Wolfram Schneider-Lastin (Hrsg.) «Fragen hätte ich noch. Geschichten von unseren Grosseltern», Rotpunktverlag

30 Autorinnen und Autoren aus der Schweiz, Deutschland und Österreich erzählen von ihren Grosseltern, Geschichten bis nach Italien, Frankreich, Polen, Tschechien, Ungarn, der Ukraine, Israel, Pakistan und der DDR. Geschichten von Berührten, Geschichten, die berühren.

Auf einem meiner Regale steht ein eingerahmtes, sepiafarbenes Foto. Ein Mann in Anzug und Kravatte sitzt in einem Korbstuhl neben einem Tischchen mit Spitzendecke. Mein Grossvater. Er war Tischler, Schreiner. Auf dem Foto hatte er etwas zu repräsentieren. Dazu gehören wohl auch die Bücher auf der Ablage unter dem Tischchen und das offene Buch mit Stift auf dem weissen Tischtuch. Mein Grossvater starb, als ich ein Jahr alt war. Meine Mutter erzählt, er habe mich, schon gezeichnet von seiner Krankheit, noch in Händen gehalten. Er wurde nicht alt, aber von meinem Grossvater gibt er Zeugnisse, die noch immer an den Wänden im Haus meiner Mutter und meiner Tante hängen; Aquarelle und Ölbilder, von naturalistisch bis abstrakt. Mein Grossvater war begabt und hätte sich wohl viel lieber als Künstler gesehen, statt als Handwerker, der nur mit grösster Anstrengung dem nachgehen konnte, was seiner Leidenschaft entsprach. Aus Geldknappheit und weil meine Grossmutter wohl alles andere als glücklich darüber war, dass ihr Gemahl Geld für Ölfarben ausgab, bemalte er seine Leinwände gar beidseitig, sodass man sich später, als man dann doch das eine oder andere Bild einrahmte, sich stets für das eine oder andere entscheiden musste, im Wissen darum, dass das verborgene Bild Schaden nehmen würde. Die Begabung meines Grossvaters setzte sich in meiner Mutter, die auch heute noch mit über achtzig malt, meinem Bruder, der in Zürich seit Jahrzehnten ein Atelier führt und meinen Kindern fort. Eine Begabung, die mich stets in die Nähe der Kunst führte, gepaart mit dem ewigen Zweifel, der mit Sicherheit auch meinen Grossvater begleitete, denn nach seinem Tod sah man an den Wänden meiner zur Witwe gewordenen und wieder verheirateten Grossmutter nie ein gemaltes Bild meines Grossvaters. 

«Schon lange wollte ich meine Beziehung zu meinem Grossvater in einer Erzählung festhalten. Mir war klar, dass mir das einiges abfordern würde. Vielleicht hatte ich sie deshalb noch nicht zu Papier gebracht, als die Einladung mit der Frage kam, ob ich einen Text beisteuern möchte für ein Grosseltern-Buch. Ja, natürlich, das war mein erster Gedanke. Und doch zögerte ich ein paar Wochen lang, bevor ich zusagen konnte, denn ich wusste: Über meinen Grossvater schreiben bedeutet über mich schreiben. Und das heisst: rausrücken mit dem, was ich für sehr privat halte. Das war und ist schwierig für mich, denn ich leide durchaus nicht unter Bekenntiszwängen. Nun bin ich aber überglücklich, es gewagt zu haben, über diese Geschichte entspannen sich neue Beziehungen, auch in der Familie, ich stehe neu mit zwei Cousins in intensivem Kontakt, ich erfuhr so viel mehr über meinen Grossvater und meine Herkunft. Die Geschichte ist noch lange nicht auserzählt. Und nicht zuletzt: Die Geschichte meines Grossvaters verbindet sich mit allen Geschichten und mit allen Grosseltern im Buch. Und auch die Autorinnen und Autoren haben – so behaupte ich – einen neuen und vertieften Zugang zueinander. Das hat grosse poetische Kraft.» Romana Ganzoni

Wolfram Schneider-Lastin «Fragen hätte ich noch. Geschichten von unseren Großeltern», Rotpunkt, 2024, 256 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-03973-039-1

Vielleicht ist genau das die grosse Tür, die sich auftut, wenn man die Geschichtensammlung „Fragen hätte ich noch“ liest. Das Buch lädt ein, sich mit den eigenen Grosseltern zu befassen, sich zu fragen, was denn an Erinnerungen, an Wissen, an Persönlichem noch da ist. Wer sich nicht aktiv mit seinem Stammbaum, seiner Herkunft befasst, weiss vielleicht nur wenig, vor allem von dem, was Fotografien nicht erzählen. Urgrosselten und ihre Vorfahren verschwinden im Vergessen. So wie die meisten von uns in 100 Jahren vergessen sein werden. Meine Mutter ist weit über achzig. Wenn ich sie noch einmal fragen möchte, dann wäre es jetzt an der Zeit. Wer war meine Grossmutter? Warum habe ich von ihr ein derart nüchternes Bild? Warum empfinde ich meinem Grossvater gegenüber derart viel Wärme und Sympathie, obwohl ich ihn nie wirklich erleben konnte.

«Einige der Geschichten im Buch rufen in Erinnerung, dass Europa in der Weltgeschichte eine ebenso verdienstvolle wie zerstörerische Rolle spielt. Von hier gingen ja auch vielfältige Brutalitäten aus, die sich vor, während und nach den beiden Weltkriegen zugetragen haben, etwa die Gründung der Staaten Israel, Indien und Pakistan, oder die Zerstückelung ganzer Kontinente. Die meisten meiner Vorfahren – aber nicht alle von ihnen – entkamen der Vergewaltigung, Enteignung und Entwurzelung durch die europäischen Kolonialmächte. Durch eine postkoloniale Fügung des Schicksals bin ich in der Schweiz aufgewachsen: Mein Vater war Bankier.» Waseem Hussein

Wolfram Schneider-Lastim, der Herausgeber und Mitverfasser des Buches, schildert in seinem knappen Vorwort die Entstehungsgeschichte des Buches, wie er während der Pandemie begann, die Geschichte seiner Grossväter aufzuschreiben, sie an Freunde weitergab und Lektüre und Reaktionen eine wahre Welle auslösten. Entstanden ist eine erstaunliche Sammlung von Geschichten, von Frauen und Männern im 20. Jahrhundert, die sich ganz verschieden durch ein Jahrhundert der Kriege und Umwälzungen stemmten. Geschichten von Liebe und Hass, von Ernüchterung und Enttäuschungen, vom grossen Schweigen und dunklen Geheimnissen, von tiefer Verbundenheit und schmerzhaftem Ekel.

«Dass sich meine Grosseltern krumm und bucklig gearbeitet haben, dass vor lauter Arbeit kein Denken möglich war, das kam nochmals stärker durch. Und ist damit übertragbar auf Menschen, die eben am Rand und «unten» wie blöd und hart arbeiten, dass nichts anderes mehr möglich ist. (s.a. «Jahrhundertsommer»). Und – das ist mir im Vergleich mit den anderen Geschichten aufgefallen – dass es von meiner Oma nur überhaupt zwei Fotos gibt, denn niemand hatte einen Fotoapparat und auch keine Zeit für so etwas, dass sie auch kein Auto hatten, vor dem man sich hätte fotografieren lassen können, dass sie auch nie in Urlaub fahren konnten, von dem es Fotos hätte geben können, dass sie arm waren, ohne dass sie je von sich gedacht hatten, arm zu sein. (Und meine andere Seite der Familie war noch sehr viel ärmer.) D.h. die Klassenfrage, die Frage nach der Herkunft, drängt bei jedem weiteren Schreiben und im Alter immer stärker durch.» Alice Grünfelder

Ein wunderbares Buch, eine Einladung, ein Zeitdokument.

Wolfram Schneider-Lastin, geboren 1951 in Schwäbisch Gmünd, studierte Schauspiel, Germanistik, Geschichte, Altphilologie und Kunstgeschichte an den Hochschulen Stuttgart, Tübingen, Wien und Rom. Seit 1988 lebt er in der Schweiz, wo er seine wissenschaftliche Karriere – nach der Promotion über Johann von Staupitz – an verschiedenen Universitäten und als Redakteur der Zeitschrift Librarium fortsetzte. Als Schauspieler hat er sich vor allem mit literarischen Lesungen einen Namen gemacht.

Die Autorinnen und Autoren: Fabio Andina (CH), Esther Banz (CH), Nelio Biedermann (CH), Sabine Bierich (D/CH), Zora del Buono (CH/D), Alex Capus (CH), Verena Dolovai (A), Daniela Engist (D), Oded Fluss (ISR/CH), Romana Ganzoni (CH), Roswitha Gassmann (CH), Alice Grünfelder (D/CH), Gottfried Hornberger (D), Waseem Hussain (PAK/CH), Markus Knapp (D), Andreas Kossert (D), Martin Kunz (CH), Hanspeter Müller-Drossaart (CH), Christa Prameshuber (A/CH), Helmut Puff (D/USA), Klemens Renoldner (A), Christian Ruch (D/CH), Ariela Sarbacher (CH), Thomas Sarbacher (D/CH), Herrad Schenk (D), Gerrit Schneider-Lastin (DDR/CH), Wolfram Schneider-Lastin (D/CH), André Seidenberg (CH), Ruth Werfel (CH), Anke Winter (D/CH)

«Ich wundere mich über die historische Amnesie in Jurys, Feuilletons, sogenannten Kulturkreisen, wie wenig von diesem Wissen vorhanden ist, wie wenig diese Leute in diesen Bubbles selbst von anderen Kreisen wissen, in denen sie sich nicht bewegen, wie viel für «alt» gehalten wird und noch lange nicht überwunden ist – und wie viel Kraft es kostet, diese Vergangenheit und auch Krisen anderswo wieder und wieder gegen den Mainstream in Erinnerung zu rufen.» Alice Grünfelder

Illustration © Hannes Binder

Reinhard Kaiser-Mühlecker «Brennende Felder», S. Fischer – Österreichischer Buchpreisträger 2024

Bin ich der, der ich bin? Richte ich mich bloss in einem Leben ein? Wie viel konstruiere ich von dem, was ich meine Wahrheit nenne? In „Brennende Felder“ brennt es gleich mehrfach. Reinhard Kaiser-Mühlecker schont mich in seinem neusten Roman nicht, zuletzt in meinem Wunsch, mich identivizieren zu wollen. Sein Meisterwerk flirrt in seiner aufgeladenen Hitze und der gekonnt spröden Annäherung an sein Personal.

Reinhard Kaiser-Mühlecker ist Bauer und Schriftsteller. Aber so sehr er seinen letzten Teil einer eigentlichen Trilogie („Fremde Seele, dunkler Wald“ (2016) und „Wilderer“ (2022), ohne dass man sie für dieses Buch gelesen haben müsste) in bäuerlicher Umgebung spielen lässt, so sehr konfrontiert mich der Autor mit urmenschlichen Schwächen, sei es in der Zeichnung seiner Protagonisten oder mit dem, was der Autor während des Lesens mit mir geschehen lässt. 

Nichts an „Brennende Felder“ beschreibt ländliche Idylle. Da brennen die Felder wegen der sommerlichen Gluthitze wirklich. Und überall lauert der Tod. Sei es ein Bauer, der in eine Futtermaschine gerät, eine Bäuerin, die den Strick nimmt. Das Leben auf dem Hof war und ist ein K(r)ampf, der so rein gar nichts mit Landliebe zu tun hat.

Reinhold Kaiser-Mühlecker «Brennende Felder», S. Fischer, 2024, 368 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-10-397570-3

Luisa kommt zurück in dieses Dorf, in dem sie aufgewachsen ist, wo ihr Bruder noch immer den elterlichen Hof über Wasser zu halten versucht und der andere Bruder an seinen psychischen Verletzungen leidet. Luisas Vater spielte nie eine Rolle und ihr Stiefvater, von dem sie eine Kindheit lang glaubte, er wäre ihr Vater, erklärt ihr nach seinem Outing seine Liebe, steht Jahre später vor der Tür und beginnt mit ihr das, was damals unmöglich war. Auch ihre Mutter lebt noch im Dorf. Man schaut sich aber bei zufälligen Begegnungen nicht einmal in die Augen. Abgestorbenes Leben überall. Und überall kann es zu brennen beginnen.

Nachdem ihr Stiefvater bei einem nächtlichen Streifzug ums Leben kommt, Ermittlungen aber gar nie richtig in Fahrt kommen, lernt Luisa Ferdinand kennen, von dem sie annehmen muss, dass er der Bauer ist, bei dessen Konfrontation Bob, der Stiefvater, ums Leben kam. Aber statt diesen Ferdinand zur Rede zu stellen, richtet sich Luisa auf Ferdinands Hof häuslich ein und kümmert sich um Anton, den autistischen Sohn des Bauern. Eine Art Wiedergutmachungsversuch, denn Luisa hat selbst zwei Kinder aus zwei gescheiterten Ehen, zu denen sie den Draht verloren hat, einer Tochter und einem Sohn, die sich mehr und mehr deutlich von ihr abwendeten. Zwischen Ferdinand und Luisa entwickelt sich durchaus eine Beziehung, auch wenn einem als Leser im Laufe der Lektüre ziemlich bald klar wird, dass Luisa nicht nur Bindungsprobleme mit sich herumträgt, sondern alles zwischen Anziehung und Abstossung, zwischen Leidenschaft und Hassgefühlen kippt.

Luisa will Schriftstellerin sein. Sie träumt von einem eigenständigen Leben als Künstlerin. Ferdinand hat ihr sogar ein Schreibzimmer in seinem Haus eingerichtet. Ein Zimmer, das sie abschliesst. Das Leben auf dem Hof, all die Arbeiten, sind für sie nur Kulisse, Material, aus dem sie Literatur schaffen will. Noch so ein Feuer, wenn auch ein eigenartiges Strohfeuer, denn was sie schreiben will, scheint nie richtig Form annehmen zu wollen.

Während des Lesens wird immer deutlicher, dass Luisa ihre Sicht der Dinge ganz eigen interpretiert. Mehr und mehr Fragen stellen sich, Bilder kippen immer und immer wieder. Seien es ihre Beziehungen, die nicht enden wollenden Eskapaden, die Ruinen einer Familie und Luisas Hang, alles und jeden in ein für sie stimmiges Muster quetschen zu wollen.

„Brennendes Feuer“ beschreibt innere und äussere Feuer. Nicht zuletzt das Feuer, das jene Institionen frisst, die über Jahrhunderte das Existieren ausmachten; bäuerliche Arbeit, Ehe und Familie. „Brennende Feuer“ beschreibt aber auch den Zustand einer Gesellschaft, die den Blick auf das Wesentliche verloren hat, die sich im Kopf verliert, sich seine eigene Welt zusammenspinnt. „Brennende Feuer“ ist literarischer Hochgenuss, vielschichtig, verzwickt und von Hitze aufgeladen.

Reinhard Kaiser-Mühlecker wurde heute für sein Buch „Brennende Felder“ mit dem Österreichischen Buchpreis ausgezeichnet.

Interview

Nicht wenige Schriftstellerinnen und Schriftsteller erzählen mir immer wieder, dass sie ohne klaren Plan mit dem Schreiben beginnen und sich die Türen zu einer Geschichte erst nach und nach öffnen. So ist doch auch das Schreibprinzip von Luisa, deren grösster Wunsch nicht bloss das Verfassen eines Romans ist, sondern das Leben als erfolgreiche Schriftstellerin. Bei ihnen und den Romanen „Fremde Seele – dunkler Wald“, „Wilderer“ und dem neusten „Brennende Felder» – im weitesten Sinne eine Familiensaga aus drei verschiedenen Perspektiven – kann ich mir ein intuitives Schreiben schlicht nicht vorstellen, zumal ihr Roman auf so vielen Ebenen spielt. Oder täusche ich mich?
Mein Schreiben geschieht tatsächlich ohne Plan, aber es gibt immer etwas, das ich im Voraus weiss, kenne – in diesem Fall war es eine Persönlichkeitsstruktur. Luisa ist bereits in «Fremde Seele, dunkler Wald» angelegt, in «Wilderer» ein wenig entwickelt, im vorliegenden Buch habe ich versucht, sie möglichst breit, aber doch noch mit ausreichend Leerstellen, Lücken, Geheimnissen darzustellen.

Luisa ist eine schillernde Person, unfassbar, vielgesichtig (um nicht den Ausdruck schizophren zu benutzen, auch wenn er durchaus zutreffend ist). Eine seltsam nach innen gerichtete Person, die ihre Sicht der Dinge permanent über ihre Wahrnehmung spannt und alles ausblendet, was sie nicht braucht. Durchaus ein gesellschaftliches Phänomen, dass sich bis in die Politik und ihre Köpfe zeigt. Sie ist eine vernarbte Person, verwundet von einer Familie, eine Frau, der jedes Mittel genommen ist, um sich wenigstens mit der Vergangenheit zu arrangieren. Alle sind Versehrte. Sie ist weit weg davon, sich helfen zu lassen. Was muss passiert sein, dass Luisa zu einer Verlorenen wurde?
Ja, so kann man es sagen, sie ist wirklich eine Verlorene. Immer schon, wahrscheinlich. Was wird erworben, was vererbt? Auch darum geht es in dem Buch schliesslich. Jakob und sie sind für mich die zwei Seiten einer Medaille. So wenig wie er sich helfen lassen könnte, so wenig kann sie sich helfen lassen, weil sie keine Hilfe benötigt. Das Problem sind immer die anderen, das Gegenüber. Sie sucht ihr Heil in der Zukunft, besser gesagt: im Träumen.

