Lukas Sam Schreiber «Aitutaki-Blues», Goldmann

Mit 60 brach mit der Diagnose Alzheimer eine sich langsam abwickelnde Katastrophe ins Leben der Schriftstellerin Claudia Schreiber. Eine Katastrophe für sie und ihre Familie. Zusammen mit ihrem Sohn Lukas unternahm die Autorin 2019 eine letzte grosse Reise ans andere Ende der Welt.

Ich lernte die Schriftstellerin Claudia Schreiber 2013 persönlich kennen, als ich mich nach der Lektüre ihrer Bücher traute, ihr zu schreiben und von meinen Leseerlebnissen schwärmte. Genau in jenem Jahr inszenierte das Theater Konstanz ein Stück für Kinder, das aus einem ihrer Bilderbücher entstand; „Sultan und Kotzbrocken“. Und weil die Kölner Schriftstellerin beabsichtigte, eine der Vorstellungen zu besuchen und für ein paar Tage bei einer Freundin in Friedrichshafen wohnte, machte sie den Vorschlage, ob ich nicht Lust hätte, eine Lesung in der Schweiz zu organisieren. Weil ich zusammen mit meiner Frau damals schon Hauslesungen in unserem Wohnzimmer durchführte, taten wir dies mit Freude auch mit Claudia Schreiber. Und weil die Begeisterung für diese Autorin überschwappte, war die Stube rappelvoll, als Claudia Schreiber mit ihrer Freundin vorfuhr. Sie las aus ihrem Roman „Süss wie Schattenmorellen“, ein Roman, von dem ich erst viel später erfuhr, wie viel Eigenes darin zu Literatur wurde.

Aus dem Besuch damals wurde eine Freundschaft. 2019 kam sie noch einmal auf einer Lesereise in den Süden bis nach Überlingen, wo wir viel Zeit bei Spaziergängen und in Restaurants verbrachten und sie mir von ihrer Diagnose Alzheimer erzählte. Gespräche, die mich mehr als traurig machten, weil sie durch nichts zu trösten waren. Alzheimer lässt keine Hoffnung, ist unbarmherzig. Ich kenne kaum jemanden, die oder der fähiger gewesen wäre, den Kampf aufzunehmen. Claudia Schreiber hatte viele Kämpfe aufgenommen und wenn auch mit vielen Niederlagen stets den Kopf oben behalten. Alzheimer aber gibt niemandem eine Chance.

«Das Vergessen ist für mich wie Wasser, das wegrinnt. Die Gedanken fliessen unweigerlich aus meinem Kopf. Ich wünschte, ich könnte es …aber ich kann das Loch nicht stopfen. Ich habe überhaupt keine Erinnerung an irgendwas.»

Im Sommer 2021 besuchte ich sie ein letztes Mal. Mit dem Fahrrad. Ich gab mir zehn Tage Zeit, von Basel bis Köln. Zehn Tage, die ich brauchte, um mich auf die Tage zusammen mit ihr vorzubereiten. Ich hatte mir ein Zimmer ganz in der Nähe ihrer Wohnung gebucht, hatte am Abend vor dem ausgemachten Klingeln an ihrer Wohnungstür vom Strampeln erschöpft eingecheckt und in der Nacht danach schlecht geschlafen. Die Tage mit ihr waren ein grosses Geschenk. Aber als wir uns verabschiedeten und am letzten Abend mit einem Glas Wein anstiessen, hatte der Abschied etwas Endgültiges. Sie würde auf eine Reise gehen, von der es kein Zurück gibt, in eine Zukunft ohne Vergangenheit, hinein in eine grosse Leere.

Lukas Sam Schreiber «Aitutaki-Blues», Golmann, 2022, 224 Seiten, CHF 25.90, ISBN 978-3-442-14285-9

Damals, als ich die Tage mit Claudia Schreiber verbrachte, war die gemeinsame Reise mit einem ihrer beiden Söhne, mit Lukas, kein Thema mehr. Claudia hatte die Reise vergessen, oder mir gegenüber mit keiner Silbe erwähnt. Die Reise auf eine kleine Insel, Aitutaki, ihre Wunschreise ans andere Ende der Welt. Und weil ich kein Potcast-Konsument bin und Sam Lukas Schreibers Hörgeschichte an mir vorbeiging, musste die Geschichte dieser Reise als Buch zu mir kommen. Ein Buch, das keinen literarischen Anspruch erfüllen will, aber die Geschichte vieler Reisen erzählt, auch von einer, von der es kein Zurück gibt.

«Claudias brillantes Hirn ist inkontinent geworden. Die Welt wirft ihr tausend Sachen in den Schoss und sie kann die Dinge nicht mehr halten. Dabei findet alles, was wir empfinden und als unser Leben wahrnehmen, doch in unserem Kopf statt. Wir sind nur das. Claudia zieht in eine Welt, die ich nicht kennen kann.»

Claudia Schreiber schrieb ihr Leben lang, zuerst als erfolgreiche Mitarbeiterin im Hörfunk, später als Schriftstellerin. Eine Frau, die von ihrem Leben schrieb, die das Schreiben als Lebenselexier brauchte, die aber auch wirtschaftlich davon abhängig war, in einigermassen regelmässigen Abständen ein Buch herauszugeben und auf Lesereise zu gehen. Dass sie mit ihrer Krankheit genau diese Fähigkeit verliert, dass ausgerechnet sie, die immer unabhängig und proaktiv war, zunehmend abhängig und orientierungslos wird, an Kleinigkeiten verzweifelnd, muss sowohl für die Betroffenen wie für die Angehörigen schrecklich sein. Claudia Schreiber hat sich aus einer baptistischen Vergangenheit geschält, die Übergriffe eines dominaten Vaters ein Leben lang mit sich herumgeschleppt, zwei Söhne grossgezogen, zehn Bücher geschieben und mit der preisgekrönten Verfilmung ihres Roman „Emmas Glück“ grosse Höhepunkte erlebt. Heute schreibt Claudia Schreiber nicht einmal mehr Notizen, führt aber noch immer Gespräche mit ihrer Familie, wenn die Themen auch immer wieder die selben sind; der Tod, das Verblöden, die Angst und der Zorn.

