Zora del Buono «Seinetwegen», C. H. Beck #SchweizerBuchpreis 24/08

Zora del Buonos Roman „Seinetwegen“ ist ein Vaterbuch. Vaterbücher gibt es viele. Aber weil sie damals, als ihr Vater nach einem Autounfall starb, noch nicht einmal ein Jahr alt war, blieb dieser wie ein Geist im Hintergrund verborgen. „Seinetwegen“ ist eine literarische Vergegenwärtigung, eine vielfache Auseinandersetzung zwischen Opfer und Täter – der Roman in seiner Art ganz eigen.

Das Unglück, den Vater mit acht Monaten zu verlieren, bleibt nicht nur an der Tochter ein ganzes Leben haften. Damals verlor sie ihren Vater. Ihre Mutter ihren Mann. Er wurde 33 Jahre alt und war vielversprechender Radiologe am Kantonsspital in Zürich. Ihre Mutter heiratete nie mehr. Und während die Autorin mit ihrem 60. Geburtstag immer mehr den Wunsch nach Klärung verspürt, sinkt ihre Mutter im Heim in eine Demenz. Wer war der Mann, der bei einem waghalsigen Überholmanöver mit dem Auto ihres Vaters kollidierte? Lebt er noch? Wie lebt es sich, wenn man vor Gericht seine Schuld bekennt? Und wie konnte es sein, dass jener Mann, der mutmasslich zu schnell und mit ungenügenden Bremsen unterwegs war, mit 200 Franken Busse und einer bedingten Strafe davonkam? Warum war der Tod des Vaters nie ein Thema zwischen Mutter und Tochter?

Zora del Buono «Seinetwegen», C. H. Beck, 2024, 204 Seiten, mit Abbildungen, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-406-82240-7

Am Steuer jenes weissen VW-Käfers sass damals der Bruder der Mutter. Er überlebte schwer verletzt, während Zora del Buonos Vater im Spital nach einer Woche an seinen Verletzungen starb. Vom Unfallverursacher, den die Autorin nicht Täter, sondern Töter nennt, weiss sie, dass er ebenso alt war wie ihr Vater damals und sie kennt seine Initialen; E. T. Was die Tochter über ihren Vater weiss, ist, das, was man sich erzählt, nicht die Mutter, aber in der Familie. Einige Fotos, aus denen mit den Jahren Erinnerungen werden. Zora del Buono besucht ihre demente Mutter, eine Frau, die ein ganzes Leben eine elegante Erscheinung war, attraktiv, die sich aber nie mehr wirklich auf einen Mann einliess, geschah das doch in einer Zeit, in der man erwartet hätte, dass die Witwe noch einmal heiraten würde, nur schon wegen der kleinen Tochter.

Zora del Buono macht sich auf die Suche. Auf die Suche nach Antworten auf immer und immer wieder gestellte Fragen, nach Klärung, nach jenem Mann, der sich hinter den Initialen E.T. verbirgt, nach Gründen, warum die Geschichte ihrer Familie und ihre eigene Geschichte jene Richtung eingeschlagen hatte. Warum das Schweigen überall durchbrochen werden muss. Warum das Wohin ins Wanken gerät, wenn das Woher im Dunkeln bleibt. Was wäre geworden, wenn der Unfall nicht passiert wäre? Was wäre aus ihrem Leben geworden, einem Leben, das in keine Familie münden sollte?

Aber „Seinetwegen“ ist nicht einfach eine literarische Recherche. Zora del Buono mäandert. Ihre Suche ist alles andere als geradlinig, manchmal durchaus entschlossen, mutig und unnachgibig. Dann wieder zerstreut, auf Nebenstrassen und Umwegen, zögerlich. Eine Mischung aus Fragmenten aus Leben, die aus dem Nebel auftauchen, Recherchefetzen, die hängen bleiben, Notaten, die nur noch rudimentär mit dem Ursprünglichen zu tun haben, bis hin zu Statistiken über Verkehrstote, in denen sich die Autorin Fingerzeige erhofft oder Geschichten prominenter Opfer wie Albert Camus oder James Dean. Sie macht sich auch örtlich auf den Weg, mit dem Auto auf jener Strasse, auf der die beiden Autos zusammenkrachten, bis in den Kanton Glarus, jenes Tal, aus dem der Töter gefahren kam, mit seinem protzigen Chevrolet. Sie fragt nach, im Tal, auf Ämtern, in Archiven. Bis aus dem Töter ein Mensch wird. Bis aus den Initialen ein Name wird. Aus der Untat ein Leben.

„Seinetwegen“ ist voller Spiegelungen in die Lebensgeschichte der Autorin, ihre Vergangenheit in Bari, ihre Familie, das Leben ihres Vaters, der aus dem grossgeschrieben Del ein kleingeschriebens machte, das Leben ihrer Mutter bis in die Demenz der Gegenwart und jenen Moment, wo eine Einweisung ins Heim unausweichlich wird. „Seinetwegen“ ist weder Abrechnung noch Anklage. Dafür ein vielstimmiges Eintauchen, eine beinahe zärtliche Annäherung, nicht nur an den Vater, auch an die Mutter und all die Schicksale ihrer Familie.

Grossartig geschrieben und eine Einladung!

Interview

Du mäanderst, Du lauscht allen Stimmen, auch jenen, die Dich nicht zielgenau auf den Punkt bringen. Und Du stellst Dich Fragen, denen sich viele nicht stellen wollen, Fragen gegen das Schweigen. Auch dein letzter Roman „Die Marschallin“ beschäftigt sich mit Deiner Familie, Deiner Herkunft. Es gibt zwei Philosophien, sich mit seiner Vergangenheit zu beschäftigen. Die eine sagt „Blick nach vorne“, „Bloss keinen Dreck aufwühlen“, „Lass die Vergangenheit ruhen“. Die andere mahnt, dass es keinen klaren Blick nach vorne gibt, wenn das Woher vernebelt ist. Die Politik zeigt uns sehr gut, was mit vernebelten Blicken in die Vergangenheit geschieht. Steckt in Deinem Buch auch ein Stück Mahnung?
Als Mahnung ist es nicht gedacht, höchstens als Mahnung an Autofahrer, verantwortungsvoll zu sein, weil ein Moment der Unaufmerksamkeit viele Leben zerstören oder beenden kann – ein Thema, das in unserer Gesellschaft zu wenig beachtet wird. Das Auto ist eine heilige Kuh. Deswegen habe ich auch Statistiken eingebaut. Aber ja, ich denke, es ist meistens besser, sich dem Vergangenen zu stellen. Allerdings gibt es auch gute Gründe, Dinge ruhen zu lassen, zum Beispiel, wenn sie zu mächtig sind für einen, zu angsteinflössend, einen zu überwölben drohen. Dann kommt vielleicht später der Zeitpunkt, sich ihrer anzunehmen.

Mich erstaunt die Resonanz, die seit dem Erscheinen Deines Romans die Scheinwerfer lenkt. Ist es das Vaterthema? Die Vielfalt an Themen, mit denen Du Dich in Deinem Buch auseinandersetzt?
Das musst du eigentlich die LeserInnen und das Feuilleton fragen. 
Ich denke nicht, dass es das Vaterthema ist, sondern eher die Vielfalt, die daraus folgende Architektur des Textes. Die Konzentration. Die Ehrlichkeit. Und die Dynamik. Es ist ja ein schnelles Buch. Ich versuche, die Leser und Leserinnen mitzunehmen auf meine Reise, lade sie gewissermassen dazu ein, mit mir die Welt zu entdecken, die äussere und die innere, das spüren sie vielleicht. Und es ist versöhnlich (in diesen so unversöhnlichen Zeiten), das haben mir Leute nach der Lektüre geschrieben, tröstlich auch. Es spricht viele Themen an: Verlust, Tod, Alleinsein, Mut, Schuld, Lebenslust, Liebe, Liebe auch zur Landschaft (und zu Hunden), aber auch Dinge wie der Umgang mit demenzkranken Angehörigen und Familie überhaupt. Das sind Themen, die uns alle betreffen, universelle Themen. Da geht es um viel mehr als um meine eigene kleine Biografie. 

Literatur beschäftigt sich immer mit der Frage, dem Thema „Was wäre wenn“. Auch wenn in der Gegenwart das autofiktionale Schreiben die reine Fiktion fast zu verdrängen scheint. So wie in Filmen mit „nach einer wahren Begebenheit“ Sentimentalitäten noch gefühlsschwerer werden. Obwohl Du Dich mit Deiner Geschichte beschäftigst, vermeidest Du alles, was emotional abdriften könnte. Ist dieses „Mäandern“ ein Stilmittel gegen zu viel Emotion?
Sehr schön gesagt. Ich versachliche zu emotionale Themen, zum Beispiel mit der «Liste der eigenen Deformationen». Das wird dann nüchterner. Hätte ich diese Stelle als Fliesstext geschrieben, hätte es ins Weinerliche umschlagen können, ins Sentimentale. So betrachte ich mich von Aussen, nüchtern eben. Ich mag Nüchternheit.

© Zora del Buono

Der „Töter“ Deines Vaters macht im Buch eine erstaunliche Wandlung durch. Nicht er als Person, aber Deine Wahrnehmung, Deine Sicht. War das für Dich im Schreibprozess überraschend? Geschah die Wandlung während des Schreibens oder war sie Teil Deiner Absicht?
Es war für mich die grosse Überraschung. Was ich über ihn rausgefunden habe, hat ihn mir näher gebracht. Ein zeitlebens negativ besetztes Phantom wird im Laufe der Recherche Mensch. Das war bewegend. Auch traurig. Weil ich sah, was die Schuld mit ihm angerichtet hat. 
Es hat sich alles während des Schreibens entwickelt. Drum war das Schreiben auch so schön, weil es für mich selber überraschend war, immer wieder passierten neue Dinge, knüpften sich verblüffende Fäden, geschahen unglaubliche Zufälle, wahrscheinlich, weil ich ganz offen war. Das ganze Buch war ein einziges schnelles Abenteuer. 

Du mischst ganz verschiedene Stilmittel. Manches liest sich wie ein Essay, anderes wie eine Reportage. Man findet Protokolle neben Erinnerungen. Du wolltest nicht in erster Linie die Geschichte Deiner Familie nachzeichnen. Schon gar nicht Verlustschmerz oder den Fall einer fahrlässigen Tötung und deren Auswirkungen beschreiben. War das geplante Absicht oder begann das Buch erst an einem gewissen Punkt Gestalt anzunehmen?
Ich bin eine sprunghafte Person. Diese Textform entspricht meinem Wesen sehr. Ich hüpfe von hier nach da, finde etwas Interessantes, gehe dem nach, kehre wieder zurück und nehme den roten Faden wieder auf, finde wieder etwas Neues, sause hin (auch im wörtlichen Sinn, gehe also raus in die Welt, schaue mir Orte an, rede mit Leuten). So ist auch der Text geworden, das hat sich ganz organisch entwickelt. Zudem liebe ich Bücher mit kurzen Absätzen. Habe ich immer geliebt, das gehört zu meiner literarischen Sozialisation. Das zweite Tagebuch von Max Frisch etwa. Fragmente einer Sprache der Liebe von Roland Barthes oder Träume von Räumen von George Perec. Ich habe sowieso mehrere Seelen in meiner Brust, ich bin Architektin, Redakteurin, Reporterin, Schriftstellerin. Jede von ihnen schaut anders, schreibt anders. Grundsätzlich hat sowieso jede Textform ihre Berechtigung und Schönheit. Und ich konnte einige davon in einem Buch vereinigen, das war herrlich. 

Mit diesem Roman schaust Du in einen Spiegel. Es gibt Menschen, die brauchen den Spiegel bloss, um Pickel auszudrücken oder die Haare zu richten. Die Politik ist voller Menschen, die den Spiegel nur noch für die Frage brauchen „Wer ist die/der Schönste im Land?“. Dein Schreiben ist Selbstreflexion in Reinkultur. War da nie ein bisschen Angst, zu viel preiszugeben?
Doch, natürlich hatte (und habe) ich Angst davor, zu viel preiszugeben. Ich bin sehr nackt in dem Buch. Aber das gehört zum autofiktionalen Schreiben eben dazu. Dass man ein Risiko eingeht.

