Martin Prinz «Die letzten Tage», Jung und Jung

Das Tausendjährige Reich bäumt sich in einem Tal in den Ostalpen zum letzten Mal auf – mit all seiner Grausamkeit. Mit «Die letzten Tage» gelingt Martin Prinz ein Stück literarischer Vergangenheitsbewältigung der ganz besonderen Art. Ein dokumentarischer Roman, der mir das Blut in den Adern gefrieren lässt.

In den letzten Tagen des Tausenjährigen Reiches, Wien steht kurz vor dem Fall, die rote Armee wartet in einer Talöffnung nicht weit von St. Pölten auf den letzten Schlag, errichtet Kreisleiter Braun ein letztes Standgericht. „Politisch Unzuverlässige“ werden hingerichtet. Nach dem Krieg, zwei Jahre später werden die Verantwortlichen vor ein Volksgericht geführt. Wieder werden Todesurteile vollstreckt, um danach für Jahrzehnte einen Mantel des Schweigens über die Geschehnisse in den letzten Tagen vor dem Zusammenbruch des Naziregimes zu legen. Erst durch die akribische Aufarbeitung der Geschehnisse damals durch den Autor Alois Kermer, den glücklichen Zufall, dass diese Aufzeichnungen nicht verloren gingen und zehn Jahre Recherchearbeit durch Martin Prinz gerät Frischluft in den modrigen Untergrund. Geschehnisse, die beispielhaft sind für die letzten Tage eines schrecklichen Krieges, eines ebenso schrecklichen Machtapparates, die Martin Prinz zu einem Buch formt, das einem gleich mehrfach in die Knochen fährt.

Wie irrgig zu glauben, ein Krieg sei mit der Kapitulation der einen Seite oder mit dem Erfolg von „Friedensverhandlungen“ zu Ende. Erst recht dann, wenn ein solcher Krieg über Jahre wütet und tiefe Wunden in ganze Landstriche gerissen hat. Wenn Generationen traumatisiert sind, die Gegend von Gräbern überzogen ist und jene, die damals an den Hebeln der Macht waren, noch immer da sind. Wie naiv zu glauben, Kriege wären an einem bestimmt Datum zu Ende. Was Kriege vor Jahrhunderten anrichteten, spürt man in den Ländern des Balkans. Wie tief man sich in der Rolle des Opfers sieht, das nie mehr ohne Gegenwehr Gewalt erdulden will, zeigt die Situation im Nahen Osten. Es scheint, als würde sich der Gräuel des Krieges, der Folter und Misshandlung ins Erbmaterial der Betroffenen fressen, zu einem genetischen Code werden, der von Generation zu Generation weitergegeben wird.

Martin Prinz «Die letzten Tage», Jung und Jung, 2025, 272 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-99027-415-6

Was bei Kriegsende in der Heimatgegend des Autors geschah, zeigt viel über menschliche Mechanismen, über die man lieber nicht nachdenken und reflektieren will. „Die letzten Tage“ ist ein Buch über Macht, über die Maschinerie von Hirarchien, über blinden Gehorsam und bodenlose Willkür. Über Blindheit und das Bedürfnis der meisten, Gras über Dinge wachsen zu lassen, die nie aufgearbeitet wurden, über die nie umfassenend reflektiert wurde. Über die Sehnsucht, durch das Vergessen jene Harmonie zu schaffen, die glauben macht, neu beginnen zu können.

Martin Prinz, der sich schon mit anderen Büchern durch seine akribische Recherchearbeit einen Namen machte und sich dabei auch schon ins Abseits manörvrierte, wagte mit „Die letzten Tage“ etwas, was nicht den gängigen Mustern literarisierter Vergangenheitsbewältigung entspricht. Martin Prinz erzählt nicht einfach eine Geschichte nach, füllt historische Fakten mit fiktionalen Zwischenräumen. „Die letzten Tage“ bleibt ganz nah an den Fakten, an Protokollen, Zeitdokumenten. Ob „Die letzten Tage“ ein Roman ist, bezweifle ich, lässt sich aber als Buch so bestimmt viel erfolgreicher verkaufen. Martin Prinz sind die Mechanismen von damals, das Psychogramm einer Gegend, die sich in einer Endzeit sieht, die Psychologie der Verdrängung, die Wirkungen von Macht und militärischem Gehorsam viel zu wichtig, als dass er das alles durch Fiktion verwässern, dramatisieren und verfremden will.

Reine Willkür gepaart mit militäischer Blindheit, fatalistischer Hyperaktivität und bodenloser Kälte machte möglich, dass Menschen von der Strasse weg eingesperrt, gefoltert, durch ein Standgericht im Hauruckverfahren abgeurteilt und erschossen wurden. Man schleifte sie durch den Ort und hängte sie mit Schmähtafeln um den Hals auf. Allen im Ort sollte unmissverständlich klar sein, dass man in den regionalen Machtzentralen noch immer an den Endsieg glaubt.

Aktendeckel © Wiener Stadt- und Landesarchiv, Volksgericht

Dass man auch Jahrzehnte nach dem Krieg nicht bereit war, die Geschehnisse von damals publik zu machen, zeigt das Schicksal der Aufzeichnungen jenes Mannes, mit dessen Recherchematerial Marin Prinz dieses Buch verfasste. Man ersuchte Alois Kermer 1993 Nachforschungen anzustellen. Nach fast einem Jahrzehnt Recherchearbeit übergab Kermer seine Aufzeichnungen der Gemeinde, die dann monatelang schwieg und erst nach mehrfacher Nachfrage erklärte, dass nun nicht mehr an die versprochene Veröffentlichung gedacht werden könne. Kermer starb 2006. Und nur weil ein Exemplar seiner Aufzeichnungen in die Hände eines Standesamtsleiters fiel und unter dem Titel „Erinnerungen aus dem Schwarzatal in schwerster Zeit“ veröffentlicht wurde und eines dieser Bücher Martin Prinz übergab, ist es zu verdanken, dass mit „Die letzten Tage“ ein ganz eigenes Mahnmal über menschliche Verwerfungen geschrieben wurde.

Es gibt sie, die Bücher, die sich nicht scheuen, in tiefsitzende Eiterbeulen zu schneiden, man lese die Bücher von Hanna Sukare oder den Roman „Dunkelblum“ von Eva Manesse. Aber niemand hat den protokollarischen Klang des Grauens besser zwischen zwei Buchdeckel gebracht wie Martin Prinz.

Interview

Keine einfache Lektüre. Sie setzt Leser*innen voraus, die gewillt sind, sich nicht nur mit einem schweren Stoff zu befassen. Man muss sich auch auf die Sprache, ihrem Willen, so nahe an den Protokollen zu bleiben, einlassen. Die Schriftstellerin Hanna Sukare ist in ihrem Schreiben mit Sicherheit von ganz ähnlicher Motivation getragen wie Sie. Und trotzdem sind ihre Romane ein Eintauchen in Bilder, ein Nacherzählen, eine Kombination von Fakten und Fiktion. Was hat Sie dazu bewogen, nicht einach eine Geschichte nachzuerzählen?

Prozessberichterstattung, Urteile © ANNO/Österreichische Nationalbibliothek, Weltpresse, 25.05.1947

Was in der Gegend zwischen Rax und Schneeberg in den letzten fünfeinhalb Wochen vor Kriegsende geschah, gerät aufgrund der speziellen Situation der stillstehenden russischen Frontlinie wie zu einem Kondensationskern nationalsozialistischen Alltags. Eine ganze Gesellschaft, von den NS-Führern, den SS-Männern, den HJ-Jungen, bis zu den kleinen Gendarmen und blossen Nachbarn, alle machen mit. Und niemand gehorcht nur, fast alle lassen dem Bösen auf alltäglichste Weise freien Lauf, sie übererfüllen sogar. Das ist kein Terror von oben, das ist Terror, der aus der Gesellschaft selbst kam. 

Es ist so geschehen, die Fakten lassen sich nicht leugnen, und dennoch bleibt es unvorstellbar. Und das Wort „unvorstellbar“, das immer und immer benutzt wird, es gilt es ernstzunehmen. Ob Einfühlung, Fiktion oder Eintauchen, eine solche Wirklichkeit muss in ihrer Unförmigkeit erzählt werden. Und in ihrer Unvorstellbarkeit. Hier hielte ich es für Anmassung, so zu tun, als könnte ich mir das vorstellen, als könnte ich es erzählerisch auf der Einfühlungsebene weitergeben. Das ist eine Illusion, und sie ist gefährlich, denn am Ende verharmlost sie, auch wenn sie das durch Moralisieren vielleicht zu überdecken versucht. 

Was also bleibt? Wo gibt es dennoch einen Ansatz des Erzählens? Dort, wo ihn die Täter selbst bieten, und das in ihrer Feigheit sogar bereitwillig, nämlich in ihrem Wegducken, ihrem Ausweichen, ihrem Verallgemeinern, nämlich in ihrer Sprache. Womit wir an der Werkbank jeden Erzählens selbst sind.

Im Nachwort zu Ihrem Roman erzählen Sie vom Weg, den der Stoff zu Ihnen benötigt hatte. Sie erzählen vom Autor Alois Kermer und dem Standesamtsleiter Hermann Scherzer. So wie die mit dem Buch den Geschehnissen von damals eine Mahnmal wider das Vergessen setzen, so setzen Sie jenen beiden Männern ein Denkmal, denen man das Erinnern verdanken muss. Sie sind dort, in jener Gegend aufgewachsen und interessieren sich schon immer für verborgene Wahrheiten. Ist in Ihrer Heimat nicht von viel früher der eine oder andere Modergeruch des Verborgenen an die Oberfläche geraten?

Zwar bin ich einige Berge und Täler davon entfernt aufgewachsen, doch den Moder gab es überall. Was in Reichenau und Umgebung geschah, war aufgrund des Rückzugs der NS-Spitzen in diese von Bergen und den russischen Linien erzeugten Inselsituation eine besondere Lage, in der sich ganz am Ende alles, was auch in den Jahren davor bereits Alltag war, noch einmal zuspitzte. Angesichts des von Kermer und Scherzer recherchierten Materials, angesichts der von mir durchgesehenen Akten des Volksgerichtsprozesses gegen die Täter wird klar, wir befinden uns buchstäblich in einem Labor der NS-Zeit selbst. Womit wiederum all das umso greifbarer wurde, das ich als Kind in den 70er-Jahren auch aus meinem Heimatort noch ansatzweise erfahren hatte.

Die Baracken des Reichsarbeitsdienstlagers (kurz RAD-Lager) © Stadtarchiv Neunkirchen

Die Sprache ihres Erzählens in diesem Roman ist eine ganz eigene. Eine, die die Grausamkeit unter scheinbarer Sachlichkeit verbirgt. Die Sprache von Ämtern, von Gerichten. Eine Sprache, die sich auch heute diametral von der Umgangssprache oder der Literatur unterscheidet. Sprachen, die nur wenig Berührungspunkte aufweisen. War es Faszination oder Respekt, der Sie so erzählen liess?

Respekt und Notwendigkeit.

Dass sich im letzten Aufbäumen vor dem Untergang unter Menschen eine ganz eigene Psychologie entwickelt, beobachtet man immer wieder. Eine Mischung aus Fatalismus, Anarchie und totaler Ergebenheit. Etwas, was auch in der Gegenwart zu beobachten ist. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ähnliche Mechanismen eingesetzt haben hinsichtlich der globalen Klimasituation. Einfach menschliche Regungen oder mehr?

Würde ich das wissen! Aber ich weiss es nicht.  – Und vermutlich ist das nur eine Schutzbehauptung meinerseits, denn ich lese gerade József Debreczenis Bericht „Kaltes Krematorium. Bericht aus dem Land namens Auschwitz“. Der einzige Schluss daraus kann nur die Anweisung sein, dass wir uns in Wirklichkeit weit mehr vor uns fürchten müssten.

Was mich fast am meisten erschütterte, waren die Berichte über die noch nicht volljährigen Burschen der Hitlerjugend, die damals an den Exekutionen und Zurschaustellungen der geschändeten Leichen teilnahmen. Die Vorstellung, dass sich jene Jugendlichen damals ein Leben lang mit diesen Bildern, mit ihrem Tun vor sich selbst zu verantworten hatten, lässt mich erschaudern. Schon allein das wäre Stoff für einen Roman. Was passiert mit dem Stoff in Ihnen, der sich so lange und so intensiv damit beschäftigte?

Ich habe nach dem Schreiben des Romans noch wochenlang von meinem Erhängen und Erschiessen geträumt. 

Martin Prinz, geboren 1973, aufgewachsen in Lilienfeld A, lebt als Schriftsteller in Wien. Er schreibt Reisegeschichten, Drehbücher und Romane (u.a. »Der Räuber« und »Die letzte Prinzessin«). Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Drehbuch-Preis des Filmfestivals in Gijon.

Rezension «Die unsichtbaren Seiten» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Lukas Beck

Susanne Gregor «Halbe Leben», Zsolnay

Der Roman beginnt mit einem Drama. Susanne Gregor lässt keinen Zweifel aufkommen; die Geschichte endet tötlich. Die Frage ist nur; ein Unfall oder mehr? „Halbe Leben“ ist ein Roman über die gescheiterten Lebensentwürfe zweier Frauen. Symtomatisch für eine Zeit, die noch weit davon entfernt ist, dass Rollenbilder nicht zur Falle werden.

Klara scheint ein erfolgreiches Leben zu führen. In ihrem Beruf ist sie drauf und dran zur Teilhaberin zu werden. Sie wohnt mit ihrem Mann Jacob in einem grossen Haus. Ada, ihre gemeinsame Tochter, ist zehn, nimmt Anlauf in die Pubertät. Klara fühlt sich ihren Aufgaben als Mutter im Gegensatz zu jenen im Beruf als Architektin oft nicht gewachsen. Sie ist ganz froh, dass auf der einen Seite ihre Mutter Irene Ankerplatz für Ada ist und sich ihr Mann mit der nötigen Ruhe um Familienangelegenheiten kümmert. Jacob, einst hoffnungsvoll gestartet in eine Karriere als Berufsfotograph, hat sich nach Aufgabe seines Geschäfts der künstlerischen Seite der Fotographie zugewendet. 

Bis ein Schlaganfall Klaras Mutter alles ändert, Klara in ein unstetes Hinundher einspannt, und Jacob den Vorschlag macht, Klaras Mutter zu ihnen ins Haus zu nehmen. Ein paar kleine bauliche Anpassungen und man kann Irene etwas davon zurückgeben, was sie ein Leben lang als Mutter in die Familie investierte. 

Klara kann als Tochter schlecht etwas dagegen haben, obwohl sie genau spürt, dass die neue Situation unter ihrem Dach, die guten Karten im Beruf neu zu sortieren droht. Man einigt sich schnell, eine Pflegekraft zu engagieren, findet Paulina, eine ausgebildete Krankenschwester, die hier über der Grenze ein weitaus besseres Einkommen in Aussicht hat, als in der Slowakei. Aber so sehr die Stelle auf der anderen Seite der Grenze lockt, so sehr belastet Paulina die Situation, in der sie ihre Familie im Zwei-Wochen-Rhythmus alleine lassen muss. Der Vater ihrer beiden Söhne hat sich schon länge aus dem Staub gemacht und die Schwiegermutter, die sich um die beiden Knaben kümmert, sendet unzweifelhafte Signale, was sie von einer nicht anwesenden Mutter hält.

