Sophia Klink «Kurilensee», Frankfurter Verlagsanstalt

Auch die letzten noch intakten Gegenden unseres Planeten drohen im Sog wirtschaftlicher Interessen zu kippen. Am „Ende der Welt“ forscht eine kleine Gruppe, ob mit dem Einsatz künstlicher Stoffe den Veränderungen von Klimawandel und Wirtschaftinteressen entgegnet werden kann. Der Debütroman von Sophia Klink ist ein Sprachkunstwerk – für einmal etwas, das der Welt nur gut tun kann!

Der Kurilensee, ein riesiger Kratersee, 77 km2 gross, liegt ganz im Süden der dünn besiedelten Halbinsel Kamtschatka, auf russischem Staatsgebiet, aber 6773 Kilometer von der Hauptstadt Moskau entfernt. Wenn es also einen Ort gibt, der weit ab vom Schuss ist, und normalerweise nur mit Helikopter erreichbar, dann der Kurilensse, an dem eine Forschungsstation liegt, in der eine kleine internationale Crew sich mit den Auswirkungen des Klimawandels beschäftigt, vor allem darum, weil der See wirtschaftlich eine grosse Bedeutung für die Lachsfischerei hat, einem Wirtschaftszweig, der mehr und mehr in Bedrängnis kommt, weil natürliche Lachspopulationen rückgängig sind, der Überfischung ausgesetzt und die Tiere empfindlichst gestresst auf die Einwirkungen des Menschen reagieren. Ein kleiner, von einem Zaun gegen Bären geschützer Ort, an dem die Protagonistin Anna das drohende Ungleichgewicht zwischen Lachsen und Phytoplankton, zum Beispiel Kieselalgen, untersucht, Lachsfische vor der Laichablage zählt und Teil einer Equipe von Wissenschaftler*innen und Rangern ist. Zur Gruppe gehört Vowa, ein Ranger, der jeden Bären an seinem Fell zu kennen scheint, mit dem Anna schon im sechsten Jahr den Sommer über in der Forschungsstation lebt. 

Anna und Vowa sind ein Paar, was für die anderen in der Station längst kein Geheimnis mehr ist. So wie wenig ein Geheimnis bleibt an einem Ort, von dem man ohne Gewehr, Boot oder Hubschrauber kaum weiter weg kommt. Jeder in der Station hat seine fixe Aufgabe und als Ganzes hat man in diesem Sommer die Aufgabe, wissenschaftliche Grundlagen dafür zu schaffen, ob man mit einer Phosphatdüngung das aus dem Gleichgewicht kippende Ökosystems des Lachssees aufhalten kann, oder ob der Einsatz von 5 Tonnen künstlicher Düngung nicht der Anfang vom Ende ist, ein nicht wieder gut zu machender Eingriff mit nicht vorhersehbaren Konsequenzen. Die Crew auf der Station ist nicht nur auf den Lebensmittel- und Materialnachschub per Helikopter angewiesen, sondern auch auf die finanziellen Mittel derer, die daran interessiert sind, dass wirtschaftliche Interessen wissenschaftlich abgestützt sind.

Wir könnten einfach alle Daten auflisten und ganz ehrlich eingestehen, dass wir keine Ahnung haben, was das Beste für den Kurilskoye ist.

Sophia Klink «Kurilensee», FVA, 2025, 240 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-627-00330-2

Anna ist nicht nur fasziniert von der Artenvielfalt in und um den See, sie ist auch erfüllt von ihrer Arbeit, sieht in den Kleinstlebewesen im See nicht nur einen Forschungsgegenstand, sondern eine Spiegelung der Natur, ihrer Schönheit, ihrer Vollendung als Teil der Evolution. Aber so wie das ökologische Gleichgewicht dieses Sees weitab von der Zivilisation bedroht ist, so bedroht ist die Station selbst. Nicht nur weil jeder Winter an den Bauten nagt, Bären sich immer wieder einmal an den Einrichtungen zu schaffen machen und auch den Bewohnern bedrohlich nahe kommen können, sondern weil man der Station auch ganz leicht über die Finanzen die Nabelschnur zur Zivilisation kappen kann. Eine permanente Ungewissheit, die zusammen mit der zu treffenden Entscheidung wegen der Düngung mehr und mehr zu einer Belastung wird. Trifft man die richtigen Entscheidungen? Wohin führt Annas Weg? Wohin soll es gehen mit Anna und Vowa? Als Anna spürt, dass auch ihre Gesundheit Kapriolen schlägt, weitet sie ihre Untersuchung aus auf den eigenen Körper, misst die Temperatur. Ist sie schwanger, obwohl die beiden mit Gummi verhüten?

Werfe nie einen gestressten Fisch zurück ins Wasser, sagt Vowa.

Alles an diesem menschenfeindlich scheinenden Ort schreit nach einer Entscheidung, bevor die Crew die Station im September für den Winter wieder verlassen wird. Was an Sophia Klinks Debüt fasziniert, ist aber weit mehr als die Geschichte und die Psychologie unter Wisschenschaftler*innen und Rangern. Sophia Klink hängt die Spannung auch an keinen Showdown, kein Psychodrama auf der Forschungsanlage. Absolut faszinierend ist der Blick der Autorin auf die Natur, ihr Tun, auf die Zusammenhänge, die mir als Leser über weite Strecken verborgen bleiben. Sophia Klink ist nicht einfach Schriftstellerin, die sich mit sorgfältiger Recherchearbeit das nötige Wissen holte, um einen „Ökoroman“ zu schreiben. Sophia Klink ist promovierte Biologin und erzählt von ihren eigenen Erfahrungen in einer Sprache, die ihre Liebe, ihre Faszination und ihre Ehrfurcht vor der Natur und ihren Zusammenhängen widerspiegelt. Und weil Sophia Klink „nebenbei“ auch noch preisgekrönte Lyrikerin ist, wird ihre Sprache zu einem magischen Instrument, schillernd, ohne abgehoben zu wirken, schön wie Kieselalgen selbst.

„Kurilensse“ ist ein Roman wie der grosse, weite See selbst; tief und voller Zauber!

Interview

Was für ein Roman! Ich bin hell begeistert! Habe das Gefühl, einem Unikat begegnet zu sein. Ein Unikat darum, weil sie in ihrer ganz eigenen Sprache ihrem Stoff begegnen, aus Sicht einer Wissenschaftlerin literarisch schreiben. Was sie wissenschaftlich vermitteln, bleibt selbst für Laien wie mich verständlich. Gekoppelt mit ihrer Begeisterung in ihrer Sicht auf die Schönheit der Natur und ihrem sprachlichen Können werden aus ganzen Abschnitten literarische „Nahaufnahmen“, Stilleben ganz eigener Art. Wissenschaftliches Schreiben klingt sonst so ganz anders, eine eigene, analytische Sprache. Inwieweit half ihnen bei der Findung einer eigenen Sprache ihr lyrisches Gespür?

Das war ein längerer Prozess über viele Texte hinweg. Ich schreibe ja seit Jahren literarisch über Natur und Wissenschaft und habe viel herumexperimentiert, welche sprachliche Form zu welchem Inhalt passt. Dem Klang nachzuspüren, ist mir dabei sehr wichtig. In der naturwissenschaftlichen Sprache liegt schon an sich so viel poetisches Potential. Es erzeugt aber auch eine Reibung, die ich ästhetisch spannend finde. Diesen Kontrast herauszuarbeiten, hat mich in diesem Roman besonders interessiert. Als ich angefangen habe zu schreiben, hat sich die Sprache dann schönerweise wie von selbst eingestellt. Da musste ich gar nicht mehr lange suchen. Die Sprache stellte sich einfach ein.

Wie leicht wäre es gewesen, die Story dramatisch aufzublasen; noch mehr Countdown in die Handlung, eine dramatische Liebesgeschichte oder ein fatales Psychospiel in einer abgelegenen Forschungsstation. Aber darum ging es ihnen nicht. Es ging ihnen nicht einmal darum, einen „Ökoroman“ zu schreiben, auch wenn es doch einer ist. Aus ihrem ganzen Roman spricht der Respekt, die Ehrfurcht und die Sorge um eine Welt, die durch die Eingriffe des Menschen aus dem Gleichgewicht gebracht wird. Die Liebe zu ihrer Arbeit, sowohl als Biologin, als Wissenschaftlerin wie auch als Sprachgestalterin, als Künstlerin. Was stand zu Beginn ihres Schreibens an diesem Roman? Waren es Verarbeitungen eines eigenen Forschungseinsatzes? Und wie weit mussten sie sich als Wissenschaftlerin zügeln?

Inspiriert haben mich auf jeden Fall meine eigenen Forschungserlebnisse. Im Masterstudium bin ich auf einer meeresbiologischen Station im nordwestlichen Russland gewesen und wusste schon damals, dass ich über diesen Ort schreiben muss. Mich hat beim Schreiben eine Sehnsucht angetrieben und die Trauer darüber, dass es diese unberührte Wildnis irgendwann nicht mehr geben wird. Dass ich auf den Kurilensee gestossen bin, war ein Glücksfall. Dadurch konnte ich viel übertragen, ohne meine eigenen Erinnerungen überschreiben zu müssen. Und natürlich war ich neugierig auf dieses andere Ökosystem, das mir gleichzeitig fremd und bekannt vorkam. Zügeln musste ich mich als Wissenschaftlerin dabei gar nicht so sehr. Es gibt so viele Details über Kieselalgen, Lachse und den menschlichen Körper, die ich liebend gerne im Roman angesprochen hätte. Aber natürlich versuche ich beim Recherchieren jenen Informationen nachzuspüren, die sich mit den Gefühlen meiner Protagonistin Anna verknüpfen lassen. Für mich sind es doch zwei sehr unterschiedliche Modi, Informationen für ein Paper konzise darzustellen oder sie auf eine Emotion hin zu befragen. Allein aus Fakten lässt sich keine Geschichte entwickeln. Zellen und Moleküle müssen auch erst mal so beschrieben werden, dass man sie sich vorstellen kann. Das geht in vielen Fällen einfach nicht auf. Ich freue mich eher, wie viele Proteine, Wasserstoffbrückenbindungen und Dinoflagellaten es am Ende doch in den Roman geschafft haben.

Man kann den Kurilensee sehr gut auch als Metapher für das globale Gleichgewicht sehen. Ist Literatur so etwas wie die verbliebene Hoffnung angesichts der im düster werdenden Prognosen?

Ich hoffe schon, dass Literatur einen kleinen Anstoss geben kann. Wo sollen wir anfangen, eine bessere Welt zu imaginieren, wenn nicht in der Sprache? Ich verstehe die Literatur als Mittel, immer wieder unsere Perspektive zu verschieben und uns emotional für andere Lebenswirklichkeiten zu öffnen. Auch mal den Blick auf winzige Kieselalgen und unsichtbare Stoffwechselprozesse zu richten, die wir sonst nicht wahrnehmen. Ich finde, dass Literatur da nachhaltig unseren Blick auf die Welt verändern kann. Geschichten haben eben eine ganz andere Kraft als Zahlen. Und sie können trösten, wenn die Prognosen immer düsterer werden.

Ich habe mir im Netz Bilder und Illustrationen von Kieselalgen angesehen und bin restlos fasziniert, sei es von ihrer Geometrie, ihrer Körperlichkeit, sei es von ihrer Aufgabe, ihrem Dasein. Es ist der faszinierte Blick in die Kleinheit, der auf das Grosse überschlägt. Ihre Begeisterung, die in ihren Beschreibungen lesbar wird, ist pure Verzückung. Auf der andern Seite der Schmerz darüber, dass Profitgier und kurzfristiges Denken so viel Zerstörung mit sich ziehen. Sie moralisieren in ihrem Roman nicht. Anna hat die Hoffnung nicht verloren. „Kurilensee“ ist auch eine Liebesgeschichte. Eine ganz zarte. Auch eine Liebesgeschichte an die Natur, ihre Arbeit als Wissenschaftlerin, an die Sprache. Wo holen sie den Dünger, um ihre Hoffnung nicht sterben zu sehen?

Vielleicht ist die Wissenschaft auch hier ein wichtiger Anker für mich. Wenn ich mich mit Kieselalgen, Pilzen und Bakterien beschäftige, verliert die winzige Gruppe der Trockennasenprimaten ganz schnell an Bedeutung. Mir diese Dimensionen immer wieder vorzustellen, was wir alles nicht verstehen oder kontrollieren können, daraus ziehe ich persönlich viel Zuversicht. Dass es Lebensformen gibt, die unsere Zerstörungswut überdauern werden. Der Ohnmacht zu verfallen, hilft auch einfach nicht. Anna entscheidet sich schliesslich auch dafür, an das Schöne zu glauben und in eine neue Generation zu investieren, der man diese Liebe mitgeben muss, um die Zukunft besser zu machen.

Nicht vor den Bären oder dunklen Nächten habe ich Angst, sondern vor den Menschen, die glauben, alles unter Kontrolle zu haben, schreiben sie in „Kurilensee“. Das gilt überall, auch in der Politik, denken wir nur an all die Männer, die der Überzeugung sind, ihre Macht mit Kriegen demonstrieren zu müssen. Hat nicht die Spezies Mensch versagt, weil sie den Profit über die Empathie stellt? Sie moralisieren nicht, zumindest spüre ich das nicht. Wie sehr mussten sie sich davor hüten?

Mir ist wichtig, dass die Moral meiner Texte subtil mitschwingt. Meine Kritik an Überfischung, Geldgier und blindem Anthropozentrismus wird hoffentlich auch so deutlich. Es hat sich richtig angefühlt, gerade die Ambivalenzen in der Schwebe zu halten und auch zu zeigen, wie Anna letztendlich bei der Manipulation des Sees dabei ist. Bis zum Schluss weisss sie eben nicht, was richtig oder falsch ist. Aber sie will sich nicht ihrer Verantwortung entziehen, sondern sich der ganzen Tragweite ihres Verhaltens bewusst sein und genau hinsehen.

Lyrik vom Feinsten: Sophia Klink «Ich lösche die Kirschen aus meinen Genen», hochroth Verlag, 2025, 54 Seiten, ISBN 978-3-949850-62-2

Sophia Klink, geb. 1993 in München, hat Biologie studiert und promoviert zurzeit über die Symbiose zwischen Bakterien und Pflanzen. Sie wurde mit dem Literaturstipendium München und dem Wolfgang-Weyrauch-Förderpreis beim Literarischen März ausgezeichnet und mit Stipendien des British Council und der Stiftung Kunst und Natur gefördert. Sie war Finalistin beim open mike, Aufenthaltsstipendiatin der Roger Willemsen Stiftung, des Adalbert Stifter Vereins und der Villa Sarkia in Finnland. Im Frühjahr 2025 erschien ihr Lyrikdebüt bei hochroth München. Durch einen Forschungsaufenthalt am Weissen Meer in Russland zu ihrem Roman »Kurilensee« inspiriert, stand sie mit einem Auszug daraus auf der Shortlist des W.-G.-Sebald-Preises. 

Beitragsbild © Heike Bogenberger

Gabrielle Alioth «Die letzte Insel», Lenos

Gabrielle Alioth lebt und schreibt seit Jahrzehnten an der Ostküste Irlands. Die Insel, ein Sehnsuchtsort vieler, spielt einmal mehr die Hauptrolle in einem ihrer Bücher – diesmal in einer düsteren Perspektive, schonungslos und und ungeheuer stimmungsvoll. „Die letzte Insel“, ein Roman über das Ende.

Immer mehr Menschen erfahren die Konsequenzen dessen, was unverantwortliche Vergangenheit und Gegenwart anrichten. Seien es Dürren und Sturzfluten dort, wo man in der Vergangenheit niemals in der Intensität damit rechnen musste, Städte, die im Smog ersticken, Trockenheiten, die infernale Brände auslösen oder Altlasten aus der Vergangenheit, die uns in Gegenwart und Zukunft tödlich bedrohen; Abfälle, die in Fässern im Meer versenkt wurden, bis hin zu radioaktivem Material, Phosphor, das aus Bomben ausgestandener Kriege austritt und an die Strände gespült wird, um sich in Verbindung mit Sauerstoff unkontrolliert zu entzünden oder der steigende Meeresspiegel, der ganze Landstriche und Inseln unbewohnbar macht und letztlich noch mehr Menschen dazu zwingen wird, ihre Zukunft an einem scheinbar sicheren Ort zu suchen.