© Zora del Buono

Zora del Buono, geboren 1962 in Zürich. Studium der Architektur an der ETH Zürich, fünf Jahre Bauleiterin im Nachwende-Berlin. Gründungsmitglied und Kulturredakteurin der Zeitschrift mare. Autorin von Romanen und Reisebüchern.

Zora del Buono „Die Marschallin“, Rezension auf literaturblatt.ch

Zora del Buoni «Hinter den Büschen die Hauswand», Rezension auf literaturblatt.ch

Zora del Buono «Death Valley coffee shock», Gastbeitrag auf der Plattform Gegenzauber

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Stefan Bohrer / Illustration © leale.ch

Tine Melzer «Do Re Mi Fa So», Jungundjung

Diogenes sass in seinem Fass, bei Italo Calvino der Baron auf einem Baum. Bei Tine Melzer bleibt ein Mann in seinem Badezimmer, verlässt es nicht mehr, zieht sich zurück, kapselt sich ab und fröhnt dem süssen Nichtstun, auch wenn sich zusehends Bitternis einmischt. Nach ihrem furiosen Debüt „Alpha Bravo Charlie“ wagt Tine Melzer mit „Do Re Mi Fa So“ ein fast barockes Sprachabenteuer.

Tine Melzer ist nicht einfach Autorin. Sie schreibt nicht einfach Geschichten, will nicht bloss unterhalten. Tine Melzer ist Künstlerin. Die Sprache selbst muss Kunstwerk sein. Die Geschichte ist das Konstrukt, das das Kunstwerk trägt. Aber selbst das Konstrukt, die Partitur dieses Kunstwerks, der Plan, ist Wagnis, Experiment, vielleicht eine Spur Provokation, aber ganz gewiss die Aufforderung, mir selbst den Spiegel vorzuhalten.

„In jeder Rekapitulation steckt eine Kapitulation.“

Sebastian Saum ist erfolgreicher Sänger, ein gefragter Bariton. Er wohnt schon seit Jahren in Symbiose zusammen mit seinem Freund Franz Gold in einem grossen Haus, Franz unten, er oben. Auf der Klingel am Eingang steht Gold Saum. Das Haus ist geerbt. Sebastians Leben läuft in festen, geordneten Bahnen. Er hält sich die Welt auf Distanz.

Eines Morgens, nach einem Bad, beschliesst er, nicht mehr aus der Wanne aufzustehen, liegenzubleiben, zumindest das Bad mit Toilette und Fenster nicht mehr zu verlassen. Eine Laune. Vielleicht der Entschluss, seinem Leben im Stillstand eine neue Richtung zu geben; minimales Risiko mit maximalem Erfolg. Franz hilft ihm dabei, liefert an Decken, Kissen und Fellen, was er braucht, um sich in der Wanne niederzulassen, trägt ihm auf einem Serviertablett Essen und Getränke in die kleine Kammer und nimmt fürs erste hin, was nichts anderes als eine Marotte, eine Verstimmung, vielleicht ein Mini-Burnout sein kann. 

„Fanz ist in perfektem Alter. Wäre er ein Brot, müsste man ihn jetzt aus dem Ofen nehmen.“

Sebastian bleibt nackt. Er gedenkt nicht mehr, sich zu kleiden, zu verkleiden, auch wenn ihm und seinem Freund die Garderobe bisher sehr viel bedeutete, vielleicht gar etwas davon ausmachte, was er als Künstler zu repräsentieren hatte. Zwar liegt da ein Laptop und ein Telefon, aber Sebastian hängt fast immer seinen Gedanken nach. Gedanken, die sich erstaunlich wenig um sich selbst drehen, viel mehr das Nachdenken darüber sind, was sein Leben bisher ausmachte.

Tine Melzer «Do Re Mi Fa So», Jung und Jung, 2024, 192 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-99027-406-4

Das Badezimmer wird zur Inszenierung. Zu einem Protest seinem eigenen Dasein gegenüber. Auch wenn er sich immer mal wieder um seinen Freund sorgt, ob er auch weiterhin auf die Hilfe seines Mitbewohners zählen kann. Wir, die wir Leben und Existenz mit aller Selbstverständlichkeit stets mit Leistung, Fleiss und Erfolg koppeln, werden Zeuge eines Selbstexperiments, einer stillen Demonstration, einer Inszenierung, die sich gegen gesellschaftliche Zwänge wendet, wenn auch nicht gegen aussen. Sebastian denkt nach, macht Listen, über die Kleider in seinen Schränken, über die Tode jener Menschen, die in den letzten Jahren starben, über die schlechte Angewohnheit des Pfeifens, über all die Lieder in seinem Kopf, über Redundanz, über all die Menschen, Freundinnen und Freunde, die er aus den Augen verloren hat. Seltsame Listen, die das Aussen nach innen holen.

„Perfektionismus ist eine Sache von Leuten, die sich ihrer Sache nicht restlos sicher sind.“

Gleichzeitig nagt der Zweifel, klopft der Wahn. Vor der Tür hört er seinen Freund telefonieren, meist mit seiner Schwester. Irgendwann bekommt Sebstian trotz Protest Besuch von einer Frau, die sich im Bad auf den Klodeckel setzt und verkündet, man müsse mit Hilfe von Chemie ein Lösung finden.

„Do Re Mi Fa So“ ist maximal entfernt von autofiktionalem Schreiben. Dieser Roman ist eine Inszenierung. Ähnlich eines begehbaren Bildes. Ich sehe Sebastian Saum in seiner übergrossen Wanne, inmitten von Kissen und Decken liegen, eine Hand lässig über dem Wannenrand, ein Glas Wein auf dem Toilettendeckel. Die Welt kommt nur durch seinen Kopf in diese kleine Kammer, auch wenn das Fenster das eine oder andere Mal offen ist und Sebastian bei seinen zaghaften Turnübungen den Bauer aus der Nachbarschaft arbeiten sieht. Auch hier maximale Gegensätze.

„Das mit der Nähe ist so eine Sache – wer nicht aufpasst, dem drängt sie sich auf.“

Und dann die Opulenz, die Kraft der Farben. Tine Melzers ganz eigenes Gespür für Textilien, Oberflächen, die Haptik. Das Skurrile dieser Inszenierung. Auch hier die maximale Entfernung von einer Welt, die wuselt und stampft. Die maximale Entfernung von dem, was ich als Leser selbst unter Rückzug und Reflexion verstehen würde. „Do Re Mi Fa So“ ist Kunst. Ein Buch, dass es verdient hätte, auf der Liste der Nominierten zum Schweizer Buchpreis zu erscheinen!

© Tine Melzer I Have Changed My Mind 2005 Mann

Interview (mit Arbeiten der Künstlerin Tine Melzer)

Ich las dein Buch ausgesprochen gerne. Nicht zuletzt, weil es sich gleich vielfach von den meisten anderen Büchern, die sich anbieten, unterscheidet.

Danke!

Sebastian Saum ist ein satter Zeitgenosse. Man muss es sich leisten können, für eine unbestimmte Zeit weich gepolstert in seinem Badezimmer abzutauchen, mit Aussicht auf die Wiesen und Felder jener, die eine derartige Pause wohl gar nie verstehen würden. Dabei trägt wohl fast jede und jeder diesen Wunsch mit sich herum, für einmal einfach alles sein zu lassen, die Welt draussen zu lassen, nur seinen Gedanken nachzuhängen. Aber wir leben in einer Gesellschaft, die sich über Leistung definiert, über Erfolg und Resonanz. Die Kunst genauso. Wie weit ist dein Roman eine Versuchsanordnung?
Eine Versuchsanordnung prüft eine Hypothese; in manchem versucht der Roman so etwas. Was wird geprüft? Unser Verantwortungsgefühl, Fragen der Freundschaft und Treue. Mechanismen der Verdrängung und Scham, der Roman ist also auch eine Kritik. Saum ist zwar aus einer Laune in der Wanne gelandet, kommt dann aber nicht mehr so leicht heraus. Er geht von sich selbst aus und landet in einem Karussell der Erinnerungen und Beziehungskonstellationen. Es geht also auch um Entscheidungen und Bedingungen. Er kann es sich leisten, trotzdem läuft er Gefahr, darüber verrückt zu werden, oder depressiv.

Klar, du erzählst eine Geschichte. Sie bleibt seltsam kühl und distanziert. Das Drama, das sich dabei abspielen könnte, ist in den Decken und Kissen in der Badewanne abgefedert. Wer weiss, wäre Sebastian nie mehr aufgestanden. Was wäre geschehen, hätte ihn sein ergebener Freund nicht so fürsorglich unterstützt. Mir scheint, es ging dir gar nicht so sehr um das Drama. War es das Bild, das dich faszinierte, das Gedankenexperiment? Der Typus Mensch, der seine Gedanken in Richtungen schweifen lässt, die überraschend sind? Ging es um die Sprache, die Beschreibungen, die in dem begrenzten Bild des Badezimmers einen ebenso begrenzten Raum benötigen?
Sein Freund rettet ihn zunächst durch seine Bewirtung, versucht immer wieder neue Tricks ihn herauszulocken, ist ohnmächtig und gefangen in dieser neuen Abhängigkeit. Schliesslich rettet er ihn mit dem letzten Mittel, ihn (vorübergehend?) zu verlassen. Das ist natürlich ein Spoiler, nicht verraten. Es geht mir um das Drama, das einsetzt, sobald wir uns mit unseren Zweifeln auseinandersetzen und dadurch die Welt schrumpft oder bedrängend wird. Das steht nicht nur einem bestimmten Typus Mensch zu, alle Privilegierten könnten das, um andere Entscheidungen zu treffen. Und um das Drama, verstanden werden zu wollen. Das Badezimmer ist der ideale (Rückzugs-)Ort dieses Kammerspiels, durch seine Kühle und zugleich Intimität ein passender Ort für diese Parabel, diese Übertreibung. Die Nacktheit ist nicht nur konkret, sondern auch im übertragenen Sinn das, was ihn verletzlich macht.

© Tine Melzer 2018 Protest Nudelhölzerr

Dein Roman ist ausgesprochen stofflich, mehrdeutig gemeint, textil, voll von sinnlichen Beschreibungen. Sprache ist auch ein Stoff, mal seidenweich, mal bretthart, aschfahl oder grell bunt. Dein Erzählen lebt von Listen, Aufzählungen, die sich wie Kaskaden lesen. Faszinierend, aber wohl für viele „Unterhaltungsleser*innen“ fremd. Ist dein Schreiben für dich einfach der sprachlicher Ausdruck deiner Kunst, eine Art Malerei mit Sprache?
Vergleiche, Listen und Ähnlichkeiten sind gute Methoden, um Bedeutungs-Varianten zu zeigen, Verwandtschaften und Gegensätze. Ich suche Pluralität und Mehrdeutigkeit. Auf meinem beruflichen Hintergrund untersuche ich seit langem in verschiedenen Kontexten die Zusammenhänge zwischen verbaler und nonverbaler Sprache, also Bilder in der Sprache. Weniger die Malerei, als die Auffassung von Sprache als (konkretes) Material hat mich zur Literatur geführt. Dort ist die Schrift das Medium, in jedem Satz wird neu verhandelt, wie wir die Sprache als Gewebe zwischen einander nutzen, verstehen, verschieben können. Die Sprache verbindet und trennt gleichzeitig; wo Saum sie wörtlich nimmt, scheinen Bilder darin auf. Die Sprache enthält unser Weltbild. Also sind es eher mentale Bilder, Aha-Erlebnisse, die ich ‘male’. Und die plötzlich nicht nur die Figur betreffen oder treffen.

Ich bewundere Sebastians Freund Franz, der mit ihm unter dem gleichen Dach wohnt, wie lange er mit stoischer Geduld die Eskapde seines Freundes trägt, wie er ihn mit dem Nötigsten versorgt, ihn kulinarisch verwöhnt, bis ihm dann doch ziemlich deutlich der Kragen platzt: „Ich ziehe dich nur nutzlos herum, wie einen toten Elefanten.“ Doch auch ein Satz, der sehr gut ins Argumentarium kulturkritischer Kreise passen würde!
Beide nehmen mehr oder weniger offensichtlich Bezug auf die Rolle der Kunstschaffenden und deren Wert für die ‘Gesellschaft’, die beide alimentiert. Das Essen spielt im Roman eine zentrale Rolle, es verbindet den Menschen mit einem Grundbedürfnis und macht ihn tierähnlich, es ist auch Analogie zur Ermöglichung von Kunst. ‹Aus der Badewanne kann niemand die Welt retten›, ausser es wird darin ordentlich sublimiert, so die Erwartung. Ich schätze Kunst, die aus existentiellen Beweggründen gemacht wird oder unterstützt. Für undogmatische Vielfalt. Und gegen das kollektive Wegschauen. Saum hat also nicht nur Gelegenheit, ’seinen Gedanken nachzuhängen›, sondern gerät an unangenehme Zusammenhänge zwischen sich selbst und der Welt.