© Sandra Kottonau

Luisas Familie ist ein Trümmerhaufen. Viele Familien sind Trümmerhaufen. Und doch; Trümmerhaufen sind keine Fallgruben. Es gibt Menschen, die aus Trümmerhaufen aufstehen, herausklettern und Berge versetzen. Luisa aber nimmt selbst Katastrophen in Kauf, um die Kulissen für sie ins richtige Licht zu rücken. Man könnte meinen, es gäbe im Kaiser-Mühlecker-Kosmos keine Chance, sich selbst am Schopf zu packen. Wie viel Pessimismus spielt da mit (auch wenn ich glaube, dass ein Biobauer aus Prinzip ein Optimist sein muss.)?
Im Leben bin ich optimistisch, natürlich, so machen die Tage mehr Spass. Ich kenne auch genug Schwarzmaler, und mit denen langweilt mich ein Gespräch schnell. Als Landwirt, aber auch als Schriftsteller benötigt man ein grosses Reservoir an Hoffnung und Zuversicht. Aber zur Frage: Es hat einen ganz eigenen Reiz, «das Unglück, das als Glück gedacht war» (Arnold Stadler) darzustellen. Und sowohl Luisa als auch Jakob, um nur diese beiden herzunehmen, sind auf eine Weise auch Stehauffiguren.

Luisa keht in ihr Dorf zurück. Sie kehrten nach langen Aufenthalten ebenfalls ins Dorf ihrer Eltern zurück und übernahmen einen Hof. Das Motiv des Zurückkehrens ist ein wichtiges in ihren Romanen. Wie weit ist das Schreiben an sich eine Form des Zurückkehrens? Ich kenne Menschen, denen das Reflektieren völlig fremd ist. Luisa reflektiert auch nicht. Wer aber nicht bloss ein Geschichtchen erzählen will, sondern die Welt miteinbinden will, muss unweigerlich reflektieren.
Ja, und man muss sich um die Vergangenheit, das Vergangene kümmern. Das tut Luisa zum Beispiel nicht, auch deshalb ist ihr Schreiben möglicherweise, wenn überhaupt, nur für ein Buch gut. Wir schöpfen aus dem, was war: Was wir gesehen, gehört, gelesen, in irgendeiner Art und Weise erlebt und erfahren haben. Das macht die Menschen aus, und das macht auch die Schriftsteller aus.

Es brennt in ihrem Roman, was man auch metaphorisch verstehen kann. Selbst Luisa brennt von ihrer Idee, Schriftstellerin sein zu wollen (Schon Schriftsteller-sein ist ein Unding, ist doch die Schriftstellerei kein Zustand.) Es brennt auch „unterirdisch“, Mottbrände auf den sonst dunklen Feldern von Familien. Es brennt in der Gesellschaft. Wie weit sind gute Schriftsteller Seismologen?
Ich glaube fest daran, dass in jedem Schreiben die Gegenwart steckt, dass man allem Geschriebenen die Zeit ansieht bzw. ansehen wird, in der es verfasst wurde. Insofern ist es fast überflüssig zu bemerken, dass ich es durchaus als eine Aufgabe von Schriftstellern ansehe, ihre «Zeit aufzuschreiben», wie es bei Hermann Lenz einmal heisst. Wie gut einem das gelingt, kann allerdings immer erst der spätere Blick zeigen.

Reinhard Kaiser-Mühlecker wurde 1982 in Kirchdorf an der Krems geboren und wuchs in Eberstalzell, Oberösterreich, auf. Er studierte in Wien und betreibt eine Landwirtschaft. »Ich sehe es als eine Art Verpflichtung an, die Welt, die ich kenne, erfahrbar zu machen – einem, der sie nicht kennt.« Sein Debütroman »Der lange Gang über die Stationen« erschien 2008, anschliessend die Romane »Magdalenaberg«, »Wiedersehen in Fiumicino«, »Roter Flieder«, »Schwarzer Flieder« sowie »Zeichnungen. Drei Erzählungen«. Der Roman »Fremde Seele, dunkler Wald« stand 2016 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. 2019 erschien der Roman »Enteignung«. Für sein Werk wurde Reinhard Kaiser-Mühlecker mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Im Frühjahr 2022 erschien Reinhard Kaiser-Mühleckers Roman »Wilderer«, der für den Deutschen Buchpreis und den Österreichischen Buchpreis nominiert war und mit dem Bayerischen Buchpreis 2022 ausgezeichnet wurde.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Peter Rigaud

Mariann Bühler «Verschiebung im Gestein», Atlantis #SchweizerBuchpreis 24/09

Mariann Bühler wurde für ihr Debüt «Verschiebung im Gestein» anlässlich der Weinfelder Buchtage der Weinfelder Buchpreis verliehen, eine Auszeichnung, die im Hinblick auf den Schweizer Buchpreis durchaus als Hinweis verstanden werden kann.

Angesichts unserer eigenen Endlichkeit erscheint das, was wir an Welt wahrnehmen, in eine Ewigkeit getaucht, unverrückbar, „in Stein gegossen“. Aber selbst das, was fest erscheint, ist einem Fliessen unterworfen. Mariann Bühler beschreibt drei Leben, die aufbrechen, zu fliessen beginnen, die sich verschieben, eine neue Richtung bekommen. Mariann Bühler tut dies derart souverän, dass das Staunen zum Schaudern wird! Tektonische Verschiebungen, die ganz langsam, kaum wahrnehmbar vonstatten gehen. Mariann Bühler beschreibt genau jene feinen Risse, die mit der Verschiebungen im Gestein einhergehen.

Ihr heute preisgekrönter Roman ist Mariann Bühlers Debüt. Debüt ja, aber bereits ein Meisterstück! Mariann Bühlers Buch besticht vielfach; zum einen die Konstruktion, das Übereinanderschichten verschiedener Leben, die Schichtungen im Buch selbst, zwischen den drei scheinbar unabhängigen Leben und den sanften, zarten Schilderungen, die die drei Leben in einen grösseren Zusammenhang, in einem grossen Bild zusammenfügen. Weiter die Sprache, die sich ganz dem Feinen zuwendet, nichts Reisserisches braucht und mit grosser Empathie maximale Nähe zum Geschehen erzeugt. Es sind die Geschichten von Suchenden, die auf ganz unterschiedliche Weise durch die Sedimente des Lebens geführt, geschoben und gezogen werden. Mariann Bühlers Roman ist Lesegenuss der Extraklasse. Ein Versprechen! Ein Versprechen, das nicht nur dieser Preis hier in Weinfalden gibt, nicht zuletzt auch die intakten Chancen, dass im November noch ein weiteres Ausrufezeichen dazukommen könnte, der Schweizer Buchpreis 2024.

Elisabeth lebt und arbeitet in einem Dorf. Der Tod ihres Mannes bringt sie gänzlich aus dem Trott, lässt sie taumeln, obwohl die Ehe mit ihm nicht das gebracht hatte, was sie sich noch zu Beginn erhofft hatte. Sie führten über Jahrzehnte die Bäckerei im Dorf, ein Geschäft, das Jakob so wie immer führen wollte und die vorsichtigen Änderungs- und Anpassungsvorschläge seiner Frau stets mit Trotz und aufbrausenden Drohungen quittierte. Drohungen, die Jakob mitunter auch mit Schlägen verdeutlichte. Elisabeth, ein halbes Leben in die Pflichten einer Familienfrau, Mutter, Ehefrau und „Angestellte“ eingebunden, muss sich nach dem Auszug ihrer Tochter und dem Tod ihres Mannes neu aufstellen. Das alte Leben soll enden, auch die Rolle, die Elisabeth im Dorf einzunehmen hatte. Nach Wochen, in denen die Notiz an der Einganzstür zur Bäckerei langsam zu vergilben begann, öffnet Elisabeth wieder die Tür zur Bäckerei. Nur mit dem Unterschied, dass sie es ist, die nun den Lauf der Dinge bestimmt.

„Anfangs erschrak Elisabeth, wenn Jakob spurlos im Bäcker verschwand. Mit den Jahren entwickelte sie ein Frühwarnsystem, wie es das für Erdbeben gibt.“

Mariann Bühler «Verschiebung im Gestein», Atlantis, 2025, 208 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-7152-5040-3

Alois ist Bauer. Ob er den Hof damals hätte übernehmen wollen, stand nie zur Frage. Er wuchs über die Jahre in diese Rolle hinein. So wie seine Eltern alt und gebrechlich wurden und mit der Zeit nicht mehr die Kraft hatten, so gab er sich immer mehr in die Aufgaben des Bauern hinein. Eine Aufgabe, die mehr und mehr zur seinen wurde, eine Selbstverständlichkeit, ein Naturgesetz. Aber in Alois stiller Ergebenheit blieb stets ein Rest Zweifel. Sollte es das gewesen sein? Nur schon die dauernden Sticheleien der Eltern, weil sich keine Bäuerin finden wollte, oder die Erzählungen im Musikverein von grossen Abenteuern, stellen Alois Innenleben auf eine harte Probe. Selbst seine Schwester, die mit ihrer Familie im gleichen Dorf lebt, spürt, dass da etwas ist, was ausbrechen will. Bis sich Jakob entschliesst, den Hof zumindest für ein Jahr zu verpachten und reissaus zu nehmen, all die Pflichten hinter sich zu lassen.

„Wenn er Halt zu verlieren drohte, hielt er sich an Heugabeln, Besen, Steuerrädern fest.“

Und da ist Ruth, von der Mariann Bühler manchmal in der dritten Person, als Ruth erzählt, und manchmal in der Du-Form, als wäre die junge Frau gleich neben der Erzählstimme, würde sie sie durch das Geschehen schieben. Die junge Frau kehrt ins Dorf zurück, holt sich die Schlüssel für das schon lange unbewohnte Ferienhaus hoch über dem Dorf. Ein kleines Haus, in dem die Zeit still gestanden ist, die Luft sich über Jahre nicht bewegte. Das Haus soll verkauft werden. Ruth trägt ihr Leben hinauf in dieses Haus, die Suche nach ihrem Platz, die Bilder und Stimmen aus ihrer Vergangenheit, einer Familie, in der sich der Schmerz tief eingegraben hatte.

„Du hast dich mit deiner Schwester vom Wald verschlucken lassen, vom Tobel, vom Bach und den moosigen Steinen. Ihr habt eure Mädchenhaut mit den Gummistiefeln abgestreift und seid zu Zwergen geschrumpft, habt aus Tannennadeln und Lehm Häuser gebaut, seid als Löwen mit Mähnen aus Farn durch den Urwald geschlichen, als Hexe mit Tannenzapfennase und Astbesen.“

Jeder Ausschnitt aus diesem Buch zeigt, wie bildhaft Mariann Bühler erzählt, wie sie mit malerischer, zeichnerischer Freude mit Sprache umgeht, wie nah sie sich den Menschen und ihrer Geschichte zuwendet.
Mariann Bühler erzählt von drei Leben, die sich erst nach und nach miteinander verweben. Drei Leben, die sich über- und untereinder verschieben, aufeinanderstossen und sich aufwerfen. Erst über die Zeit wirksame Kräfte, die an ihren Rändern brechen und Abgründe sichtbar machen. 

Ein beeindruckendes Kunststück! Ein Buch, dass das Herz öffnet.

Interview

Nun ist er draussen, Dein erster Roman, an dem Du ganz offensichtlich sehr lange und intensiv gearbeitet hast. Was bis vor kurzem noch ganz Dir gehörte, liegt nun auf Tischen in Buchhandlungen zum Kauf bereit, wartet auf Nachttischchen und in Bücherstapeln auf die Lektüre und auf den Schreibtischen der Rezensenten auf Zuspruch oder Ablehnung. Wie sehr verändert die Veröffentlichung Deines Buches Dein Leben, oder zumindest die zeitliche Ausrichtung?
Diese Frage würde ich in einem Jahr vermutlich anders beantworten, jetzt, kurz nach Erscheinen des Buches beantworte ich sie so: Ich freue mich darüber, dass ich diesen Text und seine Figuren nun mit allen, die ihn lesen wollen, teilen kann. Und ich freue mich auf die Reaktionen darauf – darauf, dass ich dank den Leser*innen den Text selbst noch einmal mit neuen Augen sehen kann. Ich bin gespannt, was auf mich zukommt, welche Wege dieser Roman nehmen wird. Und wie das weitergeht mit meinem Schreiben.

© Mariann Bühler

Die Menschen, von denen Du erzählst, sind Gefangene. Sie alle versuchen auf die eine oder andere Weise auszubrechen, geschoben oder gezogen. Ich bin sicher, dass Du mit dem Thema Deines Romans eine menschliche Ursehnsucht ansprichst, seien es nun kleine oder grosse Ausbrüche, haben wir Menschen doch wie kein anderes Lebewesen die Fähigkeit, uns selbst zu fesseln, zu blockieren – bis zur vollkommenen Lähmung?
Wir alle sind Teil eines Gefüges – da sind zwischenmenschlich Beziehungen, die über Jahre wachsen und uns prägen, ein soziales, berufliches, familiäres Umfeld, das uns ebenso formt wie wir unseren Platz in der Welt mitformen. In manchen Situationen verspricht das Verharren im Bekannten mehr Sicherheit als eine Verschiebung ins Unbekannte. Gleichzeitig geschehen manche Veränderungen, ob wir wollen oder nicht. Auch wenn die Situation eng aussieht, wenn es scheint, dass alles stillsteht, gibt es einen kleinen Spielraum. Ich mag das englische Wort für Spielraum, «wiggle room», wiggle heisst wackeln oder schlängeln, ich stelle mir einen ganz kleinen Raum vor, der sich durch konstante, kleine Bewegungen verändern und erweitern lässt. Ich mag dieses Bild, darin ist eine Zuversicht.

Warum schaffen wir es nicht, Veränderungen selbst zu provozieren? Warum gelingt uns eine Veränderung meist erst dann, wenn wir sie im Windschatten anderer Ereignisse vollziehen können, wenn das Beben bereits stattgefunden hat, wenn die Risse in den Versteinerungen aufgebrochen sind?
Wir können alle nicht aus unserer Haut. Unser bisheriges Leben hat sich in uns eingeschrieben, hat unsere Möglichkeiten und Grenzen geformt. Tiefgreifende Veränderungen geschehen nicht notwendigerweise mit Pauken und Trompeten und einem einzigen umgelegten Hebel, sondern leise, über eine lange Zeit, unter der Oberfläche. 
Für meine Figuren kommt das Beben nicht plötzlich. Auf den ersten Blick vielleicht, aber bei genauerem Hinsehen wird klar, dass sich das schon lange angebahnt hat. Wie die tektonischen Verschiebungen, die lange bevor wir sie begreifen konnten, stattgefunden haben, braucht es manchmal Zeit, die Risse, die Aufbrüche als solche wahrzunehmen.

Ich bin tief beeindruckt von der Sprache und der Erzähltechnik Deines Romans. Wie weit bist Du Deiner Intuition gefolgt? Oder war da eine Strategie, ein Plan? Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Roman das Resultat eines chronologischen Schreibens sein kann. Viel mehr macht er den Eindruck, als wäre es der Sud eines langen Entstehungsprozesses, ohne dass der Roman dabei seine Leichtigkeit eingebüsst hätte.
Der Entstehungsprozess war alles andere als geradlinig. Ich bin im Arbeitsleben die, die für alles eine Liste und einen Plan erstellt. Im Schreiben funktioniere ich offenbar anders. Erst ganz am Schluss gab es eine Liste, die mir den Überblick über die Kapitel erleichterte und die Struktur, die Schichtung, zeigte. 
Davor war alles in Bewegung. So viel in der Schwebe zu halten, war manchmal schwer erträglich, im Nachhinein aber wichtig: Ich konnte Szenen, die nicht funktionieren wollten, an einen anderen Ort schieben, in ein anderes Lebensalter der Figur – oder sie einer ganz anderen Figur zuordnen. So wurde manchmal ein scheinbar unwichtiges Motiv, von dem ich mich nicht recht trennen konnte, wie die Narbe an Alois’ Finger, zentral. Bei jeder Figur gab es einen – manchmal ziemlich ausgedehnten – Moment, wo es nicht weiter ging, wo sich etwas in meiner Wahrnehmung verschieben musste, damit etwas, das ich nicht geplant und manchmal nicht einmal geahnt hatte, Form annehmen konnte. Auf das Geologische bin ich per Zufall gestossen. Ich bin staunend in diese Sprache eingetaucht, die mir genau die Bilder und Prozesse geliefert hat, die mir fehlten. 
Der Text hat die lange Gärphase gebraucht, ich habe sie gebraucht, um besser zu verstehen, was ich schreibe und wie ich schreibe. Welche Möglichkeiten ich habe und wie ich sie nutzen kann. Dem Prozess zu vertrauen und nichts voreilig festzumachen.