Warum ein Buch lesen, das einem weder schont noch einen Ausweg bietet, das ungeschönt schildert, was passieren wird, wenn die Mehrheit nicht zu einem Richtungswechsel bereit ist. Ist „Die letzte Insel“ ein moralisches Manifest zur Umkehr? Nein. Aber Gabrielle Alioth ist eine Schriftstellerin, die genau hinschaut, sich den Tatsachen nicht verschliesst, auch wenn die Fotografien, die sie dann und wann ins Netz stellt, glauben machen, sie lebe im Paradies. Noch ist es das. Aber es gibt wohl keinen Ort mehr, an dem nicht festgestellt werden muss, dass er auf die eine oder andere Weise, ganz direkt oder indirekt, von den Auswirkungen klimatischer oder umweltbelastender Veränderungen betroffen ist. Auch wenn politische Strippenzieher strategisch darüber hinwegsehen wollen.

Gabrielle Alioth «Die letzte Insel», Lenos, 2025, 229 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-03925-045-5

„Die letzte Insel“ erzählt von den Konsequenzen. Gabrielle Alioth spinnt weiter, was sie als aufmerksame Beobachterin nicht nur in ihrer Umgebung, sondern überall feststellen muss. Ihr Roman, der in naher Zukunft angesiedelt ist, ist weder realitätsfremder Sience-Fiction noch übertrieben dunkle Dystopie. In zwei Handlungssträngen erzählt die Autorin von Menschen, die im Leben an einen Punkt gekommen sind, an dem sie nur noch hinnehmen können, was übrig geblieben ist. Von zwei Menschen, die nicht nur in ihrem eigenen Leben, sondern auch in einer scheinbar freien Gesellschaft, im Traum von Glück an einen Endpunkt gekommen sind.

Im Nachhinein wurde Vieles zum Zeichen.

Holm ist Biologe und hat sich auf eine kleine Insel absetzen lassen. Nicht um Neues zu erforschen, sondern um das festzuhalten, was in absehbarer Zukunft durch den steigenden Meeresspiegel verschwinden wird. Völlig überrascht findet er dort eine kleine Gruppe Verbliebener, die Letzten, die trotz allem ausharren; eine kleine Gruppe Mönche. Nach einem nassen Einstand und dem Verlust eines Teils seiner Ausrüstung beginnt Holm seine Streifzüge auf der rauen, baumlosen Insel, einem Eiland, auf dem ihm sehr schnell bewusst wird, wie verloren er wäre, gäbe es die Männer in den Kutten nicht. Holm hat sich von einem totalitären System der Kontrolle und staatlich geführten Wissenschaft abgesetzt. Sein Wirken auf der Insel ist ein letztes Aufbäumen, sein letzter Kampf gegen die Resignation.

Zweite Protagonistin ist eine Schriftstellerin, die alleine und zurückgezogen mit ihrem Hund in einem Haus unweit der Küste lebt. Sie blickt von ihrem Schreibzimmer auf das, was vom grossen Garten übrig beglieben ist. Nicht enden wollende Regenfälle verursachten eine Sturzflut, überfluteten das Haus und rissen Teile des Gartens weg. Mit ihm ihren Mann Alexander. Sie trauert. Nicht nur über den Tod ihres Mannes und das Bewusstsein, wie schnell alles zu Ende sein kann. Sie trauert auch darum, in ihrem Leben nicht mit offenen Karten gespielt zu haben, um all das unrettbar Versäumte.

Beide, die Ich-Erzählerin und der Forscher, erinnern sich, lauschen den Stimmen, die sie heimsuchen, den Lieben, von denen sie lassen mussten. Beide klammern sich an das, was geblieben ist, was sie am Leben hält.

„Die letzte Insel“ ist ein leidenschaftlich erzählter Roman über das Enden. Aber nicht die Trauer darüber steht im Vordergrund, sondern die Liebe zur Natur, zu Pflanzen und Tieren, zum Wind, zum Regen und den Momenten grösster Vertrautheit mit dem, was die beiden Protagonisten und die Schriftstellerin selbst umgibt. „Die letzte Insel“ ist eine Liebeserklärung an das Leben, selbst dann, wenn nur noch wenig davon übrig bleibt, wenn man sich der Endlichkeit bewusst ist. „Die letzte Insel“ beschreibt nicht nur eine geographisch nachvollziehbare Kulisse (Gabrielle Alioth verriet mir, dass es für die Insel eine „Vorlage“ gibt: Inish Meain), sondern das, was an Erinnerungen bleibt, jene Insel, die bleibt, wenn alles andere untergeht. Vor allem die Erinnerungen an die Momente grössten Glücks, der Liebe, des Geborgenseins.

Interview

Wir leben alle auf einer Insel. Wenn ich im Sommer im Süden der Schweiz, im Tessin, zwei Wochen Ferien mache, dann bin ich auf einer Insel, die mich glauben lässt, noch wäre alles in Ordnung. Noch mehr, weil die Schweiz selber eine Insel ist, politisch und wirtschaftlich, wenn auch immer mehr in Bedrängnis. Du pendelst zwischen Irland und der Schweiz, hast im Gegensatz zu vielen Schweizer*innen den Blick von Aussen. Was beschäftigt dich am meisten als „Auslandschweizerin“?

Die Insel ist eine dankbare Metapher für unser Dasein, die Beschränktheit unserer Wahrnehmung, das Leben in einer wie auch immer gearteten „Blase» und vielleicht auch für unsere Sehnsucht nach einer Rückkehr ins Paradies.

Irland und die Schweiz haben sich in ihrer „Inselhaftigkeit“ in den letzten vierzig Jahren angenähert. Beide sind europäischer geworden, wobei Irland ein viel dynamischeres Land bleibt. Als Auslandschweizerin staune ich oft über die – teilweise durch den Föderalismus bedingte – Langsamkeit der Prozesse in der Schweiz; und da ist das gesellschaftliche und private Klagen über die Zustände. Wenn ich Schweizer*innen zuhöre, denke ich manchmal, dass Jammern eine Art «bonding experience» sein muss. Dem gegenüber steht das schweizerische Bewusstsein, dass man halt doch etwas Besseres ist. Die Schweizer reisen ja gern in die ganze Welt, aber viele, so scheint es mir, nur, um sich selbst zu beweisen, dass die Schweiz halt doch der beste Ort auf der Welt ist.

Wie viel von dem ist in diesen Roman mit eingeflossen?

Einer der interessantesten Aspekte von Inseln, denke ich, ist ihre offenkundige Begrenztheit, denn an Grenzen, in der Konfrontation mit dem Fremden/Anderen, wird man sich seiner Voreingenommenheit, seiner (Vor)Urteile bewusst, beginnt sein Verhalten, sein Versagen in einem grösseren Kontext zu sehen. In früheren Romanen ging es mir oft um gesellschaftliche Grenzen, in diesem eher um eine Auseinandersetzung mit natürlichen, bzw. den Grenzen, die eine von Menschen beschädigte Natur uns setzt. 

Ich weiss, dass du gerne lange Spaziergänge am Meer entlang machst, dass du fotografierst und dich inspirieren lässt. Vieles auf diesen Spaziergängen scheint in den Roman eingeflossen zu sein, wahrscheinlich auch Erfahrungen mit Phosphor, Erfahrungen mit Überschwemmungen und Unwettern. Wie sehr ärgert dich die Gedankenlosigkeit vieler Menschen?

Der Abfall hier an den Stränden ist ein echtes Problem, und die Iren stehen da weit hinter den Schweizern zurück. Ich sehe aber, dass man sich bemüht und dass es schon sehr viel besser geworden ist. Weniger offensichtlich sind industrielle oder staatliche/militärische Verschmutzungen, z.B. die Munition, die die Briten nach dem Zweiten Weltkrieg im Beaufort’s Dyke versenkt haben und von der immer mal wieder was an den irischen Küsten angeschwemmt wird, als versuche die Vergangenheit sich an der Gegenwart zu rächen.

Ärgern tut mich das beides nicht. Ich nehme es zur Kenntnis, finde es streckenweise interessant. Eine meiner wichtigsten Erfahrungen hier in Irland war, dass die Natur immer gewinnt. Der Bach in dem Tal, in dem ich zuerst lebte, ist jedes Jahr über die Ufer getreten, nicht weil die Umwelt sich veränderte, sondern weil sich die Landschaft über Jahrtausende so entwickelt hatte. In den ersten Jahren versuchten wir den Überschwemmungen mit Mauern und Wällen beizukommen. Aber das Wasser war immer stärker, klüger. Das hat mich Demut gelehrt und ich bin dankbar für diese Lektion. In diesem Sinne denke ich auch, dass die Natur die Klimakrise auf ihre Weise überstehen wird, ob die Menschheit dazu auch in der Lage ist, ist eine andere Frage.

Dein Roman ist weder Manifest noch Kampfschrift, keine Abrechnung, kein moralisierender Zeigefinger. Aber manchmal sind deine Schilderungen und Aufzählungen doch haarscharf daran vorbeigeschrammt. Ich bin mir des Dilemmas bewusst. Einfache Unterhaltung allein – daran warst du nicht interessiert. Gibt es während des Schreibens einen Warnmechanismus oder muss man auf ein gutes Lektorat vertrauen, dass man nicht überbordet?

Den Leser*innen irgendetwas zu vermitteln, gehört nicht zu meinen Zielen, ich habe keine „Message“. Das würde ich mir nicht anmassen und es würde meinem Grundverständnis von dem, was Literatur kann und soll, fundamental widersprechen. 

Ich denke, das Ziel eines Romans ist es, ein Geschehen und die darin involvierten Personen in seiner/ihrer Komplexität und Ambivalenz darzustellen. Dabei geht es nicht darum, eine Wirklichkeit (oder gar Wahrheit) abzubilden, sondern Zusammenhänge zu erforschen, Konstellationen auszuloten, vielleicht zu einem möglichen Ende zu führen, vielleicht auch Alternativen zu entwickeln. Grundsätzlich denke ich, was Literatur/Kunst im besten Fall erreichen kann, ist, dass der Betrachter, die Leserin seine/ihre Wirklichkeit etwas anders betrachtet, dass sich seine/ihre Wahrnehmung ein klein wenig verschiebt.     

Tatsächlich hat mich der Verlag gedrängt, den Text in dem von Dir beschriebenen Sinn zu „schärfen“. Ich habe dem nachgegeben, aber vielleicht hätte ich doch mehr Widerstand leisten sollen.

Dein Roman spielt in nicht allzuferner Zukunft. Sind deine Schilderungen das Resultat einer sorgfältigen Recherche über mögliche Zukunftsszenarien oder vertraust du deiner Intuition, deiner Beobachtung, deiner Erfahrung?

Bevor ich ernsthaft zu schreiben begann, habe ich einige Jahre als Konjunkturforscherin gearbeitet und mit ökonometrischen Simulationen die wirtschaftliche Entwicklung einzelnen Branchen prognostiziert. Lange habe ich es als 180-Wendung in meinem Leben betrachtet, dass ich dann zu schreiben begann. Inzwischen beginne ich die Ähnlichkeiten zwischen Simulation und Fiktion zu verstehen. Beide werden dort eingesetzt, wo das Wissen an eine Grenze stösst, oder wie der frühere Rektor der Uni Basel Antonio Loprieno, sagte „die literarische Fiktion und die wissenschaftliche Simulation vermitteln Bilder alternativer Realitäten.“  Beides sind Versuche, die Grenze zwischen Wissen und Glauben zu bewältigen, in beiden wird die Grenze zwischen Faktischem und Möglichem in Frage gestellt. Beide entwerfen ein Bild von dem, was sein könnte. 

Recherchen bilden einen wesentlichen Teil meines Schreibens. Ich denke, ich bin sorgfältig dabei, aber nicht in der Absicht oder gar mit dem Anspruch, etwas möglichst Plausibles zu konstruieren. Genauso wie die Vergangenheit, über die ich in früheren Romanen geschrieben habe, ist auch die Zukunft eine Funktion eines sich laufend verändernden Zustandes, eine Reflexion der Gegenwart und sagt primär etwas über diese aus.   

Ein Haus ist eine Insel. Ein Garten ist eine Insel. Eine Klostergemeinschaft ist eine Insel. Eine Liebe ist eine Insel. Wir brauchen diese Inseln. Und doch sind die Bedrohungen manigfaltig. Der Forscher Holm und die Schriftstellerin erinnern sich an ihre Insel-, ihre Liebeserlebnisse. Bleibt man letztlich nicht doch allein, auf der letzten Insel seiner selbst?

Ja ist die einfache Antwort auf diese Frage. Natürlich gibt es Momente der Geborgenheit, der Liebe, in denen wir uns mit einem Menschen, der Welt verbunden fühlen. Aber ich denke, es ist eine (schöne) Illusion zu glauben, dass wir einen anderen Menschen verstehen können oder von ihm verstanden werden, fassen können, was und wie er/sie empfindet. Wir sind zwar nicht immer einsam, aber doch immer allein und dieser Roman ist auch einer über das Scheitern der Liebe.

Gabrielle Alioth, geboren 1955 in Basel, war als Konjunkturforscherin und Übersetzerin tätig, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. 1990 publizierte sie ihren ersten, preisgekrönten Roman «Der Narr». Es folgten zahlreiche weitere Romane, Kurzgeschichten, Essays sowie mehrere Reisebücher und Theaterstücke. Daneben ist sie journalistisch tätig. Seit 1984 lebt Gabrielle Alioth in Irland. Für ihr Werk wurde sie 2019 mit dem Kulturpreis der Gemeinde Riehen ausgezeichnet. Gabrielle Alioth ist Präsidentin des PEN Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland.

mehr von Gabrielle Alioth auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Beitragsbilder © privat

Katinka Ruffieux «Zu wenig vom Guten», Arche

Eine Familiengeschichte? Eine Exilgeschichte? Ein Roman über Nähe und Distanz? Über Verlust und die Suche nach Identität? Katinka Ruffieux erzählt in ihrem literarischen Debüt kunstvoll und gekonnt, mit jener Portion Witz, die das Schwere leicht macht und mit Sätzen, die man festhalten will.

Manchmal beseelt einem die Lektüre so sehr mit Feinheiten, dass man das Buch nur in kleinen Schlucken geniessen will. Was mir dann doch nicht gelingt, weil, wie der Erstling von Katinka Ruffieux beweist, hier eine Autorin erzählt, die nicht nur sprachlich glänzt, sondern auch in ihrer Erzählstrategie. „Zu wenig vom Guten“ ist mit einer derartigen Reife geschrieben, dass man erstaunt ist, einer literarischen Debütantin zu begegnen, denn Katinka Ruffieux erzählt mit grosser Souveränität. In ihrem Erzählton steckt jene unverkrampfte Leichtigkeit, die man in helvetischer Literatur nur selten trifft, jene Portion Schalk und Humor, die das Lesen leicht macht und nicht zuletzt ein ordentlicher Schuss Lebensweisheit, den man wohl erst dann erreicht, wenn man selbst in den Tiefen der eigenen Existenz den Erfahrungen die richtigen Fragen stellt.

Katinka Ruffieux erzählt von einer Familie, die in der Folge des Ungarnaufstands ihr Land verlassen hatte, um wie viele andere Familien ihr Glück in der Schweiz zu suchen. Ich selbst erinnere mich gut an eine Nachbarsfamilie im Quartier meiner Kindheit, bei der zuhause noch immer Ungarisch gesprochen wurde und die Besuche bei meinem Schulkameraden zu Expeditionen in eine andere Kultur wurden. Nicht nur roch es in jener Wohnung anders als bei mir zuhause. Der Vater jenes Jungen war ein hagerer, grosser Mann mit Schuhgrösse 48, dessen riesige Hände die meinigen bei der Begrüssung zu Puppenhänden machten. Ein Mann der immer freundlich und immer leise sprach, als ob er in der Luft um ihn herum nicht zu grosse Wellen machen wollte.