„Aitutaki blues“ ist der Reisebericht des Sohnes, eine Reise mit seiner an Alzheimer erkrankten Mutter. Eine Reise, von der die Mutter ein Leben lang sprach, manchmal als Wunsch, manchmal als Drohung. Und als die Diagnose wie ein Komet in das Leben der Familie einschlug, fasste sich Lukas ein Herz und trat die Reise an, solange die Mutter noch etwas davon haben würde. Eine Reise ins Ungewisse, ein Stück auf einem unendlich langen Abschied von seiner Mutter, ein Stück Nähe, das Geschenk einer paradiesischen Erinnerung. „Aitutaki blues“ ist Auseinandersetzung mit den sich immer wiederholenen Gesprächen über das Sterben, das Versinken, das Verschwinden. „Aitutaki blues“ ist der Liebesbeweis eines Sohnes, einer Familie, an eine Mutter und Freundin, die alles gegeben hat.

Claudia Schreibers Bücher sind noch immer lesenswert! Ob „Emmas Glück“, eine tragikomische Liebesgeschichte von der Schweinezüchterin Emma, die im Wrack eines Ferraris einen bewusstlosen Mann und eine Plastiktüte voller Dollarnoten findet: endlich ein Mann und genügend Geld, um ihren verschuldeten Hof zu retten. Ober „Süss wie Schattenmorellen“, die Reifung eines Mädchens zur Frau, umgeben von kuriosen Figuren. Oder „Goldregenrausch“, die Abrechnung mit einer Familie, bei der nur Arbeit und Erfolg zählt. Oder die beiden „Sultan und Kotzbrocken“ Bilderbücher, die allen Witz der Autorin auf den Punkt bringen!

Interview:

Das Buch ist Teil eines langen Abschieds. Oft gibt es keinen Abschied. Menschen sterben einfach weg. Tröstet dich dein eigenes Buch?
Ich würde sagen Ja. Auch weil ich mich ihr im Schreibprozess wahnsinnig nahe gefühlt habe. Das war ihre Leidenschaft, ihr Instrument – und das auf eine intensive Art zu erleben hat mich nochmal ganz anders verstehen lassen, welche Arbeit sie hatte. Teilweise war es auch echt zäh und schwer, nicht emotional abzuschalten, weil es teils auch echt schwer war so in die Gefühle reinzugehen. Letztendlich bin ich sehr dankbar, dass ich das Buch geschrieben habe.

Stellt sich irgendwann Resignation ein? Bei dir? Bei deiner Mutter?
Definitiv. Ist auch gar nicht zu verhindern. Sie ist ja nicht nur krank. Es strahlt auf alles aus. Das Familienleben, Feste, den Alltag, ihr Essverhalten, die psychische Verfassung aller Angehörigen, Freunde die bleiben & Freunde die nicht mehr bleiben können. Manchmal kann man nur resignieren und weitermachen. Lachen geht trotzdem immer. Meistens ist es sogar das Einzige, dass Licht bringt.

Bildet man als Sohn einer an Alzheimer erkrankten Schriftstellerin nicht auch irgendwann eine Art Schale, einen Abwehrmechanismus, vielleicht sogar einen gewissen Zorn, weil man nicht dauernd darauf reduziert werden will? Auch als Fachmann im „Umgang mit dieser Krankheit“?
Nein, zum Glück nicht. Das war ein Lebensabschnitt. Ich denk oft an ein Gedicht von Bukowski «Roll the Dice»: ‹If you’re going to try, go all the way. You will ride life straight to perfect laughter. It’s the only good fight there is». Wenn man das Buch schreibt, dann macht man es richtig. Mit allem was dazu gehört. Gut und schlecht. Das habe ich mir so ausgesucht. Das ist unser Familienhandwerk. Wir sind die Schreibers. Da wird aufgeschrieben und erzählt. Bis keiner mehr zuhören will.

Wäre Lukas Schreiber heute ein anderer, hätte es diese Krankheit in seiner Familie nicht gegeben? Was bedeutet diese Krankheit für Dich, Deine Zukunft?
Zu eintausend Prozent. Ich hatte mal eine Phase, in der ich mich sehr schuldig gefühlt habe, da ich den Eindruck hatte – dass die Dinge sogar insgesamt besser geworden sind durch die Krankheit. Ein viel engeres Verhältnis zu meinem Vater, meinem Bruder, anderen Verwandten. Eine tiefe Verbindung zum Leben und zum Tod. Eine Sehnsucht, das Leben intensivst zu lieben. Alles mitzunehmen auf eine verantwortungsvolle Art und Weise. Ich habe ausgerechnet auf Aitutaki zum ersten Mal Camus gelesen. Das ist in mein Herz gesprintet wie nichts Anderes. ‹One must imagine Sisyphus smiling›. 

Ich vermisse meine Mutter wie sie war. Vermisse jeden Tag ihre Ratschläge, die jetzt nicht mehr kommen. Ihre nicht zu bändigende Kraft. Ihre Arbeitswut. Ihr Lachen ist zum Glück geblieben. Und dann weiß man, dass es schlimmer werden wird mit der Krankheit. Ich würde sagen, darauf sind wir vorbereitet. Und so viele schöne Momente wir bis dahin noch erleben dürfen, desto besser

Ich fahre Claudia in einigen Wochen zu einer Theateraufführung von ihrem Buch «Goldregenrausch». Wird sie verstehen, was auf der Bühne passiert? Wird sie sich wenige Stunden danach noch an eine einzelne Szene erinnern? Nein. Ist es das trotzdem wert? Auf jeden Fall!

Danke Lukas!
© Jens Oellermann

Lukas Sam Schreiber, geboren 1991, ist Podcastproduzent. Er ist viel rumgekommen in der Welt, doch die weite Reise zum Atoll Aitutaki hat ihn am nachhaltigsten bewegt – vor allem wegen seiner Reisebegleitungen: seine Mutter Claudia und ihr Alzheimer. Seither denkt Lukas über vieles anders, vor allem über das Leben und den Tod.