© Mariann Bühler

Da gibt es Szenen in der Backstube oder im Stall, die unmöglich ohne persönliche Erfahrungen hätten entstehen können. Ganz offensichtlich wolltest Du nicht nur bei deinen ProtagonistInnen nah rangehen, sondern auch in dem, was sie tun. Kannst Du melken und grosse Mengen Brot backen?
Mir war es wichtig, diese Arbeitsprozesse abzubilden, weil sie viel über die Figuren erzählen und auch als Gegenstück zu den geologischen Verschiebungen. Das Backen und Melken sind auf den ersten Blick repetitive Arbeiten, die jeden Tag gleich geschehen. Gleichzeitig verändern sie sich dauernd: Wer backt oder melkt, braucht ein grosses Erfahrungswissen und ist sich einer Vielzahl von Faktoren bewusst, trifft dauernd kleinste Entscheidungen, um den Prozess an die aktuellen Gegebenheiten anzupassen, führt also dauernd die für das Gelingen nötigen Veränderungen herbei. So durch und durch gekonntes Handeln finde ich sehr schön – fast wie ein Tanz. 
Ich habe selbst zwar einmal gelernt, ein Melkmaschinenaggregat an ein Euter zu hängen, und würde von Hand etwas Milch aus einer Kuh bekommen, aber wirklich melken kann ich nicht. Beim Backen ist es ähnlich, ich backe gerne mal einen Zopf, aber in grossen Mengen Brot backen, das kann ich nicht. Da war ich beim Schreiben auf das Wissen anderer angewiesen. Ich habe zum Beispiel eine Bäuerin besucht, die jede Woche aus mehreren hundert Kilo Mehl Brot backt, konnte ihr bei der Arbeit zuschauen und Fragen stellen. Das war sehr wichtig: Den blossen Ablauf dieser Arbeit hätte ich aus Texten und Videos zusammenschustern können, aber beim Beobachten wurden die Bewegungen, Konsistenzen, Materialitäten, das ganze verkörperte Wissen, wahrnehmbar. 
Beim Melken und auch beim Holzen war es ähnlich: Die Bewegungen und Körperhaltungen kenne ich seit meiner Kindheit, meinte, mich an die Abläufe erinnern zu können – und musste dann feststellen, dass meine Erinnerung ungenau war. Zum Glück hatte ich einen Testleser für die landwirtschaftlichen Dinge, der mir Reihenfolgen und Aufgabenteilungen geradegerückt hat. Das lässt sich nicht googeln, um das zu vermitteln braucht es Menschen mit entsprechendem Wissen.

Was mich ebenfalls beeindruckte, sind beschriebene Stimmungen. Seien es Stimmungen in Szenerien oder solche in den Innenwelten deiner ProtagonistInnen. Klar ist Empathie eine Voraussetzung, um sich in solche Innenwelten hineinzubegeben. Wann merkst Du, dass das Gleichgewicht zwischen Nähe und der nötigen Erzähldistanz erreicht ist?
Da muss ich nachdenken. Die Stimmungen waren mir wichtig, vielleicht, weil sich damit manchmal die Innenwelten nach aussen übersetzen lassen, wenn den Figuren nicht nach Reden ist. Die können und wollen nicht alles in Worte fassen, was in ihnen vorgeht. Da habe ich versucht, ihre Umgebung so zu beschreiben, dass nachvollziehbar wird, was in den Figuren vorgeht. 
Ich glaube, bei den Figuren entsteht das Gleichgewicht in der Bewegung, im Wechsel zwischen Nähe und Distanz. Die richtige Erzähldistanz zu finden war nicht ganz einfach. Der Vorteil war, dass ich zwischen den Strängen hin und her wechseln konnte. Wenn ich bei Elisabeth nicht weiterkam, konnte ich beispielsweise zu Alois wechseln und schauen, ob der gerade gesprächiger ist. Das brauchte Geduld: So, wie wir anderen Menschen nicht im ersten Gespräch unsere tiefsten Geheimnisse verraten, musste ich die Figuren erst kennenlernen, langsam erarbeiten, was sie umtreibt und mich manchmal ebenso selbst überraschen lassen wie auch mal einzugreifen als Autorin, bewusst eine Weiche stellen im Text. 
Die Distanz zu den Figuren verändert sich noch immer: Anfangs war es nicht leicht, ihnen nah genug zu kommen. Kurz vor dem Ende der zweiten Fassung waren sie mir so nah, dass ich abends nicht einschlafen konnte vor Sorge um sie, ob das alles gut kommt – eigentlich absurd, schliesslich gab es sie nur in meinem Kopf und in einer Datei. Und jetzt, wo das Buch da ist, gehen sie ihre eigenen Wege.

Mariann Bühler, geboren 1982 in der Nähe von Luzern, hat in Basel und Berlin Englische Literatur­ und Sprachwissenschaft, Islamwissenschaft und Gender Studies studiert. Sie lebt als Autorin, Literaturvermittlerin und Veranstalterin in Basel. «Verschiebung im Gestein» ist ihr Romandebüt; für einen Auszug aus dem Manuskript wurde sie mit dem Zentralschweizer Literaturpreis ausgezeichnet.

Weinfelder Buchtage 2024

Webseite der Autorin

Illustration © leale.ch

Zora del Buono «Seinetwegen», C. H. Beck #SchweizerBuchpreis 24/08

Zora del Buonos Roman „Seinetwegen“ ist ein Vaterbuch. Vaterbücher gibt es viele. Aber weil sie damals, als ihr Vater nach einem Autounfall starb, noch nicht einmal ein Jahr alt war, blieb dieser wie ein Geist im Hintergrund verborgen. „Seinetwegen“ ist eine literarische Vergegenwärtigung, eine vielfache Auseinandersetzung zwischen Opfer und Täter – der Roman in seiner Art ganz eigen.

Das Unglück, den Vater mit acht Monaten zu verlieren, bleibt nicht nur an der Tochter ein ganzes Leben haften. Damals verlor sie ihren Vater. Ihre Mutter ihren Mann. Er wurde 33 Jahre alt und war vielversprechender Radiologe am Kantonsspital in Zürich. Ihre Mutter heiratete nie mehr. Und während die Autorin mit ihrem 60. Geburtstag immer mehr den Wunsch nach Klärung verspürt, sinkt ihre Mutter im Heim in eine Demenz. Wer war der Mann, der bei einem waghalsigen Überholmanöver mit dem Auto ihres Vaters kollidierte? Lebt er noch? Wie lebt es sich, wenn man vor Gericht seine Schuld bekennt? Und wie konnte es sein, dass jener Mann, der mutmasslich zu schnell und mit ungenügenden Bremsen unterwegs war, mit 200 Franken Busse und einer bedingten Strafe davonkam? Warum war der Tod des Vaters nie ein Thema zwischen Mutter und Tochter?

Zora del Buono «Seinetwegen», C. H. Beck, 2024, 204 Seiten, mit Abbildungen, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-406-82240-7

Am Steuer jenes weissen VW-Käfers sass damals der Bruder der Mutter. Er überlebte schwer verletzt, während Zora del Buonos Vater im Spital nach einer Woche an seinen Verletzungen starb. Vom Unfallverursacher, den die Autorin nicht Täter, sondern Töter nennt, weiss sie, dass er ebenso alt war wie ihr Vater damals und sie kennt seine Initialen; E. T. Was die Tochter über ihren Vater weiss, ist, das, was man sich erzählt, nicht die Mutter, aber in der Familie. Einige Fotos, aus denen mit den Jahren Erinnerungen werden. Zora del Buono besucht ihre demente Mutter, eine Frau, die ein ganzes Leben eine elegante Erscheinung war, attraktiv, die sich aber nie mehr wirklich auf einen Mann einliess, geschah das doch in einer Zeit, in der man erwartet hätte, dass die Witwe noch einmal heiraten würde, nur schon wegen der kleinen Tochter.

Zora del Buono macht sich auf die Suche. Auf die Suche nach Antworten auf immer und immer wieder gestellte Fragen, nach Klärung, nach jenem Mann, der sich hinter den Initialen E.T. verbirgt, nach Gründen, warum die Geschichte ihrer Familie und ihre eigene Geschichte jene Richtung eingeschlagen hatte. Warum das Schweigen überall durchbrochen werden muss. Warum das Wohin ins Wanken gerät, wenn das Woher im Dunkeln bleibt. Was wäre geworden, wenn der Unfall nicht passiert wäre? Was wäre aus ihrem Leben geworden, einem Leben, das in keine Familie münden sollte?

Aber „Seinetwegen“ ist nicht einfach eine literarische Recherche. Zora del Buono mäandert. Ihre Suche ist alles andere als geradlinig, manchmal durchaus entschlossen, mutig und unnachgibig. Dann wieder zerstreut, auf Nebenstrassen und Umwegen, zögerlich. Eine Mischung aus Fragmenten aus Leben, die aus dem Nebel auftauchen, Recherchefetzen, die hängen bleiben, Notaten, die nur noch rudimentär mit dem Ursprünglichen zu tun haben, bis hin zu Statistiken über Verkehrstote, in denen sich die Autorin Fingerzeige erhofft oder Geschichten prominenter Opfer wie Albert Camus oder James Dean. Sie macht sich auch örtlich auf den Weg, mit dem Auto auf jener Strasse, auf der die beiden Autos zusammenkrachten, bis in den Kanton Glarus, jenes Tal, aus dem der Töter gefahren kam, mit seinem protzigen Chevrolet. Sie fragt nach, im Tal, auf Ämtern, in Archiven. Bis aus dem Töter ein Mensch wird. Bis aus den Initialen ein Name wird. Aus der Untat ein Leben.

„Seinetwegen“ ist voller Spiegelungen in die Lebensgeschichte der Autorin, ihre Vergangenheit in Bari, ihre Familie, das Leben ihres Vaters, der aus dem grossgeschrieben Del ein kleingeschriebens machte, das Leben ihrer Mutter bis in die Demenz der Gegenwart und jenen Moment, wo eine Einweisung ins Heim unausweichlich wird. „Seinetwegen“ ist weder Abrechnung noch Anklage. Dafür ein vielstimmiges Eintauchen, eine beinahe zärtliche Annäherung, nicht nur an den Vater, auch an die Mutter und all die Schicksale ihrer Familie.

Grossartig geschrieben und eine Einladung!

Interview

Du mäanderst, Du lauscht allen Stimmen, auch jenen, die Dich nicht zielgenau auf den Punkt bringen. Und Du stellst Dich Fragen, denen sich viele nicht stellen wollen, Fragen gegen das Schweigen. Auch dein letzter Roman „Die Marschallin“ beschäftigt sich mit Deiner Familie, Deiner Herkunft. Es gibt zwei Philosophien, sich mit seiner Vergangenheit zu beschäftigen. Die eine sagt „Blick nach vorne“, „Bloss keinen Dreck aufwühlen“, „Lass die Vergangenheit ruhen“. Die andere mahnt, dass es keinen klaren Blick nach vorne gibt, wenn das Woher vernebelt ist. Die Politik zeigt uns sehr gut, was mit vernebelten Blicken in die Vergangenheit geschieht. Steckt in Deinem Buch auch ein Stück Mahnung?
Als Mahnung ist es nicht gedacht, höchstens als Mahnung an Autofahrer, verantwortungsvoll zu sein, weil ein Moment der Unaufmerksamkeit viele Leben zerstören oder beenden kann – ein Thema, das in unserer Gesellschaft zu wenig beachtet wird. Das Auto ist eine heilige Kuh. Deswegen habe ich auch Statistiken eingebaut. Aber ja, ich denke, es ist meistens besser, sich dem Vergangenen zu stellen. Allerdings gibt es auch gute Gründe, Dinge ruhen zu lassen, zum Beispiel, wenn sie zu mächtig sind für einen, zu angsteinflössend, einen zu überwölben drohen. Dann kommt vielleicht später der Zeitpunkt, sich ihrer anzunehmen.

Mich erstaunt die Resonanz, die seit dem Erscheinen Deines Romans die Scheinwerfer lenkt. Ist es das Vaterthema? Die Vielfalt an Themen, mit denen Du Dich in Deinem Buch auseinandersetzt?
Das musst du eigentlich die LeserInnen und das Feuilleton fragen. 
Ich denke nicht, dass es das Vaterthema ist, sondern eher die Vielfalt, die daraus folgende Architektur des Textes. Die Konzentration. Die Ehrlichkeit. Und die Dynamik. Es ist ja ein schnelles Buch. Ich versuche, die Leser und Leserinnen mitzunehmen auf meine Reise, lade sie gewissermassen dazu ein, mit mir die Welt zu entdecken, die äussere und die innere, das spüren sie vielleicht. Und es ist versöhnlich (in diesen so unversöhnlichen Zeiten), das haben mir Leute nach der Lektüre geschrieben, tröstlich auch. Es spricht viele Themen an: Verlust, Tod, Alleinsein, Mut, Schuld, Lebenslust, Liebe, Liebe auch zur Landschaft (und zu Hunden), aber auch Dinge wie der Umgang mit demenzkranken Angehörigen und Familie überhaupt. Das sind Themen, die uns alle betreffen, universelle Themen. Da geht es um viel mehr als um meine eigene kleine Biografie. 

Literatur beschäftigt sich immer mit der Frage, dem Thema „Was wäre wenn“. Auch wenn in der Gegenwart das autofiktionale Schreiben die reine Fiktion fast zu verdrängen scheint. So wie in Filmen mit „nach einer wahren Begebenheit“ Sentimentalitäten noch gefühlsschwerer werden. Obwohl Du Dich mit Deiner Geschichte beschäftigst, vermeidest Du alles, was emotional abdriften könnte. Ist dieses „Mäandern“ ein Stilmittel gegen zu viel Emotion?
Sehr schön gesagt. Ich versachliche zu emotionale Themen, zum Beispiel mit der «Liste der eigenen Deformationen». Das wird dann nüchterner. Hätte ich diese Stelle als Fliesstext geschrieben, hätte es ins Weinerliche umschlagen können, ins Sentimentale. So betrachte ich mich von Aussen, nüchtern eben. Ich mag Nüchternheit.

© Zora del Buono

Der „Töter“ Deines Vaters macht im Buch eine erstaunliche Wandlung durch. Nicht er als Person, aber Deine Wahrnehmung, Deine Sicht. War das für Dich im Schreibprozess überraschend? Geschah die Wandlung während des Schreibens oder war sie Teil Deiner Absicht?
Es war für mich die grosse Überraschung. Was ich über ihn rausgefunden habe, hat ihn mir näher gebracht. Ein zeitlebens negativ besetztes Phantom wird im Laufe der Recherche Mensch. Das war bewegend. Auch traurig. Weil ich sah, was die Schuld mit ihm angerichtet hat. 
Es hat sich alles während des Schreibens entwickelt. Drum war das Schreiben auch so schön, weil es für mich selber überraschend war, immer wieder passierten neue Dinge, knüpften sich verblüffende Fäden, geschahen unglaubliche Zufälle, wahrscheinlich, weil ich ganz offen war. Das ganze Buch war ein einziges schnelles Abenteuer. 

Du mischst ganz verschiedene Stilmittel. Manches liest sich wie ein Essay, anderes wie eine Reportage. Man findet Protokolle neben Erinnerungen. Du wolltest nicht in erster Linie die Geschichte Deiner Familie nachzeichnen. Schon gar nicht Verlustschmerz oder den Fall einer fahrlässigen Tötung und deren Auswirkungen beschreiben. War das geplante Absicht oder begann das Buch erst an einem gewissen Punkt Gestalt anzunehmen?
Ich bin eine sprunghafte Person. Diese Textform entspricht meinem Wesen sehr. Ich hüpfe von hier nach da, finde etwas Interessantes, gehe dem nach, kehre wieder zurück und nehme den roten Faden wieder auf, finde wieder etwas Neues, sause hin (auch im wörtlichen Sinn, gehe also raus in die Welt, schaue mir Orte an, rede mit Leuten). So ist auch der Text geworden, das hat sich ganz organisch entwickelt. Zudem liebe ich Bücher mit kurzen Absätzen. Habe ich immer geliebt, das gehört zu meiner literarischen Sozialisation. Das zweite Tagebuch von Max Frisch etwa. Fragmente einer Sprache der Liebe von Roland Barthes oder Träume von Räumen von George Perec. Ich habe sowieso mehrere Seelen in meiner Brust, ich bin Architektin, Redakteurin, Reporterin, Schriftstellerin. Jede von ihnen schaut anders, schreibt anders. Grundsätzlich hat sowieso jede Textform ihre Berechtigung und Schönheit. Und ich konnte einige davon in einem Buch vereinigen, das war herrlich. 

Mit diesem Roman schaust Du in einen Spiegel. Es gibt Menschen, die brauchen den Spiegel bloss, um Pickel auszudrücken oder die Haare zu richten. Die Politik ist voller Menschen, die den Spiegel nur noch für die Frage brauchen „Wer ist die/der Schönste im Land?“. Dein Schreiben ist Selbstreflexion in Reinkultur. War da nie ein bisschen Angst, zu viel preiszugeben?
Doch, natürlich hatte (und habe) ich Angst davor, zu viel preiszugeben. Ich bin sehr nackt in dem Buch. Aber das gehört zum autofiktionalen Schreiben eben dazu. Dass man ein Risiko eingeht.

© Zora del Buono

Zora del Buono, geboren 1962 in Zürich. Studium der Architektur an der ETH Zürich, fünf Jahre Bauleiterin im Nachwende-Berlin. Gründungsmitglied und Kulturredakteurin der Zeitschrift mare. Autorin von Romanen und Reisebüchern.