Susanne Gregor «Halbe Leben», Zsolnay, 2025, 192 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-552-07523-8

Paulina gibt sich mit all ihrer verfügbaren Energie in ihre Aufgabe als Pflegerin und Betreuerin von Irene, die sie mit ihrer Freundlichkeit und Entschlossenheit schnell für sich gewinnt. Zumindest für Klara scheint sich die Situation zum Guten zu wenden, auch wenn das schlechte Gewissen nicht verschwunden ist. Mit einem repräsentablen Auftrag in der Firma festigt sich dort die Hierarichie zu ihren Gunsten, obwohl sich zuhause das Gravitationsfeld innerhalb der Familie mehr und mehr verschiebt. Je unverzichtbarer die Aufgaben, die Anwesenheit von Paulina, desto grösser die Begehrlichkeiten. Nach und nach verschwinden Grenzen, der Dominoeffekt von grösseren und kleinen Übergriffen vergiftet das anfänglich so unverkrampfte Gefüge im Haus von Klara und Jacob.

Und als sich die Situation mehr und mehr zuspitzt, Irenes Gesundheit immer instabiler wird, man Adas Wunsch nach einem Hund nachgibt und Klara eine weitere Schwangerschaft zulässt, kippt es. Susanne Gregor erzählt vielperspektivisch und nüchtern. Es geht ihr nicht darum, das Geschehen dramatisch aufzuheizen. Sie zeigt schonungslos, was in der Gegenwart heisst, möglichst allen Anforderungen gerecht zu werden. Zwei Frauen, die sich in ihrem Lebensplan an einem Punkt sehen, an dem sie durch Umstände, Schicksal und Zwänge gelandet sind, sich dessen aber ganz unterschiedlich bewusst sind. Männer, die sich durch ganz unterschiedliche Abwesenheiten distanzieren und ein Familiengefüge, das sich mehr und mehr auf Organisation abstützt. Leben, die sich an ihrer finanziellen Freiheit messen.

Susanne Gregors Roman konfrontiert mich mit ganz vielen existenziellen Fragen: Was sind die Prioritäten in meinem Leben? Wie sehr kommen sich Lebensentwürfe einer Familie in die Quere? Was passiert dereinst mit mir, wenn ich alt und gebrechlich werde? Wäre ich in der Lage, meine Mutter, meinen Vater zur Pflege bis zum Tod nach Hause zu nehmen? Was passiert mit mir, wenn jene Personen, die einst als Eltern Kraft und Fundament ausmachten zu hilfsbedürtigen Patienten werden?

„Halbe Leben“ ist ein Roman über jene Leben, die nur voll, ganz sein können, wenn andere dafür „dienen“, ein Roman über Abhängigkeiten, über Nähe und Distanz – und nicht zuletzt über Familien, die in der Gegenwart mehr und mehr von Gesellschaft, Wirtschaft, von Erwartungen und Entfremdungen zerrieben werden.

Susanne Gregor erzählt gekonnt, bläht nie auf, bleibt ganz eng an ihrem Personal und spielt den Ball stets zurück an mich als Leser. Beeindruckend!

Interview

Klaras Familie ist ziemlich genau das, was eine moderne Familie ausmacht, oder zumindest das Ideal davon. Man lebt in finanzieller Sicherheit, in einem grossen, stylischen Haus. Mutter und Vater verwirklichen sich. Es gibt ein gesundes Kind, dessen Betreuung auch einmal die Grossmutter übernimmt. Aufgaben sind aufgeteilt. Der Wagen rollt. Und trotzdem funktioniert das sehr anfällige Gefüge nur, wenn alle Zahnräder ineinander passen, wenn das Organisieren klappt. Wehe, wenn Unvorhergesehenes einen Knüppel ins Gefüge wirft. Werden wir nicht zusehens Opfer eines Organisationszwangs? Wo ist da die Freiheit, wenn alles funktionieren muss?

Ich denke, es ist das Symptom einer Wohlstandsgesellschaft, anzunehmen, dass man alles immer genau so haben kann, wie man es sich vorstellt und es nicht gut verträgt, wenn „Sand ins Getriebe kommt“. Die Karriere soll funktionieren, die Kinder sollen versorgt sein, das Bankkonto angenehm gefüllt sein, die Ehe funktionieren, etc.. Niederlagen, Einbrüche, Krankheiten, all das erzwingt ein gewisses Verlangsamen, ein Umstellen, ein Sich-einander-zuwenden, sich neu sortieren. Das ist ein Prozess, der viel von einem abverlangt und ich glaube, wir haben ein wenig verlernt, uns auf das Leben einzulassen, wie es in diesem Moment ist und haben zu fest unsere Pläne und sogenannten „Lebensentwürfe“ im Kopf. Wir sind es gewohnt zu nehmen und zu bekommen und das plötzliche Geben-müssen ist schwer.
Und vergessen wird auch nicht, dass in diesem Roman alles Schwere auf dem Rücken der Frauen ausgetragen wird. Vor allem auf dem Rücken von Paulina. Aber auch Klara hat es nicht leicht. Die Männer ziehen sich, wie auch in Realität leider allzu oft, aus der Verantwortung, gerade wenn es um die Pflege der Angehörigen geht. 

Schon auf den ersten Seiten des Romans stürzt Klara bei einer Wanderung tödlich. Die Ungewissheit darüber, wie zufällig dieser Unfall ist, begleitet einem tief in ihren Roman. War von Beginn weg klar, dass die Geschichte zu einer Katastrophe werden muss? Sie schildern den Knall und danach, wie die Lunte brannte.

Ja, die erste Szene war für mich von Anfang an klar. Ich wusste, dass der Roman mit diesem Unglück, diesem Tod beginnt und mit dieser Ungewissheit, die sich am Ende auflösen wird. Welche Gewissheit aber am Ende der Geschichte stehen wird, wusste ich selbst auch nicht. Erst schreibend ergab sich diese Auflösung, erst im letzten Drittel des Textes begann ich selbst zu begreifen, wie das Ende aussehen sollte.

Klara, die erfolgreiche Architektin, irgendwo in Österreich und Paulina, die ausgebildete slowakische Pflegefachfrau, die in Österreich viel mehr verdient als in ihrer Heimat. Wirtschaftliche Gründe, der Wunsch, Kinder sollen es dereinst besser haben, treiben Paulina über die Grenze und über Grenzen. Beide Frauen werden in ihren Pflichten, in den Anforderungen an sich selbst, ihrem Selbstverständnis zerrissen. Ein Zustand, an dem viele zu zerbrechen drohen. Familie und Arbeit. Ist das der Preis der Moderne? Der Preis, weil man von beidem möglichst viel bekommen will?

Ja, dieser Slogan, Frauen können alles machen und alles schaffen, geht oft mit der unausgesprochenen Anforderung einher, sie müssten alles gleichzeitig schaffen können. Die Gesellschaft fordert von Frauen, zu arbeiten als hätten sie keine Kinder, und sich um die Kinder zu kümmern, als hätten sie keine Arbeit. Und Frauen selbst haben auch zu hohe Ansprüche an sich, an denen sie eigentlich nur scheitern können. Aber wir müssen hier auch unterscheiden: Klaras Ansprüche sind zumindest zu einem gewissen Mass selbst gewählte Ansprüche, während Paulína durch eine finanzielle Notlage und ihre Situation als Alleinerzieherin sehr fremdbestimmt ist. 

Klaras Mutter braucht in ihrer fortschreitenden Demenz Unterstützung. Klara und Jacob nehmen sie zu sich nach Hause, was alles andere als selbstverständlich ist. Und trotzdem ist es der Beginn einer sich anbahnenden Katastrophe. Warum ist man oft viel zu lange blind, bis es kein Zurück mehr zu geben scheint?

Manchmal geht alles schief, trotz bester Intentionen. Man überschreitet hie und da seine eigene Grenze, lehnt sich hie und da zu weit aus dem Fenster und übersieht den Zeitpunkt, an dem es kein Zurück mehr gibt. Manchmal scheint ein offenes Gespräch zu schwierig, zu riskant, das haben wir alle schon einmal erlebt. Und in Klaras Fall – manchmal ist man, mit einer schwierigen Situation konfrontiert, egoistischer, als man dachte, als man ist. Ich denke, so geht es uns allen, wir könnten alle sowohl Paulína als auch Klara als auch Irene sein. Auch Gutmenschen machen Fehler.

Was mich an Ihrem Roman beeindruckt, ist die Erzählweise, die Komposition, wie sie Themen Schicht für Schicht übereinanderlegen und sie verweben. Sie wechseln Perspektiven, die Tonalität ihrer Erzählstimmen. Ich habe sogar das Gefühl, dass ich die Gefühlslage des Personals einem gewissen Farbspektrum zuordnen könnte. War das Schreiben des Manuskripts ein organischer Vorgang oder das Resultat strategischer Planung?

Es war ein unglaublich organischer Vorgang. Der Roman war ungewöhnlich schnell geschrieben, in kaum drei Monaten stand alles auf Papier. Ich schrieb Seite um Seite, Szene um Szene ohne grosse Planung. Manchmal dachte ich, ich weiss, wie es weitergeht, als ich mich zum Laptop setzte, und dann passierte schreibend doch etwas ganz anderes, was mich selbst überraschte. Ich wusste selbst nie genau, wohin dieser Roman ging, erst am Ende enthüllte sich mir alles – ein bisschen wie dem Leser selbst. Ich versuchte schreibend einfach zwischen den Personen hin- und herzuschwingen, zwischen dem Blick der Slowakin auf Österreich und dann dem Blick der Österreicherin auf ihr Umfeld – beides Blicke, die ich aus meiner eigenen Perspektive und Erfahrung gut kenne. Aus diesem Erfahrungsschatz schöpfte ich, weniger was den Plot betraf, als was die Erfahrungswelten der Charaktere anging. 

Susanne Gregor, geboren 1981 in Žilina (Tschechoslowakei), zog 1990 mit ihrer Familie nach Österreich und lebt heute in Wien. Für ihre literarischen Arbeiten wurde sie bereits mehrfach ausgezeichnet. Zuletzt erschienen die Romane «Das letzte rote Jahr» (2019), «Wir werden fliegen» (2023).

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Heribert Corn/Zsolnay

Romain Buffat „Grande-Fin“, die Brotsuppe

Ein kleiner, verschlammter Lieferwagen wird aus dem Wasser gezogen. Das Auto, mit dem der Vater zuletzt gefahren war. Das Auto am Tor zu seinem Verschwinden. Romain Buffat erzählt eine Reise in ein unbekanntes Land, in jenes eines verschwundenen Lebens. Kunstvoll und poetisch.

Mehr als zehn Jahre hat es gedauert, bis sich Jérôme aufmacht, seine Koordinaten zu ordnen, Versöhnung mit einem Vater zu suchen, der sich aus dem Staub machte, als er zu jung war, um es einfach hinzunehmen. Jérôme macht sich in einer wochenlangen Reise quer durch die Staaten auf die Suche nach einem Sound, einem Lebensgefühl, dem Lebensgefühl seines verschwundenen Vaters, der ein Leben lang einen Traum mit sich herumtrug. Jérôme fährt kleine mit der Bahn von Chicago nach San Francisco mit der Absicht unterwegs in Denver ein Konzert von Bruce Springsteen zu besuchen. Nicht weil es seine Musik wäre, aber jene mit der das Leben seines Vaters durchsetzt war.

Als sie noch eine Familie waren, Vater, Mutter, seine Schwester, gab es kleine Reisen, Ausflüge im klapprigen Auto seines Vaters. Autofahrten mit dem Sound von Bruce Springsteen, einem Lebensgefühl, dass der Vater aus seiner eigenen Jugend wie eine geschlossene Kapsel mit sich herumtrug, einen Einschluss, der in der Bedrohlichkeit seiner Gegenwart zu einem gleichsam Dauerschmerz und Dauertrost war.

Jérômes Vater war Drucker, lebte während Jahren mit der Angst, in Zeiten grosser Veränderungen im Druckereiwesen seine Arbeit zu verlieren. Ein Alp, der sich wie ein lang wirkendes Gift auf Ehe und Familie auswirkte, den Vater nicht nur seinem Sohn entfremdete, auch die Ehe zwischen den Eltern zersetzte. Erst schien sein Vater zu einem Monster zu werden, später wurde er zu einem im stiller werdenden Fremdkörper, bis zu seinem inszenierten Verschwinden.

Jede Reise hat einen Kern, den man sucht und unablässig umkreist. Hat man ihn dann gefunden, wird alles völlig offen und nicht voraussehbar.

Romain Buffat «Grande-Fin», Die Brotsuppe, 2025, aus dem Französischen von Yves Raeber, 204 Seiten, CHF ca. 28.00, ISBN 978-3-03867-102-2

Jérôme weiss, dass er sich nur von diesem Alp befreien kann, wenn er sich seinem Vater gegenüberstellt. Nicht unbedingt physisch, aber in seine Erinnerungen, seinem Denken. Jérôme rollt mit dem Zug durch jenes Land, dass für seinen Vater Sehnsuchtsort, Traumland war. Ein Lebensgefühl, das so gar nichts zu tun hatte mit der Enge seines eingepferchten Daseines eines bedrohten Ernährers. Ein Leben, in dem die Musik von Bruce Springsteen alles repräsentierte, was das Leben zwischen Druckerei und Familie zerquetschte. Aus dem es keinen Ausweg zu geben schien, erst recht nicht nach der Kündigung und drohender Arbeitslosigkeit.

Im Handschuhfach im Auto seines Vaters lag damals eine Musikkassette mit Springsteens Album „Nebraska“. Eine Aufnahme, die Jérôme später digitalisierte, mit dem Rauschen der Vergangenheit. Er nimmt sie mit auf seine Reise, eine Musik, die er immer und immer wieder hört, als spüre er darin den verlorenen Atem seines Vaters. Er ist nicht die Hoffnung, ihm irgendwann über den Weg zu laufen, ihn zu finden. Aber Jérôme schreibt, um jene Ordnung zu gewinnen, die man ihm schon als Kind nie schenken konnte. So weit weg er sich von seinem Dorf Grande-Fin entfernt, je näher kommt er seinem eignen Kern. Der Versuch einer Versöhnung mit einem Vater, der sich schon lange vor seinem Verschwinden von seiner Familie, seiner Frau und seinen Kindern entfernt hatte. Eine Versöhnung, die erst möglich wird, wenn man sich mit sich selbst versöhnt hat.

Interview

Vaterbücher gibt es zuhauf. Es ist, als müsse sich jede Generation immer und immer wieder mit jenen Männern auseinandersetzen, von denen man ins Leben „gestossen“ wurde. Erfrischend wird eine literarische Auseinandersetzung dann, wenn sie sich möglichst weit von allen Klischees entfernt. Erstaunlicherweise ist Ihr Buch auch eine Liebeserklärung, die Hinwendung des Erzählers an seinen Vater, mit dem er auch hätte abrechnen können. Zeichnete sich diese „Schreibrichtung“ schon von Beginn weg ab?