Unsere Familie gleicht einem Hühnerstall. Wer wen hacken darf, steht fest. Trotzdem lassen alle Federn.

Katinka Rufieux «Zu wenig vom Guten», Arche, 2025, 256 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-03790-161-8

Genauso die Familie in „Zu wenig vom Guten“. Man wohnt zu fünft in einer winzigen Wohnung in der grössten Stadt der Schweiz, versucht um jeden Preis nichts falsch zu machen und tut alles, um den Traditionen und stillen Gesetzen des neuen Zuhauses zu genügen. Mutter, Vater, zwei Töchter und der Grossvater, den man regelrecht entwurzeln musste. Weil der Platz in der Wohnung gering ist und man die freien Stellen lieber mit den Errungenschaften des Westens auffüllt, leben die beiden Töchter zusammen mit dem Grossvater in einem Zimmer unter dem strengen Diktat der Mutter, mit einem Vater, der lieber durch Abwesenheit glänzt und einem Grossvater, der ganz unverblümt die Enge in der Wohnung mit In diesem Haus wird man kein echter Mensch, hier wird man bloss verrückt! kommentiert. Ein Grossvater, der im Reduit seiner kleinen Familie von dem träumt, was er zurücklassen musste und mit dem hadert, womit er sich in seinem Exil konfrontiert sieht. Kommentare, die die Mutter stoisch erträgt, die Töchter aber meist wörtlich nehmen, was die Stimmung in der Wohnung alles andere als entlastet.

Auch zwischen den Schwestern herrscht keine Verschwesterung, ganz im Gegenteil. Die Erzählerin versucht die Wogen in der Familie zu glätten, sieht sich im Gefüge als jene, die für das Gute zuständig ist und doch immer das Gefühl mit sich herumträgt, nicht zu genügen, letztlich verantwortlich zu sein für all das, was der Familie widerfährt. 

Schon zu Beginn des Romans wird von der Asche der Schwester erzählt und dass nicht einmal diese sich den Wünschen der Familie beugt. Der Roman beginnt mit einem Verlust. Ein Thema, das sich durch das ganze Buch zieht; der Verlust der Heimat, der Identität. Der Verlust des Vaters, der irgendwann aus der Enge auszieht und ein anderes Leben beginnt, eine neue Familie gründet. Der Verlust des Grossvaters, jener Person, die auf alles eine Antwort hatte, der für die Erzählerin trotz der räumlichen Enge der Fels in der Brandung war. Und der Verlust der Schwester, die immer tiefer in ihrer Revolte gegen alles und jeden abrutschte, die sie aus dem Drogensumpf zu retten versuchte, die ihr Leben aber unrettbar gegen eine Wand fuhr.

„Zu wenig vom Guten“ ist eine literarische Perle. Wie schade wäre es, man würde sie zwischen all den bunten Kieseln nicht sehen!

Interview

Ein grosses Thema ihres Romans ist Verlust. Die Familie verliert ihre Heimat – Ungarn. Sie verliert den Vater, der sich das Glück mit einer neuen Familie sucht, den Grossvater, der im Exil stirbt und die Schwester. Verluste, die das Leben der Erzählerin prägen und doch nicht zerreiben. In ihrem Roman spürt man den Schmerz, aber ebenso die Kraft, die daraus entsteht. Obwohl sich alles um diese Verluste dreht und andere daran zerbrechen würden, bewahrt sich die Erzählerin jenen Mut, den es braucht, um nicht zu zerbrechen. Wie gelang es Ihnen, diesen Ton zu finden? Ist er Ihnen gegeben oder war es ein Prozess des Findens?
Eine glaubhafte Stimme für diesen Roman zu finden, war entscheidend. Schreibt man aus der Perspektive einer Jugendlichen, wirkt das Geschriebene schnell aufgesetzt, schlimmstenfalls anmassend. Da kommt man um das Suchen und Finden nicht herum. Als die richtige Tonalität jedoch gefunden war, ging mir der «Sound» des Buches nicht mehr aus dem Kopf und das Schreiben leicht von der Hand. 

Neben der Suche nach der eigenen Identität ist Ihr Roman auch ein Spiegel dessen, was in den 80ern in der Schweiz geschah; Jugendunruhen, Spiessbürgertum, Drogenszene Zürich, Einbürgerung… Und trotzdem spiegelt sich das sozialpolitische Geschehen ganz in den Protagonisten. Es schwingt unterschwellig derart viel mit, dass ich als Leser manchmal das Gefühl hatte, mehrere Bücher miteinander zu lesen. Leser*innen in meinem und Ihrem Alter fühlen sich gespiegelt, erinnert – und junge Leser*innen wundern sich über die Abgründe hinter den Fassaden. War das Absicht?
Absicht würde ich es nicht nennen. Als Autorin möchte ich möglichst viele Menschen erreichen und dafür treffe ich gewisse Entscheide. «Zu wenig vom Guten» ist im Grunde eine ziemlich traurige Geschichte, die ich mit einer grossen Leichtigkeit erzählen wollte. Aber einen solchen Entscheid trifft man instinktiv und nicht absichtlich. Ein tieftrauriges Buch hätte mich wohl selbst beelendet. Dass das Buch auch generationenübergreifend zu funktionieren scheint, freut mich besonders.

Sie beschreiben einen Kosmos, jenen der Familie. Einen ganz eigenen Kosmos, weil die Familie, aus Ungarn stammend, alles tut, um der „Schweiz“ zu genügen. Eine aus dem Ausland stammende Familie, die alles, aber wirklich alles tut, um sich zu integrieren. Das Idealbild gewisser Kreise auch heute. Integration bis zur Selbstverleugnung. Ein Prozess, der aber auch im Leben eines jungen Menschen passiert, dann, wenn man während der Pubertät unbedingt zu eine Piergruppe „dazugehören“ will, wenn man ein Teil von etwas Grösseren sein will. Ein Prozess, der die beiden Schwestern spaltet. Die Erzählerin will sie retten, scheitert aber. Ihre Schilderungen scheinen keine Innenansichten, sondern Aussenansichten zu sein, versöhnt distanziert. Viele Bücher, die sich mit ähnlichen Themen auseinandersetzen, triefen vor Selbstergriffenheit. Liegt das an Ihrer „Reife“?
Um diese Geschichte zu erzählen, musste ich so alt werden, wie ich heute bin. Ich nehme vieles entspannter, fühle mich freier in meinem Denken aber auch sonst. Für distanziert halte ich die Erzählerin nicht. Aber sie weiss sich zu schützen und hält es für gut, dass alle irgendwann vergessen werden «dürfen». Eine Ansicht, die ich mit ihr teile.

Eine Familie mit Grossvater. Ich mag diesen Grossvater sehr, zumal ich selber Grossvater bin. Aber im Gegensatz zu mir, ist der Grossvater in Ihrem Roman einer aus der immer seltener werdenden Sorte „Grossfamiliengrossvater“, obwohl die Familie selbst, trotz falscher Onkel und Tanten, klein ist. Man lebt eng zusammen, hat eine fixe Rolle, ist Teil des Lebens, nimmt gegenseitig Einfluss. Dieser Grossvater nimmt auch kein Blatt vor den Mund, etwas, was ich mir nicht leisten kann. Etwas, das nur funktioniert, wenn man Teil eines Zusammenlebens ist. Trotzdem zerfällt diese Familie. Ist dieser Roman auch ein Stück „Sehnsuchtsbewältigung“?
Ich mag den Grossvater selbst gut leiden, kenne ihn jedoch kaum. Aus Neugier wollte ich ihn mit besonderer Sorgfalt zeichnen. Der Roman soll keine Sehnsüchte bewältigen, aber es stimmt schon: Familien müssten immer gross und bunt und laut sein! Dass die einzelnen Familienmitglieder dieselbe Herkunft haben, ist dazu nicht nötig. Aber wenn da ein toller Grossvater wäre, der sich engagiert, dann wäre er ein Gewinn für die Familie und jedes Enkelkinds.

Schwestern. Jede mit ihrer Rolle. Jede im festsitzenden Glauben, diese Rolle spielen zu müssen. Für beide gibt es keinen Ausweg. Die eine verschreibt sich der Rebellion, die andere der Anpassung. Ein Motiv, das bis in die Märchenwelt greift. Ist das Schreiben ein Versuch, der eigenen Rolle zu entfliehen?
Nein, das glaube ich nicht. Ich unternehme als Autorin keine Fluchtversuche, vielmehr wende ich mich den Dingen hin, bin eine aufmerksame Beobachterin für alles, was um mich herum geschah und noch geschieht. Auch das ist meiner Neugier geschuldet. Ich halte fast alles für interessant.

Katinka Ruffieux wurde 1968 in der Schweiz geboren und wuchs in einer ungarischen Familie auf. Sie lebt und arbeitet in der Nähe von Zürich. 2019 gewann sie mit ihrer Kurzgeschichte »Streuner« den Wettbewerb des Literaturhauses Zürich. Es folgten das Wanderbuch »Auf den Spuren der Literatur« und das SRF-Hörspiel »Kalter Kaffee«. 2023 war sie Stipendiatin der Bayerischen Akademie des Schreibens am Literaturhaus München, wo sie an ihrem Romandebüt »Zu wenig vom Guten« arbeitete.

Katinka Ruffiex liest und diskutiert im Rahmen von «Die Nacht der Debüts» in Frauenfeld in Theaterwerkstatt Gleis 5 am 26. September

Beitragsbild © privat

Gianna Lange «Und dann springen wir», FVA

Eine junge Frau springt von einer Brücke. Aber nicht, weil sie Schluss machen will, sondern weil es ein Neubeginn sein soll. Von der „Alten Brücke“ in Mostar, jener steinernen Bogenbrücke über die Neretva, über eine Brücke, die mit ihrer Zerstörung 1993 zum Symbol des Bosnienkrieges wurde. Ein Sprung, der ein Versprechen einlösen sollte.

Gianna Lange schrieb mit ihrem feinmaschigen Debüt ein Stück Literatur, dass es in sich hat. Eine vielschichtige Geschichte über eine junge Frau und ihre Familie. Eine Familie, die zerrissen ist. Über die Gewissheit, dass man sich seiner Herkunft nicht verschliessen kann, dass die Frage nach dem Woher wenigstens jenes Mass an Antworten braucht, um sich von der Enge unbeantworteter Fragen befreien zu können. „Und dann springen wir“ ist ein Roman über eine junge Frau, die sich vom Schweigen, der Verdrängung in ihrer Familie befreien muss.

Elise stirbt, die Mutter von Rosa. Es war ein Leben, dass immer wieder tauchte. Elise sprang immer wieder, ohne je unten anzukommen. Auch wenn es Phasen des Glücks gab, war das Leben mit der Mutter und die Abwesenheit des Vaters für die junge Rosa ein permanentes Minenfeld, bescherte ihr ein Leben in Ungewissheit, übertrug ihr Verantwortung, die die Kraft eines Kindes, einer Jugendlichen übersteigt. Irgendwann entfloh Rosa ihrer Mutter, zog aus, in ein Wohnheim auf der anderen Seite der Stadt. Einen Abstand, den es brauchte, um vor den Katastrophen der Mutter zu entfliehen.

Gianna Lange «Und dann springen wir», Frankfurter Verlagsanstalt, 2025, 192 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-627-02337-9

Man teilt ihr mit, dass die Mutter gestorben ist, nachdem sie an Tuberkulose erkrankte und ins Spital eingeliefert wurde. Obwohl man ihr versicherte, an Tuberkulose würde heute niemand mehr sterben, kam der Anruf dann doch. Mit einem Mal war ihre Mutter weg, unwiederbringlich. Und weil Rosa für die Bestattung ihrer Mutter Geld brauchte, war sie gezwungen, mit ihrem Vater Kontakt aufzunehmen. Einem Vater, der schon lange das Weite gesucht hatte, der wieder heiratete und einen neue Familie gründete, mit dem sie eigentlich nichts mehr zu tun haben wollte.

Mutter und Vater. So sehr sie sich aber von ihrem „Vater“ distanzierte, so sehr wurde Elise in guten Phasen zu einer Freundin. Immer so lange, bis ein neuer Absturz in den Suff oder sonstige Rauschmittel wieder kappte, was Liebe hätte sein können. Wie damals, als Rosa mit ihrer Mutter nach Mostar reiste, an jenen Ort, an dem schon für die Mutter vor Jahrzehnten etwas zurückgeblieben war, einen Ort, der viel mehr war als das Ziel einer Urlaubsreise. Damals standen Elise und Rosa auf der steinernen Brücke in Mostar und wussten nicht, ob sie gemeinsam springen sollten. Irgendwann sprang die Mutter aber dann doch, wenn auch nicht von der Brücke, sondern in Prag auf einer gemeinsamen Reise, einmal mehr in ihren Suff. Sie verschwand mitten in der Nacht aus dem grossen Bett, um im Bad des Hotelzimmers in ihrem Erbrochenen zu liegen, um Rosa einmal mehr in Todesangst zu versetzen. Damals half man ihr. Damals wurde auch mehr als deutlich, dass Rosa, so sehr sie sich nach Familie sehnte, diese verlassen musste, um wieder atmen zu können.

Aber weder der plötzliche Tod ihrer Mutter noch das eigentlich so freundliche Bemühen ihres Vaters genügen für einen Neuanfang. Rosa spürt, dass sie Spuren aufnehmen muss, von denen sie nicht weiss, wohin sie sie führen werden. Unterstützt von ihrer Freundin Emma unternimmt Rosa Reisen dorthin, wo sie ahnt, dass mehr ist. Zurück nach Mostar, zurück zur Brücke, weil da ein Versprechen war – „und dann springen wir“.

Gianna Langes Roman ist ein Familienroman. Ein Wurzelbuch. In ineinnader verschränkten Zeitebenen erzählt die Autorin routiniert und gekonnt aus einem Leben, das seine Spur sucht. Ohne jede Zuordnung von Gut und Schlecht. So ruhelos das Leben von Elise war, so getrieben und anfällig auf Erschütterungen und Verunsicherungen, so gross ist Roses Sehnsucht nach einem festen Anker. Ein zarter Roman voller Wärme!

Interview

Momentan sind autobiographische oder autofiktionale Bücher angesagt. Ich kenne Leute, die die Qualität ihrer Lektüre nach der „Glaubwürdigkeit“, der „Echtheit“, nach dem „Selbst Erlebten“ messen. Gute Bücher sind jene, die davon triefen. Als ich „Und dann springen wir“ las, war es durchaus die Geschichte, die mich fesseln sollte. Aber wenn eine gute Geschichte gut erzählt ist, wenn die Sprache passt, dann relativiert sich „Echtheit“. Ist es nicht die Fähigkeit zur Empathie, die gutes Erzählen ausmacht?
Dem würde ich auf jeden Fall zustimmen. Ich bezweifle, dass sich gute Geschichten ohne eine ausreichende Portion Empathie erzählen lassen. Daher freue ich mich auch, wenn Lesende meinem Roman immer wieder unterstellen, autofiktional zu sein. Das ist er nicht, aber ich fasse es als Kompliment auf, denn die Geschichte wurde in diesen Fällen offensichtlich als authentisch empfunden. Und dafür muss man sich, meiner Meinung nach, in seine Figuren hineinversetzen können, verstehen, was sie empfinden und warum. Ich finde auch nicht, dass es unbedingt „leichter“ ist, selbst Erlebtes authentisch zu erzählen. Oft gelingt es mir ganz gut, ich habe mich aber auch bei der einen oder anderen Geschichte zu nah dran gefühlt, um sie zu entwirren. Oder ich stand mir selbst dabei im Weg, mich zurückzuversetzen. Ich denke, das kennen die meisten Menschen, man möchte nicht alles Erlebte ungefiltert noch einmal erleben.