Ich liebe dein Buch aus vielerlei Gründen. Nicht zuletzt darum, weil sich in deinem Buch Sätze finden, die ich am liebsten gross an eine Wand schreiben würde. Sätze, die wie Türen wirken, an denen ich kurz verweilen musste, um hineinzusehen oder hineinzugehen. Ist dein Schreiben mehr Lust oder harte Arbeit? Was passiert mit Tine Melzer, wenn sie schreibt?
Die grösste Lust ist das Zusammensetzen der Texte zu einem Gesamtbild. Das Buch ist dann eine Komposition, eine Zusammensetzung wie ein Stück, das dem Publikum überlassen wird, und zugemutet. Ich schreibe nicht ‘plotgesteuert’, ich weiss anfangs nicht, wie sich die Figuren oder deren Handlungen entwickeln werden. Ich folge der Sprache und schaue ihr dabei zu, wie sie sich durchsetzt, sich behauptet, manchmal ‘gegen’ eine Idee oder Geschichte. Wenn ich schreibe, umschwirren mich manche Worte wie Fliegen, die ich aufschreiben muss, damit sie mich in Ruhe lassen. Ich vertraue der Sprache, ja, als Stoff, nehme Worte buchstäblich, folge dem Credo Wittgensteins, dass manches sich sagen lässt, anderes zeigen. Das Schreiben sucht die Grenzen der gewohnten Sprache auf, u.a. weil es materialisiert, wovon wir sonst wenig Zeugnis haben oder ablegen. Die harte Arbeit ist es, den Tag zu überstehen und diszipliniert Nischen zu finden, in denen ich schreiben kann.

© Tine Melzer Dictators 2012

Tine Melzer, geboren 1978, lebt und arbeitet in Zürich. Sie studierte Kunst und Philosophie in Amsterdam, promovierte in Plymouth über Ludwig Wittgenstein und Gertrude Stein und ist Dozentin an der Hochschule der Künste Bern. Ihr 2023 erschienener Debütroman «Alpha Bravo Charlie» wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Franz-Tumler-Literaturpreis, und war für den Rauriser Literaturpreis nominiert.

Webseite der Autorin / Künstlerin

Beitragsbild © Jakub Kovalík

Marica Bodrožić «Das Herzflorett», Luchterhand

Wie sehr Literatur überraschen kann, beweist Marica Bodrožić mit ihrem neusten Roman „Das Herzflorett“. Pepsi ist ein Mädchen, hin- und hergeschoben zwischen Dalmatien und dem bundesdeutschen Hessen. Ein junges Mädchen, eine junge Frau, die sich wehrlos all den Zwängen ihrer Kultur, ihrer Herkunft, ihrer Familie, der Geschichte und den Wirren in ihrem Heimatland ausgesetzt fühlt.

Pepsi ist noch sehr jung, als sich die Eltern der Arbeit wegen Richtung Norden, nach Deutschland auf den Weg machen. Manchmal lebt sie bei der Grossmutter, machmal bei Tanten. Ihre Eltern sieht sie nur ganz selten, wenn sie mit Taschen vollbepackt von dort herkommen, wo sich in der Ferne ihr Leben abspielt. Pepsi hat gelernt, sich in ihrer kleinen Welt zurechtzufinden, genauso wie ihr Bruder und ihre Schwester. Sie fühlt sich oft allein, ein Gefühl, das erst mit den Jahren zu Einsamkeit wird. Liebe zu ihren Eltern gibt es nicht. Das einzige, was im Leben ihrer Eltern zu zählen scheint, ist die Arbeit in Deutschland. So wie Pepsi in einem Leben dazwischen festhängt, so tun es die Eltern. Pepsi gibt sich ganz in die begrenzte Welt um sie herum, die Natur, die feinen Beobachtungen, aber manchmal auch das vielfache Gefühl von Hunger. Pepsi wird nie nur annähernd satt, sei es körperlich, emotional oder geistig.
Auch Pepsis Versuche einer Annäherung, ihre Liebe zu ihrer Mutter anzusprechen, scheitern schmerzlich.

Irgendwann werden die drei Geschwister in ein altes Haus in Deutschland mitgenommen, in eine Wohnung, in der es an allem fehlt, Nähe nur aufgezwungen ist. Das Land, aus dem ihre Eltern zuvor Taschen voller Geschenke mitbrachten, entpuppt sich als grau, fremd und abweisend. Pepsi fühlt sich in der neuen Umgebung noch viel offensichtlicher fremd, als dort in Dalmatien, wo ihr wenigstens die Natur Augenblicke der Geborgenheit schenkte. Pepsi verstummt, trotz der Strenge ihrer Mutter. Erst recht durch den Alkoholismus ihres Vaters, die grünen Flaschen, die den Vater in ein tobendes Ungetüm verwandeln. Einziger Ort, an dem Pepsi Trost und Welt findet, sind Bücher. Erst ein altes Lexikon, das sie verstecken muss, das ihr die Welt der Erwachsenen erschliesst, eine Welt, die ihr in Hessen niemand erklärt. Bücher, Worte, Sätze werden zu einem Tor in eine andere Welt, während die Eltern im Kampf gegen scheinbar drohende Armut immer mehr verhärten. Nur wenn Vater säuft und die Mutter ihren ungefilterten Emotionen freien Lauf lässt, bricht etwas auf. Etwas, das tief verletzt. Nicht nur Pepsi.

Marica Bodrožić «Das Herzflorett», Luchterhand, 2024, 288 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-630-87660-3

Ihre Schwester versucht aufzubegehren, stemmt sich gegen die nicht verhandelbaren Regeln ihrer Eltern. Sie bricht aus. Und als sie zurückgeholt wird, ist sie nicht mehr die selbe, abgesunken in ein tiefes Schweigen, als wolle sie sich ganz auf sich selbst zurückziehen. Pepsi nennt ihre Schwester zärtlich Herzmandel. Aber ihre Schwester scheint ebenso verloren wie sie selbst. Ganz anders der Bruder, der sich als Junge viel leichter in die partiarchischen Strukturen seiner Diaspora einzufügen weiss.

Es sind äussere Begebenheiten, zuerst die Katastrophe von Tschernobyl, später der Jugoslawienkrieg, das Auseinanderbrechen eines Staates, das sich schon lange angekündigt hatte. Die kleine Wohnung in Hessen wird zu einem Dreh- und Angelpunkt vieler Flüchtlinge, die alles verloren haben. Die Familie versinkt in der Pflicht zu helfen und im Kampf selbst überleben zu müssen. Bis sich auch Pepsi mit letzter Kraft aufzulehnen versucht.

„Das Herzflorett“ sticht mitten ins Herz. Dieser Roman ist mit derart viel Empathie geschrieben, das man das Buch zwischenzeitlich weglegen muss. Zum einen die unsägliche Einsamkeit eines Mädchens, einer jungen Frau, zum andern die tiefen Verletzungen durch körperliche und verbale Übergriffe. Und doch schreibt Marica Bodrožić zart, meist in langen Sätzen, voller Bilder, die treffen. Atemlos erzählt, weil die Sprache alles ist, was Pepsi hat, um einer Welt zu begegnen, einer Welt zu entgegenen, die ihr fast keinen Platz lässt. Marica Bodrožić erzählt nicht nur eine schwierige Kindheit und Jugend. „Das Herzflorett“ ist der Palast, den sich Pepsi mit Sprache erschafft.

„Das Herzflorett“ ist ein Geschenk einer Autorin, die mich zu tiefst berührt.

Marica Bodrožić wurde 1973 in Dalmatien geboren. 1983 siedelte sie nach Hessen über. Sie schreibt Gedichte, Romane, Erzählungen und Essays, die in über sechzehn Sprachen übersetzt wurden. Für ihr bisheriges Werk wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Walter-Hasenclever-Literaturpreis, dem Manès-Sperber-Literaturpreis für ihr Gesamtwerk sowie dem Irmtraud-Morgner-Preis. Marica Bodrožić lebt mit ihrer Familie als freie Schriftstellerin in Berlin und in einem kleinen Dorf in Mecklenburg.

«Ich bete mich buchstabenweise ins Nichts»: die Schriftstellerin Marica Bodrožić, von Reinartz, Burkhard /

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Antonio Maria Storch

«Das Linksliegenlassen der Welt ist eine anspruchsvolle Sache» (11)

Lieber Gallus

Erstmals habe ich ein Buch von Arno Geiger gelesen und bin nachhaltig berührt. «Reise nach Laredo» nehme ich immer wieder vom Büchergestell.

Karl hat als König abgedankt, sich in ein Kloster zurückgezogen. Sein hässlicher, stinkender nackter Körper wird ins Bad gehoben, so beginnt dieser Roman. Krank und fiebrig erlebt er dann eine Traumwelt bis zu seinem Tod, wo er sagen kann: Jetzt, Herr, komme ich.

Doch es ist kein historischer Roman, die Fragen, die auf dieser Reise auftauchen, sollte sich jeder von uns stellen, es geht um uns! Das macht das Buch so aktuell. Es geht um das Wesen des Menschseins.

Arno Geiger «Reise nach Laredo», Hanser, 2024, 272 Seiten, CHF ca. 35.00, ISBN 978-3-446-28118-9

Karl erlebt in den Stunden, Tagen bis Laredo erstmals echte Freundschaft und kurze glückliche Momente. Er trinkt, tanzt und fragt sich Beginne ich jetzt zu leben? Was bedeutet das für das Vorher? Die Reise auf einem Pferd durch eine karge, bergige, heisse Gegend wird zu einer schmerzhaften, aber auch versöhnenden Reise zu sich selbst. Die Begegnung mit jungen Leuten und das Trinken im Wirtshaus spiegelt Verpasstes im Leben von Karl, er muss loslassen und gewinnt. Einzigartig die Sterbeszene am Meer: Das war’s.

Was die Mönche in den Händen halten, ist grausam wirklich, ein toter Körper, ein vollständig nebensächliches Ding, in dem alles gestorben ist, auch das Leid, das diesen Körper so zugerichtet hat.

Geschrieben in einer kühlen Sprache, voller realistischer Bilder, teilweise etwas überzeichnet. Die karge baumlose Hügellandschaft im Hintergrund ergibt eine archaische, biblische Atmosphäre. Ein Buch, das auf packende Weise zum Nachdenken anregt.

Ich bin gespannt, was du zu diesem Buch zu sagen hast.
Herzlich

Bär

***

Lieber Bär

Ich besuchte eine Lesung von Arno Geiger in St. Gallen. Er las und erzählte viel von sich. So wie er in diesem «historischen» Roman von sich erzählt. Arno Geiger ist studierter Historiker. Er weiss sehr genau, dass er die Geschichte von Kaiser Karl V nicht einfach «erfinden» kann. Aber Geiger interessiert sich als Schriftsteller nicht für die Geschichte jenes Kaisers (1500 – 1558), der Herrscher über ein Weltreich war. Historiker würden über seinen Werdegang, seine Intrigen, sein politisches Kalkül, seine Kriege berichten. Arno Geiger interessiert sich nur für die beiden Jahre nach seiner Abdankung, nicht für die Zeit mit der Krone, sondern jene ohne. Über einen Mann, so alt wie Arno Geiger selbst, von Macht und zügellosem Leben zerfressen zum Privatmann wird. Mit einem Mal auf sich selbst zurückgeworfen, mit Fragen, die zeitgemässer nicht sein können: Wer bin ich? Was will ich sein? Ein Mann, der sich selbst begegnen will und sehr wohl spürt, dass diese Begegnung nicht ohne ein Gegenüber stattfinden kann.

