Am 7. Oktober griffen palästinensische Terroristen gezielt jüdische Zivilisten an und ermordeten so auf israelischem Staatsgebiet weit mehr als 100 Menschen. Ein Tag und seine Folgen, die zu einer prägenden Zäsur im Nahen Osten wurden und mit einem Mal ein sowieso schon fragiles Nebeneinander eskalieren liessen. Lizzie Doron wagt sich als Schriftstellerin und Jüdin an ein Stück Gegenwartsbewältigung, das man kaum in Worte fassen kann.
Wie schreibt man über ein Massaker, bei dem unter den Opfern Menschen sind, die einem nahe standen? Wie schreibt man über einen Flächenbrand, der unkontrolliert bis ins Jetzt wirkt? Wo sind die Grenzen zwischen Tätern und Opfern? Wie kann man schildern, was kaum in Sprache zu fassen ist, bei dem es einem die Sprache verschlägt, die Angst einem die Kehle verschnürt, jedes Wort ein falschen werden kann, jede Äusserung als Stellungnahme interpretiert wird, selbst wenn es „nur“ um Empfindungen und Gefühle geht.
Völlig unerwartet griffen Bewaffnete der Hamas und des islamischen Jihads an jenem Dienstag ein Open-Air-Musikfestival und verschiedene israelische Siedlungen im Grenzland zum Gazastreifen an. Weit über 1000 Unschuldige wurden ermordet, vergewaltigt und verschleppt. In der Folge startete das israelische Militär einen Angriff, eine Geisel-Befreiungsaktion, die sich mehr als deutlich zu einem grausamen Krieg gegen ein Terrorregime entwickelte, das sich schamlos hinter einer leidenden Bevölkerung versteckt. Ein Flächenbrand, der ein ganzes Land in Schutt und Asche legte und Wunden schnitt, die sich auch mit einem Waffenstillstand auf Generationen hinaus nicht befrieden lassen werden.
Ein Installateur kann verstopfte Abflüsse beheben, der Elektriker hilft bei Kurzschlüssen, und ein Arzt heilt Wunden. Aber womit kann ich helfen, eine Schriftstellerin? Nicht einmal Worte habe ich.
Lizzie Dorn «Wir spielen Alltag. Leben in Israel seit dem 7. Oktober», dtv, aus dem Hebräischen von Markus Lemke, 2025, CHF ca. 32.90, 160 Seiten, ISBN: 978-3-423-28453-0 aus dem Hebräischen von Markus Lemke
Lizzie Doron versucht das Unmögliche. Sie, die sich auch in den Jahren zuvor immer wieder mit der politischen Gegenwart auseinandersetzte. Sie, deren Grosseltern selbst Opfer während des Holocausts waren. Sie, die das Trauma schon seit Generationen mit sich trägt. Sie versucht nicht zu verstehen, ein unmögliches Unterfangen, aber sie versucht, jenen Sturm in ihrem Innern zu ordnen, die Druckwellen all jener Geschehnisse, für die es als Betroffene kaum Erklärungen gibt.
Über Jahrzehnte lebten die Bewohner Israels im festen Glauben daran, in einem mehr oder minder sicheren Land zu leben. Die Geschehnisse des 7. Oktobers haben diesen Glauben tief erschüttert. Krieg ist seit mehr als einem Jahr für Israelis und Palästinenser Alltag; Sirenen, die aus dem Leben reissen, Stunden und Nächte in Luftschutzkellern, Bomben und Raketen, Soldaten auf den Strassen, Ruinen und ausgebrannte Autos, Blut und Elend.
Was an dem Buch von Lizzie Doron beeindruckt, ist nicht ihre Betroffenheit, auch nicht ihr Schmerz, ihre Angst. Bemerkenswert ist ihre Position des Schreibens. Obwohl Lizzie Doron eine Betroffene ist, eine Trauernde, eine Traumatisierte, eine zu tiefst Verängstigte, klagt sie mit keinem Satz an. Nicht einmal die Verursacher dieser epochalen Misere, die Unbeweglichkeit, die dauernden Schuldzuweisungen, all die Politiker, die permanent Öl ins Feuer giessen.
Ein Krieg wie eine Naturkatastrophe, der zur Routine unseres Lebens geworden ist. Doch in Wahrheit ist es eine uns um den Verstand bringende, menschengemachte Tragödie.
Ich bin neugierig, ob man Lizzie Doron beim Besuch in Solothurn schützen muss. Ausgerechnet sie, die doch eigentlich nur um Verständnis, Empathie bemüht ist. Ob die Anwesenheit der Autorin zu einem Dialog wird und es nicht bloss bei einer Alibiübung bleibt. Wer sich in irgendeiner Weise zu den Geschehnissen zwischen Israel und den Palästinenser*innen äussert, riskiert den Zorn anderer, die Wut der einen oder anderen Seite. Selbst Besonnenheit und Zeichen der Mässigung können die Wut der Extremen entfachen. Alibiübungen braucht es in Solothurn keine, aber tatsächlichen Dialog! Wie ich mich auf die Begegnung mit der Autorin freue!
Lizzie Doron, 1953 in Tel Aviv geboren, wurde durch ihre Romane über die zweite Generation nach der Schoah bekannt. Mit «Who the Fuck Is Kafka» – eine der wichtigsten literarischen Verarbeitungen des Nahostkonflikts – und «Sweet Occupation» wandte sie sich politischen Themen zu. Lizzie Doron wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Friedenspreis der Geschwister Korn und Gerstenmann-Stiftung. Sie lebt in Tel Aviv und Berlin.
Markus Lemke lebt als freier Übersetzer und Dolmetscher aus dem Hebräischen und Arabischen in Hamburg. Er überträgt u. a. Werke von Eshkol Nevo und Dror Mishani. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet, zuletzt 2019 mit dem Deutsch-Hebräischen Übersetzerpreis und 2021 mit dem Hamburger Literaturpreis.
Das Tausendjährige Reich bäumt sich in einem Tal in den Ostalpen zum letzten Mal auf – mit all seiner Grausamkeit. Mit «Die letzten Tage» gelingt Martin Prinz ein Stück literarischer Vergangenheitsbewältigung der ganz besonderen Art. Ein dokumentarischer Roman, der mir das Blut in den Adern gefrieren lässt.
In den letzten Tagen des Tausenjährigen Reiches, Wien steht kurz vor dem Fall, die rote Armee wartet in einer Talöffnung nicht weit von St. Pölten auf den letzten Schlag, errichtet Kreisleiter Braun ein letztes Standgericht. „Politisch Unzuverlässige“ werden hingerichtet. Nach dem Krieg, zwei Jahre später werden die Verantwortlichen vor ein Volksgericht geführt. Wieder werden Todesurteile vollstreckt, um danach für Jahrzehnte einen Mantel des Schweigens über die Geschehnisse in den letzten Tagen vor dem Zusammenbruch des Naziregimes zu legen. Erst durch die akribische Aufarbeitung der Geschehnisse damals durch den Autor Alois Kermer, den glücklichen Zufall, dass diese Aufzeichnungen nicht verloren gingen und zehn Jahre Recherchearbeit durch Martin Prinz gerät Frischluft in den modrigen Untergrund. Geschehnisse, die beispielhaft sind für die letzten Tage eines schrecklichen Krieges, eines ebenso schrecklichen Machtapparates, die Martin Prinz zu einem Buch formt, das einem gleich mehrfach in die Knochen fährt.
Wie irrgig zu glauben, ein Krieg sei mit der Kapitulation der einen Seite oder mit dem Erfolg von „Friedensverhandlungen“ zu Ende. Erst recht dann, wenn ein solcher Krieg über Jahre wütet und tiefe Wunden in ganze Landstriche gerissen hat. Wenn Generationen traumatisiert sind, die Gegend von Gräbern überzogen ist und jene, die damals an den Hebeln der Macht waren, noch immer da sind. Wie naiv zu glauben, Kriege wären an einem bestimmt Datum zu Ende. Was Kriege vor Jahrhunderten anrichteten, spürt man in den Ländern des Balkans. Wie tief man sich in der Rolle des Opfers sieht, das nie mehr ohne Gegenwehr Gewalt erdulden will, zeigt die Situation im Nahen Osten. Es scheint, als würde sich der Gräuel des Krieges, der Folter und Misshandlung ins Erbmaterial der Betroffenen fressen, zu einem genetischen Code werden, der von Generation zu Generation weitergegeben wird.
Martin Prinz «Die letzten Tage», Jung und Jung, 2025, 272 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-99027-415-6
Was bei Kriegsende in der Heimatgegend des Autors geschah, zeigt viel über menschliche Mechanismen, über die man lieber nicht nachdenken und reflektieren will. „Die letzten Tage“ ist ein Buch über Macht, über die Maschinerie von Hirarchien, über blinden Gehorsam und bodenlose Willkür. Über Blindheit und das Bedürfnis der meisten, Gras über Dinge wachsen zu lassen, die nie aufgearbeitet wurden, über die nie umfassenend reflektiert wurde. Über die Sehnsucht, durch das Vergessen jene Harmonie zu schaffen, die glauben macht, neu beginnen zu können.
Martin Prinz, der sich schon mit anderen Büchern durch seine akribische Recherchearbeit einen Namen machte und sich dabei auch schon ins Abseits manörvrierte, wagte mit „Die letzten Tage“ etwas, was nicht den gängigen Mustern literarisierter Vergangenheitsbewältigung entspricht. Martin Prinz erzählt nicht einfach eine Geschichte nach, füllt historische Fakten mit fiktionalen Zwischenräumen. „Die letzten Tage“ bleibt ganz nah an den Fakten, an Protokollen, Zeitdokumenten. Ob „Die letzten Tage“ ein Roman ist, bezweifle ich, lässt sich aber als Buch so bestimmt viel erfolgreicher verkaufen. Martin Prinz sind die Mechanismen von damals, das Psychogramm einer Gegend, die sich in einer Endzeit sieht, die Psychologie der Verdrängung, die Wirkungen von Macht und militärischem Gehorsam viel zu wichtig, als dass er das alles durch Fiktion verwässern, dramatisieren und verfremden will.