Ich war mir der Klischees bewusst, die Väterbücher enthalten, und das ist ein Topos, den ich bereits in Schumacher angesprochen habe. Jedes Mal versuche ich, Erzählweisen zu finden, um die Klischees zu umgehen. In Grande-Fin entschärfe ich die Erwartungen der Leserinnen und Leser schon auf den ersten Seiten, indem ich zeige, dass die Suche nach dem Vater nicht so sehr im Zentrum des Textes stehen wird. Von da an lautet die Frage nicht mehr so sehr: Wird Jérôme seinen Vater finden, sondern: Was sieht Jérôme, woran erinnert er sich, wie kommen diese Erinnerungen an die Oberfläche?

© Romain Buffat

Ich bin Vater. Einer meiner Söhne wurde vor wenigen Tagen zum ersten Mal Vater. Ich weiss sehr gut, wie gross die Ideale sind und wie umfassend die Angriffsfläche, um tausendfach das Falsche zu tun. Der Vater ihres Protagonisten war beim Start in seine Familie ganz sicher voller Ideale, davon überzeugt, als Vater nicht nur zu bestehen. Trotzdem liess er aus lauter Verzweiflung seine Familie, seine noch jungen Kinder im Stich, bestimmt im Wissen darum, dass er sein altes Leben nicht so einfach würde abstreifen können. Können sich Wunden tatsächlich schliessen?

Ich weiß nicht, ob Wunden heilen können, und ich glaube, dass Jérôme diese Reise nicht so sehr unternimmt, um Wunden zu heilen, sondern um zu versuchen zu verstehen, zu versuchen zu sehen, was sein Vater zum Zeitpunkt seines Verschwindens gesehen haben könnte. Er unternimmt eine Reise, in die Vereinigten Staaten, aber auch eine Reise in dem Sinne, dass er sich auf den letzten Seiten buchstäblich an die Stelle seines Vaters setzt. Es ist eher eine Reise des Verstehens als der Heilung. Mehr als die Frage der Heilung hat mich vielleicht die Frage nach einer Art Wiedersehen interessiert. Es ist kein Wiedersehen im eigentlichen Sinne, sondern eine Art Überlagerung von Erfahrungen und Sichtweisen: Jérôme hat gesehen, was sein Vater gesehen hat, er hat gehört, was sein Vater gehört hat. In der letzten Szene fand ich es interessant, dass sich Jérômes Gesten (zumindest imaginär) mit denen seines Vaters verbinden. Es ist mir egal, ob Jérôme seinem Vater etwas vorwirft (das müssen die Leser*innen interpretieren), mich interessiert, dass Jérôme sich irgendwann so sehr mit seinem Vater identifiziert, dass er vielleicht die Gründe verstehen kann, die seinen Vater dazu gebracht haben, alles aufzugeben – die Fiktion ist zu solchen Schwindel erregenden Höhen fähig.

Musik repräsentiert ein Lebensgefühl. Wenn ich höre, was ich in meiner Jugend hörte, kann ich mich zurückversetzen. Jérôme hört auf seiner vierwöchigen Reise durch die Staaten immer wieder die Musik seines Vaters, Bruce Springsteen. Wahrscheinlich hörten sie auch Bruce Springsteen während des Schreibens. Wenn ja, wäre das Buch ohne ein anderes geworden? Ich kenne AutorInnen, die jede Firm der sinnlichen Beeinflussung vermeiden.

Beim Schreiben dieses Romans habe ich viel Nebraska, Tunnel of Love, Darkness on the Edge of Town und The Ghost of Tom Joad von Bruce Springsteen gehört (und immer wieder gelesen), den ich übrigens seit 2010 fast obsessiv höre, wie jemand, der Harry Potter oder Faulkner immer wieder liest oder Twin Peaks immer wieder schaut und jedes Mal etwas Neues entdeckt. Ich hierarchisiere meine Einflüsse nicht, Springsteen ist für meine Arbeit genauso wichtig wie Annie Ernaux oder Claude Simon.

Die Springsteen-Songs, ihre Atmosphäre, die Geschichten, die sie erzählen, die Figur Springsteen als Sänger der Arbeiterklasse (aus der Jerômes Familie stammt) prägen den Text völlig. Aber damit Springsteen seinen Platz im Text hat, muss die Musik homodiegetisch sein, das heißt, sie muss Teil des fiktionalen Universums sein und nicht nur Hintergrundmusik für den Autor und die Leser*innen, die Musik muss ein materielles Element im Leben der Figuren sein – ich habe kein Interesse an den Playlists, die manche Autor*innen zu Beginn ihres Werks liefern, um uns zu sagen, in welcher Stimmung sie schreiben, das finde ich uninteressant, das ist, als würde man den Inhalt seines Frühstücks verraten. Für mich muss die Musik in den Text einfließen, wie im Kino, ich höre gerne, was die Figuren hören – Geigen, die uns sagen, wann wir traurig oder erleichtert sein sollen, mag ich weniger.

In Grande-Fin sind einige Szenen wie Neufassungen bestimmter Songs oder Springsteen-Lyrics, es gibt eine Reihe von Anspielungen. Zum Beispiel ist die fast existenzielle Scham, die Jérômes Vater empfindet, als er seine Familie in einem alten, kaputten Auto transportiert, eine Neuinterpretation des Songs Used Cars. Und die Szene, in der Jérômes Vater nachts in seiner Küche Angst hat, weil er gerade seinen Job verloren hat, findet sich in Springsteens Diskographie.

© Romain Buffat

Ihr Roman ist ein Vaterbuch, ein Familienroman, ein Eheroman, ein Railtripp, eine Liebesgeschichte. Sie waren selbst lange unterwegs, wie Jérôme quer durch Amerika. Für Jérômes Vater war es ein Sehnsuchtsort. Für Sie auch? Ein Leben in den unvereinigten Staaten zwischen „Trumpisten“ und allen anderen?

Ich glaube nicht, dass für mich Amerika ein Sehnsuchtort ist. Ich bin mir nicht sicher, ob ich dort lange überleben könnte. Aber dieses Land berührt mich, weil es uns alle in gewisser Weise berührt – man muss sich nur unsere Fassungslosigkeit ansehen, die wir bei jeder Ankündigung von Trump seit seiner Amtseinführung empfinden. Es dauerte nicht länger als einen Monat, bis sich Mitglieder der SVP Trump und seinem Wunsch, aus dem Pariser Abkommen auszusteigen, anschlossen. Als Schweizer wachen wir jeden Morgen auf und schauen nach Westen, ob wir nun fasziniert, verängstigt, desillusioniert oder wütend sind, das ist eine Tatsache. Wir warten immer auf die Reaktion der Amerikaner, weil wir Westler sind, und wir lieben ein bisschen wie die Amerikaner. Wir sind ein sehr liberales Land, unsere Lebensweise ist ökologisch nicht tragbar und wir hängen fast religiös am Privateigentum.

Amerika ist in meinem Roman sehr praktisch: Durch den Rückgriff auf den Vergrößerungsspiegel Amerika wird deutlicher, was Jérôme Vater aushält: den Rhythmus und die Erschöpfung bei der Arbeit, ein Produktionssystem, das Leben zerstört.

Meine literarische Arbeit seit Schumacher ist ein Versuch, eine ganze Reihe von Referenzen (Literatur, Kino, Musik) zu dekonstruieren. Nicht, dass ich alles loswerden möchte, was ich gelesen, gesehen und gehört habe, das amerikanisch war, aber ich dekonstruiere, um die Materie dessen zu beobachten, was einen Grossteil meiner Vorstellungen ausmacht. 

© Romain Buffat

Sie lehren am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Wie gross bei vielen die Bereitschaft ist, unsäglich viel Zeit und Energie für ihren Traum eines SchriftstellerInnenlebens zu investieren, weiss ich aus vielen Begegnungen. Auch von der Hoffnung, dereinst mit dem Schreiben den Lebensunterhalt bestreiten zu können, schwindelt mir. Dass Sie mit Ihrem ersten Roman bereits einen Preis zugesprochen bekamen und nun mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet werden, ist aussergewöhnlich. Meine etwas freche Frage: was machen Sie besser?

Es interessiert mich nicht so sehr, ob ich es besser mache als andere, und ich möchte diese Frage nicht in Form eines Wettbewerbs stellen. Abgesehen von einigen Freunden weiß ich nicht wirklich, wie andere arbeiten. Aber ich spreche gerne darüber, wie ich arbeite: Ich arbeite viel, und mit Arbeiten meine ich Lesen und Schreiben, und wenn ich andere Autor*innen lese, bin ich bereits in einer Art des Schreibens. 

Wenn ich schreibe, bin ich sehr anspruchsvoll und misstrauisch gegenüber meinen Texten. Ein erster Entwurf stellt mich nie zufrieden, und wenn ich mit einem ersten Entwurf zufrieden bin, ist das immer ein Zeichen dafür, dass etwas nicht stimmt, dass ich mich einer Form von Bequemlichkeit und Faulheit hingegeben habe.

Jeden Tag, wenn ich mit dem Schreiben beginne, nehme ich die Absätze, die ich am Vortag geschrieben habe, und schreibe sie um, korrigiere und passe sie an. So beginnt jeder Tag mit Korrekturlesen und Umschreiben, es ist für mich fast unmöglich, den Tag mit einem neuen Absatz zu beginnen. Irgendwann schreibe ich dann einen neuen Absatz, ohne mir des Übergangs vom Umschreiben zum Schreiben von etwas Neuem wirklich bewusst zu sein, das Neue ist immer mit dem Umschreiben verbunden. Ich kann nicht bei Null anfangen. Außerdem schreibe ich mit Landkarten vor Augen, mit Fotos, Filmszenen, Gegenständen, begleitet von Büchern, die mir wichtig sind.

Die Tatsache, dass Schreiben für mich fast immer Neu- und Umarbeiten bedeutet, führt dazu, dass meine Texte, wenn ich sie einem Verleger gebe, unzählige Male überarbeitet wurden, bis die erste Version nicht mehr zu hören ist. Für mich ist es immer eine fünfte oder sechste Version.

Romain Buffat, 1989 in Yverdon-les-Bains geboren, lebt in Lausanne. Er gehört zum »collectif d’auteur·e·s Hétérotrophes«. Sein erster Roman «Schumacher» wurde im französischen Original 2018 mit dem Prix littéraire chênois und 2019 mit dem Terra Nova Preis der schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet.

Romain Buffet gewinnt den Schweizer Literaturpreis 2025 für «Grande-Fin». Aus der Jurybegründung: In einer feinen, rhythmischen Sprache schlängelt sich der Roman durch die Zeiten und die Landschaften und zeichnet dabei das Porträt einer Arbeiterfamilie. Jérômes Reise ermöglicht Erinnerungsarbeit, aber vor allem auch einen Neuanfang für die Protagonistinnen und Protagonisten. Ein feinfühliger Railtrip, der die Leserinnen und Leser mitzunehmen weiss.

Yves Raeber ist Schauspieler, Regisseur und literarischer Übersetzer von Theaterstücken und Prosa. Für den verlag die brotsuppe hat er «Ruhe sanft» von Thomas Sandoz, «Allegra» von Philippe Rahmy sowie «Ohne Komma» von Myriam Wahli vom Französischen ins Deutsche übersetzt. Für die Übersetzung von «Die Panzerung» (Béton Armé) von Philippe Rahmy wurde ihm 2019 von der Stadt Zürich eine literarische Auszeichnung verliehen.

Alexandra von Arx «Das mit uns», Zytglogge

Die einen tun alles, um einmal aus der Masse der Anonymität aufzutauchen, vergessen alle Scham, um ein Stück Berühmtheit zu gewinnen, koste es, was es wolle. Andere leben ein Leben lang in den Mühlen der Pflichterfüllung und Selbstvergessenheit, um resümierend festzustellen, dass da nichts geblieben ist.

Iris ist seit kurzem pensioniert und hat genügend Zeit zu resümieren, auf das Vergangene zurückzuschauen. Iris ist nicht unzufrieden mit ihrem Leben, war eingebettet in einen Beruf, eine Aufgabe, auch wenn das mit der Liebe, mit einer Familie nicht reichte. Sie geniesst den Ruhestand, weil er ihr endlich die Möglichkeit gibt auszubrechen, zaghaft andere Wege zu gehen. Gleichzeitig merkt sie, dass der leichte Weg, Kontakte zu knüpfen mit dem Ausscheiden aus einem Arbeitsprozess, einem Arbeitsumfeld schwieriger geworden ist. Eine Zeit der Neuorientierung.

Bei einem spontanen Besuch der örtlichen Buchhandlung findet sie im Regal der einheimischen AutorInnen ein Buch mit dem Titel „Auf Umwegen zum Erfolg“ von Silvan J. Mueller. Wäre der Name des Autors nicht gewesen, hätte der Titel sie nicht zum Kauf animiert. Aber Silvan J. Mueller. Sie hatte den Mann gekannt. Er war über viele Jahre ihr Geliebter gewesen. Er, verheiratet, Vater einer Familie, mitterweile ein alter Mann, über achtzig, weit weg von ihrer Gegenwart. Trotzdem war er damals ihre Hoffnung, eine Tür, ein Versprechen, dem er aber eines Tages mit einem Brief ein Ende setzte, er habe sich „das mit uns“ lange überlegt und sei zum Schluss gekommen, die Beziehung habe keine Zukunft.

Iris trägt das Buch mit nach Hause, obwohl sie schon in der Buchhandlung am liebsten zu lesen begonnen hätte. Silvan, damals noch Silvan Müller, war ihr Liebesglück, ein grosses Stück ihres Lebens. Trotzdem blieb sie der Seitensprung, die zweite Wahl, jenes Glück, das man einfach abstreifen konnte. Gleichzeitig weiss Iris, dass vieles in Silvans Leben nicht so gelaufen wäre, wie es lief, wäre sie nicht Teil seines Lebens gewesen. Umso schockierender die Feststellung, dass sie mit keinem Wort in der Biographie dieses Mannes vorkommt, nicht einmal die Auswirkungen ihrer Liebe. Iris muss feststellen, dass sie eine Leerstelle ist, jemand, auf den man ganz leicht verzichten kann, der es nicht wert ist, erwähnt zu werden, nicht einmal verschlüsselt.

Alexandra von Arx «Das mit uns», Zytglogge, 2025, 152 Seiten, CHF ca. 28.00, ISBN 978-3-7296-5181-4

Mit einem Mal wird Iris in die Vergangenheit zurückkatapultiert, in ein grosses Stück Leben, das sie längst abgeschlossen und verdaut glaubte. So nichtig ihre Rolle im niedergeschriebenen Leben ihrer einstmaligen grossen Liebe, so gross der Schmerz darüber, dass sie scheinbar spurlos an jenem Leben vorbeigegangen ist, obwohl sie weiss, dass dem nicht so ist.
Sie liest das Buch ein zweites Mal mit der Absicht, das Geschriebene zu korrigieren, zu ergänzen, bis mehr und mehr klar wird, dass Iris es bei den schriftlichen Korrekturen nicht sein lassen kann. Aber nicht nur mit den Korrekturen in diesem Buch, in der Sicht auf die Vergangenheit. Auch Korrekturen in ihrem Leben jetzt. Einst hatte sie den Wunsch zu studieren, stand „Studium“ ganz oben auf ihrer Prioritätenliste. Aber das Leben korrigierte diese Liste, schob ihre Wünsche immer weiter nach hinten.