Claudia Schreiber, geboren 1958, studierte Kommunikationswissenschaften und Pädagogik in Göttingen und Mainz, war für den SWF3 und das ZDF tätig, bevor sie mit ihrer Familie für sieben Jahre nach Moskau und Brüssel zog. Danach arbeitete sie bis zu ihrer Alzheimerdiagnose mit Anfang sechzig als Autorin und Journalistin in Köln. Claudia Schreiber hat fünfzehn Romane und Kinderbücher geschrieben. Ihr bekanntestes Werk ist der mehrfach ausgezeichnete Roman »Emmas Glück«, der in neun Sprachen übersetzt und mit Jördis Triebel und Jürgen Vogel in den Hauptrollen verfilmt wurde.

Rezension von «Goldregenrausch» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © privat

Ian McEwan «Am Strand», Film vs Buch

Einmal im Jahr trifft sich eine kleine Schar Literaturinteressierter, um nach der Lektüre eines Buches auch dessen Verfilmung anzusehen, Buch und Film, soweit wie möglich einander gegenüberzustellen. Heuer war es «On Chesil Beach»,  deutsch «Am Strand» von Ian McEwan, 2007 bei Diogenes erschienen und 2017 unter dem gleichen Titel von Dominic Cooke verfilmt.

Florence und Edward haben geheiratet und sitzen sich am Tisch in der Hochzeitssuite eines Hotels am Strand von Chensil Beach gegenüber und wissen beide, dass die Nacht, die vor ihnen liegt, etwas Platz machen muss, was bisher verborgen blieb. Sie stochern in ihrem Abendessen herum und das Himmelbett im Zimmer nebenan wartet auf das, was kommen soll. Sie lieben sich. Sie lieben sich wirklich, wenn auch jeder auf seine Art. Und weil man 1962 weder über Gefühle, Ängste, Befürchtungen und schon gar nocht über Wünsche spricht, schwebt über dieser einen Nacht das Damoklesschwert.

Florence stammt aus einer gutbürgerlichen, „gebildeten“ Familie, der Vater Fabrikant, die Mutter Professorin. Florence studiert, spielt Geige und träumt von einer Karriere als Musikerin. Edwards Elternhaus starrt vor Dreck, sein permanent überforderter Vater kämpft sich durch ein Leben zwischen Pflichten, der Liebe zu seiner Familie und dem Umgang mit einer geisteskranken, „verrückten“ Frau. Für Florence und Edward ist das Studium eine Flucht aus der Enge ihrer Herkunft. Sie treffen sich zufällig an einer Anti-Atombomben- Versammlung, eine Begegnung, von der beide glauben, sie sei schicksalshaft. So sehr Edward fasziniert ist von der Anmut seiner Angebeteten, so sehr ist Florence überzeugt, in Edward jemand Besonderen gefunden zu haben.

Ian McEwan «Am Strand», Diogenes, 2008, aus dem Englischen von Bernhard Robben, Taschenbuch, 208 Seiten, CHF ca. 16.90, ISBN 978-3-257-23788-7

Die frühen Sechzigerjahre sind in Sachen Sexualität Ewigkeiten von der Gegenwart entfernt. Man spürte zwar die Spannung, man erzählte sich gegenseitig Geschichten. Aber „freie Liebe“ spielte sich nur in düsteren Strassen und schummrigen Lokalen ab. Über Sex sprach man nicht. Sex spielte sich in abgedunkelten Ehebetten ab, ob Pflicht oder Routine, ein Geschehen, das ohne den nötigen Sauerstoff durch Gespräche sehr bald verlor, was es davor an Geheimnisvollem barg. Die Pille war noch nicht da und sehr oft fehlte allein schon das Vokabular, um sich dessen bewusst zu werden, was sich zwischen Kopf und Lenden abspielte.

Zwar waren Florence und Edward schon lange vor ihrer Hochzeit ein Paar, aber darüber zu reden, was Sex zwischen den beiden hätte sein können, trauten sie sich nicht in einer Mischung aus Unwissen und Ängsten. Was dann an diesem späten Abend in der Hochzeitssuite nach einem verkorksten Abendessen passiert, ist logische Konsequenz. Beide werden enttäuscht. Beide glauben, versagt zu haben. Beide manövrieren sich in einen Zustand unverrückbarer Verwundung hinein. Florence verlässt panisch das Schlafzimmer. Und als Edward sie später am Strand, über einen Kilometer vom Hotel entfernt wiederfindet, schlingert sich Katastrophe in Ausweglosigkeit.

Das Faszinierende an diesem literarischen Meisterstück sind die kleinen Mosaikstücke, mit denen Ian McEwan den Weg ins Unausweichliche zeichnet, die Dramaturgie, die Mischung aus Rückblenden, die eine Ahnung dessen geben, warum sich die Dinge nicht anders entwickeln können und die Chronologie des Unausweichlichen, Millimeter für Millimeter.

«Am Strand», Spielfilm, 2017, 110 min, Regie: Dominic Cooke, Drehbuch: Ian McEwan, Besetzung: Saoirse Ronan, Billy Howle, Anne-Marie Duff

Vielleicht funktioniert der Film nach der Lektüre auch darum, weil Ian McEwan das Drehbuch schrieb. Der Film hält sich sehr stark an die literarische Vorlage, auch wenn die Rückblenden ein viel grösseres Gewicht tragen. Im Film ist auch sonnenklar, dass Florence traumatisiert ist von einem sexuellen Übergriff ihres Vaters, dass sie den Ekel von damals nicht ablegen kann. Im Buch sind diese Zusammenhänge viel durchscheinender beschrieben. Während das Buch von seiner Erzählweise getragen wird, sind es im Film die schauspielerischen Leistungen der Hauptdarsteller Saoirse Ronan und Billy Howle. Der Kontrast zwischen tiefer Liebe, maximaler Sehnsucht nach Zusammensein und bodenloser Enttäuschung und Kränkung ist bravurös gespielt. Ein Film, der es in sich hat!