Zora del Buono „Die Marschallin“, Rezension auf literaturblatt.ch

Zora del Buoni «Hinter den Büschen die Hauswand», Rezension auf literaturblatt.ch

Zora del Buono «Death Valley coffee shock», Gastbeitrag auf der Plattform Gegenzauber

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Stefan Bohrer / Illustration © leale.ch

Tine Melzer «Do Re Mi Fa So», Jungundjung

Diogenes sass in seinem Fass, bei Italo Calvino der Baron auf einem Baum. Bei Tine Melzer bleibt ein Mann in seinem Badezimmer, verlässt es nicht mehr, zieht sich zurück, kapselt sich ab und fröhnt dem süssen Nichtstun, auch wenn sich zusehends Bitternis einmischt. Nach ihrem furiosen Debüt „Alpha Bravo Charlie“ wagt Tine Melzer mit „Do Re Mi Fa So“ ein fast barockes Sprachabenteuer.

Tine Melzer ist nicht einfach Autorin. Sie schreibt nicht einfach Geschichten, will nicht bloss unterhalten. Tine Melzer ist Künstlerin. Die Sprache selbst muss Kunstwerk sein. Die Geschichte ist das Konstrukt, das das Kunstwerk trägt. Aber selbst das Konstrukt, die Partitur dieses Kunstwerks, der Plan, ist Wagnis, Experiment, vielleicht eine Spur Provokation, aber ganz gewiss die Aufforderung, mir selbst den Spiegel vorzuhalten.

„In jeder Rekapitulation steckt eine Kapitulation.“

Sebastian Saum ist erfolgreicher Sänger, ein gefragter Bariton. Er wohnt schon seit Jahren in Symbiose zusammen mit seinem Freund Franz Gold in einem grossen Haus, Franz unten, er oben. Auf der Klingel am Eingang steht Gold Saum. Das Haus ist geerbt. Sebastians Leben läuft in festen, geordneten Bahnen. Er hält sich die Welt auf Distanz.

Eines Morgens, nach einem Bad, beschliesst er, nicht mehr aus der Wanne aufzustehen, liegenzubleiben, zumindest das Bad mit Toilette und Fenster nicht mehr zu verlassen. Eine Laune. Vielleicht der Entschluss, seinem Leben im Stillstand eine neue Richtung zu geben; minimales Risiko mit maximalem Erfolg. Franz hilft ihm dabei, liefert an Decken, Kissen und Fellen, was er braucht, um sich in der Wanne niederzulassen, trägt ihm auf einem Serviertablett Essen und Getränke in die kleine Kammer und nimmt fürs erste hin, was nichts anderes als eine Marotte, eine Verstimmung, vielleicht ein Mini-Burnout sein kann. 

„Fanz ist in perfektem Alter. Wäre er ein Brot, müsste man ihn jetzt aus dem Ofen nehmen.“

Sebastian bleibt nackt. Er gedenkt nicht mehr, sich zu kleiden, zu verkleiden, auch wenn ihm und seinem Freund die Garderobe bisher sehr viel bedeutete, vielleicht gar etwas davon ausmachte, was er als Künstler zu repräsentieren hatte. Zwar liegt da ein Laptop und ein Telefon, aber Sebastian hängt fast immer seinen Gedanken nach. Gedanken, die sich erstaunlich wenig um sich selbst drehen, viel mehr das Nachdenken darüber sind, was sein Leben bisher ausmachte.

Tine Melzer «Do Re Mi Fa So», Jung und Jung, 2024, 192 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-99027-406-4

Das Badezimmer wird zur Inszenierung. Zu einem Protest seinem eigenen Dasein gegenüber. Auch wenn er sich immer mal wieder um seinen Freund sorgt, ob er auch weiterhin auf die Hilfe seines Mitbewohners zählen kann. Wir, die wir Leben und Existenz mit aller Selbstverständlichkeit stets mit Leistung, Fleiss und Erfolg koppeln, werden Zeuge eines Selbstexperiments, einer stillen Demonstration, einer Inszenierung, die sich gegen gesellschaftliche Zwänge wendet, wenn auch nicht gegen aussen. Sebastian denkt nach, macht Listen, über die Kleider in seinen Schränken, über die Tode jener Menschen, die in den letzten Jahren starben, über die schlechte Angewohnheit des Pfeifens, über all die Lieder in seinem Kopf, über Redundanz, über all die Menschen, Freundinnen und Freunde, die er aus den Augen verloren hat. Seltsame Listen, die das Aussen nach innen holen.

„Perfektionismus ist eine Sache von Leuten, die sich ihrer Sache nicht restlos sicher sind.“

Gleichzeitig nagt der Zweifel, klopft der Wahn. Vor der Tür hört er seinen Freund telefonieren, meist mit seiner Schwester. Irgendwann bekommt Sebstian trotz Protest Besuch von einer Frau, die sich im Bad auf den Klodeckel setzt und verkündet, man müsse mit Hilfe von Chemie ein Lösung finden.

„Do Re Mi Fa So“ ist maximal entfernt von autofiktionalem Schreiben. Dieser Roman ist eine Inszenierung. Ähnlich eines begehbaren Bildes. Ich sehe Sebastian Saum in seiner übergrossen Wanne, inmitten von Kissen und Decken liegen, eine Hand lässig über dem Wannenrand, ein Glas Wein auf dem Toilettendeckel. Die Welt kommt nur durch seinen Kopf in diese kleine Kammer, auch wenn das Fenster das eine oder andere Mal offen ist und Sebastian bei seinen zaghaften Turnübungen den Bauer aus der Nachbarschaft arbeiten sieht. Auch hier maximale Gegensätze.

„Das mit der Nähe ist so eine Sache – wer nicht aufpasst, dem drängt sie sich auf.“

Und dann die Opulenz, die Kraft der Farben. Tine Melzers ganz eigenes Gespür für Textilien, Oberflächen, die Haptik. Das Skurrile dieser Inszenierung. Auch hier die maximale Entfernung von einer Welt, die wuselt und stampft. Die maximale Entfernung von dem, was ich als Leser selbst unter Rückzug und Reflexion verstehen würde. „Do Re Mi Fa So“ ist Kunst. Ein Buch, dass es verdient hätte, auf der Liste der Nominierten zum Schweizer Buchpreis zu erscheinen!

© Tine Melzer I Have Changed My Mind 2005 Mann

Interview (mit Arbeiten der Künstlerin Tine Melzer)

Ich las dein Buch ausgesprochen gerne. Nicht zuletzt, weil es sich gleich vielfach von den meisten anderen Büchern, die sich anbieten, unterscheidet.

Danke!

Sebastian Saum ist ein satter Zeitgenosse. Man muss es sich leisten können, für eine unbestimmte Zeit weich gepolstert in seinem Badezimmer abzutauchen, mit Aussicht auf die Wiesen und Felder jener, die eine derartige Pause wohl gar nie verstehen würden. Dabei trägt wohl fast jede und jeder diesen Wunsch mit sich herum, für einmal einfach alles sein zu lassen, die Welt draussen zu lassen, nur seinen Gedanken nachzuhängen. Aber wir leben in einer Gesellschaft, die sich über Leistung definiert, über Erfolg und Resonanz. Die Kunst genauso. Wie weit ist dein Roman eine Versuchsanordnung?
Eine Versuchsanordnung prüft eine Hypothese; in manchem versucht der Roman so etwas. Was wird geprüft? Unser Verantwortungsgefühl, Fragen der Freundschaft und Treue. Mechanismen der Verdrängung und Scham, der Roman ist also auch eine Kritik. Saum ist zwar aus einer Laune in der Wanne gelandet, kommt dann aber nicht mehr so leicht heraus. Er geht von sich selbst aus und landet in einem Karussell der Erinnerungen und Beziehungskonstellationen. Es geht also auch um Entscheidungen und Bedingungen. Er kann es sich leisten, trotzdem läuft er Gefahr, darüber verrückt zu werden, oder depressiv.

Klar, du erzählst eine Geschichte. Sie bleibt seltsam kühl und distanziert. Das Drama, das sich dabei abspielen könnte, ist in den Decken und Kissen in der Badewanne abgefedert. Wer weiss, wäre Sebastian nie mehr aufgestanden. Was wäre geschehen, hätte ihn sein ergebener Freund nicht so fürsorglich unterstützt. Mir scheint, es ging dir gar nicht so sehr um das Drama. War es das Bild, das dich faszinierte, das Gedankenexperiment? Der Typus Mensch, der seine Gedanken in Richtungen schweifen lässt, die überraschend sind? Ging es um die Sprache, die Beschreibungen, die in dem begrenzten Bild des Badezimmers einen ebenso begrenzten Raum benötigen?
Sein Freund rettet ihn zunächst durch seine Bewirtung, versucht immer wieder neue Tricks ihn herauszulocken, ist ohnmächtig und gefangen in dieser neuen Abhängigkeit. Schliesslich rettet er ihn mit dem letzten Mittel, ihn (vorübergehend?) zu verlassen. Das ist natürlich ein Spoiler, nicht verraten. Es geht mir um das Drama, das einsetzt, sobald wir uns mit unseren Zweifeln auseinandersetzen und dadurch die Welt schrumpft oder bedrängend wird. Das steht nicht nur einem bestimmten Typus Mensch zu, alle Privilegierten könnten das, um andere Entscheidungen zu treffen. Und um das Drama, verstanden werden zu wollen. Das Badezimmer ist der ideale (Rückzugs-)Ort dieses Kammerspiels, durch seine Kühle und zugleich Intimität ein passender Ort für diese Parabel, diese Übertreibung. Die Nacktheit ist nicht nur konkret, sondern auch im übertragenen Sinn das, was ihn verletzlich macht.

© Tine Melzer 2018 Protest Nudelhölzerr

Dein Roman ist ausgesprochen stofflich, mehrdeutig gemeint, textil, voll von sinnlichen Beschreibungen. Sprache ist auch ein Stoff, mal seidenweich, mal bretthart, aschfahl oder grell bunt. Dein Erzählen lebt von Listen, Aufzählungen, die sich wie Kaskaden lesen. Faszinierend, aber wohl für viele „Unterhaltungsleser*innen“ fremd. Ist dein Schreiben für dich einfach der sprachlicher Ausdruck deiner Kunst, eine Art Malerei mit Sprache?
Vergleiche, Listen und Ähnlichkeiten sind gute Methoden, um Bedeutungs-Varianten zu zeigen, Verwandtschaften und Gegensätze. Ich suche Pluralität und Mehrdeutigkeit. Auf meinem beruflichen Hintergrund untersuche ich seit langem in verschiedenen Kontexten die Zusammenhänge zwischen verbaler und nonverbaler Sprache, also Bilder in der Sprache. Weniger die Malerei, als die Auffassung von Sprache als (konkretes) Material hat mich zur Literatur geführt. Dort ist die Schrift das Medium, in jedem Satz wird neu verhandelt, wie wir die Sprache als Gewebe zwischen einander nutzen, verstehen, verschieben können. Die Sprache verbindet und trennt gleichzeitig; wo Saum sie wörtlich nimmt, scheinen Bilder darin auf. Die Sprache enthält unser Weltbild. Also sind es eher mentale Bilder, Aha-Erlebnisse, die ich ‘male’. Und die plötzlich nicht nur die Figur betreffen oder treffen.

Ich bewundere Sebastians Freund Franz, der mit ihm unter dem gleichen Dach wohnt, wie lange er mit stoischer Geduld die Eskapde seines Freundes trägt, wie er ihn mit dem Nötigsten versorgt, ihn kulinarisch verwöhnt, bis ihm dann doch ziemlich deutlich der Kragen platzt: „Ich ziehe dich nur nutzlos herum, wie einen toten Elefanten.“ Doch auch ein Satz, der sehr gut ins Argumentarium kulturkritischer Kreise passen würde!
Beide nehmen mehr oder weniger offensichtlich Bezug auf die Rolle der Kunstschaffenden und deren Wert für die ‘Gesellschaft’, die beide alimentiert. Das Essen spielt im Roman eine zentrale Rolle, es verbindet den Menschen mit einem Grundbedürfnis und macht ihn tierähnlich, es ist auch Analogie zur Ermöglichung von Kunst. ‹Aus der Badewanne kann niemand die Welt retten›, ausser es wird darin ordentlich sublimiert, so die Erwartung. Ich schätze Kunst, die aus existentiellen Beweggründen gemacht wird oder unterstützt. Für undogmatische Vielfalt. Und gegen das kollektive Wegschauen. Saum hat also nicht nur Gelegenheit, ’seinen Gedanken nachzuhängen›, sondern gerät an unangenehme Zusammenhänge zwischen sich selbst und der Welt.

Ich liebe dein Buch aus vielerlei Gründen. Nicht zuletzt darum, weil sich in deinem Buch Sätze finden, die ich am liebsten gross an eine Wand schreiben würde. Sätze, die wie Türen wirken, an denen ich kurz verweilen musste, um hineinzusehen oder hineinzugehen. Ist dein Schreiben mehr Lust oder harte Arbeit? Was passiert mit Tine Melzer, wenn sie schreibt?
Die grösste Lust ist das Zusammensetzen der Texte zu einem Gesamtbild. Das Buch ist dann eine Komposition, eine Zusammensetzung wie ein Stück, das dem Publikum überlassen wird, und zugemutet. Ich schreibe nicht ‘plotgesteuert’, ich weiss anfangs nicht, wie sich die Figuren oder deren Handlungen entwickeln werden. Ich folge der Sprache und schaue ihr dabei zu, wie sie sich durchsetzt, sich behauptet, manchmal ‘gegen’ eine Idee oder Geschichte. Wenn ich schreibe, umschwirren mich manche Worte wie Fliegen, die ich aufschreiben muss, damit sie mich in Ruhe lassen. Ich vertraue der Sprache, ja, als Stoff, nehme Worte buchstäblich, folge dem Credo Wittgensteins, dass manches sich sagen lässt, anderes zeigen. Das Schreiben sucht die Grenzen der gewohnten Sprache auf, u.a. weil es materialisiert, wovon wir sonst wenig Zeugnis haben oder ablegen. Die harte Arbeit ist es, den Tag zu überstehen und diszipliniert Nischen zu finden, in denen ich schreiben kann.

© Tine Melzer Dictators 2012

Tine Melzer, geboren 1978, lebt und arbeitet in Zürich. Sie studierte Kunst und Philosophie in Amsterdam, promovierte in Plymouth über Ludwig Wittgenstein und Gertrude Stein und ist Dozentin an der Hochschule der Künste Bern. Ihr 2023 erschienener Debütroman «Alpha Bravo Charlie» wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Franz-Tumler-Literaturpreis, und war für den Rauriser Literaturpreis nominiert.

Webseite der Autorin / Künstlerin

Beitragsbild © Jakub Kovalík

Joachim Zelter «Staffellauf», Kröner

Joachim Zelter überrascht wie jedes Mal. Sein neuster Streich ist Sprachkunst und vielschichtiges Geschichtengeflecht. Ein Künstlerroman, ein Kunstroman, eine Liebesgeschichte, die Geschichte von Irrtum und Irrglauben, von Freundschaft und grenzenloser Einsamkeit. Ein Buch wie ein Kaleidoskop.

Sie gilt als vielversprechende Malerin, geht ganz auf in ihrer Malerei, erhält Zuspruch und empfindet grösstes Glück, wenn auf der Staffelei etwas gelungen scheint. Eines Tages erscheint ein seltsam steifer Mann im Atelier, geht von Bild zu Bild, lässt sich einiges erklären, stellt Fragen, ohne dass Bernadette hätte sagen können, die Bilder würden dem Mann gefallen. Obwohl er keines ihrer Bilder kauft, erscheint er immer wieder in ihrem Atelier, ohne je um ihre Zustimmung gebeten zu haben. Er sitzt in dem einen bequemen Sessel im Atelier, schaut, liest und kommentiert. Manchmal schweigt er auch nur und schaut zu, Bernadette immer mehr verunsichert, weil sie nicht weiss, wie ihr geschieht und weil sie den Mut nicht findet, den Mann, der sich dann irgendwann als Karl Staffelstein vorstellt, vor die Tür zu setzen. Der Mann wird zu einem Ding in ihrem Leben, einem Gegenstand, der sich nicht mehr fortschaffen lässt. Erst recht, als er die bittet, seine Frau zu werden.

Wie oft nimmt unser Leben eine Wendung ein, die keiner wirklichen Entscheidung entspringt? Es geschieht einfach. Manchmal, weil man die Kraft nicht aufbringt, sich dagegenzustemmen oder weil einem der Mut fehlt, laut und deutlich Nein zu sagen, die Richtung zu ändern. Bernadette rutscht in ein Leben, das sie sich nicht ausgesucht hat, obwohl ihr die Familie ihres Gemahls die kalte Schulter zeigt, als notwendiges Übel akzeptiert, nicht zuletzt in der Hoffnung, dereinst mit einer kleinen Schar Stammhalter die noble Art zu erhalten, zählte man doch einst zu den Freunden Schillers.