Mit einem Mal beginnt sich Iris Fragen zu stellen, die sie sich nie zu stellen traute oder sie ihr schon vor der Antwort irrelevant schienen. Fragen, die mit einem Mal ihr Selbstverständnios erschüttern. Silvan pulverisierte Pläne. Und irgendwann schien sie bloss noch zu funktionieren, erst recht, als sich Silvan “für die Familie“, gegen sie entschied.

Wir alle frisieren unsere Vergangenheit, korrigieren und beschönigen, dramatisieren und verharmlosen. Jede Sicht auf die Vergangenheit ist eine Zensur. Das eine wird zum Leuchten gebracht, anderes deckt man mit einer schweren, lichtundurchlässigen Decke zu. Iris macht die Missachtung, das Leugnen des einen zum Motor ihrer selbst. Iris blättert in ihrem eigenen Leben zurück und macht das Erinnern zu einer Selbstvergewisserung.

Alexandra von Arx beschreibt sechs Tage. Eine Woche des Um- und Aufbruchs. Eine Neuschöpfungsgeschichte. Alexandra von Arx ist eine Meisterin der feinen Töne, «Das mit uns“ die Kampfschrift einer Auferstehung.

Interview

Ein erstaunliches Buch, nur schon die Ausgangslage. War es doch über Jahrhunderte klar, dass die Frau kaum je aus dem Schatten des Gatten, geschweige denn eine Schattenfrau aus jenem des Geliebten heraustreten konnte. Wie bist du zum Stoff, zur Idee gekommen?
Die Idee entstand beim Lektorieren einer Biografie. Darin ging es um zwei Brüder, die vor allem von ihrem beruflichen Werdegang erzählten. Frauen kamen praktisch nicht vor, auch die Ehefrauen kaum. Das beschäftigte mich sehr. Ich stellte mir die Empörung von Frauen vor, die in einer Männerbiografie eine wichtige Rolle zu spielen glauben, aber letztlich kaum Erwähnung finden. Diese Empörung wollte ich literarisch verarbeiten. Mit der Wahl einer Protagonistin, die in einer Biografie aus naheliegenden Gründen nicht erwähnt werden kann, trieb ich die Thematik auf die Spitze.

Iris ist pensioniert, im Unruhestand. Wie so viele, die in einen Alltag eingespannt sind, die erste richtige Chance der Besinnung, der Neuorientierung. Das Buch, das sie zuerst in eine tiefe Krise stürzen lässt, wird zu einem Türöffner. Viel mehr als eine Kreuzfahrt in der Karibik oder ein Survivalkurs in den Wäldern des Mittellandes. Ent-Täuschung wörtlich genommen?
Die Autobiografie von Silvan hat tatsächlich eine gewisse Kraft. Sie wirft Iris zurück in die Vergangenheit, an einen wunden Punkt in ihrer eigenen Biografie. Vielleicht ist der Ruhestand der richtige Moment, um sich mit einem Thema auseinanderzusetzen, das man im Berufsalltag erfolgreich verdrängt hatte. Dazu braucht es weder eine Kreuzfahrt noch einen Survivalkurs. Bücher sind kraftvoll genug.

Silvan ist über 80 und schreibt ein Buch über sein Leben, zumindest über den Teil, den er als sein Leben sehen will. Ist das nicht ein ganz natürlicher Vorgang? Beschönigen nicht alle ihre Vergangenheit, permanent, selbst dann, wenn wir vorgeben, ehrlich zu sein?
Der Rückblick auf das eigene Leben ist nie objektiv, sondern sagt viel darüber aus, wie wir uns wahrnehmen oder wie wir wahrgenommen werden möchten. Die Auswahl der Ereignisse, die man erwähnt, und die Art, wie sie miteinander verknüpft werden, enthalten eine Wertung. Diese muss nicht unbedingt beschönigend sein.

Iris versucht zuerst die Geschichte, das Buch zu korrigieren, ihre Sicht zu rechtfertigen. Aber das Buch ist geschrieben, die Markierung gesetzt. Ist dein Buch die Geschichte einer Emanzipation, nicht zuletzt die Aufforderung zur Emanzipation, unabhängig vom Geschlecht?
Iris tritt aus der jahrzehntelangen Unsichtbarkeit heraus. Das ist ein grosser Schritt. Ob er als Emanzipation zu bezeichnen ist, weiss ich nicht.

„Alles ist eine Frage der Perspektive“, könnte man lakonisch kommentieren. Silvans Wahrheit ist nicht jene von Iris. Wir leben unter dem Zwang, stets alles in Schubladen zu ordnen. In gut und böse, in richtig und falsch, wahr und verdreht. Iris wird erst frei, als sie den Zwang ablegen kann und ihren Blick in eine offene Perspektive richten kann. Ist Schreiben nicht genau diese Befreiung?
Beim Schreiben kann ich in die Rolle einer anderen Person schlüpfen und dadurch die Perspektive wechseln. Das fasziniert mich. In der Konstellation von «Das mit uns» wäre vielleicht auch die Figur von Verena interessant. Denkbar ist, dass sie im bisherigen Narrativ unterschätzt wurde.

Alexandra von Arx, geboren 1972 in Olten, ist Juristin, Übersetzerin und internationale Wahlbeobachterin. Sie wurde mit zwei Förderpreisen für Literatur und mehreren Aufenthaltsstipendien ausgezeichnet. Ihre beiden ersten Romane sind 2020 und 2021 im Knapp Verlag erschienen, ihre Aufzeichnungen als Hüttenmitarbeiterin 2020 im orte Verlag.

«Ein Hauch Pink», Rezension mit Interview

«Im Dorthier», Gasttext auf der Plattform Gegenzauber

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Alexandra von Arx

Lukas Maisel «Wie ein Mann nichts tat und so die Welt rettete», Rowohlt

Am 26. September 1983 schrammte die Welt einem nuklearen Desaster vorbei. Nur weil Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow, ein sowjetischer Offizier in der Kommandozentrale der Satellitenüberwachung, den scheinbaren Anflug nuklearer Interkontinentalraketen als Fehlalarm interpretierte, verhinderte der Mann den Tod von Millionen.

Alles an dieser Erzählung ist wahr. Was Lukas Maisel an Fiktion beifügt, ist das, was im Innenleben jenes Offiziers geschah, genau das, was uns damals rettete, denn wäre Stanislaw Petrow der eigenständigen Entscheidung nicht fähig gewesen, hätte nichts einen nuklearen Krieg aufhalten können. Nur weil dieser Mann damals in den 17 Minuten zwischen Alarmierung durch ein empfindliches und anfälliges Raketenabwehrsystem und dem Moment der Entwarnung zum eigenen Denken fähig war, durch logisches Entschlüsseln einer falalen Kette von scheinbar gesicherten Informationen Panik relativierte und Vernunft über die Angst siegen liess, blieben sowjetische Nuklearraketen am Boden.

Weil sich das damalige System keine Blösse geben wollte, weil die Sowjets auf jeden Fall ihr Gesicht wahren wollten, das Gesicht der perfekten Abschreckung, wurde Offizier Stanislaw Petrow weder befördert noch bestraft. Man verschwieg den Zwischenfall genauso systematisch wie die Ursachen, die dazu führten; Sonnenreflexionen auf Wolken. Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, in Petrows letzten Jahren in Moskau, erfuhr der ausgemusterte Offizier Ehrungen im In- und Ausland. Nach der Kontaktaufnahme eines deutschen Unternehmers noch zu Lebzeiten Petrows wurde in Oberhausen, dem Heimatort jenes Geschäftsmannes, zum zweiten Todestag des Retters eine Gedenktafel eingeweiht: „Wäre er den Computermeldungen gefolgt, wäre der sofortige atomare Gegenschlag erfolgt und damit der Tod von Millionen Menschen in den USA, in Europa und Russland die Folge gewesen.“

Lukas Maisel «Wei ein Mann nichts tat und so die Welt rettete», Rowohlt, 2025, 128 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-498-00730-0

Lukas Maisel konzentriert sich in seiner Erzählung auf diesen einen Tag, diese 17 Minuten und die drei Tage, die Stanislaw Petrow in der Folge noch in der Kommandozentrale ausharren musste, bis sich die Wogen nach dem Zwischenfall glätteten. Lukas Maisel fokussiert sich auf einen Mann, der in diesen 17 Minuten ganz auf sich gestellt war, der wusste, dass jede Entscheidung, die er fällen würde, existenzielle Folgen nach sich ziehen würde, dass das, was nach der Entwarnung die Schwächen des Systems aufzeigte, nie und nimmer an die Öffentlichkeit dringen durfte, nicht einmal zur Erzählung in seiner Familie. Stanislaw Petrow wurde zum Bauernopfer einer Beinahekatastrophe. 

Lukas Maisel beschreibt die klaustrophobische Situation in jenem Bunker, in dem während ewig lange scheinender Minuten das Schicksal von Millionen in der Schwebe stand, in der jede weitere Reaktion auf die Interpretation eines einzelnen Mannes reduziert war, alles in einem Schrecken ohne Ende hätte ausarten können. Die Geschichte eines Mannes an einem geheimen Ort, einer geheimen Stadt. Die Geschichte eines Mannes, der eigentlich bloss für einen kranken Kollegen eingesprungen war, eine Geschichte, die ohne die klaren Gedanken eines Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow mit Sicherheit ganz anders geendet hätte.

„Wie ein Mann nichts tat und so die Welt rettete“ ist zum einen ein Denkmal für einen Mann, der sich in den Zwängen von Macht und Hierarchie von Vernunft leiten liess, etwas, was in der Gegenwart nicht minder wichtig wäre.  Zum andern ist die Geschichte ein Exempel dafür, das Zurückhaltung, ein Zögern unendliches Leid verhindern kann, erst recht in einer Zeit, in der „Hauruckgehabe“ Politik wird und in der Wirtschaft zur Handlungsmaxime.

Lukas Maisels kleines literarisches Husarenstück liest sich in einem Zug, hoch spannend und mit dem Bewusstsein, wie oft das Glück des Menschen an einem seidenen Faden hängt. Unbedingt lesenswert!

Interview

Der Stoff für ein Buch lag offensichtlich jahrzehntelang da. Erstaunlich, dass die Geschichte im deutschsprachigen Raum nicht schon viel früher literarisch umgesetzt wurde. Was entschied, dass Sie einen so konzentrierten Roman daraus schufen und nicht mit grösserer Geste erzählten, zum Beispiel aus der Sicht des alt gewordenen Stanislaw Petrow?
Ich weiss nicht, ob man sich frei aussuchen kann, wie man einen Stoff erzählt. Beim Schreiben folge ich meinem Instinkt, es fühlte sich einfach richtig an, den Stoff in dieser Kürze zu erzählen, ihn nicht unnötig zu strecken. Ich kann im Nachhinein vermeintlich rationale Gründe suchen, warum ich das so und nicht anders geschrieben habe, aber es bleibt Instinkt. 

Der Mann schleppte das Geheimnis jenes 26. Septembers 1983 bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion als Staatageheimnis mit sich herum. Es ist anzunehmen, dass er nicht einmal seiner Frau von den tatsächlichen Ereignissen erzählen konnte. Die Dramaturgie dieser 17 Minuten in diesem Kommandobunker ist nicht zu überbieten, genauso die Dramaturgie in Stanislaw Petrows Innenleben. Er wusste haargenau, was die Folgen einer falschen Entscheidung sein werden. In all den Kriegen, ob in der Ukraine, im Kongo oder im Sudan. Es ist nur zu hoffen, dass Menschen sich in kollektiv lebensbedrohlichen Situationen nicht instrumentalisieren lassen. Ist das letztlich nicht ein frommer Wunsch?
Natürlich, aber was bleibt uns denn anderes übrig als die Hoffnung? Am Ende wird die Geschichte von den Entscheidungen einzelner Menschen vorangetrieben, die Frage ist, wieviel Macht diese Menschen besitzen. Stanislaw Petrow wollte keine Macht haben, sie fiel ihm zu. Glücklicherweise konnte er klar sehen, sein Blick war nicht von einer Ideologie verzerrt. Er war ein Mann der Wissenschaft und vertraute ihren Methoden, damit war er sicherlich ein schlechter Kommunist.

Sie beschreiben sehr intensiv, was in Stanislaw Petrow passiert, jener Teil der Geschichte, die Fiktion braucht. Ich fiebere mit ihm. Ich spüre, wie sich die Minuten zu Unendlichkeiten ausdehnen. Ich spüre den Kampf, den der Mann in sich austrägt, wie sich alles auf diesen einen Moment einbrennt. Ich fühle seine Verzweiflung, den unsäglichen Druck, den realen Alp. Der Titel ihres Buches meint nicht, dass Stanislaw Petrow nichts tat. Die Weigerung, das Abwarten, der Zweifel, das Nachdenken ist viel mehr als Nichtstun. Was bedeutet die Geschichte von Stanislaw Petrow für sie ganz persönlich?
Wahrscheinlich sprach mich der Stoff an, weil ich mich fragte, ob ich das könnte; abwarten wie Petrow. Ich und die meisten Menschen wollen durch ihre Handlungen möglichst rasch ein Ergebnis herbeiführen, wir halten die Ungewissheit nicht aus. Auch Petrow hält sie fast nicht aus, zum Glück dauert sie nur siebzehn Minuten, die ihm aber wie eine Ewigkeit vorkommen.

Es war nicht das einzige Mal, dass die Welt an einem kriegerischen Nuklearschlag vorbeischrammte. Zwei Jahrzehnte zuvor hätte es während der Kubakrise nicht viel mehr gebraucht, um den Konflikt atomar eskalien zu lassen. Heute wird am russischen Fernsehen ganz offen und hemmungslos mit der Atombombe gedroht, allen voran der TV-Moderator, Scharfmacher und Putin-Propagandist Wladimir Solowjow. Atomsprengköpfe dienen nicht mehr der Abschreckung, sondern der ganz direkten Drohung. Macht ihnen das nicht Angst?
Mein Vater war ein Kind, als die Kubakrise passierte, er war noch zu klein, um das verstandesmässig begreifen zu können, aber die allgegenwärtige Furcht hat er gespürt. Jedenfalls erzählte er, dass damals viele glaubten, der Dritte Weltkrieg stünde bevor. Die stationierten Mittelstreckenraketen waren eine unmissverständliche Drohung, heutzutage ist es schwieriger einzuschätzen. Würde Putin für seine Ziele wirklich Atomwaffen einsetzen? Er ist nicht durchgeknallt, er hat bestimmte Ziele und kalkuliert mit Angst. Ich würde ihm den Besuch des Museums in Hiroshima empfehlen, dort sieht man, durch welche Hölle die Menschen damals gegangen sind.

Nach dem Tod seiner Frau 1997 und dem Auszug seiner Kinder lebte Stanislaw Petrow mit einer Rente von 1000 Rubel. Ein Betrag mit dem man sich in einem schicken Moskauer Café gerade mal 10 Tassen Kaffee hätte leisten können. Ist das das Wesen eines wahren Helden? Dass er das, was er tut nicht der Heldentat wegen tut?
Es würde wohl keine Helden geben, wenn sie nach Anerkennung von aussen streben würden, sie haben innere Motive. Stanislaw Petrow sah sich nicht als Held, er habe einfach seine Arbeit erledigt, betonte er immer wieder. Das ist ja ein Topos, der Held, der einfach nur tut, was er für das Richtige hält.