Sonntag, 28. April 2024, 11:00 Uhr, Bernhard Theater, Zürich, NZZ live

Ian McEwan, geboren 1948 in Aldershot (Hampshire), lebt bei London. 1998 erhielt er den Booker-Preis und 1999 den Shakespeare-Preis der Alfred-Toepfer-Stiftung. Seit seinem Welterfolg «Abbitte» ist jeder seiner Romane ein Bestseller, viele sind verfilmt, zuletzt kamen «Am Strand» (mit Saoirse Ronan) und «Kindeswohl» (mit Emma Thompson) in die Kinos. Ian McEwan ist Mitglied der Royal Society of Literature, der Royal Society of Arts, der American Academy of Arts and Sciences und Träger der Goethe-Medaille.

Bernhard Robben, geb. 1955, lebt in Brunne/Brandenburg und übersetzt aus dem Englischen, u. a. Salman Rushdie, Peter Carey, Ian McEwan, John Williams, Patricia Highsmith und Philip Roth. 2003 wurde er mit dem Übersetzerpreis der Stiftung Kunst und Kultur des Landes NRW ausgezeichnet, 2013 mit dem Ledig-Rowohlt-Preis für sein Lebenswerk geehrt.

Gertrud Leutenegger «Partita», Nimbus – Solothurner Literaturpreis für das Gesamtwerk

Manchmal erscheinen im Meer der Neuerscheinungen Bücher, die wie Leuchttürme aus der schieren Unendlichkeit der grossen und kleinen Wellen ihre Strahlen bis in den Horizont werfen. «Partita» ist ein solcher Leuchtturm. Ein Schatz mit 77 Funkelsteinen, die mich rauschig machen!

1975 veröffentlichte Gertrud Leutenegger mit „Vorabend“ ihren ersten Roman – bei Suhrkamp. Eine beeindruckende Steilvorlage! Drei Jahre später gewann sie, nachdem sie bei Suhrkamp auch ihren zweiten Roman „Ninive“ herausgebracht hatte, dreissig Jahre alt, am Ingeborg-Bachmann-Wettlesen den Preis der Klagenfurter Jury. Seither veröffentlichte die Dichterin Gedichte, Romane und dramatische Poems stets im Suhrkamp Verlag – und nun mit „Partita“ ihre zweite Veröffentlichung bei Nimbus. Eine überaus erstaunliche und beeindruckende schriftstellerische Karriere, die sie schon lange zu einer der ganz Grossen der deutschsprachigen Literatur macht. Aber da sich der Zeitgeist wenig um Qualität kümmert und schon gar nicht um die grossen Leistungen eines ganzen Lebens, ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich das Scheinwerferlicht allzu schnell von den dicken Stämmen im Literaturwald abwendet. (Lieber die bunten Büsche mit knallig leuchtenden Beeren und Blüten!)

«Meine Stimme nicht als ein Teil, sondern als eine Grenze der Welten.»

Aber schon der Umstand, dass auf der Nimbus Verlagswebseite zwei Rezensenten der Extraklasse aufgezählt werden, lässt erahnen, dass dieses scheinbar unspektakuläre Bändchen einen ganz besonderen Schatz birgt. Dass Charles Linsmayer und Michael Krüger sich vor dem Buch der Altmeisterin verneigen, beeindruckt mich so sehr, dass es mich zweifeln lässt, ob ich überhaupt noch etwas Relevantes zu diesem Kleinod beitragen kann.

Gertrud Leutenegger «Partita», Nimbus, 2022, 92 Seiten, CHF 22.00, ISBN 978-3-03850-089-6

„Partita“ ist ein Begriff aus der Musik und beschreibt einen Teil einer Tanzfolge oder einer Variationsreihe. Genau das tut Gertrud Leutenegger; sie tanzt in ganz verschiedenen Schrittfolgen durch die Welt ihres Tuns, durch das Schreiben, das Erschaffen, ihre Kreativität. Und ihr Tanz ist derart leicht, anmutig und graziös, dass die Lektüre einem demütig macht. „Partita“ sind 77 Notate, manchmal nur ein einziger Satz, ein andermal eine Betrachtung, sprachliche Meditationen, Schritte, Tanzschritte, Tanzfolgen nach Innen. Die 77 Sprachperlen entstanden wohl nicht, um sie irgendwann zu publizieren. Es waren, wie die Autorin in einem kurzen Nachwort beschreibt, Notate, die über viele Jahrzehnte im Kontext ihres literarischen Schaffens entstanden. Glücklicherweise lässt mich Gertrud Leutenegger an diesen Leichttürmen ihres Lebens teilnehmen.

«Echoraum werden für die geliebten Menschen.»

Fast alle diese Notate drehen sich vordergründig um das Schreiben, ihre Arbeit am Text, was Sprache mit ihr macht, wie sie ringt und ihr Schaffen prüft. Aber wenn man sich während der Lektüre einen Schritt zurück begibt und das Thema ihres Schreibens „verallgemeinert“, denn für Gertrud Leutenegger ist ihr Schreiben ihr Leben, ihr Sein, ihr ganzen Tun, dann werden diese Notate zu Aufforderungen an ein Tun ganz allgemein. Sie erinnern mich durchaus auch an Ermahnungen, dem Geschenk des Lebens, des Erschaffens jenen Respekt zu zollen, den dieses Geschenk einfordert. Gertrud Leutenegger reflektiert ihr Tun. Diese Notate sind die Prüfsteine, mit denen sie ihr Schaffen hinsichtlich ihrer Wahrhaftigkeit prüft. Schon alleine die Ernsthaftigkeit dieses steten Prüfens beeindruckt – und noch viel mehr die Leuchtkraft der Notate selbst. Der Dichterin geht es nie um Effekte, so wie „Partita“ in nichts nach Effekt hascht. Eine Seite – ein Satz. Als wären es die in den Leutenegger-Boden versenkten Mark- und Merksteine ihres Schaffens.

«Unter Tränen zum Leben verführen.»

„Partita“ ist ein Geschenk an all jene, für die Lesen auch Kontemplation sein soll.