Joachim Zelter «Staffellauf», Kröner Edition Klöpfer, 2024, 192 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-520-76609-0

Nun wird Bernadette zum Gegenstand; zur Ehefrau, zur Hausfrau, zur Mutter, irgendwann mit drei Kindern, zum Accessoire, das gut in den Haushalt passt, dem man mit der attraktiven Frau eine Würze gibt, die der über Jahrzehnte gepflegten Steifheit etwas Künstlerisches gibt. Ihr Mann ist Beamter, hoch gestellt, steigt tüchtig auf, wechselt mit der flotten Familie von Ort zu Ort. Die Staffelei, die Leinwände und Farben bleiben in einem Schuppen. Bernadettes Herz verkümmert. Und als man sie zum ersten Mal in die Klinik einweist, ist klar, es liegt in ihrer Familie. Kein Wunder, wenn schon ihr Bruder dem Wahn verfiel.

Im zweiten Teil des Romans erzählt Joachim Zelter die Geschichte von Jakob, dem ältesten der drei Kinder von Bernadette und Karl. Nie die Sicherheit einer liebenden Familie erfahren, lässt sich auch er von den Vorstellungen anderer in ein Leben zwingen, dass nie einer Entscheidung entsprang. Er studiert, nachdem seine Grossmutter stets kontrollierte, ermutigte und drängte. Durchaus erfolgreich doktoriert er und traut sich endlich zu tun, was er wirklich will; schreiben. Er tut es, weil es das einzige ist, was sich wie echtes Leben anfühlt. Nicht weil es ein Traum ist, sondern der einzige Weg, auf die Spur zu kommen. Und trotz vieler Widrigkeiten und weil gar niemand auf den eigenartigen Kauz gewartet hat, wird aus einem Manuskript ein Buch, nicht zuletzt mit Hilfe einer Freundin, einer zarten Liebe, einer Freundschaft, die sich nur schwer in Jakobs Leben einordnen lässt. 

Die Leben von Bernadette und ihrem Sohn Jakob spiegeln sich. Während Bernadette, die die Malerei durch all die Zwänge aufgeben muss, verkümmert und erkrankt, erwacht Jakob erst spät aus einem Dämmerzustand. Bernadette verliert das Glück, obwohl sie doch genau spürte, dass ihre Bestimmung Malerin gewesen wäre und nicht der «sichere Hafen einer Ehe». Jakob gewinnt das Glück erst, als er seinen sicheren Hafen verlässt.

„Staffellauf“ ist ein grossartiger Roman, ein schillerndes Kunstwerk, das viel mehr sein will, als bloss die Nacherzählung eines Geschichtengeflechts. Joachim Zelter fabuliert und spielt. Bei einem Staffellauf gibt man den Stab dem Nächsten weiter. Aber das wahre Leben ist nicht wie auf der Tartanbahn durch zwei weisse Linien markiert. Wir hätten die Wahl!

Interview

Du beschreibst Szenarien, nicht zuletzt jene in Karl Staffelsteins Stammhaus, in dem man viel auf Herkunft und Etikette gibt, derart beklemmend, dass sie nur schwer zu ertragen sind. Aber eigentlich ist es die scheinbare Willenlosigkeit der jungen Bernadette, die so schwer auszuhalten ist. Warum gehen wir offenen Auges ins Verderben? Wir haben ein einziges Leben zur Verfügung und es fällt uns derart schwer, unseren ganz eigenen Weg zu finden?

Nach meinem Gefühl hat Bernadette durchaus einen Willen, sogar einen sehr ausgeprägten, aber sie kann ihn nur schwer artikulieren, geschweige denn durchsetzen. Mit dem Willen ist das so eine Sache. Der eigene Wille stösst oftmals auf den Willen anderer Menschen, der sich als stärker und mächtiger und durchsetzungsfähiger erweist als der eigene. Nicht selten wird der eigene Wille buchstäblich aufgefressen und verspeist von einem mächtigeren Willen. „Ein Käfig ging einen Vogel suchen.“ Dieser Satz von Franz Kafka bringt es auf den Punkt. Manche Menschen sind Vögel, andere Käfige. Darin liegt ein Unheil. Man darf auch nicht vergessen. Der Roman nimmt in den frühen Sechzigerjahren seinen Anfang. In dieser Zeit hatte eine junge Frau (zumal eine mittellose Malerin) viel weniger Möglichkeiten der Abgrenzung oder der Durchsetzung eigener Wünsche. Eine männliche, hierarchisch-autoritäre Gesellschaft stand gegen sie, flankiert von Mächten und Institutionen wie Kirche, Familie und Valium verschreibenden Ärzten. Für all sie war die Eheschliessung und die Gründung einer gutbürgerlichen Familie das höchste Ideal. Doch ich räume ein: es liegt in der Art und Weise, wie Bernadette sich auf eine ungewollte Ehe tatsächlich einlässt, etwas Unbegreifliches. Genau diese Unbegreiflichkeit versuche ich in meinem Roman (eigentlich in all meinen Romanen) auszuloten. Ab wann steht man gegenüber einem nahen Menschen derart im Wort oder in einer zwischenmenschlichen Pflicht, dass es kein Zurück mehr zu geben scheint, oder allenfalls ein Zurück, in dem man oder frau nicht umhinkommt, dem anderen massive Schmerzen zuzufügen.

Dein Roman ist alles andere als ein Plädoyer für die Institution Ehe. Die Ehe ist nicht das einzige Abhängigkeitsverhältnis, in das sich der Mensch mit wehenden Fahnen stürzt. Nicht zuletzt der Kultur-, der Literaturbetrieb ist voller solcher Abhängigkeiten. Bernadette vergisst die Freiheit, die sie einst besass. Jakob gewinnt sie erst spät. Ist die Zuweisung Bernadette als Verliererin und Jakob als zaghafter Gewinner nicht ein potenzieller Fettnapf?

Ich sehe Bernadette nicht als Verliererin und Jakob auch nicht als Gewinner. Jedes Leben ist ein einzigartiger Versuch, mit der Geworfenheit unserer Existenz irgendwie zurechtzukommen. Der Roman, ein Familienroman, beschreibt über mehrere Generationen hinweg, neuralgische Lebenssituationen, in denen sich Menschen so oder so entscheiden können, also entweder für äussere Vorgaben (sei es nun Ehe, Familie oder materielle Absicherung) oder für sich selbst. Jakob entscheidet sich (anders als seine Mutter) in einer entscheidenden Lebenssituation für sich selbst, das heisst, er entscheidet sich, Schriftsteller zu werden, obgleich alle gesellschaftlichen Normen und Vorgaben dagegensprechen. Der Sohn tut also etwas, was auch seine Mutter hätte tun können, eine Entscheidung für sich selbst zu treffen, wobei es den Sohn ja gar nicht geben würde, hätte seine Mutter sich damals anders entschieden. In dieser existentiellen Paradoxie bewegt sich der Roman und zugleich drängt er darauf, dass Kinder vielleicht viele, viele Jahre später etwas anders machen können als ihre Eltern. Deshalb auch der Titel: STAFFELLAUF.

Bernadette findet auf einem ihrer Stadtstreifzüge in einer Buchhandlung ein Buch mit dem Titel „Die Lieb-Haberin“. Ein klasse Titel. Könnte doch auch ein Buch von Joachim Zelter sein, zumal sich Liebe und Haben ziemlich streiten? Und alles, was streitet, erzählt Geschichten.

Ja, das Buch (DIE LIEB-HABERIN) ist in der Tat von mir. Ich habe es vor mehr als 20 Jahren geschrieben und veröffentlicht. Dieser Roman erzählt eine ähnliche Geschichte wie STAFFELLAUF, nur unter inversen Vorzeichen: keine Frau, sondern ein junger Mann gerät hier immer tiefer in den Strudel einer Beziehung, die er überhaupt nicht will. Je mehr er sich dieser Beziehung zu entziehen versucht, desto mehr verstrickt er sich in sie. Es ist ein durch und durch erfolgloser Roman gegen alle kulturellen Vorgaben und Konditionierungen: kein Liebesroman, sondern ein Nicht- oder Anti-Liebesroman; nicht die Erfüllung einer Liebe steht dort im Mittelpunkt, sondern ihr Abwehren, ihr Verweigern; kein entschiedenes Ja ist irgendwo zu hören, sondern allenfalls die Unfähigkeit, Nein zu sagen; keine gefällige Liebhaberin ist die Geliebte, sondern eine besitzergreifende Lieb-Haberin. Der Roman steht so sehr gegen alle gängigen Erwartungen, dass ihm etwas Unglaubliches, Surreales, geradezu Groteskes innewohnt. STAFFELLAUF ist der Versuch, ein ähnliches Thema noch einmal neu zu erzählen, neu zu fassen, es in einen anderen, viel ursprünglicheren Kontext meines Lebens zu stellen.

Bernadette findet in einem ihre Klinikaufenthalte in Johannes ein Gegenüber, der das Zeug gehabt hätte, zum Retter zu werden. Aber du lässt Johannes wieder abtauchen, so wie einmal bedeutende Menschen mit der Zeit nach und nach aus unseren Geschichten verschwinden. Hat sich der so einfach aus deinem Roman entfernt? Musstest du ihn loswerden?

Ich wollte die beiden in der Tat durchbrennen lassen, sie ein neues gemeinsames Leben beginnen lassen. Ich habe es ernsthaft versucht, doch es hat schon nach wenigen Seiten – trotz aller literarischen Bemühungen – nicht funktioniert. Der ganze Roman hat sich dagegen gesträubt. Der Roman wäre durch eine solche Wendung gesprengt worden, wäre ins Märchenhafte oder Phantastische abgeglitten. „Ein Bürgermädchen kann sich die Illusion machen, dass ein Prinz kommen wird, um sie herauszuholen.“ Nach Sigmund Freud ist das aber wenig wahrscheinlich. Wie hätte auch ein gemeinsames Leben der beiden glücken sollen: Johannes, ein mittelloser Schriftsteller, Bernadette eine ebenfalls mittellose Malerin, die seit Jahren von schweren Depressionen gezeichnet ist. Dazu hat sie zwei Kinder, die daheim auf sie warten. Eine solche Beziehung hätte kaum funktioniert, weder literarisch noch nach Massgabe irgendeines Realitätsprinzips. Die eigentlichen Liebesgeschichten sind (jedenfalls seit Romeo und Julia) ohnehin diejenigen, die von vornherein zum Scheitern verurteilt sind. Sollte eine Liebesgeschichte je glücken, dann wäre es keine Liebesgeschichte mehr.

Jakobs Geschichte ist das Spiegelbild der Geschichte seiner Mutter, wenn auch spiegelverkehrt. Er schafft es irgendwie, sich zu befreien. Wenn auch zu einem hohen Preis. Jakob ist Schriftsteller. Wie viel Joachim Zelter steckt in Jakob Staffelstein?

Ziemlich viel. Der ganze Roman bewegt sich nah an der Realität. Obgleich man sich fragen kann: Was ist schon Realität? Je mehr man sie zu begreifen versucht, desto mehr entzieht sie sich, beginnt man umzustellen, neu zu ordnen, neu nachzudenken oder vieles auszulassen. 

Jakobs Doktorarbeit wird zu einem Sprachmonster, zu einem Sprachpanoptikum. Eigentlich eine wissenschaftliche Arbeit, in Tat und Wahrheit aber ein riesiger Zettelkasten voller Kuriositäten. Steckt da auch ein Zeltertraum, irgendwann beim Schreiben allen Konventionen zu entsagen?

Ja, es ist der Traum, allen Vorgaben und Konventionen zu entsagen. Von Nietzsche gibt es den schönen Satz über Lawrence Sterne: Er sei „der freieste Schriftsteller aller Zeiten“ gewesen. Ein wenig dieser unermesslichen Freiheit wollte auch ich mir herausnehmen. Die Literaturgeschichte ist eine Geschichte der Konventionen, sie ist aber noch viel mehr eine Geschichte des Überschreitens oder der Sprengung von Konventionen. Jahrelang schreibt Jakob Staffelstein an einer Doktorarbeit. Eigentlich ist eine Doktorarbeit der Inbegriff gnadenloser Akribie und Strenge. Doch innerhalb dieser rigiden Strenge findet er in den Fussnoten, die er verfasst, einen unterirdischen Raum für seine eigensten und innersten Gedanken, die er einfach niederschreibt, gegen alle wissenschaftlichen Vorgaben und Konventionen. Die Doktorarbeit markiert somit den Übergang von der Wissenschaft in die literarische Kreativität, von der toten Mechanik akademischen Arbeitens ins überbordende Leben. Eine Doktorarbeit kann am Ende geistreicher und kreativer sein als so mancher Roman.

Auch in Jakobs Leben gibt es eine „Liebe“, eine Frau, eine Retterin, Gesine. Aber auch sie verschwindet. Es scheint, als hättest du die Liebesgeschichte um jeden Preis verhindern wollen.

Der Autor, der Roman, all die Buchstaben und Worte und ihre innersten Wünsche und Absichten hätten sehr gerne die Beziehung zwischen Jakob und Gesine fortgesetzt. Liebend gerne. Für Jakob ist Gesine die Liebe, die Frau seines Lebens, aber (wie im wirklichen Leben) können auch literarische Figuren sich dem entziehen und ihre eigenen Wege gehen. Oder auch nicht ihre eigenen Wege. Denn Gesines Situation ähnelt in mancherlei Hinsicht der Situation von Jakobs Mutter dreissig Jahre früher. Gesine und Jakobs Mutter sind Spiegelbilder. Auch Gesine ist verheiratet und hat Kinder und entscheidet sich in einem entscheidenden Lebensmoment für Werte wie Sicherheit und Familie statt für Wahrhaftigkeit, Selbstverwirklichung oder Freiheit. Aber: Ob nun verheiratet oder nicht, am Ende sind und bleiben viele Menschen mit sich oder mit anderen allein.

Joachim Zelter, 1962 in Freiburg geboren, studierte und lehrte Literatur in Tübingen und Yale. Seit 1997 freier Schriftsteller. Bei Klöpfer & Meyer erschienen u. a. «Der Ministerpräsident» (2010), nominiert für den Deutschen Buchpreis, sowie «Im Feld» (2018). In der KrönerEditionKlöpfer erschienen «Die Verabschiebung» (2021) und «Professor Lear» (2022). Joachim Zelter erhielt zahlreiche Auszeichnungen: u. a. den begehrten Preis der LiteraTourNord. Er ist Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller und im Deutschen PEN.

«Imperia», Rezension auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Beitragsbild © Yvonne Berardi

Vincenzo Todisco «Der Geschichtenabnehmer», Atlantis

Gruma ist ein kleines Dorf im Apennin. Ein Dorf mit Eigenheiten – wie jedes von der Aussenwelt weitgehend abgeschirmte Dorf. Ein Dorf, in dem die Neuzeit, die Gegenwart mit zerstörerischer Kraft Änderungen provoziert, die nicht nur die Jungen vertreiben, sondern den Verbliebenen auch noch das Letzte an Würde und Stolz zu nehmen drohen.

Wenn in Gruma jemand im Sterben liegt, ruft man seit Jahrhunderten den Geschichtenabnehmer. Ein Amt, das von Mann zu Mann weitergeben wird, eine Aufgabe, die den Träger aussucht, die erst weitergegeben wird, wenn jener der Aufgabe nicht mehr gewachsen ist. Als man Walter zum Geschichtenabnehmer macht, ist er noch ein Junge, ein Schüler, ein stiller Knabe, der auch ohne dieses Amt genug an seinem Leben zu tragen hat. Wenn der Geschichtenabnehmer an ein Sterbebett gerufen wird, stellt man einen Stuhl neben die Sterbenden und lässt den Lauschenden so lange dort sitzen, bis das Lebenslicht erlöscht. Es ist die letzte Gelegenheit für sie Sterbenden, Dinge loszuwerden, Geheimnisse zu offenbaren, Bekenntnisse abzulegen. Der Geschichtenabnehmer nimmt die Geschichten und Geheimnisse zu sich, darf sie niemandem weitererzählen. 

Walter, den man im Dorf seiner pechschwaren Haare wegen nur Nerì nennt, gibt sich in die Aufgabe, als wäre es etwas Unabwendbares. Eine Aufgabe, die ihm im Dorf einen Sonderstatus gibt, nicht ausgeschlossen von der Gemeinschaft, aber auch nie mehr ganz einer der ihren. Ein Zeuge, ein Geheimnisträger, eine Hoffnung, eine Stütze, eine Hilfe. Eine Aufgabe, die ihn ans Dorf bindet, an die Menschen dort. Eine Aufgabe, die ihn auch immer mehr belastet, nicht nur, weil er für sich behalten muss, was man ihm erzählt – auch weil ihm das Gewicht dieser Geschichten mehr und mehr zur Fussfessel wird.

Vincenzo Todisco «Der Geschichtenabnehmer», Atlantis, 2024, 256 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-7152-5041-0

Gruma ist klein. Eine Bar, ein Lebensmittelladen mit dem Notwendigsten, eine Kirche, ein Pfarrhaus, ein Friedhof, eine Schule und ein Friseur. Über Jahrhunderte waren Geschichten alles, ob in der Kirche, am Stammtisch, an der Theke oder vor dem Spiegel in Sciugars Friseursalon. Aber jene Geschichten sind ganz andere Geschichten als jene, die man Nerì erzählt, der eigentlich Walter heisst, ein eigenartiger Name mitten im Apennin. Geschichten, die am Sterbebett wie Mühlsteine auf die Schultern des Jungen gebunden werden, Geschichten, die unter Verschluss bleiben müssen und dem Heranwachsenden alles abverlangen, bis zur totalen Erschöpfung. Und Nerì selbst darf weder fragen noch entgegnen. Er ist nur der, der als Allerletzter zuhört.