Lesung im Literaturhaus Thurgau in Gottlieben

Lukas Maisel, geboren 1987 in Zürich, machte eine Lehre zum Drucker, bevor er am Literaturinstitut in Biel studierte. 2020 debütierte er mit seinem Roman «Buch der geträumten Inseln«, für das er einen Werkbeitrag des Kantons Aargau erhielt sowie mit dem Förderpreis des Kantons Solothurn und dem Terra-nova-Preis der Schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet wurde. 2021 las er bei den 45. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt, 2022 erschien seine von der Kritik gefeierte Novelle «Tanners Erde«.

Erzählung «Ewiger Wanderer» auf der Plattform Gegenzauber

Beitragsbild © Christina Brun

Agnes Siegenthaler «So nah, so hell», Zytglogge

Man kennt sie, jene, die in verlassene Häuser steigen, mit Taschenlampe und Rucksack, Fotos von Lost Places machen, Spuren suchen nach verlorenem, vergessenem Leben. In einem kleinen Haus, kurz vor der Räumung, treffen zwei junge Menschen aufeinander, Letta, die ungefragt eingestiegen ist und Paul, der im Haus seiner Grossmutter Ordnung machen will.

Wer ein Leben lang ein Haus bewohnt, hinterlässt einen kleinen Kosmos voller Spuren, Signale, Markierungen, dinggewordener Erinnerungen. Ich erinnere mich gut an die Besichtigung jenes Hauses, in dem wir zehn gute Jahre mit unserer Familie verbringen konnten. Die Frau, die mit ihrem Hund Jahrzehnte in dem Haus wohnte, am Schluss nur noch im Untergeschoss, musste wegen eines Unfalls ins Pflegeheim. Als man uns das Haus zeigte, sah man auf dem kleinen Tisch im Wohnzimmer noch einen Notizzettel und in der Küche auf der Anrichte eine Schale mit Früchten.

Agnes Siegenthaler «So nah, so hell», Zytglogge, 2025, 160 Seiten, CHF ca. 28.00, ISBN 978-3-7296-5182-1

Lore führte vor ihrem Tod ein ruhiges und zurückgezogenes Leben. Nicht einmal ihre nächsten Nachbarn wussten etwas von der stillen Frau. Agnes Siegenthaler verrät nur Verschlüsseltes aus dem Leben der stillen Frau. Das wird auch sichtbar im Aufbau des eigenwilligen Romans. Wenn Agnes Siegenthaler von Lore erzählt, dann sprechen die Dinge im Haus von der Frau und den Menschen, die mit Lore Zeit in diesem Haus teilten. Textpassagen, die sich eindeutig vom Erzählstrang nach ihrem Tod absetzen, lyrische Prosa, gesetzt wie Gedichte. Für mich als Leser sind es Atempausen, Einladungen, meinen Lesefluss zu verlangsamen, dem Text Zeit zu lassen, auf die Stimmen der Dinge einzugehen, auf das Hasenauge, die Porzellanfigur, den Hygrometer, die Kaffeetasse, den Elefanten aus Glas. Agnes Siegenthaler gibt den stumm gewordenen Dingen in Lores Haus ihre Stimme zurück, den eingelagerten Erinnerungen, die sich sonst spurlos verflüchtigen. Jeder, der schon einmal die Pflicht hatte, ein Haus Räumen zu müssen, weiss, wie wertlos mit einem Mal Dinge geworden sind, die in einem anderen Leben unentbehrlichen Wert besassen.

Paul ist Lores Enkel. Als er das Haus seiner Grossmutter aufschliesst, merkt er, dass Spuren zu finden sind, die nicht von seiner Groossmutter stammen. Und irgendwann findet er im grossen Bett der Grossmutter eine junge Frau liegen, jemanden, den er nicht kennt, von dem er aber spürt, das keine schlechten Absichten der Grund dafür sind, dass sich jemand unerlaubt Zutritt in das Haus seiner Grossmutter verschaffte. Letta wacht auf. Vielleicht wacht sie aber nicht nur aus dem Schlaf auf, sondern auch aus deinem Rauschzustand, der sich jedes Mal einstellt, wenn Letta in ein nicht mehr bewohntes Haus einsteigt.

Letta ist keine Einbrecherin. Sie ist nicht an dem interessiert, was Einbrecher interessieren würden. Sie hat sich in ihrer Passion ein eigentliches Protokoll zurechtgelegt, das sie genau befolgt. Sie sucht nach einem Andenken. Aber nach einem Andencken, das nicht sie aussucht, sondern von dem sie ausgesucht wird. Ein Taschentuch mit gehäkeltem Rand und den eingestickten Worten „Mensch nütze den Tag, denn er ist kurz“, eine zerkratzte Schallplatte von Miles Davis, ein einzelner Kinderschuh mit vergilbten Maikäfern als Muster. Letta sucht nach dem Andenken in diesem Haus, sucht viel länger als erwartet, erst recht mit Verzögerung, weil da dieser Mann auftaucht und erklärt, er wäre der Enkel. Letta und Paul sind Suchende; Letta nach dem Andenken, Paul mit der Aufgabe, die Asche an Lores liebstem Ort zu verstreuen.

Das verlassene Haus kurz vor seiner Räumung wird zum Schauplatz vieler Begegnungen. Vordergründig zwischen Letta und Paul, unterschwellig zwischen Lore über all die Dinge mit den Menschen, die einst in diesem Haus ein Stück ihres Lebens verbrachten, mit Lore Leben teilten.

„So nah, so hell“ ist ein zartes Debüt von grosser poetischer Kraft. Ein Buch, das viel Aufmerksamkeit verdient, geschrieben von einer Autorin, die mit diesem Roman einen vielversprechenden Weg begonnen hat. Wir werden noch mehr lesen!

Interview:

Ich las Dein Debüt mit grossem Interesse, mit ungetrübter Freude. Nur schon, weil Du eine mutige Form gewählt hast, Lyrisches mit Prosa mischst, deinem Erzählen ganz verschiedene Stimmen und Tonlagen gibst. War von Beginn weg klar, dass Du mehr als nur eine Art des Erzählens für Dein Debüt wähltest? Wieviel Mut brauchte es?

Die unterschiedlichen literarischen Formen sind zusammen mit den verschiedenen Erzählperspektiven entstanden. Es war klar für mich, dass diese nicht einfach in derselben Weise erzählen können. So haben die Gegenstände eine Art Chorfunktion für mich, wie sie gemeinsam und doch sehr individuell von etwas erzählen, was direkt nicht mehr erfahrbar wäre. Ihre Sprache gleicht der verknappten Form von Lyrics in Liedern und hat auch etwas Künstliches. Die Felsteile ihrerseits erlauben es sich, über Jahrtausende auszuholen und doch kurze Momente hervorzuheben. Wenn über Letta oder Paul erzählt wird, sind wir relativ nah an ihnen dran und folgen ihren Bewegungen und Gedanken. Es ist eine alltäglichere und menschlichere Sprache. Es hat nicht unbedingt Mut gebraucht, den Text auf diese Weise zu schreiben, es war vielmehr schön und hat Spass gemacht, zu entdecken, wie es gelingt, eine Geschichte aus unterstimmlichen literarischen Formen heraus zu erzählen. Danach waren es eher Ausdauer und Standhaftigkeit, die nötig waren, um die unterschiedlichen Formen und Perspektiven, zu verteidigen, nicht davon abzukommen und einen Verlag zu finden, der bereit war, dieses Textgewebe herauszubringen.

In alten Kurzbiographien über Dich heisst es „Für ihre Texte sucht sie nach Zeugenschaft in verlassenen Häusern und bei herumirrenden Steinblöcken. Sie interessiert sich für unwahrscheinliche Perspektiven und für das übersehene Offensichtliche.“ Mit diesen beiden Sätzen könnte man auch Letta, die Protagonistin in deinem Roman beschreiben. Keine alltägliche Leidenschaft. Irgendwie doch knapp an den Rändern zur Illegalität. Auch ein Outing?

Ich glaube, ich habe in dieser Kurzbiografie eine Methode offengelegt, die ich brauchte, um ins Schreiben zu kommen. Für diesen Text bin ich von konkreten Orten ausgegangen, die dann im Laufe des Erzählens zu fiktionalen Orten wurden. In dieser Kurzbiografie übertreibe ich ein wenig. Tatsächlich war ich in nicht mehr als einem verlassenen Haus unterwegs und das im Rahmen der Legalität. Aber zugegeben, das klingt auch etwas nach Letta. Möglicherweise ist aus dieser Methode ihre Figur entstanden. Sie ist da aber deutlich abenteuerlicher und eigenwilliger unterwegs, als ich es war. 

Ich musste in meinem Leben schon mehrfach helfen, eine Wohnung oder ein Haus zu räumen. Ein ganz eigenes, spezielles Erlebnis. Da wandert in eine Entsorgungsmulde, was zuvor ein Leben lang wie ein Schatz gehütet wurde. Man nimmt Dinge in die Hand, die ihren Wert mit einem Mal verloren, ihre Geschichte eingebüsst haben. Letta sucht nach einem Andenken, einem kleinen Denkmal, das auch im Unscheinbaren steckt. Ist Letta eine Anwältin jener, die ins Vergessen zu rutschen drohen?

Was du in der Frage beschreibst, war auf eine gewisse Weise eine Erzählabsicht von mir: über ein Leben zu schreiben, das scheinbar ungesehen vergangen ist und darüber, wie die Dinge, die für diese Person Schätze waren, mit ihrem Tod zu Müll werden. In dem Roman übernehmen diese Anwaltschaft gegen das Vergessen aber eher die Stimmen der verschiedenen Gegenstände. Durch sie wird nochmals ein Licht auf ein zurückgezogenes Leben geworfen, welches sich zunehmend ohne menschliche Beziehungen abspielte.
Ich glaube, Letta verfolgt da egoistischere Motive, sie sucht nach Dingen, die eigentlich mit ihr zu tun haben, sie sucht sich eine Art selbst gewählte Hinterlassenschaft zusammen. Es sind eher die Umstände, die sie dazu bringen, näher an Lore heranzugehen, über sie nachzudenken.

Paul ist mit der Urne seiner Grossmutter in diesem Haus. Er nimmt zum einen Abschied von seiner Grossmutter, zum andern ist er da mit der Aufforderung seiner Grossmutter, ihre Asche an ihren Lieblingsort zu bringen. Paul muss im Haus mit seiner Grossmutter Zwiesprache halten, um herausfinden, wo dieser „Lieblingsort“ sein könnte. Dein Roman ist neben diesem Kammerspiel zwischen Letta, Paul und Lore auch ein Buch über den Abschied. Wie wichtig ist dir dieses Thema?

Hier geht es um den Abschied von einem Menschen, der zurückgezogen lebte und eigentlich von den Menschen, die dableiben auch nicht vermisst wird. Solche Geschichten gibt es ja sehr viele. Und Paul nimmt sicherlich Abschied von Lore, aber auch von einem Teil seiner selbst. Vielleicht geht es um diesen selbstbezogenen Anteil von Abschied. Aber auch andere Lesarten sind möglich, zum Beispiel Abschied zu nehmen, von einem Leben, welches man vielleicht gerne geführt hätte, Abschied nehmen von Bildern, die wir uns von Menschen machen.

Bist Du ein Mensch, der Dinge sammelt? Wie sehen Deine Regale aus? Ist Schreiben eine Form des Festhaltens, den Dingen ihre Stimme zu geben?

Ich glaube nicht, dass ich den Dingen eine Stimme geben wollte, ich wollte eine Form finden, in der ich Lores Geschichte erzählen kann. Es ging um ein Erschrecken darüber, dass ein Menschenleben vergeht und die materiellen Dinge einfach weiterbestehen, dableiben, und würden sie nicht entsorgt, könnten sie unerträglich lange da sein. Es ging um die Imagination darüber, was in diesen Räumen passiert sein könnte; und gesehen haben es halt bloss die künstlichen Augen dieser Gegenstände. Daher benutze ich die Dinge eher, als dass ich ihnen eine Stimme gebe. Um mit ihrer Hilfe die Geschichte von Lore zu erzählen. 

Selbst bin ich keine grosse Sammlerin, so ganz traue ich den Dingen wohl nicht über den Weg.  

Agnes Siegenthaler, geboren 1988 in Bern, hat am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und davor Soziale Arbeit studiert. Sie schreibt Prosa und Lyrik und arbeitet aktuell an ihrem zweiten Roman. Neben dem Schreiben ist sie als Soziokulturelle Animatorin in einer interkulturellen Bibliothek tätig. Aufgewachsen im Emmental, lebt und arbeitet die Autorin rund um die Städte Bern und Fribourg. «So nah, so hell» ist Agnes Siegenthalers Debüt.

Agnes Siegenthaler «Meret 2» & «Café Krokodil» auf der Plattform Gegenzauber

Beitragsbild © Karen Moser & Elias Bannwart

Tommie Goerz «Im Schnee», Piper

Auf seiner Homepace nennt sich Tommie Goerz „fränkischer Krimiautor“, was bis zu seiner Veröffentlichung von „Im Tal“ 2023 auch stimmte. Aber mit diesem ersten, von der Presse „literarisch“ bezeichneten Roman und dem eben erschienen „Im Schnee“ gehört der kreative Tausendsassa mit einem Mal zu einer schreibenden Elite, einem Meister der Stimmungen und Figurenzeichnung.

Tommie Goerz heisst eigentlich Marius Kliesch, legte sich das Pseudonym zu, weil ein Krimiautor mit einer ernsthaften Professur unvereinbar schien. 15 Jahre nach seiner ersten Veröffentlichung, nach 18 Krimis, nun zwei ganz unspektakuläre Romane über das einfache, zurückgezogene Leben. „Im Tal“ spielt zu Beginn des letzten Jahrhunderts, „Im Schnee“ in allernächster Vergangenheit.

Max steht am Fenster und schaut in den Winter. Er lebt allein, schon sein ganzes Leben in diesem Haus, seinem Elternhaus, in diesem Dorf, dass er kaum je verlassen hatte. Er sieht auf seine Apfelbäume, draussen im Garten, den Martini, den Rheinischen Krummstil – und Schorsch, seinen einzigen wirklichen Kumpel, der im letzten Herbst wie jedes Jahr noch von den Äpfeln geholt hatte. Jetzt ist Schorsch tot, liegt in seinem Haus. Im Dorf hört man die Totenglocke, Gunda läutet nur noch, wenn der Tod sie dazu ordert. 

Glück ist, wenn alles vorbei ist.

Max trauert still. Der Tod ist zu einem ständigen Begleiter geworden. Auch weil das Dorf schon lange zu sterben begonnen hat; kein Laden, kein Bäcker, kein Metzger mehr. Irgendwann schleifte man gar das Schulhaus in einer Nacht- und Nebelaktion, weil sich das Gerücht im Dorf festgehakt hatte, es würden Flüchtlinge in dem leeren Haus einquartiert werden. Auch am kleinen Bahnhof hält nur nach im Morgen und am Abend ein Zug. So wie das Dorf sterben auch die Höfe. Was früher noch ganze Familien ernährte, schrumpfte über die Zeit. Man verschuldete sich, stellte um, stellte ein, zog weg oder verkümmerte. Max ist geblieben. So wie Schorsch.