Prag © Gianna Lange

Rosa macht sich auf eine Reise, auf eine innere und eine äussere. Einer der Anlässe, dass sich Rosa aufmacht, ist der Tod ihrer Mutter. Eine Mutter, die für sie fast immer Elise hiess, in guten Phasen mehr Freundin war und in schwierigen ein Alp. Viele Familiengeschichten sind Emanzipationsgeschichten. Und dabei ist Emanzipation viel mehr als Selbst- und Eigenständigkeit. Ist Emanzipation in Ihrem Roman nicht vielmehr das ganz umfassende Bewusstsein, woher man kommt?
Das fasst es sehr schön zusammen! Emanzipation hat ja immer auch damit zu tun, woher man kommt. Was ist das grosse Ganze eigentlich, von dem ich mich da löse? Und wo möchte ich hin? Es ist für mich das Verstehen, quasi das Aufdecken der Richtung, aus der man kommt, um so die Richtung zu bestimmen, in die man möchte. Und nicht womöglich versehentlich genau dort zu landen, wo man eigentlich gar nicht hin wollte. Vielleicht ist später das, wovon man sich unter Anstrengung gelöst hat, dann doch das, was man für sich selbst wählt. Doch ich glaube, die Wahl lässt sich befreiter und selbstbestimmter treffen, wenn ihr eine Emanzipation vorausgegangen ist.

Vieles in Ihrem Roman kann man metaphorisch verstehen. Rosa ist in Bosnien unterwegs; Abseits der Wege herrschte Minengefahr heisst es, als Rosa auf einer ihrer Reise in einem Bus gewarnt wird. Dieser Satz gilt doch auch für ihr eigenes Leben, das sie doch einfach weiterleben könnte, ohne all die Fragen, Konfrontationen, das Suchen. Waren sie sich dieser Metaphern bewusst oder geschehen sie unbewusst?
Das ist bei mir ein Mischverhältnis. Manche Metaphern habe ich beim ersten Tippen der Worte bewusst eingesetzt. Die Teflonpfanne am Anfang des Romans ist so eine, zerkratzte Teflonschichten sind giftig. Das ist die grosse Sorge einer Frau, die aber freiwillig lauter anderes Gift zu sich nimmt. Es gibt aber durchaus auch Metaphern, die mir erst später aufgefallen sind, die dann entweder noch einen Feinschliff verpasst bekommen haben oder rausgeflogen sind, weil sie doch nicht so gut funktioniert haben. Das ist sowohl in der eigenen Überarbeitung als auch später im Lektorat noch vorgekommen. Ich würde behaupten, mehr Metaphern bewusst als unbewusst ins Buch geschrieben zu haben. Ich werde aber auch immer mal wieder von Interpretationen und Eindrücken Lesender überrascht, da offenbaren sich mitunter ganz neue Deutungen. Das finde ich total spannend.

Ein Familienroman darum, weil sich Rosa aus einer schwierigen Familienkonstellation „distanzieren“ will, nicht weil sie das alles nicht mehr will, sondern weil sie einzuordnen versucht, nicht zuletzt die Gründe dafür, dass sich Elise, ihre Mutter, immer wieder in ihren Abstürzen verliert. Auf der einen Seite das hochstilisierte Idyll der Familie, auf der anderen Seite die Realität vieler Abgründe, Zerrüttungen. Warum werden wir derart beherrscht von der Sehnsucht nach Familie und Zugehörigkeit?
Eine Freundin von mir hat mal einen Satz zu mir gesagt, der hängengeblieben ist. Ich sass auf ihrem Sofa, vollkommen überfordert von einem sich anbahnenden Todesfall innerhalb der Familie, und geisselte mich dafür, mit der Situation nicht besser klarzukommen. Für mich hiess „besser“ damals, dass ich es allein verkraften können muss, weil ich ja nun mal erwachsen war. Und meine Freundin sagte: «Also Gianna, der Mensch ist ja nun mal ein soziales Wesen.“ Sie hat danach noch viel mehr kluge Worte gesagt, aber dieser Einstieg bringt es schon so gut auf den Punkt. Das sage ich mir auch heute noch, wenn ich mal wieder meine, ich müsste ganz allein mit allem zurechtkommen. Wir Menschen sind nicht dafür gemacht, vollkommen und immer allein zu sein. Ich bin eher introvertiert und wirklich gern allein, ich brauche das auch, aber genau so brauche ich meine Herzensmenschen, meine Familie, meine Freund*innen, meinen Partner. Und das ist etwas Universelles, wir alle brauchen unsere Netzwerke, in denen wir sicher sind, in denen wir Unterstützung erfahren, wenn wir darum bitten. Ich weiche den Begriff Familie im Buch bewusst etwas auf, weil ich weiss, dass Familie nicht immer die Blutsverwandtschaft ist. Familie ist für mich ein dehnbarer Begriff mit so vielen Facetten, die man zum Glück auch selbst gestalten kann.

Mostar © Gianna Lange

Im Titel des Buches steckt ein Versprechen. Die „Alte Brücke“ in Mostar ist nicht nur für Rosa ein Symbol für ein Davor und Danach. In Ihrem Buch erzählen Sie unterschwellig auch vom Bosnienkrieg und seinen Auswirkungen bis in die Gegenwart. Sie schieben Schicht um Schicht unter die Geschichte, die Sie an der „Oberfläche“ erzählen, tun das sehr gekonnt. Ist da nie die Gefahr, dass man den Bogen überspannt?
Ich würde sagen, die Gefahr ist immer da. Gerade in Bezug auf die noch immer recht junge Vergangenheit der ex-jugoslawischen Länder habe ich den Text wieder und wieder unter die Lupe genommen. Ich selbst habe die Region durch eine ähnliche Brille betrachtet wie Rosa und Elise, nämlich durch eine westeuropäische. Da waren die Schönheit der Orte und der Landschaft, die gastfreundlichen Menschen, aber auch die unübersehbaren Spuren des Krieges. All das sollte mit ins Buch, all dem wollte ich gerecht werden, ohne dabei ein weiteres, west-eurozentrisches Buch über den Osten zu schreiben. Ich bin dafür im Schreibprozess sehr nah an eigens Erlebtem und Beobachtetem geblieben, um im Text dann nah an den Figuren und ihren Erlebnissen und Beobachtungen zu bleiben. Dabei habe ich unweigerlich hier und da den Bogen auch mal überspannt, aber zum Glück wird ein Text ja noch einige Male und von mehreren Augenpaaren genauestens geprüft, bevor er gedruckt wird. So ist mir am Ende hoffentlich gelungen, was ich mir vorgenommen hatte.

Rosas „Vater“ ist nicht zuletzt eine tragische Figur. Mir hat er bei der Lektüre fast Leid getan, tut er doch viel, um Rosa eine Versöhnung anzubieten, nicht nur er, seine ganze Familie. Eines dieser unterschwelligen Themen in ihrem Roman ist die Adoption, ohne dass Sie daraus ein „Thema machen“. Beziehungen zwischen leiblichen Eltern und ihren Kindern bieten viel Angriffsfläche. Allein aus der Beziehung zwischen Rosa und ihm hätte man einen Roman schreiben können. Nähe und Distanz ist nicht nur in der Familie heikel. Gilt das nicht auch fürs Schreiben?
Auch dem würde ich zustimmen und es lässt sich auf so vieles anwenden. Die Nähe und Distanz zu sich selbst beim Schreiben, zum Text, zu den Figuren, zwischen den Figuren. In meinem Fall gehören Schreibblockaden zum Schreiballtag und die haben oft damit zu tun, dass mir die eigene Geschichte an dieser und jener Stelle nicht vertraut genug ist. Ich muss dann meistens erstmal herausfinden, woran es liegt, und dann eintauchen. Das kann eine einzelne Figur sein, dann muss ich die sozusagen besser kennenlernen, oder das Verhältnis zwischen Figuren. Meistens hilft es, in die Tiefe zu gehen und diese Feinheiten aufzuspüren, um die Blockade zu lösen und zu wissen, wohin die Geschichte als nächstes führt. Bei vollkommen fiktionalen Elementen ist es für mich oft die zu grosse Distanz, je mehr selbst Erlebtes mit einfliesst, desto eher erlebe ich wiederum den Effekt, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen. Den kenne ich aber auch im späteren Verlauf, wenn der Text fertig, mehrfach überarbeitet und schon zigmal gelesen ist. Dann stehe ich auch hin und wieder mal mitten im Wald und sehe ihn nicht. Und dann sind wir wieder beim Fazit der vorigen Antwort, es lesen ja zum Glück noch Andere mit, die das grosse Ganze im Blick haben.

Gianna Lange, geboren 1988 in Bremen, studierte Journalistik und Transnationale Literaturwissenschaft in Bremen und London. Sie ist Gründungsmitglied des ‹Lyrikkollektivs gabrieleschreibtgedichte› sowie des Kollektivs für junge Literatur ‹Kollit‹ und Redaktionsmitglied der Literaturzeitschrift ‹Koller‹. Für die ersten Seiten ihres Manuskripts »Und dann springen wir« erhielt sie das Bremer Autor:innenstipendium vom Bremer Literaturkontor. Die Autorin lebt in Bremen und arbeitet im Konzerthaus ‹Die Glocke› sowie beim ‹Musikfest Bremen›.

Beitragsbild © Franziska Evers

Waseem Hussain & Sascha Reichstein «Habitus», editionR

Ein ganz spezieller Auftritt zweier Künstler*innen, die mit ihrer Kunst nicht nur innere Bilder erzeugen und Fragen stellen wollen. Zusammen mit der Künsterin Sascha Reichstein schuf Waseem Hussain ein überaus sinnliches Buch über innere und äussere Landschaften, über die Frage, was den Menschen ausmacht, wie weit Abbild und Tatsächliches übereinstimmen. „Habitus“ ist viel mehr als ein Buch.

Da haben sich zwei etwas ganz Besonderes vorgenommen. Kaum etwas an diesem Buch entspricht der Norm. Schon in seiner äusseren Erscheinung, seiner Grösse, seinem reduzierten Einband und der Tatsache, dass man die Namen der beiden Künster*innen nur auf dem Buchrücken lesen kann – das Resultat einer ausserordentlichen Zusammenarbeit. Schweres Papier, Fadenheftung, mehrheitlich doppelseitige Fotografien in bestechender Qualität, überaus sorgfältig gesetzt, in schönster Schrift, wie geschaffen, um offen auf einem Tisch oder Stehpult liegenzubleiben, als Einladung, seine Wirkung als Gesamtkunstwerk zu entfalten, als ginge es nicht nur in der Geschichte, in den Fotografien, im Zusammenspiel zwischen Bild und Text um den „Habitus“, ein Erscheinungsbild, sondern auch um das Erscheinungsbild des Buches, des Gesamtkunstwerks an sich.

Ein Buch als Statement! Hier manifestiert sich Wort und Bild in einem Buch als Monument, kompromislos, gradlinig und in Vollendung präsentiert. Fotografien und Text verschrenken sich ineinander, spielen miteinander, reiben und ergänzen, ohne jemals erklären zu wollen. Das „Habitus“ weder als Roman noch als Erzählung betitelt ist, verweist auf die Einzigartigkeit dieses Kunstwerks. „Habitus“ ist weder erläuterter Bildband noch illustrierte Erzählung. „Habitus“ ist in seinem Habitus alles, ein Kunstwerk, das sich mehrfach spiegelt. 

Waseem Hussain & Sascha Reichstein «Habitus», editionR, 2025, mit einem Essay von Silvia Henke, 144 Seiten, davon ca. 90 Seiten Farbabbildungen, CHF ca. 47.00, ISBN: 978-3-9526200-0-7

Damit sich mutige Leser*innen aber doch nicht ganz und gar alleine mit Interpretation, Spekulation und sich aufdrängenden Fragen auseinandersetzen müssen, ist dem Buch ein Essay der Kulturwissenschaftlerin Silvia Henke mit dem Titel „Phantasmen und Herkunft“ beigefügt, in dem die Publizistin versucht, Text und Bild in Zusammenhang zu bringen, mögliche Schlüssel zu Bild und Text offerierend, nicht weil Text und Bild das brauchen würden, sondern weil hinter Bild und Text auch die Entstehung dieses Buches Schlüsse und Schlüssel liefert.

Und weil ich den Autor seit vielen Jahren kenne und mir viel daran liegt, dass diesem speziellen Buch auch eine spezielle Buchbesprechung folgt, stelle ich einige Fragen ganz direkt an den Autor Waseem Hussain.

Wer eine Geschichte über Herkunft schreibt, letztlich beschäftigt sich ein Grossteil der erzählenden Literatur mit Fragen der Herkunft, könnte ja einfach eine Geschichte erzählen und ein Buch daraus machen. Ganz offensichtlich war die Intention zu „Habitus“ aber eine andere. Wann und wie wurde dir klar, aus Text und Bild ein Buch werden zu lassen, das fast alle Massstäbe sprengt?

Als ich die Manuskriptblätter nebeneinander auf dem Tisch liegen sah, hatte ich einen Januar des Schreibens im Delirium hinter mir. Ich mochte den Abschluss nicht wahrhaben und zog ruhelos durch die Winterkälte. Eines Tages kehrte ich zurück mit diesem grossen Traum: mein Text Seite an Seite mit Kunst, das Buch erstklassig gestaltet und hochwertig hergestellt. Ich wusste, dass seine Verwirklichung es ermöglichen würde, über ein Trauma zu sprechen, das viele Menschen kennen.

Das Trauma, nicht als der wahrgenommen zu werden, der man ist, der man glaubt zu sein, falsch verstanden zu werden. Den Schlüssel seiner Herkunft, seiner Heimat, seiner Familie nie zu finden, dieses zerstörerische Gefühl, ausgeschlossen zu bleiben. Sascha Reichsteins Fotografien sind Nahaufnahmen kristalliner Oberflächen, ihre graphische Arbeiten, die sich manchmal mit den Fotografien überschneiden, Annäherungen, Interpretationen dieser Oberflächen. Khemjis Reise ins Land seiner Herkunft, deine Erzählung ist ebenso Annäherung und die Konfrontation mit Interpretation. Oberflächlich eine Traumreise, die zusammen mit den Bildern zu einer Mehrfachspiegelung wird. Warum sind Fragen nach Herkunft, Heimat, Zugehörigkeit so wichtig?

Ich antworte mit einer Philosophie aus dem Süden Afrikas: Ich bin, weil du bist. Verweigere einem Menschen Herkunft, Heimat oder Zugehörigkeit und er wird sich unvollständig, haltlos, löchrig fühlen. Diese traumatische Erfahrung wird sich in seinem Empfinden, Denken und Handeln widerspiegeln. Die Fragen, nach denen du dich erkundigst, sind also nicht nur politisch oder kulturell. Sie sind existenziell.

Erzählst du ein bisschen von der Zusammenarbeit mit Sascha Reichstein, treffen doch zwei ziemlich verschiedene „Sprachen“ aufeinander, die ganz unterschiedliche Bilder erzeugen. Was stand von Beginn weg fest? Wo lagen die Knackpunkte einer derart aufwändigen Arbeit?

Sascha hat einen aussergewöhnlich genauen Blick für das Einzelne im Ganzen und für dieses im Kleinsten, und sie bezieht das Räumliche und das Akustische immer mit ein. Ich schickte ihr meine Erzählung, wir trafen uns in Zürich. Am Ende eines Abendessens und langen Gesprächs waren wir uns einig, dass wir dieses Buch machen wollten. Gerade weil wir ergänzende Sprache sprechen. Wir waren nie versucht, einander Ratschläge zu geben, Änderungen zu fordern, Erwartungen zu stellen. Es ist dem handwerklichen Geschick von Hanna Williamson-Koller, unserer Buchgestalterin, zu verdanken, dass durch die Verbindung unserer Werke eine neue, eigenständige Spannung entstanden ist und gleichzeitig mein Text und Saschas Bilder ihre eigene Spannung behalten haben.