Geheimnisse, Verborgenes, Zugeschüttetes liegen wie ein Geflecht aus Pilzen, ein Mycel unter der Oberfläche des Dorfes. Angestautes, Verkrustungen über Jahrzehnte. Nie verdaut, nie besiegt, nie vergessen. Schon zu Beginn des Romans wird klar, dass Walter irgendwann fluchtartig das Dorf zusammen mit seiner Mutter verlassen musste. Dass das Leben in jener Gemeinschaft ein jähes Ende fand, vergiftet wurde. Denn eines Tages tauchte im Dorf ein Mann auf. Walter war kein Kind mehr und fasziniert von dem Fremden, der seine Nähe suchte und so sehr wissen wollte, was denn seine Aufgabe ist, denn sonst begegnet man ihm im Dorf mit einer Distanz, die über Jahrhunderte mit dem Amt gewachsen war. Ein Geschichtenabnehmer war jemand zwischen Leben und Tod, ein Begleiter ins Jenseits, ein Geheimnisträger. Walter lässt sich auf einen gefählichen Deal ein, einen Handel, der alles aus dem Gleichgewicht bringt und das Dorf in einem Sturm zu überfluten droht.

Vincenzo Todisco schildert ein Dorf an der Kippe zur Neuzeit, eine archaische Welt voller Traditionen, die die Gegenwart wegzuspülen droht. Einen Jungen, einen Mann, der sich in einer Welt wiederfindet, in der nichts so ist, wie damals im Dorf. Eine Welt, die geschrumpft auf die kleine Wohnung in der Stadt und die Arbeit in der Fabrik jeden Zauber verloren hat. Das Amt des Geschichtenabnehmers ist nichts, was man wie ein schmutzig oder löchrig gewordenes Hemd ausziehen kann. Erst recht nicht, wenn da ein Brief auf dem Küchentisch liegt, mit der Bitte ins Dorf zurückzukehren.

„Der Geschichtenabnehmer“ ist ein Roman, der sich mit ganz feinem Strich mit den grossen Themen des Lebens und Sterbens auseinandersetzt. Ein Roman von grosser Sprachkraft, starken Bildern und einem Protagonisten, dem man die Last seiner Aufgabe durch und durch nachspüren kann. Ein Roman, der sich bis an die Grenzen des Lebens begibt. Ein starkes Stück Literatur!

Interview

Ich gratuliere Dir zu Deinem einfühlsamen und überraschenden Roman. Ich staune über die Zartheit Deiner Sprache, über die starken Bilder.
Es ist erstaunlich, wie selten das Thema Sterben im Mittelpunkt eines Romans steht. Wahrscheinlich ein Spiegel der Gesellschaft, die sich ebenfalls schwertut, sich mit dem Thema zu konfrontieren. Davon schliesse ich mich selbst nicht aus, obwohl ich in einem Alter bin, in dem rundum schon heftig gestorben wird. War die Auseinandersetzung mit dem Sterben eine Urmotivation oder war es einfach die sterbende Tradition eines kleinen Dorfes, das bis zur Neuzeit weitgehend autark funktionierte?

Es stimmt, in meinem Roman «Der Geschichtenabnehmer» wird viel gestorben (und es gibt doch noch viele andere Romane, die sich mit diesem Thema beschäftigen). Walter, der Geschichtenabnehmer und Protagonist des Romans, sitzt stundenlang am Sterbebett der alten Leute von Gruma und hört ihnen zu, bis sie für immer ihre Augen schliessen. Er sieht und hört zu, wie sie sterben, aber im Grunde genommen geht es immer um das Leben, denn die Sterbenden erzählen rückblickend von ihrem Leben. Kein einziges Mal wird darüber spekuliert, was nach dem Tod passieren könnte. «Der Geschichtenabnehmer» ist eine Ode an das Leben, zu dem auch der Tod gehört. Der Tod ist zweifellos ein Tabuthema, der Mensch hat natürlicherweise Angst davor, es ist etwas, das man nicht verstehen, nicht ergründen kann. In meinem Roman finden sich die Menschen durch Erzählen mit dem Tod zurecht. Was nicht verstanden werden kann, wird erzählt. Der Tod wird mit dem Erzählen überwunden und das Leben stellt sich gerade in diesem Moment mit all ihrer Wucht in den Vordergrund. Zu Beginn des Romans kann man dieses Zitat von Gabriel García Márquez lesen: «Das Leben ist nicht das, was man gelebt hat, sondern das, woran man sich erinnert und wie man sich daran erinnert – um davon zu erzählen.» Genau das tun im Roman die alten Menschen, die sich kurz vor ihrem Tod Walter anvertrauen, sie erinnern sich und dadurch finden sie vor dem endgültigen Ende nochmals ins Leben zurück. Meine Motivation war es, einen Roman über das Erinnern und das Erzählen zu schreiben. Ich habe in den letzten Jahren einige Situationen erlebt, wo eine Person einem Sterbenden lauscht. Das erschien mir ein schönes Motiv, das ich in einen Roman kleiden wollte. Und natürlich spielt da die Metapher des aussterbenden Dorfes mit. Wenn ein Dorf ausstirbt, stirbt die Erinnerung mit. «Der Geschichtenabnehmer» will gewissermassen gegen dieses Vergessen anschreiben.

© Sandra Kottonau

Du schreibst so eindringlich, mit einer derartigen Selbstverständlichkeit, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass das „Amt“ eines Geschichtenabnehmers so einfach erfunden ist. Ein Amt, das sich seinen Träger aussucht. Erstaunlich genug, dass ausgerechnet hier der Einflussbereich eines Priesters „untergraben“ wird. So bleibt dieses Amt frei von Moral und der Pflicht einer Absolution. Man lädt ab. Man erleichtert sich. Walters Vorgänger sank im Alkoholismus ab. Walter selber ist eines Tages seinen Pflichten entflohen. Warum neigen kleine Gemeinschaften zu derart pragmatischen Lösungen?

Der Roman erzählt eine fiktive Geschichte. Ich schöpfe aus eigenen Erfahrungen aus der Kindheit. Im Apennin gibt es ein Dorf, das Gruma ähnelt, die Menschen dort sind eigensinnig und etwas schräg, aber Gruma, so, wie es im Roman beschrieben wird, ist erfunden und die Figuren ebenfalls. Dass alles so glaubhaft herüberkommt, empfinde ich natürlich als Kompliment, aber das ist ja gerade die Herausforderung, mit der man beim Schreiben konfrontiert wird: man will eine erfundene Geschichte so erzählen, dass sie plausibel und echt wirkt. Walter entledigt sich selber seiner Aufgabe, weil er mitschuldig ist, dass Gruma entzaubert wird. Erzählen, die Erinnerung weitergeben, tragen immer etwas Magisches in sich. «Der Geschichtenabnehmer» ist ein Buch über die Kraft des Erzählens. Beim Verfassen des Romans bin ich irgendwann auf ein Essay vom Philosophen Byung-Chul Han mit dem Titel «Die Krise der Narration gestossen». Darin kann man folgenden Satz lesen: «Die lärmende Müdigkeitsgesellschaft ist taub. Die kommende Gesellschaft könnte daher eine Gesellschaft der Zuhörenden und Lauschenden heissen.» Sobald Gruma kein erzählendes, aber gleichzeitig auch kein zuhörendes und lauschendes Dorf mehr ist, wird es entzaubert. In diesem Sinne, um auf die Frage zurückzukommen, gibt sich die Gemeinschaft auf. Mit «lärmender Müdigkeitsgesellschaft» meint Byung-Chul Han unsere moderne Welt, die schon lange sich selber entzaubert hat, weil sie so transparent geworden ist. Walter ist ein Hüter der Geheimnisse, die ihm die Sterbenden anvertrauen und ja, im Gegensatz zum Dorfpfarrer ist er frei von jeglicher Moral und Wertung. Geschichtenabnehmer zu sein ist Segen und Bürde zugleich, heisst es im Roman. Dieses Gleichgewicht galt es beim Schreiben zu halten, aber auch aufzuzeigen, was passiert, wenn das Gleichgewicht aus den Fugen gerät.

Obwohl man landauf, landab von Dichtestress berichtet, eine Stadt wie Tokio mehr als 4000 Einwohner pro km2 zählt, sterben jedes Jahr unzählige Menschen unbemerkt in ihren Behausungen, unabhängig vom materiellen Status. In ursprünglichen Gemeinschaften wie jener in dem von Dir beschriebenen Dorf wäre das undenkbar gewesen. „Privatsphäre“ wie wir sie kennen, gab es nicht. Du wohnst mit Deiner Familie auch in einem Dorf. Gibt es Gemeinschaft noch?

Das Buch erzählt auch vom Altwerden, von der Einsamkeit und der Verlassenheit, die oft damit verbunden sind. Vor der Entzauberung war Gruma eine Gemeinschaft. Die Gemeinschaft entsteht aus der mündlichen Überlieferung von Lebensgeschichten, sie nährt sich davon. In Gruma geht kein Mensch von dieser Welt, bevor er nicht eine Nacht lang erzählen und letzte Dinge loswerden kann. Nach der Entzauberung verlässt Walter das Dorf und zieht zu seiner Mutter in die Schweiz, in die Einsamkeit. Bezeichnend sind die etwas düsteren, aber auch rauen Kapitel im zweiten Teil des Romans, wo Walter seine Mutter (vorübergehend?) ins Altersheim bringt. Bevor er sie dort alleine lässt, muss sie das Alleinsein üben. In diesem Teil des Romans wird die Verlassenheit spürbar, aber auch als Walter nach vielen Jahren nach Gruma zurückkehrt. Das Dorf ist entvölkert, ohne Erinnerung, die Menschen sind einsam. Um auf die «lärmende Müdigkeitsgesellschaft» von Byung-Chul Han zurückzukommen: sie produziert Einsamkeit, sie verunmöglicht Gemeinschaft, denn sie ist die Antithese des Einande-Geschichten-erzählens. Die Frage ist also berechtigt, denn das Erzählen bringt Gemeinschaften hervor. Im Roman wird Gruma unter anderem so beschrieben: «Zu jeder Familie gehörten Grosseltern, Tanten und Onkel, die zusammen mit den Eltern und den Kindern das Haus füllten. Es wimmelte nur so von Kindern und jungen Leuten. Die Alten merkten nicht, dass sie alt wurden. Sie wurden selbst wieder zu Kindern, und der Kreis schloss sich.» Ganz anders die Stimmung viele Jahre später, im Altersheim: es «beherbergt Menschen, die mit dem Abschied vor Augen ins Leere träumen.» In diesem Sinne schreibe ich im Roman gegen diese Einsamkeit an.

© Sandra Kottonau

In allen Deinen bisherigen Romanen spielt Italien eine zentrale Rolle, obwohl Du in der Innerschweiz geboren ist. Versteckt sich da eine Portion Sehnsucht? Eine genetische Verbundenheit?

Italien ist mein Herkunftsland. Ich bin nicht dort geboren, ich bin in der Schweiz geboren, hier aufgewachsen und von Anfang an integriert worden, aber meine Eltern stammen aus Italien. Sie sind Ende der Fünfzigerjahre in die Schweiz eingewandert, um hier zu arbeiten. Wie Max Frisch einmal gesagt hat, hat die Schweiz Arbeitskräfte gerufen, aber es sind Menschen gekommen. Und diese Menschen, meine Eltern, haben ihre Herkunft, ihre Erinnerungen mitgebracht und haben sie weitergegeben. Als ich noch ein Kind war, gingen wir jedes Jahr nach Italien die Verwandten besuchen, zuerst ans Meer und anschliessend auf dem Apennin. Dort oben, in einem Dorf ähnlich wie Gruma, ist meine Mutter aufgewachsen. Erstaunlicherweise war ich viel lieber dort als am Meer, wo so viel los war. Heute weiss ich weshalb. In diesem kleinen, abgelegenen Dorf, das ich jetzt Gruma nenne, war schon alles da, was im Leben wirklich zählt, Liebe, Lebensfreude, Freundschaft, Treue, aber auch Neid, Tragik und Tod. Alles war so essentiell, archaisch. Es war für mich wie ein Übungsfeld für das Leben. Und natürlich hat all das mit Sehnsucht zu tun. Ohne Sehnsucht auf irgendwas kann man nicht schreiben.

Der Roman „Das Eidechsenkind“ (2018) mit dem Du auch für den Schweizer Buchpreis 2018 nominiert warst, war Dein erster in Deutsch verfasster Roman, nachdem die vorausgegangenen Bücher alle in Italienisch, Deiner Muttersprache, geschrieben wurden. Was veränderte sich damit? Änderte sich die Herangehensweise, die Optik, das Spiel mit dem „Instrument Sprache“?

Ja, das stimmt, mit dem Roman «Das Eidechsenkind» hat bei mir beim Schreiben ein Sprachwechsel stattgefunden. Wechsel ist eigentlich das falsche Wort, denn ich schreibe immer noch auch auf Italienisch. Deutsch ist hinzugekommen. Deutsch war lange Zeit für mich eine Kopfsprache. Mit dem «Eidechsenkind» ist sie zu einer Bauchsprache geworden. Um zu schreiben braucht es eine Bauchsprache. Ich bin jetzt ein zweisprachiger Autor. «Das Eidechsenkind» habe ich selber auch in italienischer Sprache verfasst. Das möchte ich auch beim «Geschichtenabnehmer» tun. Dieses Vorgehen ist für mich sehr interessant, denn beim Übersetzen (und eigentlich ist es kein Übersetzen, sondern eher ein Nochmalschreiben) lerne ich immer wieder etwas von der anderen Sprache, sehe und erlebe sie aus einer anderen Perspektive. Beim «Eidechsenkind» waren die Unterschiede krass. Das deutsche Neutrum, das Kind, erlaubte mir, den Protagonisten sowohl im Plot, aber auch in der Sprache selbst zu verstecken. Das Neutrum erlaubte mir das Kind ganz nahe an die Eidechse heranzubringen, einem Tier (das Tier). Im Italienischen ist das nicht möglich, da muss man sich sofort für mehr Transparenz und also auch mehr Licht statt Schatten entscheiden, il bambino oder la bambina, männlich oder weiblich, das verändert sofort den Ton. Ich habe erst begonnen, den «Geschichtenabnehmer» ins Italienische zu übertragen. In der Originalversion verwende ich eine andere, elaboriertere Sprache als beim «Eidechsenkind». Ich bin gespannt, was ich über die beiden Sprachen diesmal entdecken werde.

Vincenzo Todisco, 1964 in der Zentralschweiz geboren, lebt in Rhäzüns. Er hat Romanistik in Zürich studiert und mehrere Romane auf Deutsch und Italienisch veröffentlicht. Für sein literarisches Schaffen wurde er 2005 mit dem Literaturpreis und 2024 mit dem Anerkennungs­preis des Kantons Graubünden ausgezeichnet. Sein Roman «Das Eidechsenkind» war 2018 für den Schwei­zer Buchpreis nominiert und hat mehrere Auflagen erlebt. Todisco lehrt und forscht an der Pädagogischen Hochschu­le Graubünden in Chur.

Webseite des Autors

Beitragsbild © privat

Zora del Buono «Seinetwegen», C. H. Beck

Zora del Buonos Roman „Seinetwegen“ ist ein Vaterbuch. Vaterbücher gibt es viele. Aber weil sie damals, als ihr Vater nach einem Autounfall starb, noch nicht einmal ein Jahr alt war, blieb dieser wie ein Geist im Hintergrund verborgen. „Seinetwegen“ ist eine literarische Vergegenwärtigung, eine vielfache Auseinandersetzung zwischen Opfer und Täter – der Roman in seiner Art ganz eigen.

Das Unglück, den Vater mit acht Monaten zu verlieren, bleibt nicht nur an der Tochter ein ganzes Leben haften. Damals verlor sie ihren Vater. Ihre Mutter ihren Mann. Er wurde 33 Jahre alt und war vielversprechender Radiologe am Kantonsspital in Zürich. Ihre Mutter heiratete nie mehr. Und während die Autorin mit ihrem 60. Geburtstag immer mehr den Wunsch nach Klärung verspürt, sinkt ihre Mutter im Heim in eine Demenz. Wer war der Mann, der bei einem waghalsigen Überholmanöver mit dem Auto ihres Vaters kollidierte? Lebt er noch? Wie lebt es sich, wenn man vor Gericht seine Schuld bekennt? Und wie konnte es sein, dass jener Mann, der mutmasslich zu schnell und mit ungenügenden Bremsen unterwegs war, mit 200 Franken Busse und einer bedingten Strafe davonkam? Warum war der Tod des Vaters nie ein Thema zwischen Mutter und Tochter?

Zora del Buono «Seinetwegen», C. H. Beck, 2024, 204 Seiten, mit Abbildungen, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-406-82240-7

Am Steuer jenes weissen VW-Käfers sass damals der Bruder der Mutter. Er überlebte schwer verletzt, während Zora del Buonos Vater im Spital nach einer Woche an seinen Verletzungen starb. Vom Unfallverursacher, den die Autorin nicht Täter, sondern Töter nennt, weiss sie, dass er ebenso alt war wie ihr Vater damals und sie kennt seine Initialen; E. T. Was die Tochter über ihren Vater weiss, ist, das, was man sich erzählt, nicht die Mutter, aber in der Familie. Einige Fotos, aus denen mit den Jahren Erinnerungen werden. Zora del Buono besucht ihre demente Mutter, eine Frau, die ein ganzes Leben eine elegante Erscheinung war, attraktiv, die sich aber nie mehr wirklich auf einen Mann einliess, geschah das doch in einer Zeit, in der man erwartet hätte, dass die Witwe noch einmal heiraten würde, nur schon wegen der kleinen Tochter.