Reine Willkür gepaart mit militäischer Blindheit, fatalistischer Hyperaktivität und bodenloser Kälte machte möglich, dass Menschen von der Strasse weg eingesperrt, gefoltert, durch ein Standgericht im Hauruckverfahren abgeurteilt und erschossen wurden. Man schleifte sie durch den Ort und hängte sie mit Schmähtafeln um den Hals auf. Allen im Ort sollte unmissverständlich klar sein, dass man in den regionalen Machtzentralen noch immer an den Endsieg glaubt.
Dass man auch Jahrzehnte nach dem Krieg nicht bereit war, die Geschehnisse von damals publik zu machen, zeigt das Schicksal der Aufzeichnungen jenes Mannes, mit dessen Recherchematerial Marin Prinz dieses Buch verfasste. Man ersuchte Alois Kermer 1993 Nachforschungen anzustellen. Nach fast einem Jahrzehnt Recherchearbeit übergab Kermer seine Aufzeichnungen der Gemeinde, die dann monatelang schwieg und erst nach mehrfacher Nachfrage erklärte, dass nun nicht mehr an die versprochene Veröffentlichung gedacht werden könne. Kermer starb 2006. Und nur weil ein Exemplar seiner Aufzeichnungen in die Hände eines Standesamtsleiters fiel und unter dem Titel „Erinnerungen aus dem Schwarzatal in schwerster Zeit“ veröffentlicht wurde und eines dieser Bücher Martin Prinz übergab, ist es zu verdanken, dass mit „Die letzten Tage“ ein ganz eigenes Mahnmal über menschliche Verwerfungen geschrieben wurde.
Es gibt sie, die Bücher, die sich nicht scheuen, in tiefsitzende Eiterbeulen zu schneiden, man lese die Bücher von Hanna Sukare oder den Roman „Dunkelblum“ von Eva Manesse. Aber niemand hat den protokollarischen Klang des Grauens besser zwischen zwei Buchdeckel gebracht wie Martin Prinz.
Interview
Keine einfache Lektüre. Sie setzt Leser*innen voraus, die gewillt sind, sich nicht nur mit einem schweren Stoff zu befassen. Man muss sich auch auf die Sprache, ihrem Willen, so nahe an den Protokollen zu bleiben, einlassen. Die Schriftstellerin Hanna Sukare ist in ihrem Schreiben mit Sicherheit von ganz ähnlicher Motivation getragen wie Sie. Und trotzdem sind ihre Romane ein Eintauchen in Bilder, ein Nacherzählen, eine Kombination von Fakten und Fiktion. Was hat Sie dazu bewogen, nicht einach eine Geschichte nachzuerzählen?
Was in der Gegend zwischen Rax und Schneeberg in den letzten fünfeinhalb Wochen vor Kriegsende geschah, gerät aufgrund der speziellen Situation der stillstehenden russischen Frontlinie wie zu einem Kondensationskern nationalsozialistischen Alltags. Eine ganze Gesellschaft, von den NS-Führern, den SS-Männern, den HJ-Jungen, bis zu den kleinen Gendarmen und blossen Nachbarn, alle machen mit. Und niemand gehorcht nur, fast alle lassen dem Bösen auf alltäglichste Weise freien Lauf, sie übererfüllen sogar. Das ist kein Terror von oben, das ist Terror, der aus der Gesellschaft selbst kam.
Es ist so geschehen, die Fakten lassen sich nicht leugnen, und dennoch bleibt es unvorstellbar. Und das Wort „unvorstellbar“, das immer und immer benutzt wird, es gilt es ernstzunehmen. Ob Einfühlung, Fiktion oder Eintauchen, eine solche Wirklichkeit muss in ihrer Unförmigkeit erzählt werden. Und in ihrer Unvorstellbarkeit. Hier hielte ich es für Anmassung, so zu tun, als könnte ich mir das vorstellen, als könnte ich es erzählerisch auf der Einfühlungsebene weitergeben. Das ist eine Illusion, und sie ist gefährlich, denn am Ende verharmlost sie, auch wenn sie das durch Moralisieren vielleicht zu überdecken versucht.
Was also bleibt? Wo gibt es dennoch einen Ansatz des Erzählens? Dort, wo ihn die Täter selbst bieten, und das in ihrer Feigheit sogar bereitwillig, nämlich in ihrem Wegducken, ihrem Ausweichen, ihrem Verallgemeinern, nämlich in ihrer Sprache. Womit wir an der Werkbank jeden Erzählens selbst sind.
Im Nachwort zu Ihrem Roman erzählen Sie vom Weg, den der Stoff zu Ihnen benötigt hatte. Sie erzählen vom Autor Alois Kermer und dem Standesamtsleiter Hermann Scherzer. So wie die mit dem Buch den Geschehnissen von damals eine Mahnmal wider das Vergessen setzen, so setzen Sie jenen beiden Männern ein Denkmal, denen man das Erinnern verdanken muss. Sie sind dort, in jener Gegend aufgewachsen und interessieren sich schon immer für verborgene Wahrheiten. Ist in Ihrer Heimat nicht von viel früher der eine oder andere Modergeruch des Verborgenen an die Oberfläche geraten?
Zwar bin ich einige Berge und Täler davon entfernt aufgewachsen, doch den Moder gab es überall. Was in Reichenau und Umgebung geschah, war aufgrund des Rückzugs der NS-Spitzen in diese von Bergen und den russischen Linien erzeugten Inselsituation eine besondere Lage, in der sich ganz am Ende alles, was auch in den Jahren davor bereits Alltag war, noch einmal zuspitzte. Angesichts des von Kermer und Scherzer recherchierten Materials, angesichts der von mir durchgesehenen Akten des Volksgerichtsprozesses gegen die Täter wird klar, wir befinden uns buchstäblich in einem Labor der NS-Zeit selbst. Womit wiederum all das umso greifbarer wurde, das ich als Kind in den 70er-Jahren auch aus meinem Heimatort noch ansatzweise erfahren hatte.
Die Sprache ihres Erzählens in diesem Roman ist eine ganz eigene. Eine, die die Grausamkeit unter scheinbarer Sachlichkeit verbirgt. Die Sprache von Ämtern, von Gerichten. Eine Sprache, die sich auch heute diametral von der Umgangssprache oder der Literatur unterscheidet. Sprachen, die nur wenig Berührungspunkte aufweisen. War es Faszination oder Respekt, der Sie so erzählen liess?
Respekt und Notwendigkeit.
Dass sich im letzten Aufbäumen vor dem Untergang unter Menschen eine ganz eigene Psychologie entwickelt, beobachtet man immer wieder. Eine Mischung aus Fatalismus, Anarchie und totaler Ergebenheit. Etwas, was auch in der Gegenwart zu beobachten ist. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ähnliche Mechanismen eingesetzt haben hinsichtlich der globalen Klimasituation. Einfach menschliche Regungen oder mehr?
Würde ich das wissen! Aber ich weiss es nicht.– Und vermutlich ist das nur eine Schutzbehauptung meinerseits, denn ich lese gerade József Debreczenis Bericht „Kaltes Krematorium. Bericht aus dem Land namens Auschwitz“. Der einzige Schluss daraus kann nur die Anweisung sein, dass wir uns in Wirklichkeit weit mehr vor uns fürchten müssten.
Was mich fast am meisten erschütterte, waren die Berichte über die noch nicht volljährigen Burschen der Hitlerjugend, die damals an den Exekutionen und Zurschaustellungen der geschändeten Leichen teilnahmen. Die Vorstellung, dass sich jene Jugendlichen damals ein Leben lang mit diesen Bildern, mit ihrem Tun vor sich selbst zu verantworten hatten, lässt mich erschaudern. Schon allein das wäre Stoff für einen Roman. Was passiert mit dem Stoff in Ihnen, der sich so lange und so intensiv damit beschäftigte?
Ich habe nach dem Schreiben des Romans noch wochenlang von meinem Erhängen und Erschiessen geträumt.
Martin Prinz, geboren 1973, aufgewachsen in Lilienfeld A, lebt als Schriftsteller in Wien. Er schreibt Reisegeschichten, Drehbücher und Romane (u.a. »Der Räuber« und »Die letzte Prinzessin«). Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Drehbuch-Preis des Filmfestivals in Gijon.
Was passiert, wenn ein Leben aus dem Tritt gerät. Wenn Lebenspläne abbrechen, der Ehemann beim Joggen stirbt, die Tochter zusammenbricht, das eigene Selbstverständnis ins Wanken gerät. «Halbinsel» ist ein Roman über die Nöte der Gegenwart. Halbinsel ist durchaus metaphorisch zu verstehen – wenn der Zugang zum Festland immer schmaler wird!
Annett erhält einen Anruf aus einem Spital, ihre Tochter habe einen Schwächeanfall erlitten, nichts Schlimmes, aber man behalte sie für weitere Abklärungen in der Klinik. Annett parkiert Bo, ihren Hund, bei Nachbarn und fährt hin, mit bangen Gefühlen. Annett ist mehr als verunsichert. Hätte sie merken sollen, dass es Zeichen gab? Mit einem Mal schwebt dieses Gefühl wieder über ihr, nicht genügt, zu wenig getan, die Zeichen nicht richtig gelesen zu haben. Wie damals, vor zwei Jahrzehnten, als Johan, ihr Mann, bei einer Runde Joggen nicht nach Hause kam, Annett mit dem Fahrrad verzweifelt zu suchen begann und Johan zusammengebrochen am Strassenrand fand. Damals starb ihr Mann und mit ihm das Vertrauen darauf, es würde sich schon alles zum Guten wenden.
Weil Annett spürt, dass Linn, ihre Tochter, Ruhe braucht, nimmt sie die junge Frau nach Hause, in das kleine Haus nicht weit vom Meer. In ein Zuhause, in das Annett sich in den letzten Jahren immer mehr zurückgezogen hatte, in ein beschauliches Leben mit Bo ihrem Hund, der Arbeit als Bibliothekarin in der nahen Kleinstadt – ein geparktes Leben. Dass Linn vorübergehend wieder in ihr altes, unverändertes Kinderzimmer zieht, verunsichert und berührt Annett gleichermassen. Nicht zuletzt darum, weil Annett nicht klar ist, was Linn aus ihrem Leben herausgerissen hat. Sie, die studierte, die sich mit Feuer der Natur verschrieben hatte, sich in als Umweltvolontärin für die Wälder in Schweden und Rumänien einsetzte, die ein eigenes Leben geführt hatte.