Eine harte Mission, sich selbst zu begegnen. Mit dem Tod seiner Frau, Königin Isabella, war Karl 38 und trug danach nur noch Schwarz. Unter dem schwarzen Mantel ein Mann von Gicht und Malariaschüben zerfressen. Als Herrscher eines Weltreiches ging es nie um ihn selbst. Karl freundet sich mit seinem elfjährigen Pagen Geronimo an, einem Kind, das nur das Jetzt kennt und ungefiltert zu sprechen wagt. Sie türmen aus dem abgeschiedenen Kloster mit Ross und Maultier Richtung Norden an Spaniens Küste, in die kleine Hafenstadt Laredo. Ein Tripp durch die Wirren der Zeit, ein Tripp, bei dem sich Karl immer wieder in den Begegnungen mit dem menschlichen Elend gespiegelt sieht.

Er habe wenig recherchiert (eine Aussage eines Historikers, die man wahrscheinlich relativieren muss). Aber er brauche einen festen Boden, auf dem er seine inneren Bilder wachsen lassen könne. Es sei auch ein Buch über sich selbst, über das Altern, das Wirken der Selbstreflexion, über das Wissen darum, dass Geist, Körper und Seele nur als Einheit verstanden werden können. Karl weiss, dass er in einem Zwischenreich existiert, nicht mehr der Herrscher, aber auch noch nicht gestorben, einem Fegefeuer mit der Hoffnung auf Läuterung und Erlösung.

Wer den Zenit seines Lebens erreicht hat, weiss, dass es vieles gibt, was nicht mehr zu korrigieren ist. Wer mit Krankheit und langsamem Sterben zu kämpfen hat, hofft unweigerlich auf eine Form der Erlösung. Schon deshalb ein wichtiges und zur Selbstreflexion animierendes Buch. Unbedingt lesenswert.

Liebe Grüsse

Gallus

Arno Geiger, 1968 in Bregenz geboren, studierte Literaturwissenschaft und lebt in Wolfurt und Wien. Er ist Schriftsteller und Videotechniker bei den Sommerfestspielen Bregenz. 1997 erschien sein Debütroman «Kleine Schule des Karussellfahrens». 1998 wurde ihm der New Yorker Abraham Woursell Award verliehen. Für seinen Roman «Es geht uns gut» erhielt er 2005 den Deutschen Buchpreis.

Joachim Zelter «Staffellauf», Kröner

Joachim Zelter überrascht wie jedes Mal. Sein neuster Streich ist Sprachkunst und vielschichtiges Geschichtengeflecht. Ein Künstlerroman, ein Kunstroman, eine Liebesgeschichte, die Geschichte von Irrtum und Irrglauben, von Freundschaft und grenzenloser Einsamkeit. Ein Buch wie ein Kaleidoskop.

Sie gilt als vielversprechende Malerin, geht ganz auf in ihrer Malerei, erhält Zuspruch und empfindet grösstes Glück, wenn auf der Staffelei etwas gelungen scheint. Eines Tages erscheint ein seltsam steifer Mann im Atelier, geht von Bild zu Bild, lässt sich einiges erklären, stellt Fragen, ohne dass Bernadette hätte sagen können, die Bilder würden dem Mann gefallen. Obwohl er keines ihrer Bilder kauft, erscheint er immer wieder in ihrem Atelier, ohne je um ihre Zustimmung gebeten zu haben. Er sitzt in dem einen bequemen Sessel im Atelier, schaut, liest und kommentiert. Manchmal schweigt er auch nur und schaut zu, Bernadette immer mehr verunsichert, weil sie nicht weiss, wie ihr geschieht und weil sie den Mut nicht findet, den Mann, der sich dann irgendwann als Karl Staffelstein vorstellt, vor die Tür zu setzen. Der Mann wird zu einem Ding in ihrem Leben, einem Gegenstand, der sich nicht mehr fortschaffen lässt. Erst recht, als er die bittet, seine Frau zu werden.

Wie oft nimmt unser Leben eine Wendung ein, die keiner wirklichen Entscheidung entspringt? Es geschieht einfach. Manchmal, weil man die Kraft nicht aufbringt, sich dagegenzustemmen oder weil einem der Mut fehlt, laut und deutlich Nein zu sagen, die Richtung zu ändern. Bernadette rutscht in ein Leben, das sie sich nicht ausgesucht hat, obwohl ihr die Familie ihres Gemahls die kalte Schulter zeigt, als notwendiges Übel akzeptiert, nicht zuletzt in der Hoffnung, dereinst mit einer kleinen Schar Stammhalter die noble Art zu erhalten, zählte man doch einst zu den Freunden Schillers.

Joachim Zelter «Staffellauf», Kröner Edition Klöpfer, 2024, 192 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-520-76609-0

Nun wird Bernadette zum Gegenstand; zur Ehefrau, zur Hausfrau, zur Mutter, irgendwann mit drei Kindern, zum Accessoire, das gut in den Haushalt passt, dem man mit der attraktiven Frau eine Würze gibt, die der über Jahrzehnte gepflegten Steifheit etwas Künstlerisches gibt. Ihr Mann ist Beamter, hoch gestellt, steigt tüchtig auf, wechselt mit der flotten Familie von Ort zu Ort. Die Staffelei, die Leinwände und Farben bleiben in einem Schuppen. Bernadettes Herz verkümmert. Und als man sie zum ersten Mal in die Klinik einweist, ist klar, es liegt in ihrer Familie. Kein Wunder, wenn schon ihr Bruder dem Wahn verfiel.

Im zweiten Teil des Romans erzählt Joachim Zelter die Geschichte von Jakob, dem ältesten der drei Kinder von Bernadette und Karl. Nie die Sicherheit einer liebenden Familie erfahren, lässt sich auch er von den Vorstellungen anderer in ein Leben zwingen, dass nie einer Entscheidung entsprang. Er studiert, nachdem seine Grossmutter stets kontrollierte, ermutigte und drängte. Durchaus erfolgreich doktoriert er und traut sich endlich zu tun, was er wirklich will; schreiben. Er tut es, weil es das einzige ist, was sich wie echtes Leben anfühlt. Nicht weil es ein Traum ist, sondern der einzige Weg, auf die Spur zu kommen. Und trotz vieler Widrigkeiten und weil gar niemand auf den eigenartigen Kauz gewartet hat, wird aus einem Manuskript ein Buch, nicht zuletzt mit Hilfe einer Freundin, einer zarten Liebe, einer Freundschaft, die sich nur schwer in Jakobs Leben einordnen lässt. 

Die Leben von Bernadette und ihrem Sohn Jakob spiegeln sich. Während Bernadette, die die Malerei durch all die Zwänge aufgeben muss, verkümmert und erkrankt, erwacht Jakob erst spät aus einem Dämmerzustand. Bernadette verliert das Glück, obwohl sie doch genau spürte, dass ihre Bestimmung Malerin gewesen wäre und nicht der «sichere Hafen einer Ehe». Jakob gewinnt das Glück erst, als er seinen sicheren Hafen verlässt.

„Staffellauf“ ist ein grossartiger Roman, ein schillerndes Kunstwerk, das viel mehr sein will, als bloss die Nacherzählung eines Geschichtengeflechts. Joachim Zelter fabuliert und spielt. Bei einem Staffellauf gibt man den Stab dem Nächsten weiter. Aber das wahre Leben ist nicht wie auf der Tartanbahn durch zwei weisse Linien markiert. Wir hätten die Wahl!

Interview

Du beschreibst Szenarien, nicht zuletzt jene in Karl Staffelsteins Stammhaus, in dem man viel auf Herkunft und Etikette gibt, derart beklemmend, dass sie nur schwer zu ertragen sind. Aber eigentlich ist es die scheinbare Willenlosigkeit der jungen Bernadette, die so schwer auszuhalten ist. Warum gehen wir offenen Auges ins Verderben? Wir haben ein einziges Leben zur Verfügung und es fällt uns derart schwer, unseren ganz eigenen Weg zu finden?

Nach meinem Gefühl hat Bernadette durchaus einen Willen, sogar einen sehr ausgeprägten, aber sie kann ihn nur schwer artikulieren, geschweige denn durchsetzen. Mit dem Willen ist das so eine Sache. Der eigene Wille stösst oftmals auf den Willen anderer Menschen, der sich als stärker und mächtiger und durchsetzungsfähiger erweist als der eigene. Nicht selten wird der eigene Wille buchstäblich aufgefressen und verspeist von einem mächtigeren Willen. „Ein Käfig ging einen Vogel suchen.“ Dieser Satz von Franz Kafka bringt es auf den Punkt. Manche Menschen sind Vögel, andere Käfige. Darin liegt ein Unheil. Man darf auch nicht vergessen. Der Roman nimmt in den frühen Sechzigerjahren seinen Anfang. In dieser Zeit hatte eine junge Frau (zumal eine mittellose Malerin) viel weniger Möglichkeiten der Abgrenzung oder der Durchsetzung eigener Wünsche. Eine männliche, hierarchisch-autoritäre Gesellschaft stand gegen sie, flankiert von Mächten und Institutionen wie Kirche, Familie und Valium verschreibenden Ärzten. Für all sie war die Eheschliessung und die Gründung einer gutbürgerlichen Familie das höchste Ideal. Doch ich räume ein: es liegt in der Art und Weise, wie Bernadette sich auf eine ungewollte Ehe tatsächlich einlässt, etwas Unbegreifliches. Genau diese Unbegreiflichkeit versuche ich in meinem Roman (eigentlich in all meinen Romanen) auszuloten. Ab wann steht man gegenüber einem nahen Menschen derart im Wort oder in einer zwischenmenschlichen Pflicht, dass es kein Zurück mehr zu geben scheint, oder allenfalls ein Zurück, in dem man oder frau nicht umhinkommt, dem anderen massive Schmerzen zuzufügen.

Dein Roman ist alles andere als ein Plädoyer für die Institution Ehe. Die Ehe ist nicht das einzige Abhängigkeitsverhältnis, in das sich der Mensch mit wehenden Fahnen stürzt. Nicht zuletzt der Kultur-, der Literaturbetrieb ist voller solcher Abhängigkeiten. Bernadette vergisst die Freiheit, die sie einst besass. Jakob gewinnt sie erst spät. Ist die Zuweisung Bernadette als Verliererin und Jakob als zaghafter Gewinner nicht ein potenzieller Fettnapf?

Ich sehe Bernadette nicht als Verliererin und Jakob auch nicht als Gewinner. Jedes Leben ist ein einzigartiger Versuch, mit der Geworfenheit unserer Existenz irgendwie zurechtzukommen. Der Roman, ein Familienroman, beschreibt über mehrere Generationen hinweg, neuralgische Lebenssituationen, in denen sich Menschen so oder so entscheiden können, also entweder für äussere Vorgaben (sei es nun Ehe, Familie oder materielle Absicherung) oder für sich selbst. Jakob entscheidet sich (anders als seine Mutter) in einer entscheidenden Lebenssituation für sich selbst, das heisst, er entscheidet sich, Schriftsteller zu werden, obgleich alle gesellschaftlichen Normen und Vorgaben dagegensprechen. Der Sohn tut also etwas, was auch seine Mutter hätte tun können, eine Entscheidung für sich selbst zu treffen, wobei es den Sohn ja gar nicht geben würde, hätte seine Mutter sich damals anders entschieden. In dieser existentiellen Paradoxie bewegt sich der Roman und zugleich drängt er darauf, dass Kinder vielleicht viele, viele Jahre später etwas anders machen können als ihre Eltern. Deshalb auch der Titel: STAFFELLAUF.

Bernadette findet auf einem ihrer Stadtstreifzüge in einer Buchhandlung ein Buch mit dem Titel „Die Lieb-Haberin“. Ein klasse Titel. Könnte doch auch ein Buch von Joachim Zelter sein, zumal sich Liebe und Haben ziemlich streiten? Und alles, was streitet, erzählt Geschichten.