Zora del Buono macht sich auf die Suche. Auf die Suche nach Antworten auf immer und immer wieder gestellte Fragen, nach Klärung, nach jenem Mann, der sich hinter den Initialen E.T. verbirgt, nach Gründen, warum die Geschichte ihrer Familie und ihre eigene Geschichte jene Richtung eingeschlagen hatte. Warum das Schweigen überall durchbrochen werden muss. Warum das Wohin ins Wanken gerät, wenn das Woher im Dunkeln bleibt. Was wäre geworden, wenn der Unfall nicht passiert wäre? Was wäre aus ihrem Leben geworden, einem Leben, das in keine Familie münden sollte?

Aber „Seinetwegen“ ist nicht einfach eine literarische Recherche. Zora del Buono mäandert. Ihre Suche ist alles andere als geradlinig, manchmal durchaus entschlossen, mutig und unnachgibig. Dann wieder zerstreut, auf Nebenstrassen und Umwegen, zögerlich. Eine Mischung aus Fragmenten aus Leben, die aus dem Nebel auftauchen, Recherchefetzen, die hängen bleiben, Notaten, die nur noch rudimentär mit dem Ursprünglichen zu tun haben, bis hin zu Statistiken über Verkehrstote, in denen sich die Autorin Fingerzeige erhofft oder Geschichten prominenter Opfer wie Albert Camus oder James Dean. Sie macht sich auch örtlich auf den Weg, mit dem Auto auf jener Strasse, auf der die beiden Autos zusammenkrachten, bis in den Kanton Glarus, jenes Tal, aus dem der Töter gefahren kam, mit seinem protzigen Chevrolet. Sie fragt nach, im Tal, auf Ämtern, in Archiven. Bis aus dem Töter ein Mensch wird. Bis aus den Initialen ein Name wird. Aus der Untat ein Leben.

„Seinetwegen“ ist voller Spiegelungen in die Lebensgeschichte der Autorin, ihre Vergangenheit in Bari, ihre Familie, das Leben ihres Vaters, der aus dem grossgeschrieben Del ein kleingeschriebens machte, das Leben ihrer Mutter bis in die Demenz der Gegenwart und jenen Moment, wo eine Einweisung ins Heim unausweichlich wird. „Seinetwegen“ ist weder Abrechnung noch Anklage. Dafür ein vielstimmiges Eintauchen, eine beinahe zärtliche Annäherung, nicht nur an den Vater, auch an die Mutter und all die Schicksale ihrer Familie.

Grossartig geschrieben und eine Einladung!

© Zora del Buono

Interview

Du mäanderst, Du lauscht allen Stimmen, auch jenen, die Dich nicht zielgenau auf den Punkt bringen. Und Du stellst Dich Fragen, denen sich viele nicht stellen wollen, Fragen gegen das Schweigen. Auch dein letzter Roman „Die Marschallin“ beschäftigt sich mit Deiner Familie, Deiner Herkunft. Es gibt zwei Philosophien, sich mit seiner Vergangenheit zu beschäftigen. Die eine sagt „Blick nach vorne“, „Bloss keinen Dreck aufwühlen“, „Lass die Vergangenheit ruhen“. Die andere mahnt, dass es keinen klaren Blick nach vorne gibt, wenn das Woher vernebelt ist. Die Politik zeigt uns sehr gut, was mit vernebelten Blicken in die Vergangenheit geschieht. Steckt in Deinem Buch auch ein Stück Mahnung?
Als Mahnung ist es nicht gedacht, höchstens als Mahnung an Autofahrer, verantwortungsvoll zu sein, weil ein Moment der Unaufmerksamkeit viele Leben zerstören oder beenden kann – ein Thema, das in unserer Gesellschaft zu wenig beachtet wird. Das Auto ist eine heilige Kuh. Deswegen habe ich auch Statistiken eingebaut. Aber ja, ich denke, es ist meistens besser, sich dem Vergangenen zu stellen. Allerdings gibt es auch gute Gründe, Dinge ruhen zu lassen, zum Beispiel, wenn sie zu mächtig sind für einen, zu angsteinflössend, einen zu überwölben drohen. Dann kommt vielleicht später der Zeitpunkt, sich ihrer anzunehmen.

Mich erstaunt die Resonanz, die seit dem Erscheinen Deines Romans die Scheinwerfer lenkt. Ist es das Vaterthema? Die Vielfalt an Themen, mit denen Du Dich in Deinem Buch auseinandersetzt?
Das musst du eigentlich die LeserInnen und das Feuilleton fragen. 
Ich denke nicht, dass es das Vaterthema ist, sondern eher die Vielfalt, die daraus folgende Architektur des Textes. Die Konzentration. Die Ehrlichkeit. Und die Dynamik. Es ist ja ein schnelles Buch. Ich versuche, die Leser und Leserinnen mitzunehmen auf meine Reise, lade sie gewissermassen dazu ein, mit mir die Welt zu entdecken, die äussere und die innere, das spüren sie vielleicht. Und es ist versöhnlich (in diesen so unversöhnlichen Zeiten), das haben mir Leute nach der Lektüre geschrieben, tröstlich auch. Es spricht viele Themen an: Verlust, Tod, Alleinsein, Mut, Schuld, Lebenslust, Liebe, Liebe auch zur Landschaft (und zu Hunden), aber auch Dinge wie der Umgang mit demenzkranken Angehörigen und Familie überhaupt. Das sind Themen, die uns alle betreffen, universelle Themen. Da geht es um viel mehr als um meine eigene kleine Biografie. 

Literatur beschäftigt sich immer mit der Frage, dem Thema „Was wäre wenn“. Auch wenn in der Gegenwart das autofiktionale Schreiben die reine Fiktion fast zu verdrängen scheint. So wie in Filmen mit „nach einer wahren Begebenheit“ Sentimentalitäten noch gefühlsschwerer werden. Obwohl Du Dich mit Deiner Geschichte beschäftigst, vermeidest Du alles, was emotional abdriften könnte. Ist dieses „Mäandern“ ein Stilmittel gegen zu viel Emotion?
Sehr schön gesagt. Ich versachliche zu emotionale Themen, zum Beispiel mit der «Liste der eigenen Deformationen». Das wird dann nüchterner. Hätte ich diese Stelle als Fliesstext geschrieben, hätte es ins Weinerliche umschlagen können, ins Sentimentale. So betrachte ich mich von Aussen, nüchtern eben. Ich mag Nüchternheit.

© Zora del Buono

Der „Töter“ Deines Vaters macht im Buch eine erstaunliche Wandlung durch. Nicht er als Person, aber Deine Wahrnehmung, Deine Sicht. War das für Dich im Schreibprozess überraschend? Geschah die Wandlung während des Schreibens oder war sie Teil Deiner Absicht?
Es war für mich die grosse Überraschung. Was ich über ihn rausgefunden habe, hat ihn mir näher gebracht. Ein zeitlebens negativ besetztes Phantom wird im Laufe der Recherche Mensch. Das war bewegend. Auch traurig. Weil ich sah, was die Schuld mit ihm angerichtet hat. 
Es hat sich alles während des Schreibens entwickelt. Drum war das Schreiben auch so schön, weil es für mich selber überraschend war, immer wieder passierten neue Dinge, knüpften sich verblüffende Fäden, geschahen unglaubliche Zufälle, wahrscheinlich, weil ich ganz offen war. Das ganze Buch war ein einziges schnelles Abenteuer. 

Du mischst ganz verschiedene Stilmittel. Manches liest sich wie ein Essay, anderes wie eine Reportage. Man findet Protokolle neben Erinnerungen. Du wolltest nicht in erster Linie die Geschichte Deiner Familie nachzeichnen. Schon gar nicht Verlustschmerz oder den Fall einer fahrlässigen Tötung und deren Auswirkungen beschreiben. War das geplante Absicht oder begann das Buch erst an einem gewissen Punkt Gestalt anzunehmen?
Ich bin eine sprunghafte Person. Diese Textform entspricht meinem Wesen sehr. Ich hüpfe von hier nach da, finde etwas Interessantes, gehe dem nach, kehre wieder zurück und nehme den roten Faden wieder auf, finde wieder etwas Neues, sause hin (auch im wörtlichen Sinn, gehe also raus in die Welt, schaue mir Orte an, rede mit Leuten). So ist auch der Text geworden, das hat sich ganz organisch entwickelt. Zudem liebe ich Bücher mit kurzen Absätzen. Habe ich immer geliebt, das gehört zu meiner literarischen Sozialisation. Das zweite Tagebuch von Max Frisch etwa. Fragmente einer Sprache der Liebe von Roland Barthes oder Träume von Räumen von George Perec. Ich habe sowieso mehrere Seelen in meiner Brust, ich bin Architektin, Redakteurin, Reporterin, Schriftstellerin. Jede von ihnen schaut anders, schreibt anders. Grundsätzlich hat sowieso jede Textform ihre Berechtigung und Schönheit. Und ich konnte einige davon in einem Buch vereinigen, das war herrlich. 

Mit diesem Roman schaust Du in einen Spiegel. Es gibt Menschen, die brauchen den Spiegel bloss, um Pickel auszudrücken oder die Haare zu richten. Die Politik ist voller Menschen, die den Spiegel nur noch für die Frage brauchen „Wer ist die/der Schönste im Land?“. Dein Schreiben ist Selbstreflexion in Reinkultur. War da nie ein bisschen Angst, zu viel preiszugeben?
Doch, natürlich hatte (und habe) ich Angst davor, zu viel preiszugeben. Ich bin sehr nackt in dem Buch. Aber das gehört zum autofiktionalen Schreiben eben dazu. Dass man ein Risiko eingeht.

© Zora del Buono

Zora del Buono, geboren 1962 in Zürich. Studium der Architektur an der ETH Zürich, fünf Jahre Bauleiterin im Nachwende-Berlin. Gründungsmitglied und Kulturredakteurin der Zeitschrift mare. Autorin von Romanen und Reisebüchern.

Zora del Buono „Die Marschallin“, Rezension auf literaturblatt.ch

Zora del Buoni «Hinter den Büschen die Hauswand», Rezension auf literaturblatt.ch

Zora del Buono «Death Valley coffee shock», Gastbeitrag auf der Plattform Gegenzauber

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Stefan Bohrer

Evelina Jecker Lambreva «Mein Name ist Marcello», Braumüller

Bei vielen Leserinnen und Lesern scheint die Frage, ob ein Buch ein Stück abgebildeter Realität sei, eine wahre Geschichte, oder reine Fiktion, ein Spiel mit Realem, so zentral wie nie zuvor. Evelina Jecker Lambreva treibt eben diese Spiegelungen zwischen Realem und Fiktionalem bis auf die Spitze – erfrischend und mit tiefgründigem Scharfsinn.

Fabiana Bianchi ist eine angesagte Krimiautorin. Ihre Bücher scheinen ein nach Crime hungerndes Publikum längst von selbst zu finden. Wo sie auftritt, füllt sie Säle, ihre Bücher verkaufen sich sensationell. Sie geniesst ihren Erfolg, ist sich ihrer Wirkung auch auf der Bühne sicher, geniesst die Zuwendungen ihrer Fans. Aber bei der Präsentation ihres neusten Romans meldet sich während der Lesung ein Mann in der ersten Reihe und behauptet, sie habe die Geschichte im Buch gestohlen, das sei seine Geschichte und er sei nie gefragt worden, ob sie so einfach Gegenstand eines Buches werden dürfe; die Geschichte einer zerrütteten Familie, eines Verbrechens. Und als er ihr beim Signieren mit einem Prozess droht und sie auch auf den darauf folgenden Lesungen in den Metropolen Europas verfolgt, wird aus dem Vorwurf, den Drohungen ein Alp, der Fabiana Bianchi bis ins Mark erschüttert. Fabiana weiss nicht, wie ihr geschieht.

Evelina Jecker Lambreva «Mein Name ist Marcello», Braumüller, 2024, 240 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-99200-362-4

Eine sehr plausible Situation, gibt es doch im Literaturbetrieb immer wieder solch wirre und unkontrollierbare Situationen, die nicht nur ein Buch verhindern, sondern Schreibenden ihre Existenz rauben können. Aber während der Lektüre wird sehr schnell klar, dass es Evelina Jecker Lambreva nicht in erster Linie darum geht, wie Literatur mit Realem umzugehen hat. Sie erzählt auch die Geschichte von Paolo Privoli, eines erfolgreichen Kunsthändlers, der es mit Geschick und Glück von ganz unten bis nach ganz oben geschafft hatte. Er, der sich auch für Literatur interessiert, ein leidenschaftlicher Leser der Kriminalromane von Fabiana Bianchi ist, sitzt in seiner Stadt in der ersten Reihe und muss feststellen, dass die Frau, die er nur aus Büchern kennt, seine Geschichte erzählt. Eine Geschichte, von der niemand, höchstens seine engsten Vertrauten wissen sollten. Die Geschichte eines Mannes, der als Kind seinen kleineren Bruder durch seine unstillbare Lust nach Macht ins Unglück treibt. Von einer Mutter, die nicht zu lieben vermag, einem Vater, der sich in seiner Verzweiflung umbringt und einem Grossvater, der zum Tyrannen wird. Eine Vergangenheit, eine Geschichte, die er nicht nur durch fünf Jahre Gefängnis hinter sich lassen wollte.

Fabiana Bianchi kann sich die Vorwürfe des Mannes nicht erklären und sämtliche Versicherungen, die Geschichte sei ganz und gar ihrer Fantasie entsprungen, perlen an dem aufgeschreckten Mann ab. Im Laufe des Romans entwickelt sich eine Art Duell. Dort die Frau, die sich an den Alp in ihrer Kindheit zurückgedrängt fühlt, dort der Mann, der glaubte, sein Leben in absolute Kontrolle getaucht zu haben und feststellen muss, dass ein Buch sein ganz eigenes Trauma offenbart.

Aber dabei bleibt es nicht. Evelina Jecker Lambrevas Roman zwischen Krimi und Verwirrspiel, zwischen Familiengeschichte und Vergangenheitsbewältigung stellt zwei Menschen einander gegenüber, die sich beide auf ihre Weise mit ihrer Kindheit, den dunklen Flecken in ihrer Vergangenheit konfrontiert sehen. Bin ich der, den ich mit Akribie selbst inszeniere oder doch nicht durch die Poren meiner Fassade das, was ich nie zu verdauen in der Lage war? Evelina Jecker Lambrevas Wissen um die Vielschichtigkeit menschlichen Seins macht das Spiegellabyrinth, durch das ich mich als Leser winde, verständlich. Unser Innenleben ist verschachtelt, voller dunkler Sackgassen und tückischer Geheimnisse.

„Mein Name ist Marcello“ ist voller Überraschungen, liest sich wie ein Thriller, der sich immer und immer wieder meinen Interpretationen verweigert. So wie die menschliche Seele ein Labyrith ist, so gibt sich die Lektüre dieses Romans.

Interview

 „In each of us there is another whom we do not know…“, ein Zitat von C. G. Jung, ist Deinem Roman vorangestellt. Wären wir uns dessen mehr bewusst, wäre das Verständnis für die Schattenseiten anderer wohl viel grösser. Du bist Psychiaterin, Psychotherapeutin und Schriftstellerin und damit prädestiniert, den Spalt hinter Fassaden zu finden. Ist das Schreiben auch ein Ventil?
Ein Ventil? Mein Beruf hat mich zwar schon immer zum Schreiben inspiriert, mit den Themen, die sich aus den Gesprächen mit meinen Patientinnen und Patienten ergeben, aber das Schreiben als Ventil habe ich noch nie gebraucht. Ich wüsste auch nicht, wozu ich ein Ventil bräuchte. Viel mehr dient mir das Schreiben für die persönliche Auseinandersetzung mit mir selbst, indem ich versuche, eben diese „andere“, die in mir verborgen ist, kennenzulernen. Für mich habe ich sogar die Worte von C.G. Jung so perephrasiert: „In jedem von uns lebt noch einer/eine, den/die wir nicht sein wollen.“ Genau diese möchte ich durch das Schreiben besser kennenlernen: die ich nicht sein möchte, die aber trotzdem irgendwo (auch) mein Inneres bewohnt.