Was ist mit ihrer Tochter los, die in den ersten gemeinsamen Tagen im Haus das Bett kaum verlässt, keine Anrufe entgegennimmt und ihrer Mutter irgendwann verkündet, sie habe ihre Stelle noch vor Ende der Probezeit gekündigt und suche für ihre Wohnung Nachmieter? Wie soll sie reagieren, wenn ihre Tochter kaum Zeichen gibt, jede Frage zum Bumerang werden kann? Annett wird vom Hotel, wo es zum Zusammenbruch kam, informiert, man schicke ihr die Rechnung für Instandsetzungsarbeiten und die Restaurierung eines beschädigten Bildes. Was passierte an jenem Tag, von dem Linn in Bruchstücken erzählte, sie habe einen Vortrag gehalten, aber nicht das erzählt, was man hören wollte?
Kristine Bilkau «Halbinsel», Luchterhand, 2025, 224 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-630-87730-3
Annett macht sich auf den Weg. Weil ihre Tochter sie nur bruchstückweise an ihrem zum Stehen gekommenen Leben teilhaben lässt und sich das so ruhig gewordene Leben einer Witwe mehr und mehr in Schräglage sieht, braucht Annett eigene Antworten. Sie sucht in den Kisten und Schachteln, die sie im Keller ihres Hauses verschlossen glaubte. Sie sucht in abgebrochenen Spuren, im Hotel, in dem Linns Zusammenbruch stattfand, in der Wohnung, die aufgelöst wird. Langsam nähern sich zwei Leben an, zwei Leben, die sich nach dem Aufbruch Linns in ein eigenes Leben, voneinander entfernten und auseinanderdrifteten. Linns Leben in überschäumendem Aktionismus, Annetts Leben im unfreiwilligen Stillstand.
Kristine Bilkaus Roman ist nicht nur sprachlich überzeugend, sondern auch in der Vielfalt seiner Themen, ohne je überladen und konstruiert zu wirken. So viel Leidenschaft, so viel Verständnis und Empathie. Nicht nur für die Generation derer, die sich von der Lage der Welt zum Kampf aufgefordert fühlen und zu resignieren drohen, sondern für all jene, die sich einer permanenten Selbstbefragung ausgesetzt sehen. Einer Suche nach Antworten, die letztlich immer eine alleinige Suche bleibt. „Halbinsel“ erzählt viele Geschichten übereinander und ineinander; die Geschichte von Frauen, die ihre Rollen neu definieren, finden müssen, die Geschichte einer Mutter und Ehefrau, die Geschichte eines scheinbaren Friedens, der auf sandigem Grund gebaut ist, die Geschichte über den Zustand der Welt.
Jurybegründung der des Preises der Leipziger Buchmesse: «Leicht nacherzählbar scheint dieses Buch zunächst, doch das ist eine Täuschung. Kristine Bilkau trägt sukzessive Schichten von Fragen ab, die verunsichern. Das unerwartet zusammengeführte Duo aus Mutter und erwachsener Tochter braucht mehr als guten Willen für ein neues Lebensmodell. «Halbinsel» ist ein sensibel gebauter Roman über emotionale Altlasten, über Grosszügigkeit und über das Geschäft mit dem Klima-Gewissen.»
Kristine Bilkau, 1974 geboren, zählt zu den wichtigen Stimmen der deutschen Gegenwartsliteratur. Sie studierte Geschichte und Amerikanistik in Hamburg und New Orleans. Bereits ihr Romandebüt «Die Glücklichen» fand ein begeistertes Medienecho, wurde mit dem Franz-Tumler-Preis, dem Klaus-Michael-Kühne-Preis und dem Hamburger Förderpreis für Literatur ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt. Mit «Nebenan» stand sie auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Ihr neuer Roman «Halbinsel» wurde mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2025 ausgezeichnet. Kristine Bilkau lebt mit ihrer Familie in Hamburg.
Herr Faustini ist das, was man einen Müssiggänger nennen kann. Ein Mann der Sorte Mensch, der sich nicht hetzen lässt, der weder getrieben noch geschoben wird von all den Errungenschaften der Neuzeit. Ein überaus sympathisches Fossil. Ein überaus sympathisches Buch!
Nicht dass ich die Bezeichnung „Fossil“ im Zusammenhang mit dem Wesen und der Erscheinung Herr Faustinis als Schimpf verstehe. Wie gerne würde ich mir von diesem feinsinnigen Mann die eine oder andere Scheibe abschneiden. Weil er ein Suchender ist, der sein Leben nie der Suche verschreibt, weil er mit offenen Sinnen und fast kindlichem Wesen durch eine Welt geht, die so ganz anders funktioniert, sieht und findet er die kleinen und grossen Paradiese des Seins. Auch wenn dieser schmale Roman kein Märchen ist und alles auf dem Boden der Realität bleibt, hat die Geschichte etwas Märchenhaftes. Es ist eine Suchwanderung, die Geschichte eines Mannes, der sich auf Begegnungen einlässt, die ihn auf seltsame Weise immer weiter bis zu seinem Glück führen.
Ich traf mich mit dem Autor vor einiger Zeit in Wien, der Stadt, in der er wohnt und schreibt. Er führte mich in ein Restaurant hoch über den Dächern der Stadt, wo wir bei einem Glas Wein von unseren Leben erzählten. So wie Wolfgang Hermann in seinem Roman über Herr Faustini. So wie der Autor ist Faustini im Vorarlbergischen am Bodensee aufgewachsen und in Wien hängen geblieben. Herr Faustini ist passionierter Spaziergänger und Beizensitzer. Unterschiede zwischen Hermann und Faustini gibt es viele, Gemeinsamkeiten bestimmt auch. Faustini trinkt mit Vorliebe Hagebuttentee in Gasthäusern, in denen meist Bier oder billiger Wein getrunken wird.
Wolfgang Hermann «Herr Faustini und die Glatze der Welt», Milena, 2025, 120 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-903460-38-6
In einem solchen Gasthaus trifft Herr Faustini den Mann mit der Glatze, Martin, der ihm seine Geschichte erzählt. Martin und Luther. Luther, ein Eichhörnchen, das er stets mit sich trägt. Die Geschichte wie er noch als Junge in ein Irrenhaus in Wien abgeschoben wurde, unverstanden weggesperrt. Wie er in jenen kalten Mauern seine Liebe fand, eine junge Frau, etwas älter als er. Wie man sie erwischte und auseinanderriss. Wie man ihnen verbot, Kontakt miteinander aufzunehmen. Wie er sie verloren habe und die Erinnerungen keinen Tag in seinem öden Leben verblassen. Er bittet Faustini, ihn nach Wien zu begleiten, jene Orte aufzusuchen in der leisen Hoffnung, vielleicht doch noch Spuren seiner grossen Liebe zu finden.
Und weil Herr Faustini Herr Faustini ist, sitzen sie schon am nächsten Tag im Zug unterwegs in die grosse Stadt am anderen Ende des Landes. Dorthin, wo Faustini einst mit seiner grossen Schwester und ihrem damaligen Freund seine erste grosse Reise machte, später noch weiter, auf die andere Seite des eisernen Vorhangs, wo die Städte im Russ beinahe erstickten. Beide Männer kehren auf ihre Weise in die grosse Stadt zurück, eine Stadt, in der nichts mehr ist, wie es einmal war. In eine kleine Pension, in der sich die beiden unterschiedlichen Männer wieder verlieren und Faustinis Reise über Wiens Gruselkabinett zu seinem Glück ein fulminantes Ende findet.
„Herr Faustini und die Glatze der Welt“ ist der sechste Faustini-Roman. Wer einmal dem Charme dieses schrulligen Einzelgängers erlegen ist, freut sich unweigerlich auf ein neues Kapitel in der seltsam abgerückten Welt des Herrn Faustinis. Wolfgang Hermann Faustini-Romane sind etwas Eigenständiges. Seine Art des Sehens, des Begegnens mit Dingen und Menschen führt Faustini an Orte, in Zonen, die den Gehetzten und Geschobenen verborgen, verschlossen bleiben. Faustini, ein Menschenfreund durch und durch, von kindlicher Ehrlichkeit, durchdrungen von Vorsicht und Respekt, ist ein Mann, der unerschrocken an das Gute glaubt, auch wenn er hinsichtlich der Zukunft mit der Dummheit der Menschen nur schlecht zurecht kommt. Ein Mann, der Ordnung in der Welt sucht. Ein Mann, der schon als Kind Herr Faustini gewesen sein muss, ein Aussenseiter, der sich nicht darum schert, einer zu sein.
Wolfgang Hermann (1961) wuchs in Vorarlberg auf, studierte Philosophie in Wien, wo er nach langen Auslandsaufenthalten wieder lebt. Sein erstes Buch „Das schöne Leben“ (Hanser 1988) wurde mit dem Jürgen Ponto Preis ausgezeichnet. Zuletzt erschienen: „Herr Faustini bekommt Besuch“, „Insel im Sommer“, „Bildnis meiner Mutter“, „Der Garten der Zeit“ mit Zeichnungen von Timna Brauer, „Beduinen in Wien“. Übersetzungen in zahlreiche Sprachen.
Es gibt Dichter*innen und solche, die Gedichte schreiben. Christine Lavant war Dichterin, durch und durch. Hätte man ihr das Dichten genommen, wäre sie noch viel früher aus einer Welt entschwunden, in der es keinen Platz für sie zu geben schien, nie, nicht einmal nachdem man ihr den Österreichischen Staatspreis für Literatur verliehen hatte.
Dass Christine Lavant nicht vergessen ist, verdanken wir Verlagen, die sich durch Gedichte nicht abschrecken lassen, Freundschaften der Dichterin weit über ihren Tod 1973 hinaus und der Wirkung, die Texte und Person bis heute ausstrahlen. Sehnsuchtsgedichte, Liebesgedichte, schwärmerisch, aber nie entrückt, verklärt durch einen Blick, der weit mehr als die Oberfläche erfasst, Gedichte in vollendeter Rhythmik, als wären sie stille Lieder. Gedichte, die, wenn man sie laut liest, zu Musik werden. Gedichte, die ihrem Schmerz eine Stimme, eine Spur geben. Gedichte, die in Verbindung mit Fotos ihrer Person, Bildern und Holzschnitten des Künstlers Werner Berg in ein ganz eigenes Licht getaucht werden.