Der Solothurner Literaturpreis geht in diesem Jahr an Gertrud Leutenegger.

Erst im letzten Jahr wurde der Preis neu aufgestellt; seither wird er vom Verein Solothurner Literaturtage getragen. Der Preis ist mit 15’000 Franken dotiert und zeichnet ein Gesamtwerk aus.

Die fünfköpfige Preisjury begründet ihren Entscheid für die 74-jährige Schweizer Autorin Gertrud Leutenegger damit, dass sie in ihrem Werk Persönliches und Weltwahrnehmung miteinander verbinde. Sie erforsche «auf zeitlose Weise die menschliche Existenz», heisst es in einer Mitteilung von Mittwoch.
Der Solothurner Literaturpreis wird ihr am 21. Mai im Rahmen der Solothurner Literaturtage verliehen. Zu den bisherigen Preisträgerinnen und Preisträgern gehören unter anderem die deutsche Autorin Iris Wolff (2021), die Österreicherin Monika Helfer (2020), Peter Stamm (2018) und Lukas Bärfuss (2015).

Gertrud Leutenegger, geboren 1948 in Schwyz, studierte nach Aufenthalten in Florenz und Berlin an der Schauspielakademie Zürich Regie und arbeitete als Regieassistentin am Schauspielhaus Hamburg. Seit 1975 veröffentlicht sie Romane, Theaterstücke und Essays. Sie lebte viele Jahre in der italienischen Schweiz, einige Zeit in Rom und Japan. Heute wohnt sie in Zürich. Ihre letzten Publikationen sind «Pomona» (2004), «Gleich nach dem Gotthard kommt der Mailänder Dom» (2006), «Matutin» (2008), «Panischer Frühling» (2014) und «Späte Gäste» (2020).

Rezension von «Das Klavier auf dem Schillerstein» auf literaturblatt.ch

Jaroslav Rudiš und Nicolas Mahler «Nachtgestalten, Luchterhand

Zwei sind nachts in den finsteren Strassen einer Stadt unterwegs, ohne Ziel, solange, bis kein Lokal mehr offen hat, bis es nirgends mehr etwas zu trinken gibt. Zwei Freunde, schon alles gesagt, schon viel erlebt – und doch gibt es Abgründe, Erinnerungen ohne Licht. Dem Schriftsteller Jaroslav Rudiš und dem Illustrator Nicolas Mahler ist ein Graphic Novel  gelungen, das vordergründig Banales, aber im Grunde von den Dramen des Lebens erzählt.

Sie sind Freunde. „Hast du eigentlich mit Hana geschlafen?“, fragt der eine. 

Oder „Gibt es Hoffnung in dieser Welt?“

Antworten gibt das Gegenüber nur dünne. Die Zeichnungen von Nicolas Mahler dafür sprechen Bände. Zwei Stadtmenschen, alt gewordene Streuner, die durch die Gassen streifen, gefangen in Desillusion und dem Trott des Immergleichen. Eine Freundschaft, die sich an Biergläsern festhält, in der man über die wirklich wichtigen Dinge des Lebens gar nicht mehr offen spricht, weil man glaubt, die Antworten des andern zu kennen.

Jaroslav Rudiš und Nicolas Mahler «Nachtgestalten», Graphic Novel, Luchterhand, 2021, 144 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-630-87638-2

„Den Wisenten kannst du vertrauen, den Menschen nicht.“ Sie sind eigentlich fertig mit der Welt, haben ihre Erfahrungen gemacht. Das Leben und die Geschichte hat ihnen recht gegeben. Und wenn dann doch noch etwas aufblitzt, dann brennt die Lunte nur bis zum nächsten Bier. „Nachtgestalten“ ist aber keine bild- und textgewordene Bierseligkeit, kein Morast, der sich nach Ernüchterung und Nüchternheit ausbreitet. „Nachtgestalten ist voller Witz und Einsicht, erzählt vom wirklichen Leben und davon, dass man es nicht sausen lassen soll.

Die beiden erzählen sich Geschichten und aus der Geschichte, wie sehr sie Geschichte und Geschichten fertig machen; ihre eigene Geschichte, die Geschichte ihres Landes, die Geschichte des Menschen. Sie sinnieren, mit langen Pausen, in denen Bier nachgegossen wird, ordentlich Bier, Geschichten, die mit steigendem Pegel immer verrückter werden.

„Eins ist sicher. Ich habe studiert, und ich verstehe die Welt nicht.“

Man muss es mehrfach lesen. So wie man immer wieder in die Kneipe einkehrt und immer wieder ein Bier trinkt. Mit jedem Glas steigt die Wirkung! Jaroslav Rudiš ist ein Magier der Geschichten. Und Nicolas Mahler sein kongenialer Zeichner. Zeichnungen, die die Wirkung des Textes vervielfachen und längst nicht nur bebildern. In kleinen Schlucken geniessen!

Jaroslav Rudiš, geboren 1972, ist Schriftsteller, Drehbuchautor und Dramatiker. Er studierte Deutsch und Geschichte in Liberec, Zürich und Berlin und arbeitete u.a. als Lehrer und Journalist. Im Luchterhand Literaturverlag erschienen seine aus dem Tschechischen übersetzten Romane «Grand Hotel», «Die Stille in Prag», «Vom Ende des Punks in Helsinki» und «Nationalstraße», bei btb ausserdem «Der Himmel unter Berlin». «Winterbergs letzte Reise«, der erste Roman, den Jaroslav Rudiš auf Deutsch geschrieben hat, wurde 2019 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Für sein Werk wurde er ausserdem mit dem Usedomer Literaturpreis, dem Preis der Literaturhäuser sowie dem Chamisso-Preis/Hellerau ausgezeichnet.

© Leonard Hilzensauer

Nicolas Mahler, geboren 1969, ist Comic-Zeichner und Illustrator. Seine Comics und Illustrationen erscheinen unter anderem in Die Zeit, NZZ am Sonntag, FAZ und in der Titanic. Für sein Werk wurde er mehrfach ausgezeichnet, unter anderem 2010 mit dem Max-und Moritz-Preis als «Bester deutschsprachiger Comic-Künstler» und 2015 mit dem Preis der Literaturhäuser. Zuletzt erschien seine Comic-Interpretation «Ulysses» im Suhrkamp-Verlag. Er lebt und arbeitet in Wien.