Ja, das Buch (DIE LIEB-HABERIN) ist in der Tat von mir. Ich habe es vor mehr als 20 Jahren geschrieben und veröffentlicht. Dieser Roman erzählt eine ähnliche Geschichte wie STAFFELLAUF, nur unter inversen Vorzeichen: keine Frau, sondern ein junger Mann gerät hier immer tiefer in den Strudel einer Beziehung, die er überhaupt nicht will. Je mehr er sich dieser Beziehung zu entziehen versucht, desto mehr verstrickt er sich in sie. Es ist ein durch und durch erfolgloser Roman gegen alle kulturellen Vorgaben und Konditionierungen: kein Liebesroman, sondern ein Nicht- oder Anti-Liebesroman; nicht die Erfüllung einer Liebe steht dort im Mittelpunkt, sondern ihr Abwehren, ihr Verweigern; kein entschiedenes Ja ist irgendwo zu hören, sondern allenfalls die Unfähigkeit, Nein zu sagen; keine gefällige Liebhaberin ist die Geliebte, sondern eine besitzergreifende Lieb-Haberin. Der Roman steht so sehr gegen alle gängigen Erwartungen, dass ihm etwas Unglaubliches, Surreales, geradezu Groteskes innewohnt. STAFFELLAUF ist der Versuch, ein ähnliches Thema noch einmal neu zu erzählen, neu zu fassen, es in einen anderen, viel ursprünglicheren Kontext meines Lebens zu stellen.

Bernadette findet in einem ihre Klinikaufenthalte in Johannes ein Gegenüber, der das Zeug gehabt hätte, zum Retter zu werden. Aber du lässt Johannes wieder abtauchen, so wie einmal bedeutende Menschen mit der Zeit nach und nach aus unseren Geschichten verschwinden. Hat sich der so einfach aus deinem Roman entfernt? Musstest du ihn loswerden?

Ich wollte die beiden in der Tat durchbrennen lassen, sie ein neues gemeinsames Leben beginnen lassen. Ich habe es ernsthaft versucht, doch es hat schon nach wenigen Seiten – trotz aller literarischen Bemühungen – nicht funktioniert. Der ganze Roman hat sich dagegen gesträubt. Der Roman wäre durch eine solche Wendung gesprengt worden, wäre ins Märchenhafte oder Phantastische abgeglitten. „Ein Bürgermädchen kann sich die Illusion machen, dass ein Prinz kommen wird, um sie herauszuholen.“ Nach Sigmund Freud ist das aber wenig wahrscheinlich. Wie hätte auch ein gemeinsames Leben der beiden glücken sollen: Johannes, ein mittelloser Schriftsteller, Bernadette eine ebenfalls mittellose Malerin, die seit Jahren von schweren Depressionen gezeichnet ist. Dazu hat sie zwei Kinder, die daheim auf sie warten. Eine solche Beziehung hätte kaum funktioniert, weder literarisch noch nach Massgabe irgendeines Realitätsprinzips. Die eigentlichen Liebesgeschichten sind (jedenfalls seit Romeo und Julia) ohnehin diejenigen, die von vornherein zum Scheitern verurteilt sind. Sollte eine Liebesgeschichte je glücken, dann wäre es keine Liebesgeschichte mehr.

Jakobs Geschichte ist das Spiegelbild der Geschichte seiner Mutter, wenn auch spiegelverkehrt. Er schafft es irgendwie, sich zu befreien. Wenn auch zu einem hohen Preis. Jakob ist Schriftsteller. Wie viel Joachim Zelter steckt in Jakob Staffelstein?

Ziemlich viel. Der ganze Roman bewegt sich nah an der Realität. Obgleich man sich fragen kann: Was ist schon Realität? Je mehr man sie zu begreifen versucht, desto mehr entzieht sie sich, beginnt man umzustellen, neu zu ordnen, neu nachzudenken oder vieles auszulassen. 

Jakobs Doktorarbeit wird zu einem Sprachmonster, zu einem Sprachpanoptikum. Eigentlich eine wissenschaftliche Arbeit, in Tat und Wahrheit aber ein riesiger Zettelkasten voller Kuriositäten. Steckt da auch ein Zeltertraum, irgendwann beim Schreiben allen Konventionen zu entsagen?

Ja, es ist der Traum, allen Vorgaben und Konventionen zu entsagen. Von Nietzsche gibt es den schönen Satz über Lawrence Sterne: Er sei „der freieste Schriftsteller aller Zeiten“ gewesen. Ein wenig dieser unermesslichen Freiheit wollte auch ich mir herausnehmen. Die Literaturgeschichte ist eine Geschichte der Konventionen, sie ist aber noch viel mehr eine Geschichte des Überschreitens oder der Sprengung von Konventionen. Jahrelang schreibt Jakob Staffelstein an einer Doktorarbeit. Eigentlich ist eine Doktorarbeit der Inbegriff gnadenloser Akribie und Strenge. Doch innerhalb dieser rigiden Strenge findet er in den Fussnoten, die er verfasst, einen unterirdischen Raum für seine eigensten und innersten Gedanken, die er einfach niederschreibt, gegen alle wissenschaftlichen Vorgaben und Konventionen. Die Doktorarbeit markiert somit den Übergang von der Wissenschaft in die literarische Kreativität, von der toten Mechanik akademischen Arbeitens ins überbordende Leben. Eine Doktorarbeit kann am Ende geistreicher und kreativer sein als so mancher Roman.

Auch in Jakobs Leben gibt es eine „Liebe“, eine Frau, eine Retterin, Gesine. Aber auch sie verschwindet. Es scheint, als hättest du die Liebesgeschichte um jeden Preis verhindern wollen.

Der Autor, der Roman, all die Buchstaben und Worte und ihre innersten Wünsche und Absichten hätten sehr gerne die Beziehung zwischen Jakob und Gesine fortgesetzt. Liebend gerne. Für Jakob ist Gesine die Liebe, die Frau seines Lebens, aber (wie im wirklichen Leben) können auch literarische Figuren sich dem entziehen und ihre eigenen Wege gehen. Oder auch nicht ihre eigenen Wege. Denn Gesines Situation ähnelt in mancherlei Hinsicht der Situation von Jakobs Mutter dreissig Jahre früher. Gesine und Jakobs Mutter sind Spiegelbilder. Auch Gesine ist verheiratet und hat Kinder und entscheidet sich in einem entscheidenden Lebensmoment für Werte wie Sicherheit und Familie statt für Wahrhaftigkeit, Selbstverwirklichung oder Freiheit. Aber: Ob nun verheiratet oder nicht, am Ende sind und bleiben viele Menschen mit sich oder mit anderen allein.

Joachim Zelter, 1962 in Freiburg geboren, studierte und lehrte Literatur in Tübingen und Yale. Seit 1997 freier Schriftsteller. Bei Klöpfer & Meyer erschienen u. a. «Der Ministerpräsident» (2010), nominiert für den Deutschen Buchpreis, sowie «Im Feld» (2018). In der KrönerEditionKlöpfer erschienen «Die Verabschiebung» (2021) und «Professor Lear» (2022). Joachim Zelter erhielt zahlreiche Auszeichnungen: u. a. den begehrten Preis der LiteraTourNord. Er ist Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller und im Deutschen PEN.

«Imperia», Rezension auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Beitragsbild © Yvonne Berardi

Béla Rothenbühler «Polifon Pervers», Der gesunde Menschenversand #SchweizerBuchpreis 24/05

Nicht erstaunlich, dass in der SRF-Bestenliste vom Oktober 2024 vier von fünf Titeln der Liste der Nominierten des Schweizer Buchpreises entsprechen, Platz 2 bis 5. Nicht erstaunlich, dass der fünfte Titel „Polifon Pervers“ von Béla Rothenbühler fehlt. Weil er sich in vielem quer stellt. Weil er sich mit Wonne und Lust zwischen Klischees und Abgründen bewegt. Weil er in Mundart geschrieben ist, rotzfrech und direkt. Und weil er beisst!

Dass die Kulturszene für Menschen ohne direkten Bezug nur schwer durchschaubar ist, kann ich nachvollziehen. So wie jede Szene in sich eine Welt ist, die einem von ausserhalb rätselhaft oder gar undurchschaubar erscheint. Es ist auch keine Neuigkeit, dass es in der Kulturszene Akteurinnen und Akteure gibt, die sich längst vom Prinzip der Wertschöpfung entfernt haben und nur arbeiten und existieren können, weil sie am Tropf der Allgemeinheit, an Segnungen von Fonds und Stiftungen hängen. Das ist auch gut so. Würde Kultur nur nach dem Prinzip von Angebot und Nachfrage funktionieren, müsste Kultur stets gefallen. Sie müsste sich verkaufen. Und in den Geldstömen, die unentwegt fliessen, auch dann wenn es in der Wirtschaft kollektiv unter Finanzknappheit stöhnt und ächzt, scheint Kultur auch ein guter Ort zu sein, um zu kompensieren, auszugleichen, sich einen guten Namen zu schaffen, dem Selbstbild Glanz zu verleihen.

«För alles, wome mues mache, gets Chole, ond alles, wo Schpass macht, esch Läif.»

Béla Rothenbühler hat mit „Polifon Pervers“ einen erstaunlichen Roman aus eben dieser Kulturbubble geschrieben. Die Geschichte einer wilden Truppe, die sich aus dem scheinbaren Nichts konstituiert und zu einem beeindruckenden Konstrukt wächst, dass sich selbst am Leben hält, nicht nur zu einer erfolgreichen Unterhaltungsmaschine wird, sondern auch zu einer wirksamen und gerngesehenen Waschmaschine für Drogengeld und zwilichtige Geschäfte. Die Geschichte eines immer grösser werdenden Unternehmens, dass scheinbar ungehemmt und ungebremmst wuchert, auch wenn jedem der Beteiligten irgendwie bewusst ist, dass dereinst ein Ende mit Schrecken kommen muss.

Béla Rothenbühler «Polifon Pervers», Der gesunde Menschenversand, edition spoken script 50, 2024, 220 Seiten, CHF ca. 27.00, ISBN 978-3-03853-149-4

Sabine und Chantal gründen den Verein „Polifon Pervers“ mit der Absicht, zu einem wichtigen Player in der (alternativen) Unterhaltungsszene zu werden. Sie machen sich zu Produzentinnen und sammeln um sich eine illustre Gruppe mehr oder minder erfolgreicher Kulturschaffender, die im Schweif der grossen Ideen der beiden Frauen ihren Platz finden, nicht zuletzt darum, weil da Sozialversicherungen, Altersvorsorge und ein geregeltes Einkommen winken, woher auch immer. Eines ihrer Rennpferde ist „Käschwöscher“, eine Performanceshow, die sich zum Hype mausert. Aber „Käschwöscher“ ist längst zum Programm des Vereins geworden. „Polifon Pervers“ macht (fast) alles, um zu Geld zu kommen, tatsächliche Kultur, anderes mit frisierten Besucherzahlen, Geldwäscherei mit Drogengeld und Investitionen in den Anbau berauschender Pflanzen. Das Geschäft floriert und alles, was das Kollektiv in die Hand nimmt, scheint sich zu Geld zu verwandeln. Bis man augenreibend feststellen muss, dass im März 2020 die Strassen leergefegt sind, bis eine Lokaljournalistin mit dem windigen Unternehmen einen argen Schiffbruch provoziert, die Pandemie eine der beiden Frauen niederstreckt und die Geschäfte buchstäblich in Rauch aufgehen.

«All die Theater-Arschlöcher send ned nomen aberglöibig, versoffe, verloge, hochschtaplerisch ond chliikriminell, sondern hend ebe au no sone huere Hang zom Pathos.»

Dass Béla Rothenbühler nicht einfach wild fabuliert und selbst aus eben dieser Kulturbabble kommt, dass er im Erzählen weiss, wovon er schreibt, dass ich mir auch als Leser während der Lektüre die Augen reibe, sei es am fundierten Szenewissen, der wilden Story oder der genüsslichen Fabulierlust, macht den Roman zu einer Entdeckungsreise. Auch wenn die Figurenzeichnung darunter leidet. Protagonisten dieses Romans scheinen nicht die Menschen zu sein, von denen der Roman erzählt. Protagonist ist der wilde Tripp durch die Zeit, eine Fregatte wie bei „Fluch der Karibik“ aber auf den unergründlichen Untiefen des Kulturbetriebs. Klar kann man den Roman als grosse Persiflage lesen, als Satire, als verspielte, bitterböse Überzeichnung. Aber in den Szenerien steckt derart viel Echtes, dass man das Buch nicht einfach als literarische Spielerei abtun kann.

Man muss doch einiges an Biss entwickeln, um dranzubleiben. Nicht nur wegen der Mundart. Und ob dieses Buch wie im Reglement zu den «herausragenden Büchern» des Jahres zählt? In Sachen Skurrilität ganz bestimmt.