Ich lernte die Dichterin in einer kleinen Buchhandlung in Südkärnten, in Völkermarkt, kennen, der Buchhandlung und Galerie Magnet. Dort gibt es ein Regal mit Kärntner Dichter*innen; u. a. Peter Handke, Maja Haderlap, Florjan Lipuš. Wäre in einer Buchhandlung in meiner Wohngegend etwas von «Dichter*innen aus dem Thurgau» auf einem Regal zu finden? Es war „Die Schöne im Mohnkleid“, eine Erzählung über ihre eigene Herkunft und Geschichte, über Armut und Entbehrung. Eine Erzählung, die mich damals nicht zum ersten Mal nach Bleiburg nahe der slowenischen Grenze führte. Dort, in einem Museum zum Werk des Künstlers Werner Berg, fielen mir schon zuvor die Bilder einer ausgezehrten Frau mit grossen Augen und Kopftuch auf. Werner Berg malte sie immer und immer wieder. Zwischen den beiden musste etwas gewesen sein, dass viel mehr war als Maler und Modell.
Jenny Erpenbeck «Jenny Erpenbeck über Christine Lavant», Kiepenheuer & Witsch, herausgegeben von Volker Weidenmann, 2023, 160 Seiten, CHF. ca. 29.90, ISBN 978-3-462-00468-7
Sie beide, die Dichterin Christine Lavant und der Maler Werner Berg waren Künstler, die sich fern ab der Szene ihrer Arbeit verschrieben hatten. Beide mit einem ganz eigenen Blick auf die Welt. In Gedichten, Texten und Briefen wird deutlich, dass zwischen den beiden mehr war als Freundschaft. Eine Form des Verstandenseins, die sie nur in dieser einen Beziehung fanden. Eine Liebe, die nicht sein durfte, weil beide verheiratet waren, Christine Lavant mit dem glück- und erfolglosen Landschaftsmaler Josef Habernig, 36 Jahre älter als sie. Eine Heirat wohl auch aus einer Not heraus, denn kurz vor jener Heirat musste sie nach dem Tod ihrer Eltern die gemeinsame Wohnung verlassen.
Christine Lavants Kindheit war eine schwierige. Als Jüngste einer armen Familie, oftmals krank, immer wieder mit Lungenentzündungen knapp am Tod vorbeischrammend, verdiente die Dichterin ihren kleinen Beitrag zum Lebensunterhalt mit Handarbeiten. Erst in den letzten Jahren ihres entbehrungsreichen Lebens kam Christine Lavant durch Preise und Ehrungen zu etwas Geld, mit dem sie aber nicht sich selbst, sondern ihre Familie unterstützte. Sie selbst war sich nie die nächste, auch in ihrer Dichtung.
Immer wieder liegen Bücher der Dichterin auf meinem Nachttisch. Nicht nur weil ich einen persönlichen Bezug zur Herkunft der Schriftstellerin habe, sondern weil ihr Schreiben in ihrer Sprache zeitlos und von grösster Musikalität ist, weil Lavants Sprache sowohl in Lyrik wie in Prosa kompromisslos, leidenschaftlich und ehrlich ist. Dass ihre Dichtung auch mit religiösen Bildern durchsetzt ist, befremdet höchstens dann, wenn man keine Ahnung von der Herkunft der Dichterin hat, sowohl geographisch wie gesellschaftlich.
Aber warum beschäftigt sich die hochdekorierte Schriftstellerin Jenny Erpenbeck mit der grossen Unbekannten Christine Lavant? Ist es die Faszination einer Künstlerin, die es im Gegensatz zu Jenny Erpenbeck nie schaffte, sich im Literaturbetrieb zu etablieren? Weil Christine Lavant dichtete, weil es ihre einzige Möglichkeit war, nicht zu verkümmern? Weil da jemand trotz aller Widrigkeiten in ihre Schreibmaschine hämmerte, mit der permanenten Angst, das Klappern könnte stören? Weil Christine Lavants Dichtkunst funkelt wie ein dunkler Kristall! Weil die Dichterin beweist, was Sprachleidenschaft entstehen lassen kann! Weil Jenny Erpenbeck mit aller möglichen Ernsthaftigkeit einer Dichterin begegnet, die damals in Kontakt mit den ganz Grossen war und doch nie einen Platz an der Sonne bekam.
Christine Lavant ist immer ein Geschenk, eine Offenbarung und ihr Leben ein Denkmal dafür, was Entschlossenheit bedeuten kann. Lesen und geniessen!
Christine Lavant (1915-1973), geb. als Christine Thonhauser in St. Stefan im Lavanttal (Kärnten) als neuntes Kind eines Bergmanns, war Lyrikerin und Erzählerin. Ihre Schulbildung musste sie aus gesundheitlichen Gründen früh abbrechen. Jahrzehntelang bestritt sie den Familienunterhalt als Strickerin. Sie erhielt u. a. den Georg-Trakl-Preis (1954 und 1964) und den Großen Österreichischen Staatspreis (1970). Seit 2014 erscheint eine Werkausgabe von Christine Lavant im Wallstein Verlag.
Jenny Erpenbeck, geboren 1967 in Ost-Berlin, ist die Autorin zahlreicher Romane, Erzählungen und Essays. Ihre Werke sind in 30 Sprachen übersetzt und wurden im In- und Ausland vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Independent Foreign Fiction Prize, dem Thomas-Mann-Preis, dem Premio Strega Europeo und dem Internationalen Stefan-Heym-Preis. Zuletzt erschienenen die Romane »Gehen, ging, gegangen«, »Kairos« und ihr Buch über Christina Lavant. 2024 gewann sie als erste deutsche Autorin den International Booker Prize.
Der Roman beginnt mit einem Drama. Susanne Gregor lässt keinen Zweifel aufkommen; die Geschichte endet tötlich. Die Frage ist nur; ein Unfall oder mehr? „Halbe Leben“ ist ein Roman über die gescheiterten Lebensentwürfe zweier Frauen. Symtomatisch für eine Zeit, die noch weit davon entfernt ist, dass Rollenbilder nicht zur Falle werden.
Klara scheint ein erfolgreiches Leben zu führen. In ihrem Beruf ist sie drauf und dran zur Teilhaberin zu werden. Sie wohnt mit ihrem Mann Jacob in einem grossen Haus. Ada, ihre gemeinsame Tochter, ist zehn, nimmt Anlauf in die Pubertät. Klara fühlt sich ihren Aufgaben als Mutter im Gegensatz zu jenen im Beruf als Architektin oft nicht gewachsen. Sie ist ganz froh, dass auf der einen Seite ihre Mutter Irene Ankerplatz für Ada ist und sich ihr Mann mit der nötigen Ruhe um Familienangelegenheiten kümmert. Jacob, einst hoffnungsvoll gestartet in eine Karriere als Berufsfotograph, hat sich nach Aufgabe seines Geschäfts der künstlerischen Seite der Fotographie zugewendet.
Bis ein Schlaganfall Klaras Mutter alles ändert, Klara in ein unstetes Hinundher einspannt, und Jacob den Vorschlag macht, Klaras Mutter zu ihnen ins Haus zu nehmen. Ein paar kleine bauliche Anpassungen und man kann Irene etwas davon zurückgeben, was sie ein Leben lang als Mutter in die Familie investierte.
Klara kann als Tochter schlecht etwas dagegen haben, obwohl sie genau spürt, dass die neue Situation unter ihrem Dach, die guten Karten im Beruf neu zu sortieren droht. Man einigt sich schnell, eine Pflegekraft zu engagieren, findet Paulina, eine ausgebildete Krankenschwester, die hier über der Grenze ein weitaus besseres Einkommen in Aussicht hat, als in der Slowakei. Aber so sehr die Stelle auf der anderen Seite der Grenze lockt, so sehr belastet Paulina die Situation, in der sie ihre Familie im Zwei-Wochen-Rhythmus alleine lassen muss. Der Vater ihrer beiden Söhne hat sich schon länge aus dem Staub gemacht und die Schwiegermutter, die sich um die beiden Knaben kümmert, sendet unzweifelhafte Signale, was sie von einer nicht anwesenden Mutter hält.
Susanne Gregor «Halbe Leben», Zsolnay, 2025, 192 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-552-07523-8
Paulina gibt sich mit all ihrer verfügbaren Energie in ihre Aufgabe als Pflegerin und Betreuerin von Irene, die sie mit ihrer Freundlichkeit und Entschlossenheit schnell für sich gewinnt. Zumindest für Klara scheint sich die Situation zum Guten zu wenden, auch wenn das schlechte Gewissen nicht verschwunden ist. Mit einem repräsentablen Auftrag in der Firma festigt sich dort die Hierarichie zu ihren Gunsten, obwohl sich zuhause das Gravitationsfeld innerhalb der Familie mehr und mehr verschiebt. Je unverzichtbarer die Aufgaben, die Anwesenheit von Paulina, desto grösser die Begehrlichkeiten. Nach und nach verschwinden Grenzen, der Dominoeffekt von grösseren und kleinen Übergriffen vergiftet das anfänglich so unverkrampfte Gefüge im Haus von Klara und Jacob.
Und als sich die Situation mehr und mehr zuspitzt, Irenes Gesundheit immer instabiler wird, man Adas Wunsch nach einem Hund nachgibt und Klara eine weitere Schwangerschaft zulässt, kippt es. Susanne Gregor erzählt vielperspektivisch und nüchtern. Es geht ihr nicht darum, das Geschehen dramatisch aufzuheizen. Sie zeigt schonungslos, was in der Gegenwart heisst, möglichst allen Anforderungen gerecht zu werden. Zwei Frauen, die sich in ihrem Lebensplan an einem Punkt sehen, an dem sie durch Umstände, Schicksal und Zwänge gelandet sind, sich dessen aber ganz unterschiedlich bewusst sind. Männer, die sich durch ganz unterschiedliche Abwesenheiten distanzieren und ein Familiengefüge, das sich mehr und mehr auf Organisation abstützt. Leben, die sich an ihrer finanziellen Freiheit messen.