(Zeichnung mit freundlicher Genehmigung des Verlags)

Beitragsfotos © Leonard Hilzensauer

Pascale Osterwalder «Daily Soap», Graphic Novel, Luftschlacht

Eigentlich ist er ein armer Kerl. Ein halbes Leben wartete er auf seine Bestimmung, seinen Platz, den man ihm versprochen hatte, um dann in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden, ein Leben unter Druck auszuhalten, nur geben zu müssen. „Daily Soap“ ist eine ganz besondere Soap, eine Seifenoper der besonderen Art.

Der Held dieser Soap wartet. Zuerst ewig lange, bis sich jemand seiner erbarmt, ihn mitnimmt und bezahlt, bis er seinen Platz gefunden hat in einer der Nasszellen in der Wohnung. Er hatte Monate ausgeharrt, zuerst ganz hinten im Regal, dann vorne, unberührt, bis man ihm eine farbige Etikette verpasste, eine Art Auszeichnung, eine Ermunterung, ihn zu nehmen, ein Entgegenkommen.

Dann steht er dort, am immer gleichen Ort, meist unbeachtet, um dann mit einem Mal hergeben zu müssen, was man hütet, sein ganzes Inneres. Für ganz kurze Momente gehört die Zuwendung ihm, wenn auch nur unter Druck, um sich nachher leer zu fühlen und wieder zu warten. Zischen all den anderen Dingen mit exakter Bestimmung.

Er ist ein Spender, ein Wohltäter, eine Institution für die öffentliche Hand. Jetzt erst recht in Zeiten von Pandemie und grosser Verunsicherung. Auch wenn am Schluss das unweigerliche Ende droht. Das Ende, dem er zuschauen kann, wenn der grosse schwarze Sack erscheint, wenn andere verschwinden, Neues dasteht.

Pascale Osterwalder haucht einem Seifenspender Leben ein, gibt dem Ding für einmal Individualität, ein empfindliches Gefühlskostüm. Die Illustratorin zeichnet mit Bleistift eine Seifenoper der ganz besonderen Art. Und weil beim Luftschlacht Verlag in Wien neben Belletristik, Kinder- und Kunstbücher auch Graphit Novels zum festen Bestandteil des Verlagsprogramms gehören und man sich nicht scheut, der gezeichneten Ästhetik auch die entsprechende Hülle, das haptische Kleid zu geben, ist „Daily Soap“ ein eigentliches Geschenk an all jene geworden, die tatsächlich mit den Augen lesen!

Interview

Wie kam es zur Zusammenarbeit mit der Zeitschrift Falter?
Ich habe letzten März, während des ersten Lockdowns unter anderem den Falter angeschrieben und mein Seifenspender-Projekt vorgestellt. Der Seifenspender ist durch die Pandemie plötzlich zu einem omnipräsenten Objekt geworden und mein langjähriges Projekt hatte schlagartig an Aktualität gewonnen. Ich hatte mich direkt an Klaus Nüchtern vom Falter gewandt, der gleich begeistert war und es an die ganze Redaktion weitergeleitet hatte. Ich dachte dann, dass sie die Serie vielleicht 5-6 Ausgaben lang behalten würden, aber nun dauert sie bereits ein Jahr lang an – die Pandemie bekanntlich leider auch.

Was war zuerst; der Seifenspender oder Corona?
Das Seifenspender-Projekt habe ich vor gut zehn Jahren begonnen und über die Jahre sind immer wieder Zeichnungen, Animationen, Texte, kleine Skulpturen dazugekommen; mit kleinen Ausstellungen und Filmscreenings. Vor ca. drei Jahren habe ich begonnen an der Buchidee zu arbeiten. Die Verlagssuche gestaltete sich aber eher schwierig, weil depressive Seifenspender lange doch eher ein Randthema waren. Da hat die Pandemie dem Projekt einen ordentlichen Schub beschert.

Sie hauchen Dingen Leben ein. Sieht jemand, der so genau schaut wie Sie, anders?
Während meiner Zeit als Artist in Residency in New York habe ich meinen verspielteren Blick auf die Welt zurückgewonnen, (Das war vielleicht das beste an dem Preis) und wieder begonnen, meine eigenen Geschichten aufzuschreiben, zu zeichnen und zu animieren. Während der Ausbildung war das oft nicht so gefragt oder kam einfach zu kurz. In meiner kleinen Wohnung in New York habe ich auch zum ersten Mal den Seifenspender als Charakter wahrgenommen. Da habe ich mich sehr frei gefühlt, ich musste nichts abliefern, kein Produkt, ich musste nichts definieren. Plötzlich war alles möglich – ich glaube, das macht auch diese Stadt mit einem – und die Dinge haben angefangen zu leben. Diese Stop-Motion-Filme sind damals entstanden: https://www.elaxa.ch/portfolio/fox-bear/ und auch dieses Projekt mit meiner erfundenen Gans: https://www.elaxa.ch/portfolio/meandmygoose/ 
Jetzt helfen mir auch meine Kinder, diesen verspielten Blick zu bewahren.
Ich weiss nicht, ob ich anders sehe. Es macht mir einfach Spass, mir vorzustellen, wie es einem Gegenstand ginge, wäre er ein Lebewesen oder hätte er Gedanken. Und so sehe ich manchmal in Anordnungen von ein paar Flaschen oder Putzmittel ganze Beziehungsdramen. Manchmal reicht eine gewisse Perspektive und das Ding wird zum Charakter.

Aus ihren Zeichnungen, aus dem ganzen Buch spricht viel Respekt, Liebe zu den Dingen. Aber nicht die Liebe eines Messis, eines Konsumsüchtigen, sondern die Liebe und der Respekt eines Menschen, der hinter die Dinge zu schauen weiss. Steckt hinter dem Buch auch eine Mission?
Es ging mir nie um eine Mission, aber ich bekomme viele Rückmeldungen, dass Leute ihre Seifenspender jetzt mit anderen Augen sehen. Und wenn das Buch dazu beiträgt, dass man Skrupel bekommt, seinen leeren Seifenspender wegzuwerfen und ihn stattdessen wieder auffüllt, dann macht mich das froh. 