Béla Rothenbühler, geboren 1990 in Reussbühl, freischaffender Dramaturg, Bühnenautor, Sänger, Ghostwriter, Gitarrist, Fundraiser, Kulturkomissionsmitglied, Songwriter, Lyriker, Produzent sowie ehrenamtlicher Lektor des Deutsch-Lehrmittels einer amishen Gemeinde im Bundesstaat Indiana. Seit 2016 Teil des freien Theaterkollektivs Fetter Vetter & Oma Hommage. Zudem Gitarrist, Sänger und Songwriter der Band Mehltau und Songtexter für Hanreti.

Webseite des Autors

Illustration © leale.ch

Maxim Leo & Kat Menschik «Junge aus West-Berlin», Galiani

Die von Kat Menschik illustrierten Bücher aus der Reihe „Lieblingsbücher“ überraschen immer wieder und sind für Büchermenschen wie mich Geschenke für alle Sinne. Sie schmeicheln allem, den Augen, den Händen, meinem Herz, meiner Seele und sind eindrücklicher Beweis dafür, was nur das gedruckte Buch kann; beseelen.

Es ist der 18. Band einer illustren Reihe kleiner, üppig illustrierter Bücher im kleinen Format, mit farbigem Schnitt und Lesebändchen, fadengeheftet – das ideale Geschenk – an sich selbst und all jene, die das schöne Buch mögen. „Der Landarzt“ von Franz Kafka, „Romeo und Julia“ von William Shakespeare, „Die Bergwerke von Falun“ von E.T.A. Hoffmann, „Unheimliche Geschichten“ von Edgar Allan Poe, „Djamila“ von Tschingis Aitmatov bis hin zu „Tomaten“ und viele andere Perlen.

Der neuste Band entstand aus einer Zusammenarbeit mit dem Schriftsteller Maxim Leo. Beide, fast gleich alt, verbrachten ihre Kindheit und Jugend in Ost-Berlin, in der DDR. „Das wir uns nicht kannten, ist merkwürdig, denn unsere Freundeskreise überschneiden sich bis heute. Wir lebten im selben Bezirk, ein paar Strassen voneinander entfernt. Wir erlebten die letzten Monate vor dem Fall der Mauer…“

Maxim Leo, Kat Menschik «Junge aus West-Berlin», Galiani, 2024, Illustrierte Lieblingsbücher Band 18, 80 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-86971-304-5

In „Junge aus West-Berlin“ erzählt Maxim Leo von Marc, einer nicht ganz einfachen Jugend in West-Berlin in den zehn Jahren vor der Wende. Marc fehlt es an vielem, vor allem an Selbstbewusstsein. Er hangelt sich durch ein Leben, in dem alles, nicht nur die Stadt in ein klares Gut und Schlecht geteilt ist. Nach einem Ausflug mit der Schule nach Ost-Berlin und einer Schicksalsbegegnung mit einem Mädchen dort und dem Bewusstsein, in der grauen Hälfte der Stadt die Chance zu haben, ein ganz anderer zu sein, macht sich Marc nicht nur immer und immer wieder auf die Reise in den Osten; er macht sich zu einem Boten eines Traums, schleppt sackweise Geschenke mit in den Osten, die er vertickt oder verschenkt, nicht zuletzt, um sich Bedeutung zu verschaffen, den Nimbus des Grosszügigen, Interessanten.

Bei einer der unzähligen Partys in den Jahren vor dem Mauerfall, als die ganze Stadt, sowohl im Westen wie im Osten den Aufbruch zu spüren bekam, als in besetzten Häusern im Osten eine Parallelwelt zur Gegenkultur wurde, lernt Marc Nele kennen. Obwohl Nele Marcs Masche schnell auf die Spur kommt und sich ihre beiden Welten nur marginal überschneiden, beginnt zu wachsen, was anfangs unöglich schien. Nele und Marc werden ein Paar, das über die Dächer der Stadt streift, ein verlassenes Haus zu ihrem Schloss macht und die Geheimnisse des Verborgenen erkundet, nicht nur in der Stadt.

Wenn nur Marcs Unehrlichkeit nicht wäre. Er erzählt ihr zwar immer wieder aus seiner Welt, seiner Vergangenheit, seiner Familie und seiner Kindheit. Aber weil er noch immer fürchtet, sein Leben selbst könnte zu langweilig sein, verheimlicht er, wie er sein Geld verdient und dichtet sich ein Leben als einer von der Musikbranche an. Um in seinem Traum zu bestehen! Aber wie es kommen muss; am 9. November 1989 fällt nicht nur die Mauer. Die Erschütterungen gehen nicht nur durch das bisher geteilte Land.

Da will einer vom Westen in den Osten. Nicht weil es im Osten besser wäre, aber für ihn selbst schon. Dort ist er wer. Dort lebt Nele. Dort liebt ihn Nele. Es braucht den Osten, dass der Junge aus dem Westen bestehen bleibt. Während die Mauern fallen, droht sein Konstrukt zu fallen. Während sich Ossis und Wessis in die Arme fallen, verlieren sich Marc und Nele. „Junge aus West-Berlin“ ist eine gelungene Umkehrung dessen, was der Fall der Mauer für die meisten bedeutete.

Und dann das Buch selbst – die Illustrationen von Kat Menschik. Der Illustratiorin gelingt, was keinem Foto gelingt. Sie vergegenwärtigt ein Gefühl unmittelbar. Da filtert keine Unschärfe, kein Sepia, keine Körnung. In der Verschränkung zwischen Text und Illustration ist dieses Buch ein wahres Kunstwerk!

Maxim Leo, 1970 in Ostberlin geboren, ist gelernter Chemielaborant, studierte Politikwissenschaften, wurde Journalist. Heute schreibt er gemeinsam mit Jochen Gutsch Bestseller über sprechende Männer und Alterspubertierende, außerdem Drehbücher für den »Tatort«. 2006 erhielt er den Theodor-Wolff-Preis. Für sein autobiografisches Buch »Haltet euer Herz bereit« wurde er 2011 mit dem Europäischen Buchpreis ausgezeichnet. 2014 erschien sein Krimi »Waidmannstod«, 2015 »Auentod«. 2019 erschien sein autobiografisches Buch »Wo wir zu Hause sind«, das zum Bestseller wurde. Maxim Leo lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Berlin.

Rezension zu «Der Held vom Bahnhof Friedrichstrasse» auf literaturblatt.ch

Rezension zu «Wir werden jung sein» von Maxim Leo auf literaturblatt.ch

Kat Menschik ist freie Illustratorin. Ihre Reihe Lieblingsbücher gilt als eine der schönsten Buchreihen der Welt. Zahlreiche von ihr ausgestattete Bücher wurden prämiert. Zuletzt erschienen: Asta Nielsen: Im Paradies, Selbstgemachte Geschenke zum Aufessen und Das Haus verlassen

«Illustrierte Lieblingsbücher» bei Galiani

Fleur Jaeggy «Ich bin der Bruder von XX», Suhrkamp

Geschichten wie dunkle Gemälde! Dass Fleur Jaeggy bei vielen Leserinnen und Lesern nicht auf dem Schirm ist, mag verschiedene Gründe haben. Zum einen schreibt die Schriftstellerin italienisch, zum andern lebt sie scheu und zurückgezogen in Norditalien. Aber wahrscheinlich liegt der Grund auch in der männerdominierten Vergangenheit der Kultur- und Literaturszene.

Dass Suhrkamp in den kommenden Jahren das Werk von Fleur Jaeggy nach und nach wieder in seiner Breite einem deutschsprachigen Publikum zugänglich machen will, ist löblich und mit einem Seitenblick auf Annie Ernaux mehr als verständlich. So wie die grosse Französin entwickelte Fleur Jaeggy in den fünf Jahrzehnten ihres Schreibens einen ganz eigenwilligen Stil, weit weg vom blossen Geschichtenerzählen. Jaeggys Texte, ihre Kurzgeschichten im 2014 in Italienisch erschienenen Band „Ich bin der Bruder von XX“, schildern in einer dunkel gefärbten Sprache vom Unerklärlichen des Lebens. Fleur Jaeggy erzeugt eine ganz eigene Tiefe in Geschichten, die mich als Leser stets mit einem Rest Ratlosigkeit zurücklassen. Einem Rest, der durch seine Verschlüsselung noch lange nachwirkt. Sie erzeugt Bilder, die über die Grenzen zum Surrealen hinausgehen, manchmal von einer ganz alltäglich, fast banalen Eingangsszene bis in den Alp.

Fleur Jaeggy «Ich bin der Bruder von XX», Suhrkamp, aus dem Italienischen von Barbara Schaden, 114. Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-518-43166-5

Mit ihrer im appenzellischen Teufen spielenden Internatsnovelle «Die seligen Jahre der Züchtigung», erlangte Fleur Jaeggy 1989 Beachtung weit über Europa hinaus, Beachtung, die ihr in ihrem Ursprungsland stets verwehrt blieb. Erst in diesem Jahr ehrte man die 84jährige in der Schweiz mit dem Gottfried-Keller-Preis, einem Preis, die die Schriftstellerin endlich in die Reihe der Grossen in der CH-Literatur stellt.

„Ich bin der Bruder von XX“, 20 Prosaminiaturen, liest sich wie eine Bilder- und Fotoausstellung. Ausschnitte eines Lebens, die Stimmungen aus ihrem Leben schildern, aber nicht, um sie zugänglich zu machen. Fleur Jaeggy verschleiert. Manchmal scheint sie auch mit Absicht in die Tiefenschärfe einzugreifen, als wolle sie mich zwingen, durch ihre Sinneseindrücke Fragen zu verändern, den Blick umzuleiten. Selbst in Familienszenen dominiert das Bedrohliche, die Enge, das Fremde. Als wäre sie in der Welt, in die sie hineingeboren wurde, nie heimisch geworden, auf eine ganz seltsame Weise einsam geblieben.

In einer der kurzen Texte beschreibt Fleur Jaeggy gar eine Begegnung mit ihrer Freundin Ingeborg Bachmann. Darüber, was sein wird, wenn sie dereinst alt sein werden. „Jeden Tag ging ich ins Sant‘Eugenio, Abteilung Schwere Brandverletzungen. Zweimal betrat ich ein Zimmer, das aseptisch sein musste.“ Etwas, was ihre Kurzprosa ganz und gar nicht ist.

Ein Juwel und ein Stück grosse CH-Literatur!

Fleur Jaeggy ist eine schweizerische und italienischsprachige Autorin, Ex-Model, Intellektuelle, Mystikerin, inzwischen etwas über 80 Jahre alt, ehemals enge Vertraute Ingeborg Bachmanns, Witwe des Adelphi-Verlegers Roberto Calasso, heute lebt sie weitgehend zurückgezogen in Mailand. Ihr weltweit gefeiertes Werk umfasst Romane, Erzählungen und Geschichten – beginnend mit «Ich bin der Bruder von XX», wird es fortan vollständig im Suhrkamp Verlag erscheinen.

Fleur Jaeggy im Autorenlexikon von Charles Linsmayer

Barbara Schaden studierte Romanistik und Turkologie in Wien und München, arbeitete anschliessend als Verlagslektorin und ist seit 1992 freiberufliche Übersetzerin aus dem Englischen, Französischen und Italienischen. Sie übersetzt neben Kazuo Ishiguro unter anderem Patricia Duncker und Nadine Gordimer. Barbara Schaden lebt in München.

Fleur Jaeggy «Die Seeligen Jahre der Züchtigung», Suhrkamp, 2024, aus dem Italienischen von Barbara Schaden,
Broschur, 110 Seiten, CHF ca. 18.90, ISBN 978-3-518-47427-3

Ein Mädcheninternat im Appenzell der sechziger Jahre. Gehorsam und Disziplin prägen die Ordnung des Hauses. Die heitere Landschaft vor den Fenstern treibt die vierzehnjährige Ich-Erzählerin zu stundenlangen einsamen Spaziergängen. Eines Tages erscheint eine Neue während des Mittagessens: Frédérique, schön, streng, verächtlich und voller Überdruss. Frédérique ist anders, etwas Leises und Schreckliches umgibt sie. Ihr sind Beherrschung, Gehorsam und Perfektion bereits zur zweiten Natur geworden. Die Erzählerin ist gebannt von ihrer Erscheinung, sie will sie erobern, sucht ihre Freundschaft. Empfänglich für den morbiden Reiz der Disziplin verfällt sie Frédérique mehr und mehr. Und erst ein ganzes Leben später kann die Erzählerin ihre abgründige Liebe in Worte fassen.