Stein, Gesteinsschichten, Ablagerungen, kristalline Formationen sind Momentaufnahmen der Erdgeschichte, eingelagerte Zeit, nicht weit weg von dem, was wir an Schichten, Versteinerungen, Ablagerungen mit uns herumtragen. Nicht nur das, was wir selbst erlebten, auch all das, was in unseren genetischen Erinnerungen festgeschrieben ist, über Generationen. Soll man sich lösen wollen, oder ist nicht viel entscheidender das Bewusstsein dessen?

Jeder Versuch, diese Schichtungen abzustreifen, ohne sie sichtbar und fühlbar zu machen, ohne ihnen Ausdruck zu geben, führt dazu, dass sie in unserer Beziehung zu uns selbst und zu unserer Umwelt wirken. Manchmal als Geisterspuk.
 

Waseem Hussain ist Schriftsteller, Essayist und Songwriter. Er wurde 1966 in der pakistanischen Hafenstadt Karachi geboren und wuchs in Kilchberg am Zürichsee auf. In jungen Jahren kuratierte er Kunstausstellungen, organisierte Kulturveranstaltungen und war Mitglied der Independent Regional Experts Group der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia. Als Journalist berichtete er für die Schweizer Presse aus Südasien und wurde für seine investigativen Recherchen mit dem Prix Mass-Médias der Fondation Christophe Eckenstein ausgezeichnet. Er lebt in der Nähe von Zürich.

Sascha Reichstein ist Künstlerin, Gestalterin und Dozentin. Sie wurde 1971 in Zürich geboren und lebt und arbeitet in Wien. Im Zentrum ihrer künstlerischen Arbeit stehen die Auseinandersetzung mit kulturellen Verschiebungen sowie das Spannungsfeld zwischen Tradition und Erneuerung. Reichsteins Werke gehen von regionalen westlichen Kontexten aus, die sich durch Übertragungen, Übersetzungen oder Verflechtungen in den Rest der Welt ausdehnen. Ihre künstlerischen Medien umfassen Fotografie, Video und Installation und werden international in diversen Kontexten und Institutionen gezeigt.

Webseite der Fotografin

Webseite des Autors

Beitragsbild © Franziska Willimann

Martin Prinz «Die letzten Tage», Jung und Jung

Das Tausendjährige Reich bäumt sich in einem Tal in den Ostalpen zum letzten Mal auf – mit all seiner Grausamkeit. Mit «Die letzten Tage» gelingt Martin Prinz ein Stück literarischer Vergangenheitsbewältigung der ganz besonderen Art. Ein dokumentarischer Roman, der mir das Blut in den Adern gefrieren lässt.

In den letzten Tagen des Tausenjährigen Reiches, Wien steht kurz vor dem Fall, die rote Armee wartet in einer Talöffnung nicht weit von St. Pölten auf den letzten Schlag, errichtet Kreisleiter Braun ein letztes Standgericht. „Politisch Unzuverlässige“ werden hingerichtet. Nach dem Krieg, zwei Jahre später werden die Verantwortlichen vor ein Volksgericht geführt. Wieder werden Todesurteile vollstreckt, um danach für Jahrzehnte einen Mantel des Schweigens über die Geschehnisse in den letzten Tagen vor dem Zusammenbruch des Naziregimes zu legen. Erst durch die akribische Aufarbeitung der Geschehnisse damals durch den Autor Alois Kermer, den glücklichen Zufall, dass diese Aufzeichnungen nicht verloren gingen und zehn Jahre Recherchearbeit durch Martin Prinz gerät Frischluft in den modrigen Untergrund. Geschehnisse, die beispielhaft sind für die letzten Tage eines schrecklichen Krieges, eines ebenso schrecklichen Machtapparates, die Martin Prinz zu einem Buch formt, das einem gleich mehrfach in die Knochen fährt.

Wie irrgig zu glauben, ein Krieg sei mit der Kapitulation der einen Seite oder mit dem Erfolg von „Friedensverhandlungen“ zu Ende. Erst recht dann, wenn ein solcher Krieg über Jahre wütet und tiefe Wunden in ganze Landstriche gerissen hat. Wenn Generationen traumatisiert sind, die Gegend von Gräbern überzogen ist und jene, die damals an den Hebeln der Macht waren, noch immer da sind. Wie naiv zu glauben, Kriege wären an einem bestimmt Datum zu Ende. Was Kriege vor Jahrhunderten anrichteten, spürt man in den Ländern des Balkans. Wie tief man sich in der Rolle des Opfers sieht, das nie mehr ohne Gegenwehr Gewalt erdulden will, zeigt die Situation im Nahen Osten. Es scheint, als würde sich der Gräuel des Krieges, der Folter und Misshandlung ins Erbmaterial der Betroffenen fressen, zu einem genetischen Code werden, der von Generation zu Generation weitergegeben wird.

Martin Prinz «Die letzten Tage», Jung und Jung, 2025, 272 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-99027-415-6

Was bei Kriegsende in der Heimatgegend des Autors geschah, zeigt viel über menschliche Mechanismen, über die man lieber nicht nachdenken und reflektieren will. „Die letzten Tage“ ist ein Buch über Macht, über die Maschinerie von Hirarchien, über blinden Gehorsam und bodenlose Willkür. Über Blindheit und das Bedürfnis der meisten, Gras über Dinge wachsen zu lassen, die nie aufgearbeitet wurden, über die nie umfassenend reflektiert wurde. Über die Sehnsucht, durch das Vergessen jene Harmonie zu schaffen, die glauben macht, neu beginnen zu können.

Martin Prinz, der sich schon mit anderen Büchern durch seine akribische Recherchearbeit einen Namen machte und sich dabei auch schon ins Abseits manörvrierte, wagte mit „Die letzten Tage“ etwas, was nicht den gängigen Mustern literarisierter Vergangenheitsbewältigung entspricht. Martin Prinz erzählt nicht einfach eine Geschichte nach, füllt historische Fakten mit fiktionalen Zwischenräumen. „Die letzten Tage“ bleibt ganz nah an den Fakten, an Protokollen, Zeitdokumenten. Ob „Die letzten Tage“ ein Roman ist, bezweifle ich, lässt sich aber als Buch so bestimmt viel erfolgreicher verkaufen. Martin Prinz sind die Mechanismen von damals, das Psychogramm einer Gegend, die sich in einer Endzeit sieht, die Psychologie der Verdrängung, die Wirkungen von Macht und militärischem Gehorsam viel zu wichtig, als dass er das alles durch Fiktion verwässern, dramatisieren und verfremden will.

Reine Willkür gepaart mit militäischer Blindheit, fatalistischer Hyperaktivität und bodenloser Kälte machte möglich, dass Menschen von der Strasse weg eingesperrt, gefoltert, durch ein Standgericht im Hauruckverfahren abgeurteilt und erschossen wurden. Man schleifte sie durch den Ort und hängte sie mit Schmähtafeln um den Hals auf. Allen im Ort sollte unmissverständlich klar sein, dass man in den regionalen Machtzentralen noch immer an den Endsieg glaubt.

Aktendeckel © Wiener Stadt- und Landesarchiv, Volksgericht

Dass man auch Jahrzehnte nach dem Krieg nicht bereit war, die Geschehnisse von damals publik zu machen, zeigt das Schicksal der Aufzeichnungen jenes Mannes, mit dessen Recherchematerial Marin Prinz dieses Buch verfasste. Man ersuchte Alois Kermer 1993 Nachforschungen anzustellen. Nach fast einem Jahrzehnt Recherchearbeit übergab Kermer seine Aufzeichnungen der Gemeinde, die dann monatelang schwieg und erst nach mehrfacher Nachfrage erklärte, dass nun nicht mehr an die versprochene Veröffentlichung gedacht werden könne. Kermer starb 2006. Und nur weil ein Exemplar seiner Aufzeichnungen in die Hände eines Standesamtsleiters fiel und unter dem Titel „Erinnerungen aus dem Schwarzatal in schwerster Zeit“ veröffentlicht wurde und eines dieser Bücher Martin Prinz übergab, ist es zu verdanken, dass mit „Die letzten Tage“ ein ganz eigenes Mahnmal über menschliche Verwerfungen geschrieben wurde.

Es gibt sie, die Bücher, die sich nicht scheuen, in tiefsitzende Eiterbeulen zu schneiden, man lese die Bücher von Hanna Sukare oder den Roman „Dunkelblum“ von Eva Manesse. Aber niemand hat den protokollarischen Klang des Grauens besser zwischen zwei Buchdeckel gebracht wie Martin Prinz.

Interview

Keine einfache Lektüre. Sie setzt Leser*innen voraus, die gewillt sind, sich nicht nur mit einem schweren Stoff zu befassen. Man muss sich auch auf die Sprache, ihrem Willen, so nahe an den Protokollen zu bleiben, einlassen. Die Schriftstellerin Hanna Sukare ist in ihrem Schreiben mit Sicherheit von ganz ähnlicher Motivation getragen wie Sie. Und trotzdem sind ihre Romane ein Eintauchen in Bilder, ein Nacherzählen, eine Kombination von Fakten und Fiktion. Was hat Sie dazu bewogen, nicht einach eine Geschichte nachzuerzählen?

Prozessberichterstattung, Urteile © ANNO/Österreichische Nationalbibliothek, Weltpresse, 25.05.1947

Was in der Gegend zwischen Rax und Schneeberg in den letzten fünfeinhalb Wochen vor Kriegsende geschah, gerät aufgrund der speziellen Situation der stillstehenden russischen Frontlinie wie zu einem Kondensationskern nationalsozialistischen Alltags. Eine ganze Gesellschaft, von den NS-Führern, den SS-Männern, den HJ-Jungen, bis zu den kleinen Gendarmen und blossen Nachbarn, alle machen mit. Und niemand gehorcht nur, fast alle lassen dem Bösen auf alltäglichste Weise freien Lauf, sie übererfüllen sogar. Das ist kein Terror von oben, das ist Terror, der aus der Gesellschaft selbst kam. 

Es ist so geschehen, die Fakten lassen sich nicht leugnen, und dennoch bleibt es unvorstellbar. Und das Wort „unvorstellbar“, das immer und immer benutzt wird, es gilt es ernstzunehmen. Ob Einfühlung, Fiktion oder Eintauchen, eine solche Wirklichkeit muss in ihrer Unförmigkeit erzählt werden. Und in ihrer Unvorstellbarkeit. Hier hielte ich es für Anmassung, so zu tun, als könnte ich mir das vorstellen, als könnte ich es erzählerisch auf der Einfühlungsebene weitergeben. Das ist eine Illusion, und sie ist gefährlich, denn am Ende verharmlost sie, auch wenn sie das durch Moralisieren vielleicht zu überdecken versucht. 

Was also bleibt? Wo gibt es dennoch einen Ansatz des Erzählens? Dort, wo ihn die Täter selbst bieten, und das in ihrer Feigheit sogar bereitwillig, nämlich in ihrem Wegducken, ihrem Ausweichen, ihrem Verallgemeinern, nämlich in ihrer Sprache. Womit wir an der Werkbank jeden Erzählens selbst sind.

Im Nachwort zu Ihrem Roman erzählen Sie vom Weg, den der Stoff zu Ihnen benötigt hatte. Sie erzählen vom Autor Alois Kermer und dem Standesamtsleiter Hermann Scherzer. So wie die mit dem Buch den Geschehnissen von damals eine Mahnmal wider das Vergessen setzen, so setzen Sie jenen beiden Männern ein Denkmal, denen man das Erinnern verdanken muss. Sie sind dort, in jener Gegend aufgewachsen und interessieren sich schon immer für verborgene Wahrheiten. Ist in Ihrer Heimat nicht von viel früher der eine oder andere Modergeruch des Verborgenen an die Oberfläche geraten?

Zwar bin ich einige Berge und Täler davon entfernt aufgewachsen, doch den Moder gab es überall. Was in Reichenau und Umgebung geschah, war aufgrund des Rückzugs der NS-Spitzen in diese von Bergen und den russischen Linien erzeugten Inselsituation eine besondere Lage, in der sich ganz am Ende alles, was auch in den Jahren davor bereits Alltag war, noch einmal zuspitzte. Angesichts des von Kermer und Scherzer recherchierten Materials, angesichts der von mir durchgesehenen Akten des Volksgerichtsprozesses gegen die Täter wird klar, wir befinden uns buchstäblich in einem Labor der NS-Zeit selbst. Womit wiederum all das umso greifbarer wurde, das ich als Kind in den 70er-Jahren auch aus meinem Heimatort noch ansatzweise erfahren hatte.

Die Baracken des Reichsarbeitsdienstlagers (kurz RAD-Lager) © Stadtarchiv Neunkirchen

Die Sprache ihres Erzählens in diesem Roman ist eine ganz eigene. Eine, die die Grausamkeit unter scheinbarer Sachlichkeit verbirgt. Die Sprache von Ämtern, von Gerichten. Eine Sprache, die sich auch heute diametral von der Umgangssprache oder der Literatur unterscheidet. Sprachen, die nur wenig Berührungspunkte aufweisen. War es Faszination oder Respekt, der Sie so erzählen liess?

Respekt und Notwendigkeit.

Dass sich im letzten Aufbäumen vor dem Untergang unter Menschen eine ganz eigene Psychologie entwickelt, beobachtet man immer wieder. Eine Mischung aus Fatalismus, Anarchie und totaler Ergebenheit. Etwas, was auch in der Gegenwart zu beobachten ist. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ähnliche Mechanismen eingesetzt haben hinsichtlich der globalen Klimasituation. Einfach menschliche Regungen oder mehr?

Würde ich das wissen! Aber ich weiss es nicht.  – Und vermutlich ist das nur eine Schutzbehauptung meinerseits, denn ich lese gerade József Debreczenis Bericht „Kaltes Krematorium. Bericht aus dem Land namens Auschwitz“. Der einzige Schluss daraus kann nur die Anweisung sein, dass wir uns in Wirklichkeit weit mehr vor uns fürchten müssten.

Was mich fast am meisten erschütterte, waren die Berichte über die noch nicht volljährigen Burschen der Hitlerjugend, die damals an den Exekutionen und Zurschaustellungen der geschändeten Leichen teilnahmen. Die Vorstellung, dass sich jene Jugendlichen damals ein Leben lang mit diesen Bildern, mit ihrem Tun vor sich selbst zu verantworten hatten, lässt mich erschaudern. Schon allein das wäre Stoff für einen Roman. Was passiert mit dem Stoff in Ihnen, der sich so lange und so intensiv damit beschäftigte?

Ich habe nach dem Schreiben des Romans noch wochenlang von meinem Erhängen und Erschiessen geträumt. 

Martin Prinz, geboren 1973, aufgewachsen in Lilienfeld A, lebt als Schriftsteller in Wien. Er schreibt Reisegeschichten, Drehbücher und Romane (u.a. »Der Räuber« und »Die letzte Prinzessin«). Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Drehbuch-Preis des Filmfestivals in Gijon.

Rezension «Die unsichtbaren Seiten» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Lukas Beck

Susanne Gregor «Halbe Leben», Zsolnay

Der Roman beginnt mit einem Drama. Susanne Gregor lässt keinen Zweifel aufkommen; die Geschichte endet tötlich. Die Frage ist nur; ein Unfall oder mehr? „Halbe Leben“ ist ein Roman über die gescheiterten Lebensentwürfe zweier Frauen. Symtomatisch für eine Zeit, die noch weit davon entfernt ist, dass Rollenbilder nicht zur Falle werden.

Klara scheint ein erfolgreiches Leben zu führen. In ihrem Beruf ist sie drauf und dran zur Teilhaberin zu werden. Sie wohnt mit ihrem Mann Jacob in einem grossen Haus. Ada, ihre gemeinsame Tochter, ist zehn, nimmt Anlauf in die Pubertät. Klara fühlt sich ihren Aufgaben als Mutter im Gegensatz zu jenen im Beruf als Architektin oft nicht gewachsen. Sie ist ganz froh, dass auf der einen Seite ihre Mutter Irene Ankerplatz für Ada ist und sich ihr Mann mit der nötigen Ruhe um Familienangelegenheiten kümmert. Jacob, einst hoffnungsvoll gestartet in eine Karriere als Berufsfotograph, hat sich nach Aufgabe seines Geschäfts der künstlerischen Seite der Fotographie zugewendet. 