Susanne Gregors Roman konfrontiert mich mit ganz vielen existenziellen Fragen: Was sind die Prioritäten in meinem Leben? Wie sehr kommen sich Lebensentwürfe einer Familie in die Quere? Was passiert dereinst mit mir, wenn ich alt und gebrechlich werde? Wäre ich in der Lage, meine Mutter, meinen Vater zur Pflege bis zum Tod nach Hause zu nehmen? Was passiert mit mir, wenn jene Personen, die einst als Eltern Kraft und Fundament ausmachten zu hilfsbedürtigen Patienten werden?
„Halbe Leben“ ist ein Roman über jene Leben, die nur voll, ganz sein können, wenn andere dafür „dienen“, ein Roman über Abhängigkeiten, über Nähe und Distanz – und nicht zuletzt über Familien, die in der Gegenwart mehr und mehr von Gesellschaft, Wirtschaft, von Erwartungen und Entfremdungen zerrieben werden.
Susanne Gregor erzählt gekonnt, bläht nie auf, bleibt ganz eng an ihrem Personal und spielt den Ball stets zurück an mich als Leser. Beeindruckend!
Interview
Klaras Familie ist ziemlich genau das, was eine moderne Familie ausmacht, oder zumindest das Ideal davon. Man lebt in finanzieller Sicherheit, in einem grossen, stylischen Haus. Mutter und Vater verwirklichen sich. Es gibt ein gesundes Kind, dessen Betreuung auch einmal die Grossmutter übernimmt. Aufgaben sind aufgeteilt. Der Wagen rollt. Und trotzdem funktioniert das sehr anfällige Gefüge nur, wenn alle Zahnräder ineinander passen, wenn das Organisieren klappt. Wehe, wenn Unvorhergesehenes einen Knüppel ins Gefüge wirft. Werden wir nicht zusehens Opfer eines Organisationszwangs? Wo ist da die Freiheit, wenn alles funktionieren muss?
Ich denke, es ist das Symptom einer Wohlstandsgesellschaft, anzunehmen, dass man alles immer genau so haben kann, wie man es sich vorstellt und es nicht gut verträgt, wenn „Sand ins Getriebe kommt“. Die Karriere soll funktionieren, die Kinder sollen versorgt sein, das Bankkonto angenehm gefüllt sein, die Ehe funktionieren, etc.. Niederlagen, Einbrüche, Krankheiten, all das erzwingt ein gewisses Verlangsamen, ein Umstellen, ein Sich-einander-zuwenden, sich neu sortieren. Das ist ein Prozess, der viel von einem abverlangt und ich glaube, wir haben ein wenig verlernt, uns auf das Leben einzulassen, wie es in diesem Moment ist und haben zu fest unsere Pläne und sogenannten „Lebensentwürfe“ im Kopf. Wir sind es gewohnt zu nehmen und zu bekommen und das plötzliche Geben-müssen ist schwer. Und vergessen wird auch nicht, dass in diesem Roman alles Schwere auf dem Rücken der Frauen ausgetragen wird. Vor allem auf dem Rücken von Paulina. Aber auch Klara hat es nicht leicht. Die Männer ziehen sich, wie auch in Realität leider allzu oft, aus der Verantwortung, gerade wenn es um die Pflege der Angehörigen geht.
Schon auf den ersten Seiten des Romans stürzt Klara bei einer Wanderung tödlich. Die Ungewissheit darüber, wie zufällig dieser Unfall ist, begleitet einem tief in ihren Roman. War von Beginn weg klar, dass die Geschichte zu einer Katastrophe werden muss? Sie schildern den Knall und danach, wie die Lunte brannte.
Ja, die erste Szene war für mich von Anfang an klar. Ich wusste, dass der Roman mit diesem Unglück, diesem Tod beginnt und mit dieser Ungewissheit, die sich am Ende auflösen wird. Welche Gewissheit aber am Ende der Geschichte stehen wird, wusste ich selbst auch nicht. Erst schreibend ergab sich diese Auflösung, erst im letzten Drittel des Textes begann ich selbst zu begreifen, wie das Ende aussehen sollte.
Klara, die erfolgreiche Architektin, irgendwo in Österreich und Paulina, die ausgebildete slowakische Pflegefachfrau, die in Österreich viel mehr verdient als in ihrer Heimat. Wirtschaftliche Gründe, der Wunsch, Kinder sollen es dereinst besser haben, treiben Paulina über die Grenze und über Grenzen. Beide Frauen werden in ihren Pflichten, in den Anforderungen an sich selbst, ihrem Selbstverständnis zerrissen. Ein Zustand, an dem viele zu zerbrechen drohen. Familie und Arbeit. Ist das der Preis der Moderne? Der Preis, weil man von beidem möglichst viel bekommen will?
Ja, dieser Slogan, Frauen können alles machen und alles schaffen, geht oft mit der unausgesprochenen Anforderung einher, sie müssten alles gleichzeitig schaffen können. Die Gesellschaft fordert von Frauen, zu arbeiten als hätten sie keine Kinder, und sich um die Kinder zu kümmern, als hätten sie keine Arbeit. Und Frauen selbst haben auch zu hohe Ansprüche an sich, an denen sie eigentlich nur scheitern können. Aber wir müssen hier auch unterscheiden: Klaras Ansprüche sind zumindest zu einem gewissen Mass selbst gewählte Ansprüche, während Paulína durch eine finanzielle Notlage und ihre Situation als Alleinerzieherin sehr fremdbestimmt ist.
Klaras Mutter braucht in ihrer fortschreitenden Demenz Unterstützung. Klara und Jacob nehmen sie zu sich nach Hause, was alles andere als selbstverständlich ist. Und trotzdem ist es der Beginn einer sich anbahnenden Katastrophe. Warum ist man oft viel zu lange blind, bis es kein Zurück mehr zu geben scheint?
Manchmal geht alles schief, trotz bester Intentionen. Man überschreitet hie und da seine eigene Grenze, lehnt sich hie und da zu weit aus dem Fenster und übersieht den Zeitpunkt, an dem es kein Zurück mehr gibt. Manchmal scheint ein offenes Gespräch zu schwierig, zu riskant, das haben wir alle schon einmal erlebt. Und in Klaras Fall – manchmal ist man, mit einer schwierigen Situation konfrontiert, egoistischer, als man dachte, als man ist. Ich denke, so geht es uns allen, wir könnten alle sowohl Paulína als auch Klara als auch Irene sein. Auch Gutmenschen machen Fehler.
Was mich an Ihrem Roman beeindruckt, ist die Erzählweise, die Komposition, wie sie Themen Schicht für Schicht übereinanderlegen und sie verweben. Sie wechseln Perspektiven, die Tonalität ihrer Erzählstimmen. Ich habe sogar das Gefühl, dass ich die Gefühlslage des Personals einem gewissen Farbspektrum zuordnen könnte. War das Schreiben des Manuskripts ein organischer Vorgang oder das Resultat strategischer Planung?
Es war ein unglaublich organischer Vorgang. Der Roman war ungewöhnlich schnell geschrieben, in kaum drei Monaten stand alles auf Papier. Ich schrieb Seite um Seite, Szene um Szene ohne grosse Planung. Manchmal dachte ich, ich weiss, wie es weitergeht, als ich mich zum Laptop setzte, und dann passierte schreibend doch etwas ganz anderes, was mich selbst überraschte. Ich wusste selbst nie genau, wohin dieser Roman ging, erst am Ende enthüllte sich mir alles – ein bisschen wie dem Leser selbst. Ich versuchte schreibend einfach zwischen den Personen hin- und herzuschwingen, zwischen dem Blick der Slowakin auf Österreich und dann dem Blick der Österreicherin auf ihr Umfeld – beides Blicke, die ich aus meiner eigenen Perspektive und Erfahrung gut kenne. Aus diesem Erfahrungsschatz schöpfte ich, weniger was den Plot betraf, als was die Erfahrungswelten der Charaktere anging.
Susanne Gregor, geboren 1981 in Žilina (Tschechoslowakei), zog 1990 mit ihrer Familie nach Österreich und lebt heute in Wien. Für ihre literarischen Arbeiten wurde sie bereits mehrfach ausgezeichnet. Zuletzt erschienen die Romane «Das letzte rote Jahr» (2019), «Wir werden fliegen» (2023).
Es ist, als ob die Dichterin Marion Poschmann eine Seherin wäre. Ihre Fähigkeit, durch die Dinge zu sehen, ist bestechend. In «Die Winterschwimmerin» begegnet man einer Sprache, die in Bilder zu fassen vermag, was sonst unfassbar bleibt. Dieses schmale Buch ist ein tiefer Tauchgang in die Vielschichtigkeit des Lebens!
Vor ein paar Wintern war ich einquartiert in ein kleines Haus an einem Baggersee. Es regnete und schneite oft. Auf der anderen Seite des Sees sammelten sich immer wieder Wildgänse auf dem offenen Feld und am Ufer des kleinen Sees hartgesottene Gestalten, die sich mit offenkundiger Regelmässigkeit am Ufer trafen, um kurz und schmerzlos ins kalte Nass zu tauchen. Nur ein paar Züge lang, nachdem man die Kleider zuvor sorgfältig in eine Tasche unter einem Schirm auf einer Bank eingelagert hatte. Ich hinter der grossen Fensterfront mit Bodenheizung und einer Tasse Kaffee in der Hand. Sie dort draussen, fest entschlossen, alle Annehmlichkeiten winterlicher Zivilisation für ein paar Minuten abzustreifen. Ein Warmduscher hinter Glas, unerschrockene Winterschwimmer zwischen dünnen Eisinseln.
Grenzen verbrennen. Grenzen, die nichts sind als Vorurteile. Nicht mehr hier enden.