Beitragsbild © Effigie/ Bridgeman Images/Suhrkamp Verlag

Vincenzo Todisco «Der Geschichtenabnehmer», Atlantis

Gruma ist ein kleines Dorf im Apennin. Ein Dorf mit Eigenheiten – wie jedes von der Aussenwelt weitgehend abgeschirmte Dorf. Ein Dorf, in dem die Neuzeit, die Gegenwart mit zerstörerischer Kraft Änderungen provoziert, die nicht nur die Jungen vertreiben, sondern den Verbliebenen auch noch das Letzte an Würde und Stolz zu nehmen drohen.

Wenn in Gruma jemand im Sterben liegt, ruft man seit Jahrhunderten den Geschichtenabnehmer. Ein Amt, das von Mann zu Mann weitergeben wird, eine Aufgabe, die den Träger aussucht, die erst weitergegeben wird, wenn jener der Aufgabe nicht mehr gewachsen ist. Als man Walter zum Geschichtenabnehmer macht, ist er noch ein Junge, ein Schüler, ein stiller Knabe, der auch ohne dieses Amt genug an seinem Leben zu tragen hat. Wenn der Geschichtenabnehmer an ein Sterbebett gerufen wird, stellt man einen Stuhl neben die Sterbenden und lässt den Lauschenden so lange dort sitzen, bis das Lebenslicht erlöscht. Es ist die letzte Gelegenheit für sie Sterbenden, Dinge loszuwerden, Geheimnisse zu offenbaren, Bekenntnisse abzulegen. Der Geschichtenabnehmer nimmt die Geschichten und Geheimnisse zu sich, darf sie niemandem weitererzählen. 

Walter, den man im Dorf seiner pechschwaren Haare wegen nur Nerì nennt, gibt sich in die Aufgabe, als wäre es etwas Unabwendbares. Eine Aufgabe, die ihm im Dorf einen Sonderstatus gibt, nicht ausgeschlossen von der Gemeinschaft, aber auch nie mehr ganz einer der ihren. Ein Zeuge, ein Geheimnisträger, eine Hoffnung, eine Stütze, eine Hilfe. Eine Aufgabe, die ihn ans Dorf bindet, an die Menschen dort. Eine Aufgabe, die ihn auch immer mehr belastet, nicht nur, weil er für sich behalten muss, was man ihm erzählt – auch weil ihm das Gewicht dieser Geschichten mehr und mehr zur Fussfessel wird.

Vincenzo Todisco «Der Geschichtenabnehmer», Atlantis, 2024, 256 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-7152-5041-0

Gruma ist klein. Eine Bar, ein Lebensmittelladen mit dem Notwendigsten, eine Kirche, ein Pfarrhaus, ein Friedhof, eine Schule und ein Friseur. Über Jahrhunderte waren Geschichten alles, ob in der Kirche, am Stammtisch, an der Theke oder vor dem Spiegel in Sciugars Friseursalon. Aber jene Geschichten sind ganz andere Geschichten als jene, die man Nerì erzählt, der eigentlich Walter heisst, ein eigenartiger Name mitten im Apennin. Geschichten, die am Sterbebett wie Mühlsteine auf die Schultern des Jungen gebunden werden, Geschichten, die unter Verschluss bleiben müssen und dem Heranwachsenden alles abverlangen, bis zur totalen Erschöpfung. Und Nerì selbst darf weder fragen noch entgegnen. Er ist nur der, der als Allerletzter zuhört.

Geheimnisse, Verborgenes, Zugeschüttetes liegen wie ein Geflecht aus Pilzen, ein Mycel unter der Oberfläche des Dorfes. Angestautes, Verkrustungen über Jahrzehnte. Nie verdaut, nie besiegt, nie vergessen. Schon zu Beginn des Romans wird klar, dass Walter irgendwann fluchtartig das Dorf zusammen mit seiner Mutter verlassen musste. Dass das Leben in jener Gemeinschaft ein jähes Ende fand, vergiftet wurde. Denn eines Tages tauchte im Dorf ein Mann auf. Walter war kein Kind mehr und fasziniert von dem Fremden, der seine Nähe suchte und so sehr wissen wollte, was denn seine Aufgabe ist, denn sonst begegnet man ihm im Dorf mit einer Distanz, die über Jahrhunderte mit dem Amt gewachsen war. Ein Geschichtenabnehmer war jemand zwischen Leben und Tod, ein Begleiter ins Jenseits, ein Geheimnisträger. Walter lässt sich auf einen gefählichen Deal ein, einen Handel, der alles aus dem Gleichgewicht bringt und das Dorf in einem Sturm zu überfluten droht.

Vincenzo Todisco schildert ein Dorf an der Kippe zur Neuzeit, eine archaische Welt voller Traditionen, die die Gegenwart wegzuspülen droht. Einen Jungen, einen Mann, der sich in einer Welt wiederfindet, in der nichts so ist, wie damals im Dorf. Eine Welt, die geschrumpft auf die kleine Wohnung in der Stadt und die Arbeit in der Fabrik jeden Zauber verloren hat. Das Amt des Geschichtenabnehmers ist nichts, was man wie ein schmutzig oder löchrig gewordenes Hemd ausziehen kann. Erst recht nicht, wenn da ein Brief auf dem Küchentisch liegt, mit der Bitte ins Dorf zurückzukehren.

„Der Geschichtenabnehmer“ ist ein Roman, der sich mit ganz feinem Strich mit den grossen Themen des Lebens und Sterbens auseinandersetzt. Ein Roman von grosser Sprachkraft, starken Bildern und einem Protagonisten, dem man die Last seiner Aufgabe durch und durch nachspüren kann. Ein Roman, der sich bis an die Grenzen des Lebens begibt. Ein starkes Stück Literatur!

Interview

Ich gratuliere Dir zu Deinem einfühlsamen und überraschenden Roman. Ich staune über die Zartheit Deiner Sprache, über die starken Bilder.
Es ist erstaunlich, wie selten das Thema Sterben im Mittelpunkt eines Romans steht. Wahrscheinlich ein Spiegel der Gesellschaft, die sich ebenfalls schwertut, sich mit dem Thema zu konfrontieren. Davon schliesse ich mich selbst nicht aus, obwohl ich in einem Alter bin, in dem rundum schon heftig gestorben wird. War die Auseinandersetzung mit dem Sterben eine Urmotivation oder war es einfach die sterbende Tradition eines kleinen Dorfes, das bis zur Neuzeit weitgehend autark funktionierte?

Es stimmt, in meinem Roman «Der Geschichtenabnehmer» wird viel gestorben (und es gibt doch noch viele andere Romane, die sich mit diesem Thema beschäftigen). Walter, der Geschichtenabnehmer und Protagonist des Romans, sitzt stundenlang am Sterbebett der alten Leute von Gruma und hört ihnen zu, bis sie für immer ihre Augen schliessen. Er sieht und hört zu, wie sie sterben, aber im Grunde genommen geht es immer um das Leben, denn die Sterbenden erzählen rückblickend von ihrem Leben. Kein einziges Mal wird darüber spekuliert, was nach dem Tod passieren könnte. «Der Geschichtenabnehmer» ist eine Ode an das Leben, zu dem auch der Tod gehört. Der Tod ist zweifellos ein Tabuthema, der Mensch hat natürlicherweise Angst davor, es ist etwas, das man nicht verstehen, nicht ergründen kann. In meinem Roman finden sich die Menschen durch Erzählen mit dem Tod zurecht. Was nicht verstanden werden kann, wird erzählt. Der Tod wird mit dem Erzählen überwunden und das Leben stellt sich gerade in diesem Moment mit all ihrer Wucht in den Vordergrund. Zu Beginn des Romans kann man dieses Zitat von Gabriel García Márquez lesen: «Das Leben ist nicht das, was man gelebt hat, sondern das, woran man sich erinnert und wie man sich daran erinnert – um davon zu erzählen.» Genau das tun im Roman die alten Menschen, die sich kurz vor ihrem Tod Walter anvertrauen, sie erinnern sich und dadurch finden sie vor dem endgültigen Ende nochmals ins Leben zurück. Meine Motivation war es, einen Roman über das Erinnern und das Erzählen zu schreiben. Ich habe in den letzten Jahren einige Situationen erlebt, wo eine Person einem Sterbenden lauscht. Das erschien mir ein schönes Motiv, das ich in einen Roman kleiden wollte. Und natürlich spielt da die Metapher des aussterbenden Dorfes mit. Wenn ein Dorf ausstirbt, stirbt die Erinnerung mit. «Der Geschichtenabnehmer» will gewissermassen gegen dieses Vergessen anschreiben.

© Sandra Kottonau

Du schreibst so eindringlich, mit einer derartigen Selbstverständlichkeit, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass das „Amt“ eines Geschichtenabnehmers so einfach erfunden ist. Ein Amt, das sich seinen Träger aussucht. Erstaunlich genug, dass ausgerechnet hier der Einflussbereich eines Priesters „untergraben“ wird. So bleibt dieses Amt frei von Moral und der Pflicht einer Absolution. Man lädt ab. Man erleichtert sich. Walters Vorgänger sank im Alkoholismus ab. Walter selber ist eines Tages seinen Pflichten entflohen. Warum neigen kleine Gemeinschaften zu derart pragmatischen Lösungen?

Der Roman erzählt eine fiktive Geschichte. Ich schöpfe aus eigenen Erfahrungen aus der Kindheit. Im Apennin gibt es ein Dorf, das Gruma ähnelt, die Menschen dort sind eigensinnig und etwas schräg, aber Gruma, so, wie es im Roman beschrieben wird, ist erfunden und die Figuren ebenfalls. Dass alles so glaubhaft herüberkommt, empfinde ich natürlich als Kompliment, aber das ist ja gerade die Herausforderung, mit der man beim Schreiben konfrontiert wird: man will eine erfundene Geschichte so erzählen, dass sie plausibel und echt wirkt. Walter entledigt sich selber seiner Aufgabe, weil er mitschuldig ist, dass Gruma entzaubert wird. Erzählen, die Erinnerung weitergeben, tragen immer etwas Magisches in sich. «Der Geschichtenabnehmer» ist ein Buch über die Kraft des Erzählens. Beim Verfassen des Romans bin ich irgendwann auf ein Essay vom Philosophen Byung-Chul Han mit dem Titel «Die Krise der Narration gestossen». Darin kann man folgenden Satz lesen: «Die lärmende Müdigkeitsgesellschaft ist taub. Die kommende Gesellschaft könnte daher eine Gesellschaft der Zuhörenden und Lauschenden heissen.» Sobald Gruma kein erzählendes, aber gleichzeitig auch kein zuhörendes und lauschendes Dorf mehr ist, wird es entzaubert. In diesem Sinne, um auf die Frage zurückzukommen, gibt sich die Gemeinschaft auf. Mit «lärmender Müdigkeitsgesellschaft» meint Byung-Chul Han unsere moderne Welt, die schon lange sich selber entzaubert hat, weil sie so transparent geworden ist. Walter ist ein Hüter der Geheimnisse, die ihm die Sterbenden anvertrauen und ja, im Gegensatz zum Dorfpfarrer ist er frei von jeglicher Moral und Wertung. Geschichtenabnehmer zu sein ist Segen und Bürde zugleich, heisst es im Roman. Dieses Gleichgewicht galt es beim Schreiben zu halten, aber auch aufzuzeigen, was passiert, wenn das Gleichgewicht aus den Fugen gerät.

Obwohl man landauf, landab von Dichtestress berichtet, eine Stadt wie Tokio mehr als 4000 Einwohner pro km2 zählt, sterben jedes Jahr unzählige Menschen unbemerkt in ihren Behausungen, unabhängig vom materiellen Status. In ursprünglichen Gemeinschaften wie jener in dem von Dir beschriebenen Dorf wäre das undenkbar gewesen. „Privatsphäre“ wie wir sie kennen, gab es nicht. Du wohnst mit Deiner Familie auch in einem Dorf. Gibt es Gemeinschaft noch?