Sie sind Illustratorin. Ein steiniger Weg?
Steinig würde ich nicht sagen. Ich habe es über die Jahre geschafft, neben Grafikaufträgen, immer mehr mit Illustrationen zu verdienen. (Aber ab und zu tut ein unkreativer Auftrag auch ganz gut, das kann man einfach abarbeiten.) 
In den letzten Jahren habe ich immer mehr versucht, meine eigenen Projekte voranzutreiben, was aber neben den Auftragsarbeiten, die das Geld einbringen (und Kindern), nicht so einfach ist. Der neuerliche Werkbeitrag der Ausserrhodischen Kulturstiftung im Dezember 2019 hat mir dabei geholfen. 
Es ist jetzt gerade noch ein anderes Buch im Druck, das der Zürcher Verlag everyedition.ch herausbringt. Es heisst „All I ever had, went down the drain.“, ist auf English und mit einem ziemlich dicken schwarzen Pinsel-Filzstift gezeichnet und geschrieben. Es ist inhaltlich roher und direkter. Ein gezeichneter Monolog des Seifenspenders, der den Besitzer direkt anspricht. 

(Wiedergabe der Illustrationen mit freundlicher Genehmigung des luftschlacht Verlags)

Auf der Webseite der Autorin findet man sogar animierte Kurzfilme, die nicht nur den Seifenspender bewegten!

Pascale Osterwalder «Daily Soap» Aus dem Leben eines Seifenspenders, Luftschlacht, 2021, 134 Seiten, CHF 26.90, ISBN 978-3-903081-88-8

Pascale Osterwalder, geb. 1979 in der Ostschweiz, ist selbständige Illustratorin, Grafikerin und Animationskünstlerin. Sie studierte Visuelle Kommunikation an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich und landete nach einer Artist in Residency in New York schliesslich in Wien. In ihrer künstlerischen Arbeit beschäftigt sie sich hauptsächlich mit dem Eigenleben von Alltagsgegenständen. Ihre Seifenspenderzeichnungen erscheinen derzeit wöchentlich im «Falter».

Webseite der Illustratorin

Beitragsbild © Albert Waaijenberg

Christoph Simon «Die Dinge daheim», edition taberna kritika

Das kann so nur ein Schriftsteller! Vielleicht gibt es unter den SchriftstellerInnen auch nur ganz wenige, die es können, die es wirklich können. Und vielleicht ist Christoph Simon einer der ganz wenigen, die es meisterlich können: Den Dingen Leben einhauchen.

Christoph Simon zeichnet seine Dinge, all das, was er täglich benützt, was in seiner Wohnung steht, das eine verborgen, nur selten zur Hand genommen, das andere immer wieder. Er zeichnet sie mit Stift und Worten. Mit Stiften klar umrissen und mit Worten aufgebrochen und ausgefüllt, mit Leben und Seele: Die konservative Stimmgabel, die Spülmaschine, die zum Ort der Begegnungen wird, der nachdenkliche Staubwedel, der eingebildete Stöckelschuh, Madame Kuhn Rikon, die alte Pfanne in der Küche mit ihren Kratzern und Verbrennungen. Christoph Simon gibt den Dingen eine Seele, lässt sie reagieren, antworten, erkennen und zweifeln.

Ich wohne im Parterre. Als ich an diesem kleinen Bericht schrieb, fuhr ein fettes, schwarzes Auto auf den Besucherparkplatz vor der Tür. Ein Mann mit Krawatte und Mappe entstieg dem sichtbar teuren Gefährt, schloss die Tür und verriegelte seinen Schlitten mit seiner Fernbedienung. Er blieb einen kurzen Moment stehen, blickte zurück, einen Moment länger, als nur festzustellen, ob das Auto mit seinen Blinkern zwinkert. Es war der Blick eines besorgten Vaters, der nicht sicher ist, ob er seinen Schützling so ganz allein an einem fremden Ort sich selbst überlassen darf. Christoph Simon hätte dem Auto eine Stimme gegeben, hätte den Blick der sich entfernenden Biomasse nicht nur erwidert, sondern verbalisiert.

Christoph Simon «Die Dinge daheim», edition taberna kritika, 2021, 80 Seiten, CHF 15.00, ISBN 978-3-905846-61-4

Christoph Simon vermenschlicht die Dinge mit voller Absicht. Nicht aus Bewusstseinsgründen oder um das spezifische Gewicht der Dinge zu erhöhen. Christoph Simons Schreibe ist ein Spiel mit den Dingen. Er atmet den Dingen Leben ein, lässt sie unser eigenes Tun und Lassen spiegeln. Und Christoph Simon tut er meisterlich, in köstlicher Manier, sodass man den eigenen Dingen mit einem Mal ebenfalls versucht ist, Stimmen zu geben. Eigentlich müsste man das Büchlein in lauter Sprechblasen zerschneiden, um sie den Dingen überall an die Kontur zu kleben. Was Christoph Simon tut, hat etwas fein Subversives. 

Christoph Simon weiss, wie Dialog funktioniert. Auch den Dialog mit sich selbst. Er weiss es, weil er auf der Bühne steht und unmittelbar gezeigt bekommt, ob im Hinundher ein Wiedererkennungswert liegt oder nicht. Und doch sind die kleinen Miniaturen viel mehr als nur Minutengeschichtchen. Sie spiegeln die Welt des Menschen; all die Eitelkeiten, Eigenheiten und Einbildungen.

Man kaufe das Büchlein und stecke es in die Westentasche. Dann wird das Warten bei der Ärztin, die Fahrt im Zug, die Minuten im Bus zum reinsten Vergnügen!