Thommie Goerz "Im Schnee", Piper, 2025, 176 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-492-07348-6
Tommie Goerz «Im Schnee», Piper, 2025, 176 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-492-07348-6

Max macht sich auf zum Haus von Schorsch, der dort aufgebahrt liegt, bis zur Beerdigung, die dann stattfinden muss, wenn der Pfarrer Zeit hat. Man trifft einander zur Wache, sitzt dort und erzählt, isst und trinkt und erinnert sich. Man erzählt sich Geschichten und denkt an all das, was man nicht erzählen kann, nicht zu erzählen traut. Geschichten, die eigentlich nur die Deckel all jener Geschichten sind, die man sich nicht erzählt, von denen aber alle wissen. Schon gar nicht über Liebeszeug. Zumindest die Einheimischen, die Hiesigen, nicht die Neubürger aus der Siedlung. Und schon gar nicht jene, die es immer wieder einmal im Dorf versuchten, aber eigentlich hier nichts verloren hatten. Max bringt zwei Äpfel mit, einen Martini und einen Rheinischen Krummstil.

Max bleibt die ganze Nacht, nicht weil er es dem Schorsch schuldig wäre, sondern weil es nur mit dem Schorsch jene Momente der Zweisamkeit gab, die es nur mit Schorsch gab, weil mit Schorsch auch ein Stück seines Lebens zu Grabe getragen wird, Geschichten, Erinnerungen und jenes immer dünner werdende Gefühl der Vertrautheit; nie wieder Tee trinken im Garten, nie wieder in der Werkstatt oder auf der Chaislongue, den Vögeln oder dem Knacken des Ofens lauschen.

Was bleibt, ist die Einsamkeit, ein Geist, der sich mit dem Sterben im Dorf wie ein Myzel ausbreitet, der einen immer dicker werdenden Teppich aus Schweigen über die Verbliebenen und dieses Dorf legt. Ein Dorf, in dem man Tiere und Motoren wesentlich mehr Zuwendung schenkte, weil es sein musste. Und doch ist und war das Dorf der einzige Ort, an dem Max sich sein Leben hätte vorstellen können.

„Im Schnee“ ist ein Roman von uriger Kraft, holzschnittartig geschrieben, ein Roman über die Bruchstelle zwischen den Zeiten, zwischen Vergangenheit und Zukunft. Tommie Goerz hat das Zeug für ganz grosse Klasse!

Interview

„Im Schnee“ ist ein Buch über aussterbende Welten, eine fest in Rituale und Traditionen eingegrenzte Welt, von der man auf dem Land, in Dörfern noch immer etwas spürt, einer Welt, die man aber in urbaner Umgebung vergessen hat. „Im Schnee“ ist kein romantisierender Blick auf diese Welt. Und trotzdem stirbt die Welt von Max. In Ihrem Roman tauchen Binnengeschichten auf, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen – und trotzdem spürt man so viel Verbundenheit, so viel Respekt. Ist genau das die Spanne zwischen Krimi und Anti-Heimatroman?
In »Im Schnee« versuche ich mich einer Welt zu nähern, die uns gerade zwischen den Fingern zerrinnt, ja schon fast ausgestorben ist und deren immanente Regeln und Selbstverständlichkeiten uns oft gar nicht mehr begreiflich sind. Aber wenn die letzten Alten aus den Dörfern einmal gestorben sind, ist diese Welt unwiederbringlich weg. In diesem Kosmos, vor dem ich sehr grosse Achtung empfinde, habe ich versucht, den Roman anzusiedeln. Vielleicht kann man es so sagen: Die Geschichten der Alten sind manchmal spannend wie ein Krimi – und gleichzeitig sind es Heimatgeschichten. Aber so ist eben Heimat: sie duftet verlockend süss – und stinkt gleichzeitig erbärmlich.

Aquarell des Schriftstellers

Sie sind seit einigen Jahren in Rente. Warum jetzt Bücher wie „Im Tal“ und „Im Schnee“? Brauchte es den weisen Blick des Alters, um so schreiben zu können? Oder lenkt der Blick auf ein Verbrechen zu sehr ab von dem, wovon man auch noch erzählen will? Eine Abkehr vom Krimi?
Gar keine Frage: Für ein Buch wie »Im Schnee« braucht es einen Erzähler mit einem gewissen Alter, und das habe ich nun mal. Und ja, »Im Schnee« ist in gewissem Sinn eine Abkehr vom Krimi, aber aus einem für mich letztlich ganz profanen Grund: Nach dem Gewinn des Glauser mit »Meier« war ich in der Jury für den nächsten Glauser – und da mussten wir über 450 Krimis sichten. Seitdem bin ich absolut Krimi-übersättigt. Geschichten aber habe ich noch genug im Kopf – und wer weiss, vielleicht kommt auch nochmal ein Krimi.

Max lebt schon lange allein, fast nur in seiner einfach eingerichteten Küche. Er fährt nicht einmal in den nächst grösseren Ort, sondern wartet geduldig, bis ihm einer seiner immer weniger werdenden Nachbarn vom nahen Ort bringt, was er zum Leben braucht. Er schaut und sinniert, legt immer wieder einmal ein Scheit nach in seinen Ofen, liest keine Zeitung, schaut und hört keine Nachrichten. Was er durchs Fenster sieht, in der einzigen noch ab und an offenen Gaststube hört oder durch die Totenglocke vernimmt, reicht ihm. Eine Genügsamkeit, die weit weg von der meinigen ist. Steckt da auch eine Portion Sehnsucht?
Wer sehnt sich nicht nach Ruhe – doch was machen wir? Knallen uns jede Minute zu mit irgendwelchen »Aktivitäten«. So wird das aber nichts mit der Ruhe. Dabei kann man die so leicht haben – wenn man sich einfach einmal hinsetzt und nichts tut. Der Sonne zuschaut und den Schatten beim Wandern. Kann keiner. Weil kaum einer mehr bei sich zuhause ist. Stille erträgt keiner mehr, Zeit erst recht nicht. Genügsamkeit aber beginnt beispielsweise schon in dem Moment, in dem man begreift, dass es nicht eine einzige Anschaffung gibt, die glücklich macht. Das erzählt uns nur die Werbung. Zeit und Ruhe zu haben, kann also eigentlich unheimlich einfach sein. Was man dann mit der Zeit macht? Ich nutze sie zum Schreiben, das kostet nicht einmal etwas. Manchmal guck ich dabei stundenlang aus dem Fenster … vielfach auch völlig umsonst. Macht aber nichts, ich kann das gut ertragen.

Man ist in diesem Dorf gewandter im Umgang mit Tieren und Maschinen, als mit Menschen, selbst mit seinen Nächsten. Obwohl die Kirche einst zentrale Kraft in einem solchen Dorf war, ist Nächstenliebe keine Selbstverständlichkeit, oder wird zumindest ganz anders interpretiert. Obwohl alle nur ein einziges Leben zur Verfügung haben, tun wir alles, um es uns möglichst schwer zu machen. Ist Schreiben ein Verdauungsvorgang?
Ich würde es eher so sagen: Schreiben ist ein Findungsvorgang, ein Verstehensvorgang, ein Ein-, Mitfühl- und Durchdringungsvorgang, alles in Einem. Doch zur Frage. Klar, man mutet sich in »meinem« Dorf – aber das ist nicht selten so, wo man auf engstem Raum zusammenlebt und aufeinander angewiesen ist – einiges zu. Einem Aussenstehenden mag das wie mangelnde Nächstenliebe erscheinen, doch ist es schlicht ein Modus vivendi, das Leben ist hart. Mit seinen Nachbarn oder Nächsten muss man klarkommen, man kann ja nicht einfach weg. Das aber kann nur gelingen, indem man vieles hinnimmt, so sein lässt, wie es ist, und über vieles schlicht schweigt. Das gewährt das Funktionieren des Zusammenlebens. Irgendwie weiss jeder alles, aber offiziell weiss keiner etwas. Das macht das Leben erst lebensmöglich. Es hilft. Ich vermute ja, dass das in der Stadt kaum anders ist, als es in der Enge eines Dorfes war, nur erscheint es uns auf dem Dorf vielleicht offensichtlicher, weil die Welt scheinbar übersichtlicher ist. In der Stadt rettet uns die Anonymität.

Arbeitszimmer

Ziemlich am Anfang und fast am Ende ihres Romans taucht ein junger Mann auf. Ein Wanderer. Max lässt ihn in seine Küche, gibt ihm etwas zu essen, sie kommen zaghaft ins Gespräch. Ein Wanderer aus einer anderen Welt, einer Welt, die mit der Welt von Max nur wenig gemein hat. Eine Begegnung, die auch mit den BewohnerInnen der Neubausiedlung im Dorf zu einer Begegnung der „anderen Art“ wird. Sie wohnen auch in einem Dorf. Begegnet man ihrem neuen Roman nicht mit Argwohn oder Skepsis, weil sie so gar nichts Landleben-Verherrlichendes präsentieren?
Das Land ist keine Idylle, das wissen die auf dem Land am allerbesten. Das Landleben war nie ein Ponyhof und wer diesem verklärenden Unsinn aufsitzt, macht es sich halt lieber in seiner Illusion gemütlich als in der Realität. Jeder wie er will, nur: Süssliche Geschichten werden Sie aus meiner Feder nie lesen. Max› Begegnung mit dem jungen Mann thematisiert, wie weit sich beide Welten schon voneinander entfernt haben. Inzwischen liegt die eine im Sterben und wird in absehbarer Zukunft endgültig aus der Zeit gefallen sein, und die andere steht vor ihr mit Staunen, ja fast schon Verständnislosigkeit und findet sie vielleicht skurril. Was bleibt, sind ein paar letzte Bilder. Vielleicht atmosphärisch stark, aber sind sie auch dokumentarisch? Oder doch wieder nur verklärend? 

Tommie Goerz (1954) ist gebürtiger Erlanger. Über Jahre machte er sich als mehrfach ausgezeichneter Krimiautor einen Namen. Auch sein literarisches Debüt „Im Tal“ (2023) wurde von Publikum und Kritik begeistert aufgenommen. Goerz war Langzeitstudent, Hüttenwirt, Automatenwart und Schallplattenvertreter, Lehrbeauftragter, Almknecht, erfolgreicher Werber und mehr. Bis heute wohnt er in Erlangen.

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Beitragsbild © Gaby Gerster

Sara Gmuer «Achtzehnter Stock», hanserblau

Eine alleinerziehende Mutter mit ihrem kranken Kind in einem Hochhaus in einer Berliner Platte. Eine Frau vor dem Absturz ins Nichts. «Achtzehnter Stock» ist ein hartes Stück Gegenwart, erzählt von einem gehetzten Leben, mit dem niemand tauschen will, das man tunlichst ausblendet. Wäre dieser Roman Musik, wäre sie laut, schmerzhaft verzerrter Sound.

Wanda wohnt im achtzehnten Stock eines Hochhauses, ein schimmliges Loch, von dem ihr Onkel, der ihr die Wohnung vermietet, behauptet, es sei ein Juwel. Aber das Hochhaus ist ein Ort der Gestrandeten, der Gescheiterten, der Zurückgelassenen, der Resignierten. Für Wanda kein Zuhause, kein Ort, an dem sie sich wohl fühlt. Kein Zuhause, das Wanda sich für ihre fünfjährige Tochter Karlie wünscht. Und doch alles, was sie kriegen kann. „Kriegen“ ist dabei mehr als wörtlich zu verstehen. Für Wanda ist Leben ein Kampf, ein Krieg. Zum einen lebt Wanda mit dem Selbstverständnis, eine Schauspielerin zu sein, auch wenn es schon Monate her ist, seit ihrem letzten Werbefilm. Zum andern wird in der Scheinwelt des Film der Reichtum, dieses Gefühl, man müsse nur wollen, dann erreiche man seine Ziele schon, mit aller Dekadenz zelebriert. Da ist kein Platz für eine Frau mit Kind, für eine alleinerziehnde Mutter, für jemanden wie Wanda, der weder auf Familie noch ein intaktes Betreuungssystem zählen kann. Zum andern die immer grösser werdende finanzielle Not, dieses Gefühl, immer tiefer in ein Loch zu fallen, aus dem es keine Chance mehr gibt, aus eigener Kraft an den glatten Wänden wieder hochzukommen.

Ich habe genug gesehen. Wir müssen weg.

Sara Gmür «Achtzehnter Stock», hanserblau, 2025, 224 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-446-28278-0

Und dann wird auch noch Karlie krank, liegt apathisch auf dem durchgesessenen Sofa und tropft aus den Ohren. Ausgerechnet jetzt, wo ein Angebot winkt, ein Casting, das Wanda aus der Scheisse hieven soll. Da ist zwar ihre Nachbarin mit ihrer Tochter Aylin, die sie immer wieder mal fragt, ob sie auf Karlie aufpassen kann. Aber Aylins Mama spiegelt ihr ziemlich unverblümt, was sie von der Welt hält, in die Wanda um jeden Preis zurückkehren will. Die Situation spitzt sich so sehr zu, dass Wanda mit Karlie von Praxis zu Praxis rennt und sich die Katastrophe zu einem Drama auszuweiten beginnt. Ein Drama, für das man am Set, an dem man ihr tatsächlich eine Rolle anbietet, keinen Platz hat. Alleinerziehende Schauspielerinnen mit kranken Kindern ohne Betreuungsnetz haben keinen Platz in einem Berufsfeld, das weder klare Arbeitszeiten noch Ausfälle, familiäre Notfälle tolerieren will.

Niemand ist frei. Es entscheiden immer die anderen, was man wert ist.

„Achtzehnter Stock“ ist ein schonungsloser Roman. Der Höllentripp einer Frau, einer Mutter, die zwischen Welten zerrissen wird, die in beiden Welten abzustürzen droht, über deren Leben sich ein Sturm zusammenbraut, aus dem es unmöglich scheint zu fliehen, erst recht mit einem kranken Kind. Es ist ein Roman, der die Situation vieler Frauen erzählt, die auf sich selbst gestellt in den Zwängen der Gesellschaft, im Spagat zwischen Erziehungs- und Erwerbsarbeit bis zur Selbstaufgabe abrackern. Von fehlenden Vätern, von Männern, die nur bis zur eigenen Nasenspitze denken und handeln und einer Gesellschaft, die zwar Familie auf ein Podest setzt, aber nicht bereit ist, Berufs-, Betreuungs- und Gesundheitssystem so zu ordnen, dass alleinerziehende Mütter nicht durch die Maschen fallen.

Man vererbt nicht nur Geld, man vererbt auch Armut.

Literatur ist ein Spiegel der Gesellschaft. Dieser Roman ganz bestimmt. Und der Roman überzeugt auch sprachlich. Was Sara Gmuer in ihrer Geschichte erzählt, spiegelt sich in der Sprache, im rauhen Ton, in den Beschreibungen der Szenerien. Das Hochhaus in einer Berliner Platte ist nicht nur ein Funkloch im Netz, auch ein Funkloch im Bewusstsein der Allgemeinheit, zumindest derer, die auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Sara Gmuer hat einen aussergewöhnlich berührenden Roman geschrieben, kein Mutmacher, aber ein fühlbar schmerzender Stich in die Gegenwart, der der Traum wichtiger ist als die Realität.