Das Buch erzählt auch vom Altwerden, von der Einsamkeit und der Verlassenheit, die oft damit verbunden sind. Vor der Entzauberung war Gruma eine Gemeinschaft. Die Gemeinschaft entsteht aus der mündlichen Überlieferung von Lebensgeschichten, sie nährt sich davon. In Gruma geht kein Mensch von dieser Welt, bevor er nicht eine Nacht lang erzählen und letzte Dinge loswerden kann. Nach der Entzauberung verlässt Walter das Dorf und zieht zu seiner Mutter in die Schweiz, in die Einsamkeit. Bezeichnend sind die etwas düsteren, aber auch rauen Kapitel im zweiten Teil des Romans, wo Walter seine Mutter (vorübergehend?) ins Altersheim bringt. Bevor er sie dort alleine lässt, muss sie das Alleinsein üben. In diesem Teil des Romans wird die Verlassenheit spürbar, aber auch als Walter nach vielen Jahren nach Gruma zurückkehrt. Das Dorf ist entvölkert, ohne Erinnerung, die Menschen sind einsam. Um auf die «lärmende Müdigkeitsgesellschaft» von Byung-Chul Han zurückzukommen: sie produziert Einsamkeit, sie verunmöglicht Gemeinschaft, denn sie ist die Antithese des Einande-Geschichten-erzählens. Die Frage ist also berechtigt, denn das Erzählen bringt Gemeinschaften hervor. Im Roman wird Gruma unter anderem so beschrieben: «Zu jeder Familie gehörten Grosseltern, Tanten und Onkel, die zusammen mit den Eltern und den Kindern das Haus füllten. Es wimmelte nur so von Kindern und jungen Leuten. Die Alten merkten nicht, dass sie alt wurden. Sie wurden selbst wieder zu Kindern, und der Kreis schloss sich.» Ganz anders die Stimmung viele Jahre später, im Altersheim: es «beherbergt Menschen, die mit dem Abschied vor Augen ins Leere träumen.» In diesem Sinne schreibe ich im Roman gegen diese Einsamkeit an.

© Sandra Kottonau

In allen Deinen bisherigen Romanen spielt Italien eine zentrale Rolle, obwohl Du in der Innerschweiz geboren ist. Versteckt sich da eine Portion Sehnsucht? Eine genetische Verbundenheit?

Italien ist mein Herkunftsland. Ich bin nicht dort geboren, ich bin in der Schweiz geboren, hier aufgewachsen und von Anfang an integriert worden, aber meine Eltern stammen aus Italien. Sie sind Ende der Fünfzigerjahre in die Schweiz eingewandert, um hier zu arbeiten. Wie Max Frisch einmal gesagt hat, hat die Schweiz Arbeitskräfte gerufen, aber es sind Menschen gekommen. Und diese Menschen, meine Eltern, haben ihre Herkunft, ihre Erinnerungen mitgebracht und haben sie weitergegeben. Als ich noch ein Kind war, gingen wir jedes Jahr nach Italien die Verwandten besuchen, zuerst ans Meer und anschliessend auf dem Apennin. Dort oben, in einem Dorf ähnlich wie Gruma, ist meine Mutter aufgewachsen. Erstaunlicherweise war ich viel lieber dort als am Meer, wo so viel los war. Heute weiss ich weshalb. In diesem kleinen, abgelegenen Dorf, das ich jetzt Gruma nenne, war schon alles da, was im Leben wirklich zählt, Liebe, Lebensfreude, Freundschaft, Treue, aber auch Neid, Tragik und Tod. Alles war so essentiell, archaisch. Es war für mich wie ein Übungsfeld für das Leben. Und natürlich hat all das mit Sehnsucht zu tun. Ohne Sehnsucht auf irgendwas kann man nicht schreiben.

Der Roman „Das Eidechsenkind“ (2018) mit dem Du auch für den Schweizer Buchpreis 2018 nominiert warst, war Dein erster in Deutsch verfasster Roman, nachdem die vorausgegangenen Bücher alle in Italienisch, Deiner Muttersprache, geschrieben wurden. Was veränderte sich damit? Änderte sich die Herangehensweise, die Optik, das Spiel mit dem „Instrument Sprache“?

Ja, das stimmt, mit dem Roman «Das Eidechsenkind» hat bei mir beim Schreiben ein Sprachwechsel stattgefunden. Wechsel ist eigentlich das falsche Wort, denn ich schreibe immer noch auch auf Italienisch. Deutsch ist hinzugekommen. Deutsch war lange Zeit für mich eine Kopfsprache. Mit dem «Eidechsenkind» ist sie zu einer Bauchsprache geworden. Um zu schreiben braucht es eine Bauchsprache. Ich bin jetzt ein zweisprachiger Autor. «Das Eidechsenkind» habe ich selber auch in italienischer Sprache verfasst. Das möchte ich auch beim «Geschichtenabnehmer» tun. Dieses Vorgehen ist für mich sehr interessant, denn beim Übersetzen (und eigentlich ist es kein Übersetzen, sondern eher ein Nochmalschreiben) lerne ich immer wieder etwas von der anderen Sprache, sehe und erlebe sie aus einer anderen Perspektive. Beim «Eidechsenkind» waren die Unterschiede krass. Das deutsche Neutrum, das Kind, erlaubte mir, den Protagonisten sowohl im Plot, aber auch in der Sprache selbst zu verstecken. Das Neutrum erlaubte mir das Kind ganz nahe an die Eidechse heranzubringen, einem Tier (das Tier). Im Italienischen ist das nicht möglich, da muss man sich sofort für mehr Transparenz und also auch mehr Licht statt Schatten entscheiden, il bambino oder la bambina, männlich oder weiblich, das verändert sofort den Ton. Ich habe erst begonnen, den «Geschichtenabnehmer» ins Italienische zu übertragen. In der Originalversion verwende ich eine andere, elaboriertere Sprache als beim «Eidechsenkind». Ich bin gespannt, was ich über die beiden Sprachen diesmal entdecken werde.

Vincenzo Todisco, 1964 in der Zentralschweiz geboren, lebt in Rhäzüns. Er hat Romanistik in Zürich studiert und mehrere Romane auf Deutsch und Italienisch veröffentlicht. Für sein literarisches Schaffen wurde er 2005 mit dem Literaturpreis und 2024 mit dem Anerkennungs­preis des Kantons Graubünden ausgezeichnet. Sein Roman «Das Eidechsenkind» war 2018 für den Schwei­zer Buchpreis nominiert und hat mehrere Auflagen erlebt. Todisco lehrt und forscht an der Pädagogischen Hochschu­le Graubünden in Chur.

Webseite des Autors

Beitragsbild © privat

Michèle Minelli «All das Schöne», Saatgut

Elisa und Jakob lernten sich erst spät kennen und lieben. Elisa, von einer geschiedenen Ehe verwundet, zieht in das Haus, in dem Jakob hoch über dem Tal seit Jahrzehnten lebt, in ein Haus, in dem die Welt in Ordnung ist, alles seinen Platz hat, auch die späte Liebe zwischen Elisa und Jakob. Bis Jakob stirbt.

„All das Schöne. Die Geschichte von Jakob und Elisa“ ist eine Liebesgeschichte, auch wenn der Tod etwas Grosses wegbrechen liess. Dieser Roman ist eine Liebeserklärung an einen Mann, von dem Elisa erst nach viel Schmerz und Verwundungen neues Vertrauen schöpfte und zu ihm in das Haus über dem Tal zog. In ein Haus mit Weitsicht, ein Haus, das sich über die Jahrzehnte wie eine erweiterte Seelenlandschaft um diesen einen Mann ordnete. Die Liebeserklärung an ein Lieben zu zweit in gegenseitigem Respekt, ohne diese permanente Angst, betrogen und enttäuscht zu werden. Die Liebeserklärung an einen Garten, eine kleine, intakte Welt, voller Leben und Gegenstände, die alle in einer Ordnung zueinander stehen. Die Liebe an ein Leben in Ruhe und Beständigkeit, in dem plötzlich aufbrechen kann, was über lange Zeit blockiert war.

Bis Jakobs Husten, seine Krankheit das Leben im Haus über dem Tal mehr und mehr einnimmt und selbst Jokobs Schwester mit ihrer Hilfe nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass die Zweisamkeit in diesem kleinen Paradies endlich ist. Jakob stirbt und Elisa bleibt alleine in dem Haus mit Garten und Katzen zurück. Elisa muss sich neu finden. Da ist die Trauer, die Lähmung, der Schmerz und die Sehnsucht. Aber in und um dieses Haus erinnert alles an ein gemeinsames Leben, ist alles durchsetzt von Jakobs Ordnung, seiner sanften Kraft an Garten, Haus und Tieren, der Wärme, die sein Tun und Sein begleitete. Mit einem Mal werden Gemeinsamkeiten zu Erinnerungen, das, was sie wie einen Schatz in sich trägt, wie ein Garten, für dessen Früchte man etwas tun muss.

„Trauer verläuft nicht in geregelten Bahnen. Trauer kennt keinen Massstab und kein Mass.“

Michèle Minelli «All das Schöne. Die Geschichte von Jakob und Elisa», Saatgut, 2024, mit 11 Schwarz-Weiss-Illustrationen von Janine Grünenwald, 96 Seiten, CHF ca. 28.00, ISBN 978-3-9525244-8-0

Elisas Leben ist an einem Wendepunkt. Kann aus Trauer neuer Mut wachsen? Wie viel stirbt mit? Elisa lebte einst in der Stadt, schälte sich aus einem Leben, mit dem sie sich in den Jahren zusammen mit Jakob versöhnen konnte, das sie besiegte, das zusammen mit Jakob so viel möglich werden liess, dass Elisa sogar für eine Familie bereit gewesen wäre. Jakob war der Mann, der ihr Sicherheit gegeben hatte, sie auch jetzt, nach seinem Tod, noch immer gibt. Selbst in jenen Zeiten, als sich keimendes Familienglück dann doch nicht einstellte und es wieder Jakob war, der sie vor dem Wegsinken rettete.

„All das Schöne“ spielt über vier Jahreszeiten, spiegelt ein Leben, das sich von einem Winter, in dem der Tod sie aus ihrem Glück riss bis in den Winter danach hangelt, in dem Elisa neuen Mut findet, über ein Jahr in Haus und Garten, das ein langes Abschiednehmen ist. „All das Schöne“ ist ein ungeheuer zärtliches Buch, das nie in Rührseligkeit abdriftet, eine buchlange Liebeserklärung an ein Leben, einen Plan, eine Ordnung, ein Sein, das von gegenseitigem Respekt getragen ist. Aber „All das Schöne“ ist auch ein Trauerbuch, ein Abschiedsbuch, ein Buch der Selbstvergewisserung. Ein Buch von einer Frau, die mit einem Mal auf sich selbst zurückgeworfen ist, die mit jedem Schritt in eine neue Ordnung ihr Leben zurückgewinnen muss.

„In dem ein Leben mit einer Geburt beginnt und mit dem Tod endet, wird es zu einer Geschichte. Alles was mit dir und durch dich war, ist nun zu einer Geschichte geworden. Jakob, mit einem fest verfugten Anfang. Und einem Ende. Auf dieser Wiese vor mir. Ich ziehe die Jacke enger.“

Ein Buch, das wärmt!

Michèle Minelli, Schriftstellerin und Filmschaffende, lebt und arbeitet auf dem Iselisberg. Koordinatorin der Franz-Edelmaier-Residenz für Literatur und Menschenrechte in Meran, Vorstandsmitglied Deutschschweizer PEN-Zentrum. Seit 2000 sechs Sachbücher und acht Romane mit Übersetzungen ins Französische, Chinesische und Albanische. Minelli ist verheiratet mit dem Schriftsteller Peter Höner.

Janine Grünenwald malte schon als Kind im Architekturbüro ihres Vaters stundenlang. Seit 2015 illustriert sie eigene Comics, Postkarten, Kalender u.a. im Hasenbureaux.ch. Sie lebt und arbeitet in Zürich. All das Schöne ist der erste Roman, den sie illustriert.

«Passiert es heute? Passiert es jetzt?», Rezension auf literaturblatt.ch

«Chaos im Kopf», Rezension mit Interview auf literaturblatt.ch

«Kapitulation», Rezension auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Anne Bürgisser