Bis ein Schlaganfall Klaras Mutter alles ändert, Klara in ein unstetes Hinundher einspannt, und Jacob den Vorschlag macht, Klaras Mutter zu ihnen ins Haus zu nehmen. Ein paar kleine bauliche Anpassungen und man kann Irene etwas davon zurückgeben, was sie ein Leben lang als Mutter in die Familie investierte. 

Klara kann als Tochter schlecht etwas dagegen haben, obwohl sie genau spürt, dass die neue Situation unter ihrem Dach, die guten Karten im Beruf neu zu sortieren droht. Man einigt sich schnell, eine Pflegekraft zu engagieren, findet Paulina, eine ausgebildete Krankenschwester, die hier über der Grenze ein weitaus besseres Einkommen in Aussicht hat, als in der Slowakei. Aber so sehr die Stelle auf der anderen Seite der Grenze lockt, so sehr belastet Paulina die Situation, in der sie ihre Familie im Zwei-Wochen-Rhythmus alleine lassen muss. Der Vater ihrer beiden Söhne hat sich schon länge aus dem Staub gemacht und die Schwiegermutter, die sich um die beiden Knaben kümmert, sendet unzweifelhafte Signale, was sie von einer nicht anwesenden Mutter hält.

Susanne Gregor «Halbe Leben», Zsolnay, 2025, 192 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-552-07523-8

Paulina gibt sich mit all ihrer verfügbaren Energie in ihre Aufgabe als Pflegerin und Betreuerin von Irene, die sie mit ihrer Freundlichkeit und Entschlossenheit schnell für sich gewinnt. Zumindest für Klara scheint sich die Situation zum Guten zu wenden, auch wenn das schlechte Gewissen nicht verschwunden ist. Mit einem repräsentablen Auftrag in der Firma festigt sich dort die Hierarichie zu ihren Gunsten, obwohl sich zuhause das Gravitationsfeld innerhalb der Familie mehr und mehr verschiebt. Je unverzichtbarer die Aufgaben, die Anwesenheit von Paulina, desto grösser die Begehrlichkeiten. Nach und nach verschwinden Grenzen, der Dominoeffekt von grösseren und kleinen Übergriffen vergiftet das anfänglich so unverkrampfte Gefüge im Haus von Klara und Jacob.

Und als sich die Situation mehr und mehr zuspitzt, Irenes Gesundheit immer instabiler wird, man Adas Wunsch nach einem Hund nachgibt und Klara eine weitere Schwangerschaft zulässt, kippt es. Susanne Gregor erzählt vielperspektivisch und nüchtern. Es geht ihr nicht darum, das Geschehen dramatisch aufzuheizen. Sie zeigt schonungslos, was in der Gegenwart heisst, möglichst allen Anforderungen gerecht zu werden. Zwei Frauen, die sich in ihrem Lebensplan an einem Punkt sehen, an dem sie durch Umstände, Schicksal und Zwänge gelandet sind, sich dessen aber ganz unterschiedlich bewusst sind. Männer, die sich durch ganz unterschiedliche Abwesenheiten distanzieren und ein Familiengefüge, das sich mehr und mehr auf Organisation abstützt. Leben, die sich an ihrer finanziellen Freiheit messen.

Susanne Gregors Roman konfrontiert mich mit ganz vielen existenziellen Fragen: Was sind die Prioritäten in meinem Leben? Wie sehr kommen sich Lebensentwürfe einer Familie in die Quere? Was passiert dereinst mit mir, wenn ich alt und gebrechlich werde? Wäre ich in der Lage, meine Mutter, meinen Vater zur Pflege bis zum Tod nach Hause zu nehmen? Was passiert mit mir, wenn jene Personen, die einst als Eltern Kraft und Fundament ausmachten zu hilfsbedürtigen Patienten werden?

„Halbe Leben“ ist ein Roman über jene Leben, die nur voll, ganz sein können, wenn andere dafür „dienen“, ein Roman über Abhängigkeiten, über Nähe und Distanz – und nicht zuletzt über Familien, die in der Gegenwart mehr und mehr von Gesellschaft, Wirtschaft, von Erwartungen und Entfremdungen zerrieben werden.

Susanne Gregor erzählt gekonnt, bläht nie auf, bleibt ganz eng an ihrem Personal und spielt den Ball stets zurück an mich als Leser. Beeindruckend!

Interview

Klaras Familie ist ziemlich genau das, was eine moderne Familie ausmacht, oder zumindest das Ideal davon. Man lebt in finanzieller Sicherheit, in einem grossen, stylischen Haus. Mutter und Vater verwirklichen sich. Es gibt ein gesundes Kind, dessen Betreuung auch einmal die Grossmutter übernimmt. Aufgaben sind aufgeteilt. Der Wagen rollt. Und trotzdem funktioniert das sehr anfällige Gefüge nur, wenn alle Zahnräder ineinander passen, wenn das Organisieren klappt. Wehe, wenn Unvorhergesehenes einen Knüppel ins Gefüge wirft. Werden wir nicht zusehens Opfer eines Organisationszwangs? Wo ist da die Freiheit, wenn alles funktionieren muss?

Ich denke, es ist das Symptom einer Wohlstandsgesellschaft, anzunehmen, dass man alles immer genau so haben kann, wie man es sich vorstellt und es nicht gut verträgt, wenn „Sand ins Getriebe kommt“. Die Karriere soll funktionieren, die Kinder sollen versorgt sein, das Bankkonto angenehm gefüllt sein, die Ehe funktionieren, etc.. Niederlagen, Einbrüche, Krankheiten, all das erzwingt ein gewisses Verlangsamen, ein Umstellen, ein Sich-einander-zuwenden, sich neu sortieren. Das ist ein Prozess, der viel von einem abverlangt und ich glaube, wir haben ein wenig verlernt, uns auf das Leben einzulassen, wie es in diesem Moment ist und haben zu fest unsere Pläne und sogenannten „Lebensentwürfe“ im Kopf. Wir sind es gewohnt zu nehmen und zu bekommen und das plötzliche Geben-müssen ist schwer.
Und vergessen wird auch nicht, dass in diesem Roman alles Schwere auf dem Rücken der Frauen ausgetragen wird. Vor allem auf dem Rücken von Paulina. Aber auch Klara hat es nicht leicht. Die Männer ziehen sich, wie auch in Realität leider allzu oft, aus der Verantwortung, gerade wenn es um die Pflege der Angehörigen geht. 

Schon auf den ersten Seiten des Romans stürzt Klara bei einer Wanderung tödlich. Die Ungewissheit darüber, wie zufällig dieser Unfall ist, begleitet einem tief in ihren Roman. War von Beginn weg klar, dass die Geschichte zu einer Katastrophe werden muss? Sie schildern den Knall und danach, wie die Lunte brannte.

Ja, die erste Szene war für mich von Anfang an klar. Ich wusste, dass der Roman mit diesem Unglück, diesem Tod beginnt und mit dieser Ungewissheit, die sich am Ende auflösen wird. Welche Gewissheit aber am Ende der Geschichte stehen wird, wusste ich selbst auch nicht. Erst schreibend ergab sich diese Auflösung, erst im letzten Drittel des Textes begann ich selbst zu begreifen, wie das Ende aussehen sollte.

Klara, die erfolgreiche Architektin, irgendwo in Österreich und Paulina, die ausgebildete slowakische Pflegefachfrau, die in Österreich viel mehr verdient als in ihrer Heimat. Wirtschaftliche Gründe, der Wunsch, Kinder sollen es dereinst besser haben, treiben Paulina über die Grenze und über Grenzen. Beide Frauen werden in ihren Pflichten, in den Anforderungen an sich selbst, ihrem Selbstverständnis zerrissen. Ein Zustand, an dem viele zu zerbrechen drohen. Familie und Arbeit. Ist das der Preis der Moderne? Der Preis, weil man von beidem möglichst viel bekommen will?

Ja, dieser Slogan, Frauen können alles machen und alles schaffen, geht oft mit der unausgesprochenen Anforderung einher, sie müssten alles gleichzeitig schaffen können. Die Gesellschaft fordert von Frauen, zu arbeiten als hätten sie keine Kinder, und sich um die Kinder zu kümmern, als hätten sie keine Arbeit. Und Frauen selbst haben auch zu hohe Ansprüche an sich, an denen sie eigentlich nur scheitern können. Aber wir müssen hier auch unterscheiden: Klaras Ansprüche sind zumindest zu einem gewissen Mass selbst gewählte Ansprüche, während Paulína durch eine finanzielle Notlage und ihre Situation als Alleinerzieherin sehr fremdbestimmt ist. 

Klaras Mutter braucht in ihrer fortschreitenden Demenz Unterstützung. Klara und Jacob nehmen sie zu sich nach Hause, was alles andere als selbstverständlich ist. Und trotzdem ist es der Beginn einer sich anbahnenden Katastrophe. Warum ist man oft viel zu lange blind, bis es kein Zurück mehr zu geben scheint?

Manchmal geht alles schief, trotz bester Intentionen. Man überschreitet hie und da seine eigene Grenze, lehnt sich hie und da zu weit aus dem Fenster und übersieht den Zeitpunkt, an dem es kein Zurück mehr gibt. Manchmal scheint ein offenes Gespräch zu schwierig, zu riskant, das haben wir alle schon einmal erlebt. Und in Klaras Fall – manchmal ist man, mit einer schwierigen Situation konfrontiert, egoistischer, als man dachte, als man ist. Ich denke, so geht es uns allen, wir könnten alle sowohl Paulína als auch Klara als auch Irene sein. Auch Gutmenschen machen Fehler.

Was mich an Ihrem Roman beeindruckt, ist die Erzählweise, die Komposition, wie sie Themen Schicht für Schicht übereinanderlegen und sie verweben. Sie wechseln Perspektiven, die Tonalität ihrer Erzählstimmen. Ich habe sogar das Gefühl, dass ich die Gefühlslage des Personals einem gewissen Farbspektrum zuordnen könnte. War das Schreiben des Manuskripts ein organischer Vorgang oder das Resultat strategischer Planung?

Es war ein unglaublich organischer Vorgang. Der Roman war ungewöhnlich schnell geschrieben, in kaum drei Monaten stand alles auf Papier. Ich schrieb Seite um Seite, Szene um Szene ohne grosse Planung. Manchmal dachte ich, ich weiss, wie es weitergeht, als ich mich zum Laptop setzte, und dann passierte schreibend doch etwas ganz anderes, was mich selbst überraschte. Ich wusste selbst nie genau, wohin dieser Roman ging, erst am Ende enthüllte sich mir alles – ein bisschen wie dem Leser selbst. Ich versuchte schreibend einfach zwischen den Personen hin- und herzuschwingen, zwischen dem Blick der Slowakin auf Österreich und dann dem Blick der Österreicherin auf ihr Umfeld – beides Blicke, die ich aus meiner eigenen Perspektive und Erfahrung gut kenne. Aus diesem Erfahrungsschatz schöpfte ich, weniger was den Plot betraf, als was die Erfahrungswelten der Charaktere anging. 

Susanne Gregor, geboren 1981 in Žilina (Tschechoslowakei), zog 1990 mit ihrer Familie nach Österreich und lebt heute in Wien. Für ihre literarischen Arbeiten wurde sie bereits mehrfach ausgezeichnet. Zuletzt erschienen die Romane «Das letzte rote Jahr» (2019), «Wir werden fliegen» (2023).

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Heribert Corn/Zsolnay

Romain Buffat „Grande-Fin“, die Brotsuppe

Ein kleiner, verschlammter Lieferwagen wird aus dem Wasser gezogen. Das Auto, mit dem der Vater zuletzt gefahren war. Das Auto am Tor zu seinem Verschwinden. Romain Buffat erzählt eine Reise in ein unbekanntes Land, in jenes eines verschwundenen Lebens. Kunstvoll und poetisch.

Mehr als zehn Jahre hat es gedauert, bis sich Jérôme aufmacht, seine Koordinaten zu ordnen, Versöhnung mit einem Vater zu suchen, der sich aus dem Staub machte, als er zu jung war, um es einfach hinzunehmen. Jérôme macht sich in einer wochenlangen Reise quer durch die Staaten auf die Suche nach einem Sound, einem Lebensgefühl, dem Lebensgefühl seines verschwundenen Vaters, der ein Leben lang einen Traum mit sich herumtrug. Jérôme fährt kleine mit der Bahn von Chicago nach San Francisco mit der Absicht unterwegs in Denver ein Konzert von Bruce Springsteen zu besuchen. Nicht weil es seine Musik wäre, aber jene mit der das Leben seines Vaters durchsetzt war.

Als sie noch eine Familie waren, Vater, Mutter, seine Schwester, gab es kleine Reisen, Ausflüge im klapprigen Auto seines Vaters. Autofahrten mit dem Sound von Bruce Springsteen, einem Lebensgefühl, dass der Vater aus seiner eigenen Jugend wie eine geschlossene Kapsel mit sich herumtrug, einen Einschluss, der in der Bedrohlichkeit seiner Gegenwart zu einem gleichsam Dauerschmerz und Dauertrost war.

Jérômes Vater war Drucker, lebte während Jahren mit der Angst, in Zeiten grosser Veränderungen im Druckereiwesen seine Arbeit zu verlieren. Ein Alp, der sich wie ein lang wirkendes Gift auf Ehe und Familie auswirkte, den Vater nicht nur seinem Sohn entfremdete, auch die Ehe zwischen den Eltern zersetzte. Erst schien sein Vater zu einem Monster zu werden, später wurde er zu einem im stiller werdenden Fremdkörper, bis zu seinem inszenierten Verschwinden.

Jede Reise hat einen Kern, den man sucht und unablässig umkreist. Hat man ihn dann gefunden, wird alles völlig offen und nicht voraussehbar.

Romain Buffat «Grande-Fin», Die Brotsuppe, 2025, aus dem Französischen von Yves Raeber, 204 Seiten, CHF ca. 28.00, ISBN 978-3-03867-102-2

Jérôme weiss, dass er sich nur von diesem Alp befreien kann, wenn er sich seinem Vater gegenüberstellt. Nicht unbedingt physisch, aber in seine Erinnerungen, seinem Denken. Jérôme rollt mit dem Zug durch jenes Land, dass für seinen Vater Sehnsuchtsort, Traumland war. Ein Lebensgefühl, das so gar nichts zu tun hatte mit der Enge seines eingepferchten Daseines eines bedrohten Ernährers. Ein Leben, in dem die Musik von Bruce Springsteen alles repräsentierte, was das Leben zwischen Druckerei und Familie zerquetschte. Aus dem es keinen Ausweg zu geben schien, erst recht nicht nach der Kündigung und drohender Arbeitslosigkeit.

Im Handschuhfach im Auto seines Vaters lag damals eine Musikkassette mit Springsteens Album „Nebraska“. Eine Aufnahme, die Jérôme später digitalisierte, mit dem Rauschen der Vergangenheit. Er nimmt sie mit auf seine Reise, eine Musik, die er immer und immer wieder hört, als spüre er darin den verlorenen Atem seines Vaters. Er ist nicht die Hoffnung, ihm irgendwann über den Weg zu laufen, ihn zu finden. Aber Jérôme schreibt, um jene Ordnung zu gewinnen, die man ihm schon als Kind nie schenken konnte. So weit weg er sich von seinem Dorf Grande-Fin entfernt, je näher kommt er seinem eignen Kern. Der Versuch einer Versöhnung mit einem Vater, der sich schon lange vor seinem Verschwinden von seiner Familie, seiner Frau und seinen Kindern entfernt hatte. Eine Versöhnung, die erst möglich wird, wenn man sich mit sich selbst versöhnt hat.