Fabiana Bianchi ist eine überaus erfolgreiche Krimiautorin. Derer gibt es viele, man denke an Donna Leon oder Charlotte Link. Autorinnen, die Buch an Buch veröffentlichen, Bestseller an Bestseller reihen und mehr als gut von ihrem Schreiben leben können. Doch eigentlich die Ausnahme, denn die meisten AutorInnen leben mehr schlecht als recht von ihrer Schriftstellerei. Aber wie jede Person, die sich im Focus einer breiten Aufmerksamkeit bewegt, hat diese Popularität auch seinen Preis. Verkauft eine erfolgreiche Künstlerin, ein erfolgreicher Künstler mit seinem Ruhm nicht auch ein Stück seines Lebens?
Natürlich tut er/sie das. Vermarktung der Intimität ist heutzutage hoch im Trend. Für mich ist es jedoch unklar, wie bewusst ein Künstler/eine Künstlerin so was macht. Ich glaube kaum, dass es viele Schriftsteller und Schriftstellerinnen gibt, die ganz gezielt ihr Leben für Geld an das Lesepublikum verkaufen. Vielleicht ist es bei einigen eher ein Bedürfnis, das eigene Leben in die Welt hinauszuschreien, hinauszuweinen, auszukotzen, mitzuteilen? Man kann dieses Bedürfnis aber auch diskret verschlüsselt und eingepackt in Figuren, Metaphern oder Allegorien ausleben, derart, dass nur der Künstler/die Künstlerin weiss, dass es sich um sein/ihr Leben handelt. Somit wird auch der finanzielle Profit eines Verkaufs fern vom Bewusstsein gehalten.

Naviglio Grande, Milano @ Evelina Jecker Lambreva

In den unendlichen Möglichkeiten menschlichen Lebens ist die Wahrscheinlichkeit, dass man mit seinem Schreiben die Wirklichkeit eines fremden Menschen trifft, nicht so verschwindend wie man glaubt. Du als Schriftstellerin hoffst doch auch, dass Leserinnen und Leser sich in Deinen Geschichten gespiegelt sehen oder sogar wiedererkennen. Ist das nicht genau die Resonanz, die man als Schreibende erhofft?
Schriftsteller/Schriftstellerin sein, ist ein einsames Schicksal, so denke ich. Wenn ich schreibe, denke ich nie an die potentiellen Leserinnen und Leser, nicht an Rezensentinnen und Rezensenten, nicht an die Medien. Ich bin allein in der Auseinandesetzung mit meinen Gedanken, Stimmungen, Atmosphären, Heldinnen und Helden. Die Lesenden müssen sich nicht unbedingt in meinen Geschichten wiedererkennen oder sich darin gespiegelt sehen. Von mir aus können meine Figuren auch befremdend, schrecklich, sogar abstossend auf das Lesepublikum wirken. Das würde mich gar nicht stören, wenn es so wäre. Viel wichtiger ist es mir, dass ich durch meine Figuren die Leserschaft zu neuen Gedankenanstössen anregen kann. So hoffe ich auf eine Resonanz zu den Lebensthemen, die ich in meinen Werken durch meine Heldinnen und Helden behandle. Dies aber erst, wenn das Buch veröffentlicht ist, nicht während des Schreibens.

Beide Protagonisten kommen aus Familien, die ihnen nicht geben konnten, was man jedem Kind wünscht. Beide tragen einen Alp mit sich herum. Ich bin Sohn und Vater und weiss sehr genau, wie tief die Schluchten sein können, an denen man sich als Mutter oder Vater vorbeihangelt. Mittlerweile lebt eine ganze Industrie von den Auswirkungen dieser Untiefen. Und auf der anderen Seite die Literatur; Bücher, die sich in den Untiefen tummeln, Bücher, die bewusst machen. Du schreibst Deine Bücher ja auch nicht zur blossen Unterhaltung und Zerstreuung. Wo liegt das Urmotiv dieses Romans? Wie kamst Du zu dieser Idee?
Beziehungen zwischen Eltern und Kinder haben einen zentralen Platz in all meinen Werken. Vielleicht hängt das mit meinem Beruf als psychoanalytisch orientierte Psychotherapeutin zusammen, denn bei mir gehen Medizin und Literatur Hand in Hand. Das Urmotiv meines Romans kam von einem Mord, den ich als Falldarstellung an einem Studentenunterricht präsentiert habe. Während ich den Studentinnen und Studenten den Fall schilderte, lief plötzlich im Hintergrund der ganze Romanplot in meinem Kopf ab, wie in einem Film. Mehr dazu möchte ich nicht sagen, da ich nicht in eine Situation der Arztgeheimnisverletzung geraten möchte.

Das Städtchen mit dem Namen einer Heiligen in Ligurien @ Evelina Jecker Lambreva

In Deinem Roman geht es viel um Macht. Paolo Privoli kompensiert die Machtlosigkeit, die ihn als Kind ins Abseits drängte mit der Sehnsucht, Macht auszuüben. Macht ist ein grosser Antrieb, der in Politik und Wirtschaft aber allzuoft, hauptsächlich von Männern, zu Katastrophen führt. Geniessen die Schriftstellerin die „Macht“ über ihre Leserschaft?
Ich habe nicht das Bewusstsein, Macht in irgendeiner Form auf die Leserschaft auszuüben. Wenn ich über Macht schreibe, dann ist das, weil mich Macht interessiert, insofern sie fast immer als unbewusster Kompensationsversuch von in der Kindheit erlebter Ohnmacht auftritt. Die Ohnmacht eines Kindes bewegt mich zutiefst, und was später im Verlauf des Lebens aus dieser Ohnmacht entstehen kann – diese Frage entzündet meine künstlerische Fantasie enorm. Wie sich aus einem ohnmächtigen, systematischer Gewalt ausgelieferten Kind später eine Ärztin, eine Schriftstellerin, eine Mörderin oder eine Rechtsextremistin entwickelt, das ist die Frage, die mich in meinen Texten beschäftigt. Denn das ist und bleibt für mich eines der grossen Geheimnisse des Lebens: Wieso machen psychische Traumata von in der Kindheit erlebter physischer und/oder psychischer Gewalt manche Menschen krank und (selbst)zerstörerisch, andere zu autoritären Herrschern oder gar zu monströsen Diktatoren, und andere wiederum zu hochbegabten Künstlerinnen und Künstlern, sowie zu hervorragenden Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Dieses Geheimnis, so denke ich, wird wohl nie von der Wissenschaft gelüftet werden.

Evelina Jecker Lambreva, 1963 in Stara Zagora, Bulgarien, geboren, lebt seit 1996 in der Schweiz. Sie arbeitet als niedergelassene Psychiaterin und Psychotherapeutin in Luzern und als Klinische Dozentin an der Universität Zürich. Ihr literarisches Schaffen in deutscher Sprache begründete sie mit dem Gedichtband «Niemandes Spiegel» sowie den Erzählbänden «Unerwartet» und «Bulgarischer Reigen». Bei Braumüller erschienen: «Vaters Land» (2014) «Nicht mehr» (2016) «Entscheidung» (2019) und «Im Namen des Kindes» (2022)

Beitragsbild © Alexander Jecker

Daniel Gräfe «Wir waren Kometen», Danube Books

Liebesgeschichten und „ernsthafte Literatur“ scheinen sich fast auszuschliessen. Die Gefahr, in Kitsch und Sentimentalität zu kippen, ist gross. Die Vergleichswerte an den ganz grossen Liebesgeschichten der Weltliteratur sind hoch gesteckt. Daniel Gräfe hat es gewagt – und gewonnen. Auch wenn in seinem Debüt der Bogen bis an die Grenzen gespannt ist, überzeugt sein Roman mit viel Intimität, grossen Gefühlen, reichen Bildern und überraschenden Sätzen. Auf jeden Fall ein Gewinn!

Zwischen der deutschen und der rumänischen Grenze liegen nicht einmal tausend Kilometer. Und trotzdem sind es Welten. Beide Länder kauen bis in die Gegenwart am Erbe einer menschenverachtenden Diktatur, auch wenn zwischen dem Suizid Hitlers und der Erschiessung Ceaușescus fast ein halbes Jahrhundert liegt. Während die Schatten des Dritten Reiches immer matter werden und man in Deutschland unter einem kollektiven Vergessen leidet, sind viele der rumänischen Schergen von damals noch immer da.

Luba hat es in ihrem rumänischen Dorf nicht mehr ausgehalten, nicht zuhause, nicht in der Schule, schon gar nicht in ihrer gesellschaftlichen Isolation. Im Streit, verraten und enttäuscht verlässt sie Rumänien, mit wenig Gepäck Richtung Deutschland, in der Hoffnung ihr Studium an der Hochschule der Bildenden Künste abschliessen zu können. Aber Geldsorgen zwingen die junge Frau, ihr Studium aufzugeben. Luba streunt durch Berlin, immer auf der Kippe zwischen Sehnsüchten und Hoffnungslosigkeit. Aber der Sommer 2007 soll eine Wende in ihrem Leben bringen. Auch im Leben von Lukas, einem erfolglosen Schreiberling, der sich mehr schlecht als recht in einer Werbeagentur über Wasser hält.

„Sie nickt. Schüttelt den Kopf, schaut aus dem Fenster, doch ihre Pupillen bewegen sich nicht.“

Daniel Gräfe «Wir waren Kometen», Danube Books, 2024, 248 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-946046-41-7

In eben diesem Sommer rettet Lukas Luba durch unerklärliche Entschlossenheit und Mut, der sonst so gar nicht seine Sache ist. Die beiden, eine Schicksalsgemeinschaft Gestrandeter, verbringen einen Sommer der zaghaften Annäherung. Vor allem Luba ist eine Gezeichnete. Was sie in Rumänien erleben musste, will sie um jeden Preis hinter sich lassen, irgendwann nach Italien ziehen, ins Land ihrer Sehnsüchte. Lukas verliebt sich in die fahrige junge Frau. Luba hat, was ihm fehlt; Entschlossenheit und Kompromislosigkeit. Er dümpelt in einem Leben, das nicht in die Gänge kommt und Luba weckt in ihm, was beinahe erloschen wäre.

Aber trotz aller Leidenschaft und Liebe scheitert, was so wundersam begonnen hatte. Sie will weg, weiter, dorthin, wo all ihre Träume in Erfüllung gehen sollen, er traut sich nicht, den Anker aus dem Schlamm zu ziehen. Sie trennen sich, auch wenn die Liebe nicht erloschen ist. Sie reist ab nach Italien, er bleibt. 

„Ich möchte , dass mein Leben kein Missverständis war.“

Jahre später meldet sie sich wieder, ernüchtert, ohne Geld und Aussichten, gestrandet bei einer Freundin. Und weil alle Stricke gerissen sind, reisst Luba zurück in ein Land, dass sie nie mehr betreten wollte. Lukas zu allem entschlossen mit seinem alten Fiesta macht sich auf den abenteuerlichen Weg auf die Suche nach einer Verlorenen. Ein Roadtripp durch die rumänische Pampas, mitten in ein Leben, das von seinem Alltag ebenso weit entfernt ist wie der leidenschaftliche Sommer damals mit Luba.

Kometen kreisen in ganz eigenen Bahnen, scheinen nicht den üblichen Gesetzen zu folgen. Und trotzdem sieht man von ihnen nur den Schweif, das, was sie hinter sich herziehen. Daniel Gräfes Debüt „Wir waren Kometen“ ist mit erstaunlicher Leichtigkeit geschrieben, unverkrampft und erfrischend. Ein vielschichtiger Roman über zwei Leben, die die Gravitation ihrer Vergangenheit auseinandereisst, über Verwundungen, die nie wirklich vernarbten.

© Daniel Gräfe

Interview

Rumänien und seine Geschichte spielen in ihrem Buch eine zentrale Rolle. Was verbindet sie mit diesem Land.
Reisen. Menschen, die ich kennengelernt habe, manche, die mir zu Freund*innen wurden. Eine Liebesbeziehung. Ich mag die Kontraste, das Brüchige und Unfertige des Landes, in das man sich sprichwörtlich noch selbst einschreiben kann. Ich mag den Witz und die Bodenständigkeit vieler Menschen.

Luba und Lukas tragen in ihren Namen zwar die ersten beiden Buchstaben gemeinsam, aber sonst trennen die beiden Welten. Eine der Gemeinsamkeiten, die sie aber doch verbindet, wenn auch zuerst verborgen, sind ihre Verwundungen. Eigentlich ist ihr Roman nicht zuletzt die Aufmunterung, in einer Liebe mit wirklich offenen Karten zu spielen, sich ganz zu öffnen, weil die dünne Haut dieser Vernarbungen doch irgendwann reissen kann.
Zu lieben heisst für mich auch, sich in seiner Verletzbarkeit und Imperfektion zu zeigen und den anderen so liebevoll zu sehen. Sich selbst so anzunehmen und lieben zu lernen, ist die Voraussetzung dafür. Wäre das bei Luba und Lukas bereits so, wäre es für den Roman völlig langweilig. Deshalb verbergen Lukas und Luba nicht nur ihre Verwundungen, sondern kommen selbst nicht mit ihnen zurecht. Dafür projizieren sie, als sie sich ineinander verlieben, ihre Sehnsüchte und Wünsche auf den anderen. Diese liebevoll-brutale Vereinnahmung muss natürlich scheitern. So gebe ich ihnen zwei Drittel des Romans Zeit, selbst ihren Weg zu suchen und den anderen in einem zweiten Anlauf verstehen und kennenzulernen. Ein Prozess, der nie zu Ende ist, aber der richtige Anfang. Ich mag, dass die beiden sich in einem zweiten Anlauf zu finden suchen. Der Roman beginnt dort, wo das Happy End gemeinhin endet.

Luba und Lukas sind nicht dort, wo sie sein wollen. Auch am Schluss des Romans sind sie es nicht. Sie sind noch immer in einem Dazwischen. Zwischen Traum und Realität klafft allzu oft ein tiefer Graben. Luba möchte zeichnen, Lukas schreiben. Beiden droht die Realität, den Traum zu zerstören. Warum ist das ewige Hinterherrennen ebenso zerstörerisch wie der nie gewagte Versuch?
Träume tragen immer auch etwas Radikales in sich – zum Beispiel das Versprechen, eine Version seiner selbst zu sein, die man selbst gestalten darf. Das ist nichts, das man in Gleichmut betrachtet: Man will es unbedingt schaffen oder zaudert ob der Grösse der Aufgabe. Beides bringt einen nicht in den Fluss und Flow, den der Traum in der Realität benötigt. Es braucht die kleinen, konkreten Schritte, die Gelassenheit – aber das ist nur meine Sicht darauf.

© Daniel Gräfe

Im ersten Teil ist Berlin der Schauplatz, ein flirrender Sommer 2007, im zweiten Teil ein abenteuerlicher Roadtripp durch Rumänien und im letzten ein Finale in der Wildnis des Donaudeltas. Dazwischen immer wieder Rückblenden in die Leben der beiden Protagonisten und Auszüge aus Lubas Tagebuch. Wann wird im Schreibprozess klar, wie der Roman gebaut sein muss?
Beim Schreiben muss ich den Moment spüren, warum ausgerechnet dieses Buch auf diese Weise geschrieben werden muss. Ein gutes Zeichen ist, wenn ich mich der Figur und ihrer Besonderheit ganz nah fühle, und wenn ich so konkret zu schreiben beginne, dass im Kleinen ein Metathema auf leichte Art mitschwingt. Wenn das stimmt, kann ich den Roman bauen – und das auf unterschiedliche Weisen. Bei „Wir waren Kometen“ war mir wichtig, dass der Bau Imaginationsräume für die Leser*innen schafft, die sie selbst erkunden müssen, der Roman aber auch spannend bleibt. Ich habe aber auch gemerkt, dass ich meiner zweiten Hauptfigur Luba noch mehr Platz einräumen muss und lasse sie deshalb zeichnen, Tagebücher und Mails schreiben, dass man sie ungefiltert sieht.

Ist „Wir waren Kometen» ein Komet im Leben Daniel Gräfe?
Der Roman ist ein sehr wichtiges Buch für mich, weil auch viele eigene Erfahrungen darin stecken und Themen wie Reisen, Ost-West, Kulturaustausch oder der Culture Clash in der Liebe auch meine eigenes sind. Und natürlich ist er ein dicker Brocken, weil ich einen halben Roman aus ihm herausgeschrieben habe, um ihn trotz der Vielschichtigkeit einfach zu halten, und es bis zur Veröffentlichung so lange dauerte. Aber gerade deshalb hoffe ich, dass sich „Wir waren Kometen“ auch in zehn Jahren noch gut lesen lässt und damit in der Umlaufbahn bleibt.

© Daniel Gräfe

Was mich sehr beeindruckte, waren die kleinen Geschichten in der grossen Geschichte. Manchmal auch bloss einzelne Szenen oder Sätze. Sind Sie im Schreiben ein Sammler oder ein Jäger?
Jäger wissen, was sie jagen und erlegen wollen, das scheint mir zum Schreiben nicht zu passen, so ein Buch wäre vorhersehbar und die Spannung nur behauptet. Ich bin vor allem ein Beobachter, der Eindrücke sammelt, Dinge erst einmal für sich stehen und gelten lässt. Und ich bin ein Empfindender, der Beziehungen herstellt, die eigenen Erfahrungen verknüpft und hinterfragt, sich abermals herantastet, im besten Fall auszusetzen sucht, dass mir der Schreibprozess auch persönlich mehr abverlangt, als ich anfangs zu geben bereit bin. Erst dann würde ich es schreiben nennen.

Daniel Gräfe, geb. 1971 in Biberach, arbeitete in sozialen Projekten in den USA und Ägypten und bereiste nach dem Studium in London recherchierend und schreibend Afrika, Asien und den Nahen Osten. Er arbeitete als Kultur- und Wirtschaftsredakteur in Ost und West und ist Reporter der Stuttgarter Zeitung. Seine Erzählungen, Reportagen und Lyrik wurden mehrfach ausgezeichnet.

Beitragsbild © Dominique Brewing