Marion Poschmann, in der deutschen Literaturszene so reich dekoriert wie kaum eine andere, schrieb eine Verslegende, kein Langgedicht, aber auch kein Märchen, keine Sage, auch wenn in ihrem Text immer wieder ein Tiger auftaucht. Vielleicht ist es die Szenerie, aber vielmehr die Sprache, die eigenartig oszilliert zwischen Bildern und Empfindungen, zwischen einer beschaulichen Erzählstimme und beinah metaphysischen Bildern. Thekla, eine literarische Figur aus dem zweiten Jahrhundert, begibt sich eines Tages in die Welten zwischen den Elementen. Zwischen Hitze und Kälte, Feuer und Wasser, genau das, was man empfindet, wenn man als Winterschwimmerin abtaucht.
Marion Poschmann «Die Winterschwimmerin», Suhrkamp, 2025, 80 Seiten, CHF ca. 31.90, ISBN 978-3-518-43235-8
Marion Poschmann, die während der Coronazeit zur Winterschwimmerin wurde, während des Lockdowns an einem ruhigen See in aller Abgeschiedenheit. Grenzerfahrungen in einer Zeit der Grenzerfahrungen. Den inneren Tiger loslassen, während rundum alles zurückgebunden wird. Thekla will den Tiger suchen, den Tiger in sich, diese Urkraft. Auf dem Umschlag des wunderschön gestalteten Buches sieht man sie Rückenansicht einer Frau mit Streifenmuster auf der Haut. Die Verschmelzung von Frauen- und Tigerkörper, eine Darstellung aus einer mittelalterlichen Schrift aus dem Mittelalter.
Winterschwimmerinnen tauchen aber nicht einfach zu Abhärtung ins kühle Nass. Es ist das, was während des Eintauchens und danach passiert, was Endorphine auslösen und an Beseelung, Erkenntnis und inneren Bildern zurücklassen. «Die Winterschwimmerin» ist ein üppiges Sprachkunstwerk, vielfach unterlegt, das Zeugnis einer sprachlichen Erleuchtung.
Es ist so klar, so wahr wie dunkel. Nicht zu fassen.
Ein Vers, ein Gedicht ist ein gestreiftes Wesen, ein in Zeilen geteiltes Ganzes, das in der Realität genauso wie in den Zwischen- und Traumwelten durch unser Bewusstsein streift. Der Tiger hat sich befreit. Marion Poschmanns Tiger hat sich befreit und streift durch ihre Seelenlandschaft. «Die Winterschwimmerin», ein ungemein mutiges Buch, ist eine sprachliche Offenbarung. Anspruchsvoll, voller Anspielungen. Ein Buch, das auf der letzten Seite noch lange nicht zu Ende gelesen ist.
Marion Poschmann (1969) wurde in Essen geboren und lebt heute in Berlin. Für ihre Lyrik und Prosa wurde sie mit zahlreichen renommierten Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Bremer Literaturpreis 2021 für ihren Lyrikband «Nimbus» und im selben Jahr mit dem Wortmeldungen-Literaturpreis. Zuletzt erhielt sie 2023 den Joseph-Breitbach-Preis für ihr Gesamtwerk.
Ein kleiner, verschlammter Lieferwagen wird aus dem Wasser gezogen. Das Auto, mit dem der Vater zuletzt gefahren war. Das Auto am Tor zu seinem Verschwinden. Romain Buffat erzählt eine Reise in ein unbekanntes Land, in jenes eines verschwundenen Lebens. Kunstvoll und poetisch.
Mehr als zehn Jahre hat es gedauert, bis sich Jérôme aufmacht, seine Koordinaten zu ordnen, Versöhnung mit einem Vater zu suchen, der sich aus dem Staub machte, als er zu jung war, um es einfach hinzunehmen. Jérôme macht sich in einer wochenlangen Reise quer durch die Staaten auf die Suche nach einem Sound, einem Lebensgefühl, dem Lebensgefühl seines verschwundenen Vaters, der ein Leben lang einen Traum mit sich herumtrug. Jérôme fährt kleine mit der Bahn von Chicago nach San Francisco mit der Absicht unterwegs in Denver ein Konzert von Bruce Springsteen zu besuchen. Nicht weil es seine Musik wäre, aber jene mit der das Leben seines Vaters durchsetzt war.
Als sie noch eine Familie waren, Vater, Mutter, seine Schwester, gab es kleine Reisen, Ausflüge im klapprigen Auto seines Vaters. Autofahrten mit dem Sound von Bruce Springsteen, einem Lebensgefühl, dass der Vater aus seiner eigenen Jugend wie eine geschlossene Kapsel mit sich herumtrug, einen Einschluss, der in der Bedrohlichkeit seiner Gegenwart zu einem gleichsam Dauerschmerz und Dauertrost war.
Jérômes Vater war Drucker, lebte während Jahren mit der Angst, in Zeiten grosser Veränderungen im Druckereiwesen seine Arbeit zu verlieren. Ein Alp, der sich wie ein lang wirkendes Gift auf Ehe und Familie auswirkte, den Vater nicht nur seinem Sohn entfremdete, auch die Ehe zwischen den Eltern zersetzte. Erst schien sein Vater zu einem Monster zu werden, später wurde er zu einem im stiller werdenden Fremdkörper, bis zu seinem inszenierten Verschwinden.
Jede Reise hat einen Kern, den man sucht und unablässig umkreist. Hat man ihn dann gefunden, wird alles völlig offen und nicht voraussehbar.
Romain Buffat «Grande-Fin», Die Brotsuppe, 2025, aus dem Französischen von Yves Raeber, 204 Seiten, CHF ca. 28.00, ISBN 978-3-03867-102-2
Jérôme weiss, dass er sich nur von diesem Alp befreien kann, wenn er sich seinem Vater gegenüberstellt. Nicht unbedingt physisch, aber in seine Erinnerungen, seinem Denken. Jérôme rollt mit dem Zug durch jenes Land, dass für seinen Vater Sehnsuchtsort, Traumland war. Ein Lebensgefühl, das so gar nichts zu tun hatte mit der Enge seines eingepferchten Daseines eines bedrohten Ernährers. Ein Leben, in dem die Musik von Bruce Springsteen alles repräsentierte, was das Leben zwischen Druckerei und Familie zerquetschte. Aus dem es keinen Ausweg zu geben schien, erst recht nicht nach der Kündigung und drohender Arbeitslosigkeit.
Im Handschuhfach im Auto seines Vaters lag damals eine Musikkassette mit Springsteens Album „Nebraska“. Eine Aufnahme, die Jérôme später digitalisierte, mit dem Rauschen der Vergangenheit. Er nimmt sie mit auf seine Reise, eine Musik, die er immer und immer wieder hört, als spüre er darin den verlorenen Atem seines Vaters. Er ist nicht die Hoffnung, ihm irgendwann über den Weg zu laufen, ihn zu finden. Aber Jérôme schreibt, um jene Ordnung zu gewinnen, die man ihm schon als Kind nie schenken konnte. So weit weg er sich von seinem Dorf Grande-Fin entfernt, je näher kommt er seinem eignen Kern. Der Versuch einer Versöhnung mit einem Vater, der sich schon lange vor seinem Verschwinden von seiner Familie, seiner Frau und seinen Kindern entfernt hatte. Eine Versöhnung, die erst möglich wird, wenn man sich mit sich selbst versöhnt hat.
Interview
Vaterbücher gibt es zuhauf. Es ist, als müsse sich jede Generation immer und immer wieder mit jenen Männern auseinandersetzen, von denen man ins Leben „gestossen“ wurde. Erfrischend wird eine literarische Auseinandersetzung dann, wenn sie sich möglichst weit von allen Klischees entfernt. Erstaunlicherweise ist Ihr Buch auch eine Liebeserklärung, die Hinwendung des Erzählers an seinen Vater, mit dem er auch hätte abrechnen können. Zeichnete sich diese „Schreibrichtung“ schon von Beginn weg ab?
Ich war mir der Klischees bewusst, die Väterbücher enthalten, und das ist ein Topos, den ich bereits in Schumacher angesprochen habe. Jedes Mal versuche ich, Erzählweisen zu finden, um die Klischees zu umgehen. In Grande-Fin entschärfe ich die Erwartungen der Leserinnen und Leser schon auf den ersten Seiten, indem ich zeige, dass die Suche nach dem Vater nicht so sehr im Zentrum des Textes stehen wird. Von da an lautet die Frage nicht mehr so sehr: Wird Jérôme seinen Vater finden, sondern: Was sieht Jérôme, woran erinnert er sich, wie kommen diese Erinnerungen an die Oberfläche?
Ich bin Vater. Einer meiner Söhne wurde vor wenigen Tagen zum ersten Mal Vater. Ich weiss sehr gut, wie gross die Ideale sind und wie umfassend die Angriffsfläche, um tausendfach das Falsche zu tun. Der Vater ihres Protagonisten war beim Start in seine Familie ganz sicher voller Ideale, davon überzeugt, als Vater nicht nur zu bestehen. Trotzdem liess er aus lauter Verzweiflung seine Familie, seine noch jungen Kinder im Stich, bestimmt im Wissen darum, dass er sein altes Leben nicht so einfach würde abstreifen können. Können sich Wunden tatsächlich schliessen?
Ich weiß nicht, ob Wunden heilen können, und ich glaube, dass Jérôme diese Reise nicht so sehr unternimmt, um Wunden zu heilen, sondern um zu versuchen zu verstehen, zu versuchen zu sehen, was sein Vater zum Zeitpunkt seines Verschwindens gesehen haben könnte. Er unternimmt eine Reise, in die Vereinigten Staaten, aber auch eine Reise in dem Sinne, dass er sich auf den letzten Seiten buchstäblich an die Stelle seines Vaters setzt. Es ist eher eine Reise des Verstehens als der Heilung. Mehr als die Frage der Heilung hat mich vielleicht die Frage nach einer Art Wiedersehen interessiert. Es ist kein Wiedersehen im eigentlichen Sinne, sondern eine Art Überlagerung von Erfahrungen und Sichtweisen: Jérôme hat gesehen, was sein Vater gesehen hat, er hat gehört, was sein Vater gehört hat. In der letzten Szene fand ich es interessant, dass sich Jérômes Gesten (zumindest imaginär) mit denen seines Vaters verbinden. Es ist mir egal, ob Jérôme seinem Vater etwas vorwirft (das müssen die Leser*innen interpretieren), mich interessiert, dass Jérôme sich irgendwann so sehr mit seinem Vater identifiziert, dass er vielleicht die Gründe verstehen kann, die seinen Vater dazu gebracht haben, alles aufzugeben – die Fiktion ist zu solchen Schwindel erregenden Höhen fähig.
