nach fast einem Jahrzehnt Recherchearbeit übergab Kermer seine Aufzeichnungen der Gemeinde, die dann monatelang schwieg und erst nach mehrfacher Nachfrage erklärte, dass nun nicht mehr an die versprochene Veröffentlichung gedacht werden könne. Kermer starb 2006. Und nur weil ein Exemplar seiner Aufzeichnungen in die Hände eines Standesamtsleiters fiel und unter dem Titel „Erinnerungen aus dem Schwarzatal in schwerster Zeit“ veröffentlicht wurde und eines dieser Bücher Martin Prinz übergab, ist es zu verdanken, dass mit „Die letzten Tage“ ein ganz eigenes Mahnmal über menschliche Verwerfungen geschrieben wurde.
Es gibt sie, die Bücher, die sich nicht scheuen, in tiefsitzende Eiterbeulen zu schneiden, man lese die Bücher von Hanna Sukare oder den Roman „Dunkelblum“ von Eva Manesse. Aber niemand hat den protokollarischen Klang des Grauens besser zwischen zwei Buchdeckel gebracht wie Martin Prinz.
Interview
Keine einfache Lektüre. Sie setzt Leser*innen voraus, die gewillt sind, sich nicht nur mit einem schweren Stoff zu befassen. Man muss sich auch auf die Sprache, ihrem Willen, so nahe an den Protokollen zu bleiben, einlassen. Die Schriftstellerin Hanna Sukare ist in ihrem Schreiben mit Sicherheit von ganz ähnlicher Motivation getragen wie Sie. Und trotzdem sind ihre Romane ein Eintauchen in Bilder, ein Nacherzählen, eine Kombination von Fakten und Fiktion. Was hat Sie dazu bewogen, nicht einach eine Geschichte nachzuerzählen?

Was in der Gegend zwischen Rax und Schneeberg in den letzten fünfeinhalb Wochen vor Kriegsende geschah, gerät aufgrund der speziellen Situation der stillstehenden russischen Frontlinie wie zu einem Kondensationskern nationalsozialistischen Alltags. Eine ganze Gesellschaft, von den NS-Führern, den SS-Männern, den HJ-Jungen, bis zu den kleinen Gendarmen und blossen Nachbarn, alle machen mit. Und niemand gehorcht nur, fast alle lassen dem Bösen auf alltäglichste Weise freien Lauf, sie übererfüllen sogar. Das ist kein Terror von oben, das ist Terror, der aus der Gesellschaft selbst kam.
Es ist so geschehen, die Fakten lassen sich nicht leugnen, und dennoch bleibt es unvorstellbar. Und das Wort „unvorstellbar“, das immer und immer benutzt wird, es gilt es ernstzunehmen. Ob Einfühlung, Fiktion oder Eintauchen, eine solche Wirklichkeit muss in ihrer Unförmigkeit erzählt werden. Und in ihrer Unvorstellbarkeit. Hier hielte ich es für Anmassung, so zu tun, als könnte ich mir das vorstellen, als könnte ich es erzählerisch auf der Einfühlungsebene weitergeben. Das ist eine Illusion, und sie ist gefährlich, denn am Ende verharmlost sie, auch wenn sie das durch Moralisieren vielleicht zu überdecken versucht.
Was also bleibt? Wo gibt es dennoch einen Ansatz des Erzählens? Dort, wo ihn die Täter selbst bieten, und das in ihrer Feigheit sogar bereitwillig, nämlich in ihrem Wegducken, ihrem Ausweichen, ihrem Verallgemeinern, nämlich in ihrer Sprache. Womit wir an der Werkbank jeden Erzählens selbst sind.
Im Nachwort zu Ihrem Roman erzählen Sie vom Weg, den der Stoff zu Ihnen benötigt hatte. Sie erzählen vom Autor Alois Kermer und dem Standesamtsleiter Hermann Scherzer. So wie die mit dem Buch den Geschehnissen von damals eine Mahnmal wider das Vergessen setzen, so setzen Sie jenen beiden Männern ein Denkmal, denen man das Erinnern verdanken muss. Sie sind dort, in jener Gegend aufgewachsen und interessieren sich schon immer für verborgene Wahrheiten. Ist in Ihrer Heimat nicht von viel früher der eine oder andere Modergeruch des Verborgenen an die Oberfläche geraten?
Zwar bin ich einige Berge und Täler davon entfernt aufgewachsen, doch den Moder gab es überall. Was in Reichenau und Umgebung geschah, war aufgrund des Rückzugs der NS-Spitzen in diese von Bergen und den russischen Linien erzeugten Inselsituation eine besondere Lage, in der sich ganz am Ende alles, was auch in den Jahren davor bereits Alltag war, noch einmal zuspitzte. Angesichts des von Kermer und Scherzer recherchierten Materials, angesichts der von mir durchgesehenen Akten des Volksgerichtsprozesses gegen die Täter wird klar, wir befinden uns buchstäblich in einem Labor der NS-Zeit selbst. Womit wiederum all das umso greifbarer wurde, das ich als Kind in den 70er-Jahren auch aus meinem Heimatort noch ansatzweise erfahren hatte.

Die Sprache ihres Erzählens in diesem Roman ist eine ganz eigene. Eine, die die Grausamkeit unter scheinbarer Sachlichkeit verbirgt. Die Sprache von Ämtern, von Gerichten. Eine Sprache, die sich auch heute diametral von der Umgangssprache oder der Literatur unterscheidet. Sprachen, die nur wenig Berührungspunkte aufweisen. War es Faszination oder Respekt, der Sie so erzählen liess?
Respekt und Notwendigkeit.
Dass sich im letzten Aufbäumen vor dem Untergang unter Menschen eine ganz eigene Psychologie entwickelt, beobachtet man immer wieder. Eine Mischung aus Fatalismus, Anarchie und totaler Ergebenheit. Etwas, was auch in der Gegenwart zu beobachten ist. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ähnliche Mechanismen eingesetzt haben hinsichtlich der globalen Klimasituation. Einfach menschliche Regungen oder mehr?
Würde ich das wissen! Aber ich weiss es nicht. – Und vermutlich ist das nur eine Schutzbehauptung meinerseits, denn ich lese gerade József Debreczenis Bericht „Kaltes Krematorium. Bericht aus dem Land namens Auschwitz“. Der einzige Schluss daraus kann nur die Anweisung sein, dass wir uns in Wirklichkeit weit mehr vor uns fürchten müssten.
Was mich fast am meisten erschütterte, waren die Berichte über die noch nicht volljährigen Burschen der Hitlerjugend, die damals an den Exekutionen und Zurschaustellungen der geschändeten Leichen teilnahmen. Die Vorstellung, dass sich jene Jugendlichen damals ein Leben lang mit diesen Bildern, mit ihrem Tun vor sich selbst zu verantworten hatten, lässt mich erschaudern. Schon allein das wäre Stoff für einen Roman. Was passiert mit dem Stoff in Ihnen, der sich so lange und so intensiv damit beschäftigte?
Ich habe nach dem Schreiben des Romans noch wochenlang von meinem Erhängen und Erschiessen geträumt.
Martin Prinz, geboren 1973, aufgewachsen in Lilienfeld A, lebt als Schriftsteller in Wien. Er schreibt Reisegeschichten, Drehbücher und Romane (u.a. »Der Räuber« und »Die letzte Prinzessin«). Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Drehbuch-Preis des Filmfestivals in Gijon.
Rezension «Die unsichtbaren Seiten» auf literaturblatt.ch
Beitragsbild © Lukas Beck