Interview

Vaterbücher gibt es zuhauf. Es ist, als müsse sich jede Generation immer und immer wieder mit jenen Männern auseinandersetzen, von denen man ins Leben „gestossen“ wurde. Erfrischend wird eine literarische Auseinandersetzung dann, wenn sie sich möglichst weit von allen Klischees entfernt. Erstaunlicherweise ist Ihr Buch auch eine Liebeserklärung, die Hinwendung des Erzählers an seinen Vater, mit dem er auch hätte abrechnen können. Zeichnete sich diese „Schreibrichtung“ schon von Beginn weg ab?

Ich war mir der Klischees bewusst, die Väterbücher enthalten, und das ist ein Topos, den ich bereits in Schumacher angesprochen habe. Jedes Mal versuche ich, Erzählweisen zu finden, um die Klischees zu umgehen. In Grande-Fin entschärfe ich die Erwartungen der Leserinnen und Leser schon auf den ersten Seiten, indem ich zeige, dass die Suche nach dem Vater nicht so sehr im Zentrum des Textes stehen wird. Von da an lautet die Frage nicht mehr so sehr: Wird Jérôme seinen Vater finden, sondern: Was sieht Jérôme, woran erinnert er sich, wie kommen diese Erinnerungen an die Oberfläche?

© Romain Buffat

Ich bin Vater. Einer meiner Söhne wurde vor wenigen Tagen zum ersten Mal Vater. Ich weiss sehr gut, wie gross die Ideale sind und wie umfassend die Angriffsfläche, um tausendfach das Falsche zu tun. Der Vater ihres Protagonisten war beim Start in seine Familie ganz sicher voller Ideale, davon überzeugt, als Vater nicht nur zu bestehen. Trotzdem liess er aus lauter Verzweiflung seine Familie, seine noch jungen Kinder im Stich, bestimmt im Wissen darum, dass er sein altes Leben nicht so einfach würde abstreifen können. Können sich Wunden tatsächlich schliessen?

Ich weiß nicht, ob Wunden heilen können, und ich glaube, dass Jérôme diese Reise nicht so sehr unternimmt, um Wunden zu heilen, sondern um zu versuchen zu verstehen, zu versuchen zu sehen, was sein Vater zum Zeitpunkt seines Verschwindens gesehen haben könnte. Er unternimmt eine Reise, in die Vereinigten Staaten, aber auch eine Reise in dem Sinne, dass er sich auf den letzten Seiten buchstäblich an die Stelle seines Vaters setzt. Es ist eher eine Reise des Verstehens als der Heilung. Mehr als die Frage der Heilung hat mich vielleicht die Frage nach einer Art Wiedersehen interessiert. Es ist kein Wiedersehen im eigentlichen Sinne, sondern eine Art Überlagerung von Erfahrungen und Sichtweisen: Jérôme hat gesehen, was sein Vater gesehen hat, er hat gehört, was sein Vater gehört hat. In der letzten Szene fand ich es interessant, dass sich Jérômes Gesten (zumindest imaginär) mit denen seines Vaters verbinden. Es ist mir egal, ob Jérôme seinem Vater etwas vorwirft (das müssen die Leser*innen interpretieren), mich interessiert, dass Jérôme sich irgendwann so sehr mit seinem Vater identifiziert, dass er vielleicht die Gründe verstehen kann, die seinen Vater dazu gebracht haben, alles aufzugeben – die Fiktion ist zu solchen Schwindel erregenden Höhen fähig.

Musik repräsentiert ein Lebensgefühl. Wenn ich höre, was ich in meiner Jugend hörte, kann ich mich zurückversetzen. Jérôme hört auf seiner vierwöchigen Reise durch die Staaten immer wieder die Musik seines Vaters, Bruce Springsteen. Wahrscheinlich hörten sie auch Bruce Springsteen während des Schreibens. Wenn ja, wäre das Buch ohne ein anderes geworden? Ich kenne AutorInnen, die jede Firm der sinnlichen Beeinflussung vermeiden.

Beim Schreiben dieses Romans habe ich viel Nebraska, Tunnel of Love, Darkness on the Edge of Town und The Ghost of Tom Joad von Bruce Springsteen gehört (und immer wieder gelesen), den ich übrigens seit 2010 fast obsessiv höre, wie jemand, der Harry Potter oder Faulkner immer wieder liest oder Twin Peaks immer wieder schaut und jedes Mal etwas Neues entdeckt. Ich hierarchisiere meine Einflüsse nicht, Springsteen ist für meine Arbeit genauso wichtig wie Annie Ernaux oder Claude Simon.

Die Springsteen-Songs, ihre Atmosphäre, die Geschichten, die sie erzählen, die Figur Springsteen als Sänger der Arbeiterklasse (aus der Jerômes Familie stammt) prägen den Text völlig. Aber damit Springsteen seinen Platz im Text hat, muss die Musik homodiegetisch sein, das heißt, sie muss Teil des fiktionalen Universums sein und nicht nur Hintergrundmusik für den Autor und die Leser*innen, die Musik muss ein materielles Element im Leben der Figuren sein – ich habe kein Interesse an den Playlists, die manche Autor*innen zu Beginn ihres Werks liefern, um uns zu sagen, in welcher Stimmung sie schreiben, das finde ich uninteressant, das ist, als würde man den Inhalt seines Frühstücks verraten. Für mich muss die Musik in den Text einfließen, wie im Kino, ich höre gerne, was die Figuren hören – Geigen, die uns sagen, wann wir traurig oder erleichtert sein sollen, mag ich weniger.

In Grande-Fin sind einige Szenen wie Neufassungen bestimmter Songs oder Springsteen-Lyrics, es gibt eine Reihe von Anspielungen. Zum Beispiel ist die fast existenzielle Scham, die Jérômes Vater empfindet, als er seine Familie in einem alten, kaputten Auto transportiert, eine Neuinterpretation des Songs Used Cars. Und die Szene, in der Jérômes Vater nachts in seiner Küche Angst hat, weil er gerade seinen Job verloren hat, findet sich in Springsteens Diskographie.

© Romain Buffat

Ihr Roman ist ein Vaterbuch, ein Familienroman, ein Eheroman, ein Railtripp, eine Liebesgeschichte. Sie waren selbst lange unterwegs, wie Jérôme quer durch Amerika. Für Jérômes Vater war es ein Sehnsuchtsort. Für Sie auch? Ein Leben in den unvereinigten Staaten zwischen „Trumpisten“ und allen anderen?

Ich glaube nicht, dass für mich Amerika ein Sehnsuchtort ist. Ich bin mir nicht sicher, ob ich dort lange überleben könnte. Aber dieses Land berührt mich, weil es uns alle in gewisser Weise berührt – man muss sich nur unsere Fassungslosigkeit ansehen, die wir bei jeder Ankündigung von Trump seit seiner Amtseinführung empfinden. Es dauerte nicht länger als einen Monat, bis sich Mitglieder der SVP Trump und seinem Wunsch, aus dem Pariser Abkommen auszusteigen, anschlossen. Als Schweizer wachen wir jeden Morgen auf und schauen nach Westen, ob wir nun fasziniert, verängstigt, desillusioniert oder wütend sind, das ist eine Tatsache. Wir warten immer auf die Reaktion der Amerikaner, weil wir Westler sind, und wir lieben ein bisschen wie die Amerikaner. Wir sind ein sehr liberales Land, unsere Lebensweise ist ökologisch nicht tragbar und wir hängen fast religiös am Privateigentum.

Amerika ist in meinem Roman sehr praktisch: Durch den Rückgriff auf den Vergrößerungsspiegel Amerika wird deutlicher, was Jérôme Vater aushält: den Rhythmus und die Erschöpfung bei der Arbeit, ein Produktionssystem, das Leben zerstört.

Meine literarische Arbeit seit Schumacher ist ein Versuch, eine ganze Reihe von Referenzen (Literatur, Kino, Musik) zu dekonstruieren. Nicht, dass ich alles loswerden möchte, was ich gelesen, gesehen und gehört habe, das amerikanisch war, aber ich dekonstruiere, um die Materie dessen zu beobachten, was einen Grossteil meiner Vorstellungen ausmacht. 

© Romain Buffat

Sie lehren am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Wie gross bei vielen die Bereitschaft ist, unsäglich viel Zeit und Energie für ihren Traum eines SchriftstellerInnenlebens zu investieren, weiss ich aus vielen Begegnungen. Auch von der Hoffnung, dereinst mit dem Schreiben den Lebensunterhalt bestreiten zu können, schwindelt mir. Dass Sie mit Ihrem ersten Roman bereits einen Preis zugesprochen bekamen und nun mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet werden, ist aussergewöhnlich. Meine etwas freche Frage: was machen Sie besser?

Es interessiert mich nicht so sehr, ob ich es besser mache als andere, und ich möchte diese Frage nicht in Form eines Wettbewerbs stellen. Abgesehen von einigen Freunden weiß ich nicht wirklich, wie andere arbeiten. Aber ich spreche gerne darüber, wie ich arbeite: Ich arbeite viel, und mit Arbeiten meine ich Lesen und Schreiben, und wenn ich andere Autor*innen lese, bin ich bereits in einer Art des Schreibens. 

Wenn ich schreibe, bin ich sehr anspruchsvoll und misstrauisch gegenüber meinen Texten. Ein erster Entwurf stellt mich nie zufrieden, und wenn ich mit einem ersten Entwurf zufrieden bin, ist das immer ein Zeichen dafür, dass etwas nicht stimmt, dass ich mich einer Form von Bequemlichkeit und Faulheit hingegeben habe.

Jeden Tag, wenn ich mit dem Schreiben beginne, nehme ich die Absätze, die ich am Vortag geschrieben habe, und schreibe sie um, korrigiere und passe sie an. So beginnt jeder Tag mit Korrekturlesen und Umschreiben, es ist für mich fast unmöglich, den Tag mit einem neuen Absatz zu beginnen. Irgendwann schreibe ich dann einen neuen Absatz, ohne mir des Übergangs vom Umschreiben zum Schreiben von etwas Neuem wirklich bewusst zu sein, das Neue ist immer mit dem Umschreiben verbunden. Ich kann nicht bei Null anfangen. Außerdem schreibe ich mit Landkarten vor Augen, mit Fotos, Filmszenen, Gegenständen, begleitet von Büchern, die mir wichtig sind.

Die Tatsache, dass Schreiben für mich fast immer Neu- und Umarbeiten bedeutet, führt dazu, dass meine Texte, wenn ich sie einem Verleger gebe, unzählige Male überarbeitet wurden, bis die erste Version nicht mehr zu hören ist. Für mich ist es immer eine fünfte oder sechste Version.

Romain Buffat, 1989 in Yverdon-les-Bains geboren, lebt in Lausanne. Er gehört zum »collectif d’auteur·e·s Hétérotrophes«. Sein erster Roman «Schumacher» wurde im französischen Original 2018 mit dem Prix littéraire chênois und 2019 mit dem Terra Nova Preis der schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet.

Romain Buffet gewinnt den Schweizer Literaturpreis 2025 für «Grande-Fin». Aus der Jurybegründung: In einer feinen, rhythmischen Sprache schlängelt sich der Roman durch die Zeiten und die Landschaften und zeichnet dabei das Porträt einer Arbeiterfamilie. Jérômes Reise ermöglicht Erinnerungsarbeit, aber vor allem auch einen Neuanfang für die Protagonistinnen und Protagonisten. Ein feinfühliger Railtrip, der die Leserinnen und Leser mitzunehmen weiss.

Yves Raeber ist Schauspieler, Regisseur und literarischer Übersetzer von Theaterstücken und Prosa. Für den verlag die brotsuppe hat er «Ruhe sanft» von Thomas Sandoz, «Allegra» von Philippe Rahmy sowie «Ohne Komma» von Myriam Wahli vom Französischen ins Deutsche übersetzt. Für die Übersetzung von «Die Panzerung» (Béton Armé) von Philippe Rahmy wurde ihm 2019 von der Stadt Zürich eine literarische Auszeichnung verliehen.

Alexandra von Arx «Das mit uns», Zytglogge

Die einen tun alles, um einmal aus der Masse der Anonymität aufzutauchen, vergessen alle Scham, um ein Stück Berühmtheit zu gewinnen, koste es, was es wolle. Andere leben ein Leben lang in den Mühlen der Pflichterfüllung und Selbstvergessenheit, um resümierend festzustellen, dass da nichts geblieben ist.

Iris ist seit kurzem pensioniert und hat genügend Zeit zu resümieren, auf das Vergangene zurückzuschauen. Iris ist nicht unzufrieden mit ihrem Leben, war eingebettet in einen Beruf, eine Aufgabe, auch wenn das mit der Liebe, mit einer Familie nicht reichte. Sie geniesst den Ruhestand, weil er ihr endlich die Möglichkeit gibt auszubrechen, zaghaft andere Wege zu gehen. Gleichzeitig merkt sie, dass der leichte Weg, Kontakte zu knüpfen mit dem Ausscheiden aus einem Arbeitsprozess, einem Arbeitsumfeld schwieriger geworden ist. Eine Zeit der Neuorientierung.

Bei einem spontanen Besuch der örtlichen Buchhandlung findet sie im Regal der einheimischen AutorInnen ein Buch mit dem Titel „Auf Umwegen zum Erfolg“ von Silvan J. Mueller. Wäre der Name des Autors nicht gewesen, hätte der Titel sie nicht zum Kauf animiert. Aber Silvan J. Mueller. Sie hatte den Mann gekannt. Er war über viele Jahre ihr Geliebter gewesen. Er, verheiratet, Vater einer Familie, mitterweile ein alter Mann, über achtzig, weit weg von ihrer Gegenwart. Trotzdem war er damals ihre Hoffnung, eine Tür, ein Versprechen, dem er aber eines Tages mit einem Brief ein Ende setzte, er habe sich „das mit uns“ lange überlegt und sei zum Schluss gekommen, die Beziehung habe keine Zukunft.

Iris trägt das Buch mit nach Hause, obwohl sie schon in der Buchhandlung am liebsten zu lesen begonnen hätte. Silvan, damals noch Silvan Müller, war ihr Liebesglück, ein grosses Stück ihres Lebens. Trotzdem blieb sie der Seitensprung, die zweite Wahl, jenes Glück, das man einfach abstreifen konnte. Gleichzeitig weiss Iris, dass vieles in Silvans Leben nicht so gelaufen wäre, wie es lief, wäre sie nicht Teil seines Lebens gewesen. Umso schockierender die Feststellung, dass sie mit keinem Wort in der Biographie dieses Mannes vorkommt, nicht einmal die Auswirkungen ihrer Liebe. Iris muss feststellen, dass sie eine Leerstelle ist, jemand, auf den man ganz leicht verzichten kann, der es nicht wert ist, erwähnt zu werden, nicht einmal verschlüsselt.

Alexandra von Arx «Das mit uns», Zytglogge, 2025, 152 Seiten, CHF ca. 28.00, ISBN 978-3-7296-5181-4

Mit einem Mal wird Iris in die Vergangenheit zurückkatapultiert, in ein grosses Stück Leben, das sie längst abgeschlossen und verdaut glaubte. So nichtig ihre Rolle im niedergeschriebenen Leben ihrer einstmaligen grossen Liebe, so gross der Schmerz darüber, dass sie scheinbar spurlos an jenem Leben vorbeigegangen ist, obwohl sie weiss, dass dem nicht so ist.
Sie liest das Buch ein zweites Mal mit der Absicht, das Geschriebene zu korrigieren, zu ergänzen, bis mehr und mehr klar wird, dass Iris es bei den schriftlichen Korrekturen nicht sein lassen kann. Aber nicht nur mit den Korrekturen in diesem Buch, in der Sicht auf die Vergangenheit. Auch Korrekturen in ihrem Leben jetzt. Einst hatte sie den Wunsch zu studieren, stand „Studium“ ganz oben auf ihrer Prioritätenliste. Aber das Leben korrigierte diese Liste, schob ihre Wünsche immer weiter nach hinten.