Musik repräsentiert ein Lebensgefühl. Wenn ich höre, was ich in meiner Jugend hörte, kann ich mich zurückversetzen. Jérôme hört auf seiner vierwöchigen Reise durch die Staaten immer wieder die Musik seines Vaters, Bruce Springsteen. Wahrscheinlich hörten sie auch Bruce Springsteen während des Schreibens. Wenn ja, wäre das Buch ohne ein anderes geworden? Ich kenne AutorInnen, die jede Firm der sinnlichen Beeinflussung vermeiden.
Beim Schreiben dieses Romans habe ich viel Nebraska, Tunnel of Love, Darkness on the Edge of Town und The Ghost of Tom Joad von Bruce Springsteen gehört (und immer wieder gelesen), den ich übrigens seit 2010 fast obsessiv höre, wie jemand, der Harry Potter oder Faulkner immer wieder liest oder Twin Peaks immer wieder schaut und jedes Mal etwas Neues entdeckt. Ich hierarchisiere meine Einflüsse nicht, Springsteen ist für meine Arbeit genauso wichtig wie Annie Ernaux oder Claude Simon.
Die Springsteen-Songs, ihre Atmosphäre, die Geschichten, die sie erzählen, die Figur Springsteen als Sänger der Arbeiterklasse (aus der Jerômes Familie stammt) prägen den Text völlig. Aber damit Springsteen seinen Platz im Text hat, muss die Musik homodiegetisch sein, das heißt, sie muss Teil des fiktionalen Universums sein und nicht nur Hintergrundmusik für den Autor und die Leser*innen, die Musik muss ein materielles Element im Leben der Figuren sein – ich habe kein Interesse an den Playlists, die manche Autor*innen zu Beginn ihres Werks liefern, um uns zu sagen, in welcher Stimmung sie schreiben, das finde ich uninteressant, das ist, als würde man den Inhalt seines Frühstücks verraten. Für mich muss die Musik in den Text einfließen, wie im Kino, ich höre gerne, was die Figuren hören – Geigen, die uns sagen, wann wir traurig oder erleichtert sein sollen, mag ich weniger.
In Grande-Fin sind einige Szenen wie Neufassungen bestimmter Songs oder Springsteen-Lyrics, es gibt eine Reihe von Anspielungen. Zum Beispiel ist die fast existenzielle Scham, die Jérômes Vater empfindet, als er seine Familie in einem alten, kaputten Auto transportiert, eine Neuinterpretation des Songs Used Cars. Und die Szene, in der Jérômes Vater nachts in seiner Küche Angst hat, weil er gerade seinen Job verloren hat, findet sich in Springsteens Diskographie.
Ihr Roman ist ein Vaterbuch, ein Familienroman, ein Eheroman, ein Railtripp, eine Liebesgeschichte. Sie waren selbst lange unterwegs, wie Jérôme quer durch Amerika. Für Jérômes Vater war es ein Sehnsuchtsort. Für Sie auch? Ein Leben in den unvereinigten Staaten zwischen „Trumpisten“ und allen anderen?
Ich glaube nicht, dass für mich Amerika ein Sehnsuchtort ist. Ich bin mir nicht sicher, ob ich dort lange überleben könnte. Aber dieses Land berührt mich, weil es uns alle in gewisser Weise berührt – man muss sich nur unsere Fassungslosigkeit ansehen, die wir bei jeder Ankündigung von Trump seit seiner Amtseinführung empfinden. Es dauerte nicht länger als einen Monat, bis sich Mitglieder der SVP Trump und seinem Wunsch, aus dem Pariser Abkommen auszusteigen, anschlossen. Als Schweizer wachen wir jeden Morgen auf und schauen nach Westen, ob wir nun fasziniert, verängstigt, desillusioniert oder wütend sind, das ist eine Tatsache. Wir warten immer auf die Reaktion der Amerikaner, weil wir Westler sind, und wir lieben ein bisschen wie die Amerikaner. Wir sind ein sehr liberales Land, unsere Lebensweise ist ökologisch nicht tragbar und wir hängen fast religiös am Privateigentum.
Amerika ist in meinem Roman sehr praktisch: Durch den Rückgriff auf den Vergrößerungsspiegel Amerika wird deutlicher, was Jérôme Vater aushält: den Rhythmus und die Erschöpfung bei der Arbeit, ein Produktionssystem, das Leben zerstört.
Meine literarische Arbeit seit Schumacher ist ein Versuch, eine ganze Reihe von Referenzen (Literatur, Kino, Musik) zu dekonstruieren. Nicht, dass ich alles loswerden möchte, was ich gelesen, gesehen und gehört habe, das amerikanisch war, aber ich dekonstruiere, um die Materie dessen zu beobachten, was einen Grossteil meiner Vorstellungen ausmacht.
Sie lehren am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Wie gross bei vielen die Bereitschaft ist, unsäglich viel Zeit und Energie für ihren Traum eines SchriftstellerInnenlebens zu investieren, weiss ich aus vielen Begegnungen. Auch von der Hoffnung, dereinst mit dem Schreiben den Lebensunterhalt bestreiten zu können, schwindelt mir. Dass Sie mit Ihrem ersten Roman bereits einen Preis zugesprochen bekamen und nun mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet werden, ist aussergewöhnlich. Meine etwas freche Frage: was machen Sie besser?
Es interessiert mich nicht so sehr, ob ich es besser mache als andere, und ich möchte diese Frage nicht in Form eines Wettbewerbs stellen. Abgesehen von einigen Freunden weiß ich nicht wirklich, wie andere arbeiten. Aber ich spreche gerne darüber, wie ich arbeite: Ich arbeite viel, und mit Arbeiten meine ich Lesen und Schreiben, und wenn ich andere Autor*innen lese, bin ich bereits in einer Art des Schreibens.
Wenn ich schreibe, bin ich sehr anspruchsvoll und misstrauisch gegenüber meinen Texten. Ein erster Entwurf stellt mich nie zufrieden, und wenn ich mit einem ersten Entwurf zufrieden bin, ist das immer ein Zeichen dafür, dass etwas nicht stimmt, dass ich mich einer Form von Bequemlichkeit und Faulheit hingegeben habe.
Jeden Tag, wenn ich mit dem Schreiben beginne, nehme ich die Absätze, die ich am Vortag geschrieben habe, und schreibe sie um, korrigiere und passe sie an. So beginnt jeder Tag mit Korrekturlesen und Umschreiben, es ist für mich fast unmöglich, den Tag mit einem neuen Absatz zu beginnen. Irgendwann schreibe ich dann einen neuen Absatz, ohne mir des Übergangs vom Umschreiben zum Schreiben von etwas Neuem wirklich bewusst zu sein, das Neue ist immer mit dem Umschreiben verbunden. Ich kann nicht bei Null anfangen. Außerdem schreibe ich mit Landkarten vor Augen, mit Fotos, Filmszenen, Gegenständen, begleitet von Büchern, die mir wichtig sind.
Die Tatsache, dass Schreiben für mich fast immer Neu- und Umarbeiten bedeutet, führt dazu, dass meine Texte, wenn ich sie einem Verleger gebe, unzählige Male überarbeitet wurden, bis die erste Version nicht mehr zu hören ist. Für mich ist es immer eine fünfte oder sechste Version.
Romain Buffat, 1989 in Yverdon-les-Bains geboren, lebt in Lausanne. Er gehört zum »collectif d’auteur·e·s Hétérotrophes«. Sein erster Roman «Schumacher» wurde im französischen Original 2018 mit dem Prix littéraire chênois und 2019 mit dem Terra Nova Preis der schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet.
Romain Buffet gewinnt den Schweizer Literaturpreis 2025 für «Grande-Fin». Aus der Jurybegründung: In einer feinen, rhythmischen Sprache schlängelt sich der Roman durch die Zeiten und die Landschaften und zeichnet dabei das Porträt einer Arbeiterfamilie. Jérômes Reise ermöglicht Erinnerungsarbeit, aber vor allem auch einen Neuanfang für die Protagonistinnen und Protagonisten. Ein feinfühliger Railtrip, der die Leserinnen und Leser mitzunehmen weiss.
Yves Raeber ist Schauspieler, Regisseur und literarischer Übersetzer von Theaterstücken und Prosa. Für den verlag die brotsuppe hat er «Ruhe sanft» von Thomas Sandoz, «Allegra» von Philippe Rahmy sowie «Ohne Komma» von Myriam Wahli vom Französischen ins Deutsche übersetzt. Für die Übersetzung von «Die Panzerung» (Béton Armé) von Philippe Rahmy wurde ihm 2019 von der Stadt Zürich eine literarische Auszeichnung verliehen.
Die grosse italienische Schriftstellerin Dacia Maraini verbrachte einen Grossteil ihrer Kindheit in Japan. Weil sich aber Japan damals an der Seite Hitlers und Mussolinis in ihrem ganz eigenen Nationalismus sonnte, war die Familie der Schriftstellerin gezwungen, sich für eine Seite zu entscheiden, was zur Folge hatte, dass man sie mit vielen anderen in ein Konzentrationslager steckte. „Ein halber Löffel Reis“ ist alles andere als eine Abrechnung.
Was, wenn eines Tages Soldaten vor der Wohnungstür stehen und die ganze Familie auffordern, das Nötigste in jeweils einen Koffer zu packen und in den Lastwagen vor der Tür zu steigen? Ein Szenario, das millionenfach immer und immer wieder Biographien erschüttert und Menschen in eine Zukunft verfrachtet, die ungewisser und bedrohlicher nicht sein kann. Traumatische Erlebnisse, die das Gift hätten, selbst mit dem scheinbaren Glück des Überlebens, ein Leben irreparabel zu beschädigen.