© Sara Gmuer

Interview

Ein Roman auf der Schattenseite vieler Lebensträume. Und dass dabei ausgerechnet ein Kind zur scheinbaren Ursache aller Not wird, schmerzt. Wanda, ihre Protagonistin, ist in ihrer Zerrissenheit gefangen. Ich behaupte nicht, dass Männer, Väter ebenso davon betroffen sind, aber was fehlt an Struktur und Gesellschaft, dass Muttersein nicht zur Armutsfalle wird? 
Es fehlt an finanzieller Absicherung, flexibler Betreuung und gesellschaftlicher Akzeptanz für Frauen, die mehr wollen als „nur“  funktionieren. Es bräuchte einen anderen Blick auf Mutterschaft. Ein System, das nicht erwartet, dass Mütter ihre Träume kleinhalten. 
Wanda will Mutter sein und ihre Karriere verfolgen, aber ihr Umfeld hält das für naiv oder egoistisch. Das Problem sind nicht die Kinder. Es sind die Strukturen drumherum. 

Wanda will raus, raus aus der versifften Wohnung im achtzehnten Stock, raus aus dem Quartier der Verlierer und Gestrandeten, obwohl genau dort das ist, was nicht an Status und Geld gebunden ist. Ist Wanda ein Opfer ihres Lebenstraums? Warum hat man es geschafft, wenn Geld keine Rolle mehr spielt? 
Wanda ist kein Opfer ihres Lebenstraums – sie kämpft für ihn, weil er ihre einzige Chance ist, aus der Platte rauszukommen. Erfolg bedeutet für sie nicht nur Anerkennung, sondern vor allem finanzielle Sicherheit. Es geschafft zu haben, heisst für Wanda, sich nicht mehr jeden Tag fragen zu müssen, ob sie die Miete bezahlen kann. Geld ist für sie kein Luxus, sondern die Voraussetzung, um selbst zu entscheiden, wie sie leben will. 

© Sara Gmuer

Die Welten zwischen Plattenbau und Filmglamour könnten grösser nicht sein. Sie kennen beide Seiten. In der Welt des Films scheint es für die Unberechenbarkeit eines Familienlebens, des Mutterseins keinen Platz zu haben. Weil sich Wanda in ihrer Not für ihr Kind und gegen Termine entscheidet, ist die Rache an ihr vernichtend. Spiegelt das die Welt des Films? 
Es gibt viele Berufe, in denen für die Unberechenbarkeit des Mutterseins wenig Platz ist. Die Filmbranche ist da keine Ausnahme. In Wandas Fall kann ich die Produktion sogar nachvollziehen. Drehs sind eng getaktet, es hängen viele Menschen und viel Geld daran. Wenn eine Newcomerin plötzlich nicht ans Handy geht, würde ich sie wahrscheinlich auch ersetzen. Gleichzeitig zeigt das genau das Problem: Die Strukturen sind nicht darauf ausgelegt, dass jemand auch nur kurz ausfallen könnte, schon gar nicht eine junge Mutter ohne Status. In Wandas Welt ist kein Spielraum für Fehler oder persönliche Krisen. Wer nicht liefert, ist raus. 

Wanda bekommt dann doch eine Rolle. Aber man macht aus ihr eine Leerstelle. Sie erscheint weder im Abspann der aufgeführten Mitwirkenden, man lässt sie draussen bei der Promotion des Films. Um jene Rolle entsteht in der Folge ein Geheimnis und daraus so etwas wie ein Hype. Wanda will eine Rolle spielen. Ist dieses Wollen mehrdeutig zu verstehen? 
Ja, Wandas Wollen ist definitiv mehrdeutig. Sie will eine Rolle spielen – im Film, aber auch im Leben. Es geht um mehr als nur die Schauspielerei. Sie will sichtbar sein, Teil von etwas Grösserem. Sie will ernst genommen werden. 

„Achtzehnter Stock“ ist ein Roman über all jene Mütter, die es irgendwie alleine schaffen müssen. Ein Roman über den drohenden Verlust von Lebensträumen. Ich unterrichte 13jährige Kinder. Wenn ich sie frage, was dereinst ihr Platz im Leben sein könnte, staune ich nicht schlecht. Von Bescheidenheit keine Spur. Interpretieren wir unser Leben, unser Dasein nicht allzu sehr als Wettkampf, als Streit um jenen kleinen Platz an der Spitze der Pyramide?
Ich glaube, die meisten verlieren ihre Lebensträume erst später, mit 13 sind grosse Träume noch ganz normal und ich finde, man sollte sie sich bewahren. 
Wanda kämpft nicht um die Spitze der Pyramide, sie kämpft darum, unabhängig zu sein und ihr Leben so zu leben, wie sie es will. Für sie ist Erfolg kein Statussymbol, sondern das Ticket raus aus der Platte. 

© Sara Gmuer

Sara Gmuer, 1980 in Locarno geboren, zog nach ihrem Abschluss an der Filmschauspielschule Zürich nach Deutschland. Sie stand für Dominik Graf und Die Ärzte vor der Kamera und als Rapperin auf der Bühne. Sie schrieb Songs, textete für Agenturen und fand dabei ihre ganz eigene Stimme. 2020 erschien bei orange-press ihr Debüt «Karizma», Lovestory, Hiphop-Video und Roadmovie in den Strassen von Berlin. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in Berlin.

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Beitragsbild © Urban Ruths 

Thea Mengeler «Nach den Fähren», Wallstein

Manchmal ragen Bücher wie Monumente aus der Masse der Neuerscheinungen. Der zweite Roman von Thea Mengeler ist so einer. Ein Inselroman, ganz wörtlich. Irgendwo weit draussen eine Insel, auf der ein paar wenige ausharren und hingenommen haben, dass kein Schiff mehr die Insel ansteuert, dass man sie vergessen hat, dass die Zukunft endlich ist.

Früher brachten Fähren Touristen auf die Insel. Die Insel lebte nicht nur von ihnen, sie richtete sich nach ihnen aus. Aber es kommen schon lange keine Fähren mehr am Hafen der kleinen Insel an, auch wenn der Hafenmeister noch immer da ist, auch wenn die Hotels noch immer stehen, der Barmann noch immer öffnet und am Morgen noch immer der Duft von frischen Brötchen über den einstmals belebten Dorfplatz weht. Jene, die geblieben sind, haben sich mit der Eintönigkeit des Daseins eingerichtet. Namenlose. So wie der Hausmeister, der noch immer die Zimmer des Sommerpalasts in Ordnung hält, den Pool reinigt und sich um die Pfauen im Garten kümmert. Oder die Doktorin, die Übriggebliebene aus einem der vielen Appartements, die jeden Tag noch immer an den Strand geht. Oder die Frau des krank und dement gewordenen Generals, die ihren Mann jeden Morgen auf sein Pferd setzt, um ihn am Nachmittag wieder ins Haus zu begleiten, eine Frau, die ihren Mann pflegt und hasst. Oder den Barmann, den alten Soldaten, die Bäckerin, die Krankenschwester, der die Medikamente schon längst ausgegangen sind.

Sie alle harren und warten, wenn auch ohne Hoffnung und Illusionen, die Menschen würden dereinst wieder auf die Insel zurückkehren, auch all jene, denen die Insel damals Verdienst, Gewinn und eine Zukunft bescherte.

Thea Mengeler «Nach den Fähren», Wallstein, 2024, 175 Seiten, CHF ca. 28.90, ISBN 978-3-8353-5585-9

Thea Mengeler zeichnet die Insel mit klaren, meist kurzen Sätzen. Das Personal bleibt gewollt schemenhaft, der Alltag nur durch die Jahreszeiten, einen langen heissen Sommer und einen kurzen, kalten Winter verändert. Bis Ada auftaucht, ein Mädchen. Der Hausmeister nimmt sich ihrer an, wundert sich, weil schon so lange keine jungen Menschen auf der Insel waren, weil er sich nicht erklären kann, woher das Mädchen kommt, zu wem sie gehört. Ada stellt Fragen ohne die Fragen an sie selbst zu beantworten. Sie ist derart selbstverständlich da, dass sich der Hausmeister auch nicht wundert, wie sehr sich sein eintönig gewordenes Leben der Anwesenheit des Mädchens ausrichtet. Bis sie verschwindet wie sie aufgetaucht war. Erst jetzt merkt der Hausmeister, dass er der einzige war, dem Ada begegnete. Niemand sonst weiss von dem Mädchen, was den Hausmeister gleich mehrfach erschüttert. Wird er verrückt?

Mit einem Mal nimmt das Leben auf der still gewordenen Insel einen anderen Lauf. Die Leben, die sich kaum kreuzten, da war höchstens der Barmann, der die reifen Früchte aus dem Garten der Frau des Generals holte, oder die Begegnungen mit der Bäckerin, wenn man beim Brötchen holen noch eine Tasse von dem selbstgerösteten Kaffeeersatz trank, vermischen sich. Die Doktorin beginn zu schreiben. Der General kommt von seinem Ritt nicht zurück, seine Frau macht ein Schiff flott und trifft sich mit dem Barmann, der Hausmeister hört auf, die Zimmer in Stand zu halten, gibt ihnen einen neue Ordnung, setzt neu zusammen.

«Wir sind die Geschichten, die wir erzählen. Was haben wir mehr als das?»

Was passierte auf dem Festland, dass kein Schiff mehr die Insel anfährt? Warum sind ausgerechnet sie geblieben? Wer ist das Mädchen, von dessen Anwesenheit nur der Hausmeister weiss? War das Mädchen real oder Illusion, eine Erscheinung, eine Projektion? Wo ist bei den Übriggebliebenen die Zuversicht geblieben?
Thea Mengeler beantwortet all die Fragen nicht. Umso mehr wabbern sie in mir während der Lektüre, treiben mich durch das Buch, über die Insel, zu den Menschen, die geblieben sind. Ist „Nach den Fähren“ eine Dystopie?

Dieser ungeheuer stimmungsvolle Roman ist eine kalte Decke, die sich mit Melancholie um mich schmiegt, der bis zur letzten Seite rätselhaft bleibt und zeigt, was nur Literatur kann; Thea Mengeler provoziert die Bilder in mir, starke Bilder, archaische Bilder – einen tiefen Eindruck!

Interview

Inselromane sind eine ganz eigene Gattung. Von „Robinson Crusoe“ über „Herr der Fliegen“ bis zu dem ihrigen. Aber bei den meisten Inselromanen ist die Insel bloss exotische Kulisse. Bei Ihrem Roman ist die Insel der heimliche Hauptprotagonist. Ein „wirtschaftlicher“ Organismus, dem man in gewisser Weise die Luft abdrehte, den man vom Netz nahm, den der ursprüngliche Organismus zurückholt, nach und nach. Insofern auch ein Roman über „Klimawandel“?
Ich würde nicht so weit gehen, den Roman als einen Text über Klimawandel zu bezeichnen. Sicherlich ist es jedoch ein Roman über Kapitalismus und die kapitalistische Ausbeutung von Natur und Lebensraum – insofern gibt es zumindest viele Überschneidungen mit dieser Thematik.

Ich traf mich in einer Literaturrunde. Wir sprachen bei Wein über Ihren Roman. Eine grosse Frage, die uns beschäftige, war jene nach den Ursachen, warum die Fähren schon lange ausbleiben. Ich war und bin der Überzeugung, eine Dystopie gelesen zu haben, ohne dass sie als solche deklariert wäre. Vielleicht weil sie diese Portion Ungewissheit beabsichtigten? Oder weil diese Gewissheit den Roman nur ärmer machen würde?
Ich kann verstehen, dass der Roman dystopisch wirkt und er ist sicherlich auch so angelegt – allerdings war es mir wichtig, dass der Grund für das Ausbleiben der Fähren nicht in einer globalen Katastrophe begründet wird. Das hätte für mich tatsächlich den Text ärmer gemacht. Ein Grund für das Ausbleiben der Fähren wird ja zumindest angedeutet: Andernorts werden neuere schönere Hotels gebaut, andere Urlaubsorte haben diesen abgelöst. Es ist ein banaler Grund, der natürlich dennoch für die Bewohner:innen dieser Insel massive Folgen hat. Es ist also eine Katastrophe im Kleinen, die vom Rest der Welt unbemerkt geschieht.

Das Personal ihres Romans gäbe Stoff für eine ganze Buchreihe. Zum Beispiel die Frau des Generals, die ihren Mann pflegt und hasst, dessen Verschwinden mit einem Mal alles möglich macht, selbst das Unmögliche.
Und trotzdem zeichnen Sie Ihr Personal nur ganz durchscheinend. Ausser dem Mädchen Ada trägt niemand einen Namen. Braucht es die Namen nicht mehr, wenn man innerhalb einer Schicksalsgemeinschaft nur noch auf seine Funktion reduziert ist? Oder wollten Sie mir als Leser möglichst wenig „vorsetzen“?
Für mich hatte der Verzicht auf Namen zweierlei Gründe. Einerseits ist die Insel so geografisch weniger zu verorten, andererseits werden die Figuren dadurch auf ihre Funktion bzw. ihre soziale Rolle reduziert. Gerade zu Beginn des Buches sind die Figuren ja wirklich sehr in ihren Rollen gefangen – sogar wenn diese durch das Ausbleiben der Fähren längst ihre Bedeutung verloren haben.

Ada eine Projektion? Eine Erscheinung? Ein Wahn? Ich las das Buch mit der Suche nach Antworten und wurde im Ungewissen gehalten. So wie die Fragen des Lebens nie klare Antworten geben. Und doch bringt dieses Mädchen einen Stein ins Rollen, Bewegung auf die Insel, die erstarrt ist. Auch so eine Metapher, die zu eifrigen Interpretationen einlädt. Sie wollen nicht ausleuchten, nicht klären. Was war die Urintension bei diesem Roman?
Ich schreibe nicht, um eine bestimmte Botschaft zu vermitteln, sondern um mich schreibend mit Themen oder Fragestellungen zu beschäftigen. Bei diesem Buch hat mich zuerst die Atmosphäre von Ferienorten zur Nebensaison interessiert – und dann die Frage, was mit einem solchen Ort und den dort lebenden Menschen passiert, wenn die Nebensaison zum Dauerzustand wird.

Die Doktorin schreibt. In den Schilderungen zu Ihr schreiben Sie viel über das Schreiben selbst, die Art des Sehens. Aber auch den Satz: Ich schreibe, um zu begreifen. Auch ein Schreibmotto für Sie selbst?
Absolut. Schreiben ist für mich immer der Versuch einer Annäherung an Dinge, die ich selbst (noch) nicht begreife.

Thea Mengeler, geb. 1988, aufgewachsen in Krefeld, studierte Literarisches Schreiben und Kommunikationsdesign in Hildesheim, Kiel und Istanbul. Sie war Finalistin beim 28. open mike sowie Styria Artist in Residence 2022. Aktuell lebt sie als freiberufliche Autorin und Texterin in Hannover. 2022 veröffentlichte sie ihr Debüt «connect».

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Caroline Drechsel

Barbara Bonhage «Zwischen Herd und Hakenkreuz. Hilde Bonhage Ehefrau, Mutter, Nationalsozialistin», elfundzehn

Barbara Bonhage, Historikerin und Autorin, ahnt, dass in ihrer Familie Dinge totgeschwiegen werden, ein Stück Familiengeschichte ausgeblendet wird. Bis ein Brieffund im Familienarchiv die Büchse der Pandora öffnet und Licht in ein düsteres Kapitel eben jener Familie bringt. „Zwischen Herd und Hakenkreuz“ ist die Lebensgeschichte einer Grossmutter, die selbst nach dem Krieg mit „Mein Kampf“ an ihrer Seite sterben sollte.