Mit einem Mal beginnt sich Iris Fragen zu stellen, die sie sich nie zu stellen traute oder sie ihr schon vor der Antwort irrelevant schienen. Fragen, die mit einem Mal ihr Selbstverständnios erschüttern. Silvan pulverisierte Pläne. Und irgendwann schien sie bloss noch zu funktionieren, erst recht, als sich Silvan “für die Familie“, gegen sie entschied.

Wir alle frisieren unsere Vergangenheit, korrigieren und beschönigen, dramatisieren und verharmlosen. Jede Sicht auf die Vergangenheit ist eine Zensur. Das eine wird zum Leuchten gebracht, anderes deckt man mit einer schweren, lichtundurchlässigen Decke zu. Iris macht die Missachtung, das Leugnen des einen zum Motor ihrer selbst. Iris blättert in ihrem eigenen Leben zurück und macht das Erinnern zu einer Selbstvergewisserung.

Alexandra von Arx beschreibt sechs Tage. Eine Woche des Um- und Aufbruchs. Eine Neuschöpfungsgeschichte. Alexandra von Arx ist eine Meisterin der feinen Töne, «Das mit uns“ die Kampfschrift einer Auferstehung.

Interview

Ein erstaunliches Buch, nur schon die Ausgangslage. War es doch über Jahrhunderte klar, dass die Frau kaum je aus dem Schatten des Gatten, geschweige denn eine Schattenfrau aus jenem des Geliebten heraustreten konnte. Wie bist du zum Stoff, zur Idee gekommen?
Die Idee entstand beim Lektorieren einer Biografie. Darin ging es um zwei Brüder, die vor allem von ihrem beruflichen Werdegang erzählten. Frauen kamen praktisch nicht vor, auch die Ehefrauen kaum. Das beschäftigte mich sehr. Ich stellte mir die Empörung von Frauen vor, die in einer Männerbiografie eine wichtige Rolle zu spielen glauben, aber letztlich kaum Erwähnung finden. Diese Empörung wollte ich literarisch verarbeiten. Mit der Wahl einer Protagonistin, die in einer Biografie aus naheliegenden Gründen nicht erwähnt werden kann, trieb ich die Thematik auf die Spitze.

Iris ist pensioniert, im Unruhestand. Wie so viele, die in einen Alltag eingespannt sind, die erste richtige Chance der Besinnung, der Neuorientierung. Das Buch, das sie zuerst in eine tiefe Krise stürzen lässt, wird zu einem Türöffner. Viel mehr als eine Kreuzfahrt in der Karibik oder ein Survivalkurs in den Wäldern des Mittellandes. Ent-Täuschung wörtlich genommen?
Die Autobiografie von Silvan hat tatsächlich eine gewisse Kraft. Sie wirft Iris zurück in die Vergangenheit, an einen wunden Punkt in ihrer eigenen Biografie. Vielleicht ist der Ruhestand der richtige Moment, um sich mit einem Thema auseinanderzusetzen, das man im Berufsalltag erfolgreich verdrängt hatte. Dazu braucht es weder eine Kreuzfahrt noch einen Survivalkurs. Bücher sind kraftvoll genug.

Silvan ist über 80 und schreibt ein Buch über sein Leben, zumindest über den Teil, den er als sein Leben sehen will. Ist das nicht ein ganz natürlicher Vorgang? Beschönigen nicht alle ihre Vergangenheit, permanent, selbst dann, wenn wir vorgeben, ehrlich zu sein?
Der Rückblick auf das eigene Leben ist nie objektiv, sondern sagt viel darüber aus, wie wir uns wahrnehmen oder wie wir wahrgenommen werden möchten. Die Auswahl der Ereignisse, die man erwähnt, und die Art, wie sie miteinander verknüpft werden, enthalten eine Wertung. Diese muss nicht unbedingt beschönigend sein.

Iris versucht zuerst die Geschichte, das Buch zu korrigieren, ihre Sicht zu rechtfertigen. Aber das Buch ist geschrieben, die Markierung gesetzt. Ist dein Buch die Geschichte einer Emanzipation, nicht zuletzt die Aufforderung zur Emanzipation, unabhängig vom Geschlecht?
Iris tritt aus der jahrzehntelangen Unsichtbarkeit heraus. Das ist ein grosser Schritt. Ob er als Emanzipation zu bezeichnen ist, weiss ich nicht.

„Alles ist eine Frage der Perspektive“, könnte man lakonisch kommentieren. Silvans Wahrheit ist nicht jene von Iris. Wir leben unter dem Zwang, stets alles in Schubladen zu ordnen. In gut und böse, in richtig und falsch, wahr und verdreht. Iris wird erst frei, als sie den Zwang ablegen kann und ihren Blick in eine offene Perspektive richten kann. Ist Schreiben nicht genau diese Befreiung?
Beim Schreiben kann ich in die Rolle einer anderen Person schlüpfen und dadurch die Perspektive wechseln. Das fasziniert mich. In der Konstellation von «Das mit uns» wäre vielleicht auch die Figur von Verena interessant. Denkbar ist, dass sie im bisherigen Narrativ unterschätzt wurde.

Alexandra von Arx, geboren 1972 in Olten, ist Juristin, Übersetzerin und internationale Wahlbeobachterin. Sie wurde mit zwei Förderpreisen für Literatur und mehreren Aufenthaltsstipendien ausgezeichnet. Ihre beiden ersten Romane sind 2020 und 2021 im Knapp Verlag erschienen, ihre Aufzeichnungen als Hüttenmitarbeiterin 2020 im orte Verlag.

«Ein Hauch Pink», Rezension mit Interview

«Im Dorthier», Gasttext auf der Plattform Gegenzauber

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Alexandra von Arx

Lukas Maisel «Wie ein Mann nichts tat und so die Welt rettete», Rowohlt

Am 26. September 1983 schrammte die Welt einem nuklearen Desaster vorbei. Nur weil Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow, ein sowjetischer Offizier in der Kommandozentrale der Satellitenüberwachung, den scheinbaren Anflug nuklearer Interkontinentalraketen als Fehlalarm interpretierte, verhinderte der Mann den Tod von Millionen.

Alles an dieser Erzählung ist wahr. Was Lukas Maisel an Fiktion beifügt, ist das, was im Innenleben jenes Offiziers geschah, genau das, was uns damals rettete, denn wäre Stanislaw Petrow der eigenständigen Entscheidung nicht fähig gewesen, hätte nichts einen nuklearen Krieg aufhalten können. Nur weil dieser Mann damals in den 17 Minuten zwischen Alarmierung durch ein empfindliches und anfälliges Raketenabwehrsystem und dem Moment der Entwarnung zum eigenen Denken fähig war, durch logisches Entschlüsseln einer falalen Kette von scheinbar gesicherten Informationen Panik relativierte und Vernunft über die Angst siegen liess, blieben sowjetische Nuklearraketen am Boden.

Weil sich das damalige System keine Blösse geben wollte, weil die Sowjets auf jeden Fall ihr Gesicht wahren wollten, das Gesicht der perfekten Abschreckung, wurde Offizier Stanislaw Petrow weder befördert noch bestraft. Man verschwieg den Zwischenfall genauso systematisch wie die Ursachen, die dazu führten; Sonnenreflexionen auf Wolken. Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, in Petrows letzten Jahren in Moskau, erfuhr der ausgemusterte Offizier Ehrungen im In- und Ausland. Nach der Kontaktaufnahme eines deutschen Unternehmers noch zu Lebzeiten Petrows wurde in Oberhausen, dem Heimatort jenes Geschäftsmannes, zum zweiten Todestag des Retters eine Gedenktafel eingeweiht: „Wäre er den Computermeldungen gefolgt, wäre der sofortige atomare Gegenschlag erfolgt und damit der Tod von Millionen Menschen in den USA, in Europa und Russland die Folge gewesen.“

Lukas Maisel «Wei ein Mann nichts tat und so die Welt rettete», Rowohlt, 2025, 128 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-498-00730-0

Lukas Maisel konzentriert sich in seiner Erzählung auf diesen einen Tag, diese 17 Minuten und die drei Tage, die Stanislaw Petrow in der Folge noch in der Kommandozentrale ausharren musste, bis sich die Wogen nach dem Zwischenfall glätteten. Lukas Maisel fokussiert sich auf einen Mann, der in diesen 17 Minuten ganz auf sich gestellt war, der wusste, dass jede Entscheidung, die er fällen würde, existenzielle Folgen nach sich ziehen würde, dass das, was nach der Entwarnung die Schwächen des Systems aufzeigte, nie und nimmer an die Öffentlichkeit dringen durfte, nicht einmal zur Erzählung in seiner Familie. Stanislaw Petrow wurde zum Bauernopfer einer Beinahekatastrophe. 

Lukas Maisel beschreibt die klaustrophobische Situation in jenem Bunker, in dem während ewig lange scheinender Minuten das Schicksal von Millionen in der Schwebe stand, in der jede weitere Reaktion auf die Interpretation eines einzelnen Mannes reduziert war, alles in einem Schrecken ohne Ende hätte ausarten können. Die Geschichte eines Mannes an einem geheimen Ort, einer geheimen Stadt. Die Geschichte eines Mannes, der eigentlich bloss für einen kranken Kollegen eingesprungen war, eine Geschichte, die ohne die klaren Gedanken eines Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow mit Sicherheit ganz anders geendet hätte.

„Wie ein Mann nichts tat und so die Welt rettete“ ist zum einen ein Denkmal für einen Mann, der sich in den Zwängen von Macht und Hierarchie von Vernunft leiten liess, etwas, was in der Gegenwart nicht minder wichtig wäre.  Zum andern ist die Geschichte ein Exempel dafür, das Zurückhaltung, ein Zögern unendliches Leid verhindern kann, erst recht in einer Zeit, in der „Hauruckgehabe“ Politik wird und in der Wirtschaft zur Handlungsmaxime.

Lukas Maisels kleines literarisches Husarenstück liest sich in einem Zug, hoch spannend und mit dem Bewusstsein, wie oft das Glück des Menschen an einem seidenen Faden hängt. Unbedingt lesenswert!

Interview

Der Stoff für ein Buch lag offensichtlich jahrzehntelang da. Erstaunlich, dass die Geschichte im deutschsprachigen Raum nicht schon viel früher literarisch umgesetzt wurde. Was entschied, dass Sie einen so konzentrierten Roman daraus schufen und nicht mit grösserer Geste erzählten, zum Beispiel aus der Sicht des alt gewordenen Stanislaw Petrow?
Ich weiss nicht, ob man sich frei aussuchen kann, wie man einen Stoff erzählt. Beim Schreiben folge ich meinem Instinkt, es fühlte sich einfach richtig an, den Stoff in dieser Kürze zu erzählen, ihn nicht unnötig zu strecken. Ich kann im Nachhinein vermeintlich rationale Gründe suchen, warum ich das so und nicht anders geschrieben habe, aber es bleibt Instinkt. 

Der Mann schleppte das Geheimnis jenes 26. Septembers 1983 bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion als Staatageheimnis mit sich herum. Es ist anzunehmen, dass er nicht einmal seiner Frau von den tatsächlichen Ereignissen erzählen konnte. Die Dramaturgie dieser 17 Minuten in diesem Kommandobunker ist nicht zu überbieten, genauso die Dramaturgie in Stanislaw Petrows Innenleben. Er wusste haargenau, was die Folgen einer falschen Entscheidung sein werden. In all den Kriegen, ob in der Ukraine, im Kongo oder im Sudan. Es ist nur zu hoffen, dass Menschen sich in kollektiv lebensbedrohlichen Situationen nicht instrumentalisieren lassen. Ist das letztlich nicht ein frommer Wunsch?
Natürlich, aber was bleibt uns denn anderes übrig als die Hoffnung? Am Ende wird die Geschichte von den Entscheidungen einzelner Menschen vorangetrieben, die Frage ist, wieviel Macht diese Menschen besitzen. Stanislaw Petrow wollte keine Macht haben, sie fiel ihm zu. Glücklicherweise konnte er klar sehen, sein Blick war nicht von einer Ideologie verzerrt. Er war ein Mann der Wissenschaft und vertraute ihren Methoden, damit war er sicherlich ein schlechter Kommunist.

Sie beschreiben sehr intensiv, was in Stanislaw Petrow passiert, jener Teil der Geschichte, die Fiktion braucht. Ich fiebere mit ihm. Ich spüre, wie sich die Minuten zu Unendlichkeiten ausdehnen. Ich spüre den Kampf, den der Mann in sich austrägt, wie sich alles auf diesen einen Moment einbrennt. Ich fühle seine Verzweiflung, den unsäglichen Druck, den realen Alp. Der Titel ihres Buches meint nicht, dass Stanislaw Petrow nichts tat. Die Weigerung, das Abwarten, der Zweifel, das Nachdenken ist viel mehr als Nichtstun. Was bedeutet die Geschichte von Stanislaw Petrow für sie ganz persönlich?
Wahrscheinlich sprach mich der Stoff an, weil ich mich fragte, ob ich das könnte; abwarten wie Petrow. Ich und die meisten Menschen wollen durch ihre Handlungen möglichst rasch ein Ergebnis herbeiführen, wir halten die Ungewissheit nicht aus. Auch Petrow hält sie fast nicht aus, zum Glück dauert sie nur siebzehn Minuten, die ihm aber wie eine Ewigkeit vorkommen.

Es war nicht das einzige Mal, dass die Welt an einem kriegerischen Nuklearschlag vorbeischrammte. Zwei Jahrzehnte zuvor hätte es während der Kubakrise nicht viel mehr gebraucht, um den Konflikt atomar eskalien zu lassen. Heute wird am russischen Fernsehen ganz offen und hemmungslos mit der Atombombe gedroht, allen voran der TV-Moderator, Scharfmacher und Putin-Propagandist Wladimir Solowjow. Atomsprengköpfe dienen nicht mehr der Abschreckung, sondern der ganz direkten Drohung. Macht ihnen das nicht Angst?
Mein Vater war ein Kind, als die Kubakrise passierte, er war noch zu klein, um das verstandesmässig begreifen zu können, aber die allgegenwärtige Furcht hat er gespürt. Jedenfalls erzählte er, dass damals viele glaubten, der Dritte Weltkrieg stünde bevor. Die stationierten Mittelstreckenraketen waren eine unmissverständliche Drohung, heutzutage ist es schwieriger einzuschätzen. Würde Putin für seine Ziele wirklich Atomwaffen einsetzen? Er ist nicht durchgeknallt, er hat bestimmte Ziele und kalkuliert mit Angst. Ich würde ihm den Besuch des Museums in Hiroshima empfehlen, dort sieht man, durch welche Hölle die Menschen damals gegangen sind.

Nach dem Tod seiner Frau 1997 und dem Auszug seiner Kinder lebte Stanislaw Petrow mit einer Rente von 1000 Rubel. Ein Betrag mit dem man sich in einem schicken Moskauer Café gerade mal 10 Tassen Kaffee hätte leisten können. Ist das das Wesen eines wahren Helden? Dass er das, was er tut nicht der Heldentat wegen tut?
Es würde wohl keine Helden geben, wenn sie nach Anerkennung von aussen streben würden, sie haben innere Motive. Stanislaw Petrow sah sich nicht als Held, er habe einfach seine Arbeit erledigt, betonte er immer wieder. Das ist ja ein Topos, der Held, der einfach nur tut, was er für das Richtige hält.

Lesung im Literaturhaus Thurgau in Gottlieben

Lukas Maisel, geboren 1987 in Zürich, machte eine Lehre zum Drucker, bevor er am Literaturinstitut in Biel studierte. 2020 debütierte er mit seinem Roman «Buch der geträumten Inseln«, für das er einen Werkbeitrag des Kantons Aargau erhielt sowie mit dem Förderpreis des Kantons Solothurn und dem Terra-nova-Preis der Schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet wurde. 2021 las er bei den 45. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt, 2022 erschien seine von der Kritik gefeierte Novelle «Tanners Erde«.

Erzählung «Ewiger Wanderer» auf der Plattform Gegenzauber

Beitragsbild © Christina Brun