Dacia Maraini wurde zusammen mit ihrer Familie für Jahre in ein japanisches Konzentrationslager weggesperrt, weil sich ihr Vater geweigert hatte, die japanischen Militärgesetze zu akzeptieren. Die Familie erlebte Ungeheueres; Hunger, Krankheit, Eiseskälte, Schikanen, Misshandlungen und die permanente Drohung, sie irgendwann umzubringen. Ausgerechnet die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, hunderttausendfaches Leid, brachten in einem endlos scheinenden Weltkrieg zumindest in Japan eine Wendung. Die Familie wurde freigelassen. Ihr gelang die Heimreise nach Italien, nach Sizilien.
Dacia Maraini «Ein halber Löffel Reis», Folio, 2025, aus dem Italienischen von Ingrid Ickler, 240 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-85256-910-9
Was Dacia Marainis Familie während den Jahren in diesem Konzentrationslager erlebte und mit in ihr langes Leben als Schriftstellerin zu tragen hatte, hätte allen Grund für Bitterkeit gehabt. Aber was die Schriftstellerin in ihrem Buch erzählt, ist nicht einmal ein Verarbeitungsversuch, allerhöchstens eine Vergegenwärtigung. Dacia Maraini erzählt aus der Perspektive der Reife, der Weisheit. Und Dacia Maraini erzählt liebend, was bei der Lektüre ihres Buches als Grundton durch alles klingt; die Liebe zu diesem Land und seiner Kultur, die Liebe zu ihrer Familie und deren Unerschütterlichkeit, selbst in Zeiten grössten Hungers und der Nähe des Todes, die Liebe zu den kleinen Dingen, den Gesten, den Worten, den Geschichten, der Sprache. Was die kleine Dacia, ihre ganze Familie, damals am Leben hielt, ist das gleiche, dass sie über die Jahrzehnte schreiben und kämpfen liess. Wenig verwunderlich, dass Dacia Maraini in Italien zu einer Ikone der Frauenbewegung, der Gleichberechtigung wurde.
In „Ein halber Löffel Reis“ erzählt sie von den Jahren bis zur Befreiung aus der Gefangenschaft. Sie schildert alles, ohne dem Schrecken zu huldigen. Nicht einmal die drangsalierenden Wärter werden als Monster und Unmenschen geschildert. Maraini richtet den Blick auf ihre Familie, die starken Bindungen untereinander, jene wachsende Kraft in ihr, überleben, leben zu wollen. „Ein halber Löffel Reis“ ist aber auch nicht blosses Erzählen. Eingebunden in das Erinnern sind essayistische Passagen über Literatur, Religion, Musik, über Leugner und Fanatiker, über Menschrechte. „Ein halber Löffel Reis“ ist durchsetzt von ihrem Engagement, erzählt, wie aus dem Leben in absoluter Isolation jenes Leben wurde, mit dem sich die Autorin über Jahrzehnte einen Namen machte.
Dacia Maraini ist keine Verwundete. Das macht die Lektüre ihres Buches zu einem grossen Gewinn. „Ein halber Löffel Reis“ ist eine Liebeserklärung an die Kraft der Familie, die Stärke eines Lebens – aber auch die Liebeserklärung an Japan, das Land ihrer Kindheit. Als das Mädchen nach dem Krieg nach Italien zurückkehrte, musste sie ihre Muttersprache erst wieder neu verinnerlichen. Japan war und ist das Land ihrer Kindheit. Aber vielleicht ist „Ein halber Löffel Reis“ auch ein Manifest der Versöhung. Und ein Fingerzeig gegen all das, von dem viele glauben, es wäre nach dem letzten Weltkrieg von der Bildfläche verschwunden. Dabei zieht sich das Netz an Konzentrationslagern in der Gegenwart wie das Netz eines Krebsgeschwürs über den ganzen Planeten, als Auswuchs dessen, was Unterdrückung, Willkür, Nationalismus und Diktatur anrichten können.
Veranstaltung im Literaturhaus Zürich, in Kooperation mit dem Istituto Italiano di Cultura Zurigo und der Società Dante Alighieri Zurigo
Dacia Maraini, eine der wichtigsten Stimmen Italiens sowie feministische Pionierin. Geboren 1936 in Fiesole, aufgewachsen in Japan und Sizilien. Aufgrund der antifaschistischen Haltung des Vaters in einem japanischen Gefangenenlager interniert, frühe Erfahrung von Hunger. Sie war eine der Ersten, die über Gewalt an Frauen schrieb, begründete experimentelle Theater und reiste mit P. P. Pasolini für Filmprojekte nach Afrika, schrieb Drehbücher u. a. für Margarethe von Trotta.
Ingrid Ickler studierte nach Stationen in Paris, Rom und Ferrara Übersetzungswissenschaften in Heidelberg und übersetzt heute aus dem Englischen, Französischen und Italienischen. Daneben arbeitet sie als Autorin und Moderatorin.
So wie es für jede Autorin, jeden Autor aus dem Hause Suhrkamp eine Adelung ist, wenn in der Insel-Bücherei ein Kleinod erscheint, so passiert mittlerweile ähnliches, wenn man in Zusammenarbeit mit der Illustratorin Kat Menschik ein Buch herausgeben kann.
Nicht nur dass Kat Menschik die erfolreichste Illustratorin im deutschen Sprachraum und damit Aufmerksamkeit garantiert ist. Die Künstlerin versteht es wie kaum eine andere, einen Text zum Glänzen zu bringen. Dabei ist Illustration eine ungenügende Kategorie, denn die Illustrationen Kat Menschiks bebildern nicht bloss das Geschriebene, die Geschichte. Kat Menschiks Bilder sind eine eigene „Tonspur“, eine überaus sinnliche Spur, die aus einem Text auf Papier ein Gesamtkunstwerk macht, ein Kunstwerk mit optischem Wiedererkennungswert. Die Bilder reissen auf und geben mir aber trotzdem so viel Freiraum in meiner eigenen Vorstellungskraft, dass sie mich weder einengen noch zudecken. Ihre Illustrationen tauchen etwas ein, hüllen in ein Licht, versinnlichen.
Monika Helfer «Der Bücherfreund», Hanser, illustriert von Kat Menschik, 80 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-446-28273-5
Und wenn es dann die Schriftstellerin Monika Helfer ist, die sich mit ihrer biographischen Trilogie „Bagage“-„Vati“-„Löwenherz“ ins Bewusstsein vieler Lesender geschrieben hat und nun mit einem Büchlein „Der Bücherfreund“ zusammen mit Kat Menschik auf den Büchertischen auftaucht – ein sicherer Wert. Ein Buch, das mit Sicherheit meine Unterstützung nicht benötigt. Aber weil Monika Helfer mit diesem Text mein eigens Dasein, mein Leben und meine Leidenschaft ganz besonders zum Mitschwingen bringt, ist eine Reaktion auf diese Nachmittagslektüre an einem verhangenen Sonntag Nachmittag unausweichlich.
Mein Vater war ein Bücherfreund. Ein blasser Mann, der das Wetter mied und Tag und Nacht über seinen Büchern sass. Das heisst, wenn er Zeit hatte, und Zeit hatte er viel. Er liebte seine Bücher mehr als die Menschen, denn sie konnten ihm Böses antun. Die Bücher niemals und nie.
Was bedeuten Bücher für sie? Was macht ein Buch zu einem guten Buch? Was würden sie tun, wäre die Existenz ihrer eigenen Bibliothek bedroht? Beschäftigen sie sich damit, was dereinst mit ihrer Bibliothek passiert, wenn ihr Leben ein Ende gefunden hat?
Als meine Kinder noch klein waren, meine Bücherregale zu ihrem Dasein gehörten, fragte mich einmal einer meine damals noch kleinen Söhne, was mit meinen Büchern passieren würde, wenn ich nicht mehr leben werde. Kinder fragen ganz direkt. Damals stammelte ich, ich hätte keine Ahnung. „Die nehme ich dann alle in meine Wohnung“, meinte der Kleine. Mittlerweile weiss ich sehr gut, dass meine Bücher zur Last werden, wenn ich es nicht zu Lebenszeiten schaffe, sie verträglich zu dezimieren. Aber wie kann ich mich schmerzfrei von ihnen trennen? Meine Bücher sind ein Teil von mir, selbst dann, wenn ich genau weiss, dass ich sie zum allergrössten Teil kein weiteres Mal lesen werde. Aber meine Bibliothek ist meine Spur durch mein Leben. Ein Leben weit über meinen eigenen Horizont hinaus. Ich bin ein Bücherfreund. Und sie?
Der Vater in Monika Helfers Erzählung „Der Bücherfreund“ war es auch, mit Haut und Haar, ein Leben lang. Ein Umstand, der die Erzählerin geprägt hat. Monika Helfer erzählt die Geschichte eines Abenteuers, denn die Bibliothek dieses Mannes war bedroht. Er hätte sie auflösen müssen. Sie war nicht nur von Krankheit und Sterben innerhalb der Familie bedroht, sondern auch von historischen, politischen Begebenheiten. Der Mann sah sich gezwungen, die Hundertschaften an Büchern an einem sicheren Ort zu verstecken, sie wegzubringen. Aber wie versteckt man eine Bibliothek vor ihrem sicheren Verlust? So, dass man sie dereinst wieder zurückholen kann. Monika Helfers Erzählung ist die Geschichte eines Mannes, der alles zu verlieren droht, seine Bibliothek, seine Familie, seine Arbeit.
Für etwas mehr Geld gibt es eine auf 235 Exemplare limitierte Edition des «Bücherfreunds» mit einem von Kat Menschik signierten und nummerierten Siebdruck, einer Original-Illustration im Format 10,3 cm x 16,9 cm.
Monika Helfer, geboren 1947 in Au/Bregenzerwald, lebt in Vorarlberg. Sie hat zahlreiche Romane, Erzählungen und Kinderbücher veröffentlicht. Für ihre Arbeiten wurde sie unter anderem mit dem Österreichischen Würdigungspreis für Literatur, dem Solothurner Literaturpreis und dem Johann-Peter-Hebel-Preis ausgezeichnet.
Kat Menschik, geboren 1968 in Luckenwalde, ist freie Illustratorin. Zuletzt veröffentlichte sie in der Reihe Illustrierte Lieblingsbücher, eine der schönsten Buchreihen der Welt. Zahlreiche von ihr ausgestattete Bücher wurden prämiert.