Es hätte der Beginn einer tausendjährigen Geschichte sein sollen. Es hätte die Weltordnung erneuert und den Germanen endlich jenen Platz zugestanden, der ihnen seit Ewigkeiten gebürt. Deutschland wäre wie Phönix aus der Asche des ersten Weltkriegs auferstanden. Im Glanz einer neuen Bewegung hätte die arische Rasse vollbracht, was der Führer in weiser Voraussicht in die Wege gebracht hätte. Hilde Bonhage, die Grossmutter der Autorin dieses Buches, glaubte bis zu ihrem Tod im November 1945, über das Ende des 2. Weltkriegs hinaus, an die Ideale der Nationalsozialisten. Als sie starb, sank sie ins Vergessen. Es brauchte mehr als sieben Jahrzehnte, bis die Enkelin den Mut aufbrachte, eine wahre Geschichte zu erzählen, die einem angesichts der Erstarkung rechtsextremer Bewegungen nicht kaltlassen kann. Dass Barbara Bonhage die Geschichte der eigenen Grossmutter zu einem Exempel macht, verdient vielfachen Respekt. Nicht nur, dass sie sich selbst in der Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte mit keinem Detail schont, nicht einmal mit nicht belegbaren Möglichkeiten und fürchterlichen Eventualitäten, sondern weil die Autorin kühl und ehrlich erzählt, ohne dass mir als Leser nicht immer und immer wieder die Ahnung wie ein kalter Schauer über den Rücken fliesst, dass dieses exemplarische Leben eines von Millionen war.

Barbara Bonhage «Zwischen Herd und Hakenkreuz. Hilde Bonhage. Ehefrau, Mutter, Nationalsozialistin», elfundzehn, 238 Seiten, CHF ca. 29.80, ISBN 978-3-907243-05-3

Hildes Vater war vor dem ersten Weltkrieg ein erfolgreicher deutscher Geschäftsmann in England, der mit seiner Familie ein grossbürgerliches Leben in London führte. Aber die geopolitischen Folgen des ersten Weltkriegs machten aus der deutschen Familie in England Feinde. Man zwang die Familie, das Königreich zu verlassen, vertrieb sie aus ihrem Haus „Glückauf“ in ein Land, das von Krieg und Krisen gebeutelt wurde und sie aller ihrer Privilegien beraubte. Hilde, 1907 geboren, musste mitansehen, wie schwierig es ihren Eltern, ihrer Familie fiel, in ihrer „Heimat“ Fuss zu fassen. Schon als junge Frau war Hilde klar, dass es ihrer eigenen Familie, ihren zukünftigen Kindern einmal viel besser gehen sollte. Früh begann sie sich in Bewegungen zu engagieren, dem Jungnationalen Bund. In Briefen glühte sie für ein Leben nach „völkischen“ Prinzipien, „ganz rein in ihrer Rasse“. 1930 heiratete Hilde Andreas Bonhage, einen Juristen, der wie Hilde zu einem glühenden Verehrer der nationalsozialistischen Idee werden sollte. Und weil die Karriere ihres Mannes nur schleppend in Gang kam, man immer noch gezwungen war, im Haus der Eltern zu leben, begann sich Hilde, obwohl sie schnell Mutter wurde, in der NSF, der Frauenorganisation der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), zu engagieren. Gleichzeitig legte sie sich und ihrer Familie einen über Generationen makellosen Ariernachweis zu, trat wie ihr Mann der Partei bei und begann mit wachsendem Erfolg beider Eheleute immer mehr von den Privilegien der reinen Rasse zu profitieren. Ein makelloses völkisches Leben wurde zum Massstab, ein elitär germanisches Bewusstsein zum einzigen Weg. Dass sie ihre Kinder auch danach erzog, man sich über Juden, Polen, alles Nichtarische herablassend äusserte, gehörte zum Selbstverständnis eines reindeutschen Bewusstseins.

Als Hitlers Partei 1933 an die Macht kam, schien ein Leben in einer neuen Ordnung Tatsache zu werden. Der Erfolg gab der Familie recht, man zog nach der Annektierung vieler Gebiete und dem Einmarsch der Wehrmacht in Polen, nach grossen militärischen Erfolgen des Dritten Reiches in ein 14-Zimmer-Haus in Posen, wo Hilde die Kreisfrauenschaftsleitung der NS-Frauenschaft übernimmt. Endlich die Aufgabe, für die Hilde geschaffen schien! Hilde bekommt ihr sechstes Kind. Andreas ihr Mann leistet seinen Dienst als Freiwilliger an der russischen Front. Ein Leben mit offener Perspektive. 

Aber so wie sich das Kriegsgeschehen 1943 mit aller Deutlichkeit zu drehen beginnt, so nehmen Hildes gesundheitliche Probleme zu. An Tuberkulose erkrankt wird Hilde immer länger aus ihrem Leben als Streiterin der Naziideologie herausgerissen. Was sie vom immer näherkommenden Kriegsgeschehen hört und liest, nimmt ihr den Atem. Aber selbst als im April 1945 die Kapitulation unterzeichnet wird, glaubt Hilde weiter an den Mann mit Schnurrbart, an die Ideologie, die fast ganz Europa in Schutt und Asche legte.

Am 14. Dezember 1945 stirbt Hilde Bonhage in einem ehemaligen Kurhaus in Schwarzwald. Obwohl ihr Mann Andreas noch vier Jahrzehnte weiterlebte, noch einmal heiratete und trotz fragwürdiger Vergangenheit seine Karriere als Jurist wieder aufnehmen konnte, blieb die völkische Euphorie Hildes in der Familiengeschichte der Bonhages lange verborgen. Bis zur Veröffentlichung dieses mutigen, wichtigen und sogfältig geschriebenen Buches. 

„Zwischen Herd und Hakenkreuz“ ist nicht einfach ein Stück Geschichte. Das Buch ist exemplarisch für ein geblendetes Leben. Während sich in Deutschland “völkische Siedlergemeinschaften“ in aller Öffentlichkeit tummeln, sich rechtsradikales Gedankengut wie ein Flächenbrand ausbreitet und Antisemitismus grassiert, sind historisch fundierte Auseinandersetzungen von Gesinnungsverwerfungen bitternötig. Was für ein Irrtum zu glauben, im April 1945 wäre das Schiff mit der Hakenkreuzfahne untergegangen!

Interview

Vor vielen Jahren, ich war noch jung und es ging an einer Weiterbildung um geschichtliche Zusammenhänge, meinte der Kursleiter vor den vier Dutzend Anwesenden; rein statistisch wäre wohl nur eine Person der Anwesenden aktiv im Widerstand gegen den Nationalsozialismus gewesen. In jenem Raum wurde mir klar, wie anmassend es ist zu glauben, man wäre diese eine Person, man hätte doch ganz bestimmt das Zeug gehabt, die Dinge richtig zu lesen und danach zu handeln, mit allen möglichen Konsequenzen. Mit ihrer Offenheit, der Klarheit der Sprache und Tatsachen zeigen sie viel Mut. Sie haben gefragt. Sie haben geforscht. Sie haben sich ausgesetzt. Sie sind Historikerin und damit wohl auch einer Aufgabe verpflichtet. Aber war da nie die Angst, sich damit der Unberechenbarkeit auszusetzen?
Es gab eine Reihe von Ängsten. Es gab die Angst, als Enkelin, Tochter, Nichte, Schwester, Cousine „Nestbeschmutzerin“ zu sein und verstossen zu werden. Stattdessen haben sich die Verwandten bedankt. Sie zeigten sich in Gesprächen erleichtert darüber, dass ich recherchiert und erzählt habe. Viele liessen mich wissen, dass sie endlich verstünden, woher gewisse Gefühle, die sie ein Leben lang begleitet hatten, kämen. Dann gab es die Angst, als Historikerin kritisiert zu werden: als Studie sei das Buch zu unwissenschaftlich, als Romanbiographie sprachlich unterentwickelt, als Biographie nicht sachlich und umfassend genug. Nichts davon ist eingetreten. Unberechenbar ist Geschichte immer; damit leben alle HistorikerInnen. Es kann immer sein, dass jemand Dokumente vorlegt, die man nicht kannte, dass Ergänzendes zutage kommt, das noch nicht zugänglich war, dass man bei aller Sorgfalt Fehler gemacht hat. Dann muss man eine einmal gefasste Position ergänzen, vertiefen, vielleicht korrigieren. Das gehört zur historischen Arbeit. 

© Barbara Bonhage

Hilde Bonhage war eine Frau voller Ideale. Sie wollte eine neue Welt, ein neues Deutschland. Sie setzte sich mit all ihrer verfügbaren Kraft für ihre Ideale ein. Sie schickte sich hinein, für ein grosses Ziel, die Gemeinschaft der Auserwählten. Damals war es die Ideologie der Nazis, die längst nicht untergegangen ist. Sektiererische Gemeinschaften leben genauso vom bedingungslosen Engagement ihrer AnhängerInnen – bis in den Tod. Haben wir nichts gelernt?
Sie sprechen vermutlich die Parallelen an – es gibt sie heute, zweifelsohne. Trotzdem finde ich: Wir haben viel gelernt. Wir schauen hin, erzählen die Geschichte der Opfer, erzählen die Geschichte der Täter – wenigstens tun wir dies in einigen wenigen Familien. Wir setzen Stolpersteine, eröffnen Gedenkstätten und Museen, schreiben Sachbücher und Romane, lesen sie, drehen Filme und schauen sie uns an, durchblättern gemeinsam Fotoalben. Und wir gehen mit dem Stoff so um, dass auch die nächste Generation, die Urenkelgeneration, den Faden aufnehmen und weiterführen kann. Oft werde ich von Gymnasien zu Lesungen eingeladen. Das ist wichtig. Ich habe aber vor allem eins gelernt: Mensch sein bedeutet immer gut und böse in einer Person zu sein. Menschliches Verhalten tritt nicht nur dann zutage, wenn jemand in einer friedvollen, konstruktiven Zeit lebt und sein Leben so zu gestalten vermag, dass nur die guten Seiten zum Ausdruck kommen. Das ist zwar wünschenswert. „Menschlich“ verhalten sich aber leider auch die, welche Böses anrichten. Sie sind Menschen wie wir alle. Das, denke ich, das müssen wir noch besser zu verstehen lernen. Erst wenn wir akzeptieren, dass wir es an Stelle von Hilde vielleicht nicht besser vermocht hätten, können wir erkennen, dass es einfach nur Menschen gibt – es gibt keine bösen oder guten Menschen. Es gibt keine Religion, keine Herkunft, keine Geburt, kein Geschlecht oder kein Sonstwas, das uns zu besseren oder schlechteren Menschen macht. Solches Denken ist überheblich. Im Verlauf eines Lebens kann es sein, dass wir gut und böse handeln. Deshalb müssen wir unser Tun immer wieder neu hinterfragen, um das Gute zu suchen – und es kann sein, dass wir uns trotzdem irren. 

Ich stelle mir Hilde mit ihren Kindern auf einem Spaziergang im von den Deutschen besetzten Polen vor, wie die Kinder von der Mutter ermutigt, die „Einheimschen“, Zwangsarbeiter beleidigen und applaudieren, wenn sie an verrammelten und beschmierten Läden ehemaliger jüdischer Geschäftsleute vorbeigehen. Ist dieses Buch der Versuch, mit einer nicht zu negierenden Scham fertigzuwerden?
Erzählen zu können, ist befreiend. Schämen sollten wir uns nur dann, wenn uns bewusst wird, dass wir selbst Unrecht getan haben. Wenn das Unrecht die Tat anderer ist, sogar eines Vorfahren oder Familienangehörigen, brauchen wir uns eigentlich nicht zu schämen. Solange ich nicht genau wusste, was Hilde getan hatte, habe ich mich trotzdem geschämt. Wofür, wusste ich eigentlich nicht. Sobald ich Hildes Geschichte dann aber öffentlich erzählt hatte, ist meine Scham verschwunden. 

© Barbara Bonhage

Die Fotoalben meiner Familie sind stumm. Sie erzählen nur wenig, je weiter sie zurückliegen. Als mein Vater starb, wurde mir bewusst, wie viel Geschichte und Geschichten er mit ins Grab nahm. War dieses Buch der Versuch, Fotos, Bilder zum Sprechen zu bringen, Idyllen zu hinterfragen?
Zuerst war es der Versuch, die vielen Briefe zu verstehen und in einen Kontext zu bringen. Dann haben mir die wenigen Fotos geholfen, noch mehr zu sehen, als ich aus den Texten herausgelesen hatte. Manche Fotos decken viel auf, daher gefällt mir die Idee, man könnte Fotos zum Sprechen bringen. Und ja, insbesondere bilden Fotos, die vor hundert Jahren entstanden, oft Idyllen ab, da es aufwändig war, ein einzelnes Bild zu produzieren. Es ist daher richtig und wichtig, die alten, vielleicht idyllischen Bilder zu hinterfragen.  

Die Verehrung ihrer Grossmutter Hilde Bonhage für Adolf Hitler hatte religiöse, missionarische Züge. Nichts und niemand konnte dieses Bild in Frage stellen. In der Geschichte zeigt sich immer wieder, wie sehr sich Menschen im blinden Glauben an Personen oder Überzeugungen verlieren können. Sie sind Historikerin. Muss man sich die Hand verbrennen, um die Gefahren von heissen Herdplatten zu „be-greifen“?
Nein, das glaube ich nicht. Diskutieren, lesen, Filme anschauen, nachdenken, recherchieren, und immer wieder auf Fremde und Fremdes zugehen hilft! Man kann viel lernen von anderen Menschen. Gut hinzuhören und mit allen Sinnen wahrnehmen zu versuchen, was gerade geschieht, ist eine wichtige Voraussetzung dazu.

Ich habe das Buch in einer Nacht durchgelesen, erschüttert und belehrt, Man erfährt – ich erfahre – zum ersten Mal, wie geschlossen und lebenfüllend und -erfüllend das NS-System war. Es ist ein im besten Sinn empfindliches Buch, das ohne summarisches Todesurteil auskommt und eben dadurch überzeugt. Adolf Muschg, Schriftsteller

Barbara Bonhage wurde 1972 in Zürich geboren und lebt heute mit ihrer Familie am Zürichsee. Sie studierte Germanistik und Geschichte in Zürich und Paris. Das Schwerpunktthema der promovierten Historikerin ist die Geschichte des Nationalsozialismus. Ihre wissenschaftlichen Publikationen sowie ein Lehrbuch befassen sich mit der Wirtschaftsgeschichte des «Dritten Reichs» aus Schweizer Perspektive. Barbara Bonhage arbeitete als Professorin für öffentliches Management an der Hochschule Luzern und heute als Beraterin im Auftrag von öffentlichen und Nonprofit Organisationen sowie als Autorin.

«Meine Grossmutter war Nationalsozialistin» SRF-Kontext von Sabine Bitter, Host: Monika Schärer, Produktion: Anna Jungen, Technik: Lukas Fretz (22.10.2021, 06:05 Uhr)

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Beitragsbild © Reto Schlatter