Leseprobe auf der Homepage der edition taberna kritika

Christoph Simon, geboren 1972 im Emmental, lebt als Schriftsteller und Kabarettist in Bern. Er ist Gewinner des Salzburger Stiers 2018 und zweifacher Schweizer Meister im Poetry-Slam. Seine Romane (u. a. «Spaziergänger Zbinden», «Franz oder Warum Antilopen nebeneinander laufen») sind in mehrere Sprachen übersetzt und mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet worden. Zu seinen Dingen daheim pflegt er ein entspanntes Verhältnis.

Rezension von «Swiss Miniatur» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Beitragsbild © Michael Isler

Aljoscha Ségard (Alexander Klee) «Eine leicht dahingespielte Tonfolge verdichtet sich zu einer Melodie», Till Schaap Edition

Je mehr Bücher in den Regalen unserer Wohnung stehen, desto seltener bekomme ich ein Buchgeschenk. Kein zugesandtes Rezensionsexemplar eines Verlags, das immer mit Erwartungen behaftet ist, sondern ein Geschenk. Ein Geschenk mit einer Widmung. Ein Schlüssel in eine Welt, in der man auf mich wartet.

So mache ich mir meine Buchgeschenke manchmal selbst. Etwas verschämt, weil es mehr als bloss ein Buch mit einer Geschichte ist. Ich machte mir ein Kunstbuch zum Geschenk; Buch gewordene Kunst – Kunst das Buch, Kunst die Hülle, Kunst im Buch, Kunst mit dem Buch – Kunst von Aljoscha Ségard!

Ich war im Netz unterwegs, verfolgte einen Hinweis zu Büchern einer Fotografin und blieb hängen an der Webseite der Till Schaap Edition. Dort wurde ein Kunstbuch angeboten, in das ich mich regelrecht verfing: «Eine leicht dahingespielte Tonfolge verdichtet sich zu einer Melodie».

1940, im Todesjahr von Paul Klee, kam sein Enkel Alexander Klee zur Welt. 1948 kam er in die Schweiz. Alexander Klee machte eine Lehre als Fotograf. Seit 1976 ist er als Aljoscha Ségard freischaffender Künstler. Zwei Werkgruppen beschäftigen ihn seit einigen Jahren. In Material-Kästen lässt der Künstler kleine Dinge zusammenkommen, die ihm im Alltag auf- und zugefallen sind. So entstehen poetische Reliquienkästchen voller offener Assoziationen. Geheimnisvolles prägt auch die Kohlenzeichnungen. Zu sehen sind rhythmisch gesetzte Linien, die sich zu Figurationen verdichten, teils zu tief schwarzen Flächen, teils zu schriftähnlichen Erzählungen.
So fallen Ségard die Dinge zu – als Bilder, deren Kern das Hintersinnige, das Witzig- Poetische und die Freude am Zusammenspiel von Bild und Wort ist.

Auf die Frage an Till Schaap, wie er auf den Künstler gestossen sei, schrieb dieser: «Mit Aljoscha Ségard (Alexander Klee) bin ich seit sehr langer Zeit freundschaftlich verbunden. Über seinen Grossvater Paul Klee habe ich, damals noch beim Benteli Verlag, zahlreiche Publikationen herausgegeben u.a. den «Catalogue raisonné Paul Klee» in 9 Bänden. Im Oktober dieses Jahres ist Aljoscha Ségard 80 Jahre alt geworden. Gleichzeitig feiert das Paul Klee Museum ZPK sein 15-jähriges Bestehen. Geplant war auch eine Ausstellung im ZPK, die jedoch Corona zum Opfer gefallen ist und auf Juni nächstes Jahres verschoben wurde. Im Vorfeld haben wir deshalb beschlossen, zu diesem Datum eine Werkübersicht über sein Schaffen herauszugeben. Konrad Tobler hat dazu einen wunderbaren Essay verfasst.
Der Künstler ist sehr mit Japan verbunden. Dort lässt er auch die Boxen herstellen, die er bespielt. Da noch eine Reihe der kleinen Boxen übrig war, entstand die Idee einer Vorzugsausgabe. Sie sollte zusammen mit dem Buch einen ganz speziellen Objektcharakter erhalten.»

Nr. 5

Nun gehört Nr. 5 von 21 Unikaten mir. Ein schwarzes Kästchen, 15 mal 15 cm gross, das man aufhängen könnte. Aber dieses rätselhafte Kästchen fügt sich derart perfekt und ausgewogen in seinen roten Schuber, der sich handwerklich exakt um das kleine Kunstwerk schmiegt, dass ich Nr. 5 lassen muss, wo es ist. Diesen kleinen aufgebrochenen Brief in einer Sprache, die sich dem schnellen Blick entzieht. Diese Botschaft, die erst entschlüsselt werden muss, mir alle Freiheiten lässt, sie zu lesen oder zu lassen. Diese Zeichen, die wie aus einer andern Welt stammen, die mir bei jedem neuen Blick darauf neue Zeichen senden.

Aljoscha Ségard Kunstband «Eine leicht dahingespielte Tonfolge verdichtet sich zu einer Melodie» ist voller solcher Botschaften, sie sich auch wie kleine Partituren lesen lassen, verschriftlichte Musik. Mag sein, dass es genau das ist, was mich den Bildband immer wieder mit Verzückung und Begeisterung durchblättern lässt. Da hat jemand seine Sprache gefunden, seine Schrift, seine Musik und versendet Botschaften, die alles beinhalten können und viel freier sind als die strammen Buchstaben unseres Alphabets.

Im Sommer 2021 findet im Zentrum Paul Klee eine Präsentation von Werken Aljoscha Ségards statt.

Webseite Till Schaap Edition

Beitragsbild © Monika Flückiger

Meyer vs Bierce, Wörterbücher

Es gab einmal eine Zeit, in der sich das selbstbewusste Bürgertum vielbändige Lexiken kaufte, ob sie gebraucht wurden oder nicht, um Wissen und Geist zu demonstrieren. Das Mass aller Dinge war der Brockhaus, den man mittlerweile in Antiquariaten und Brockenstuben nicht mal mehr annimmt. Thomas Meyers «Meyers kleines Taschenlexikon» soll eine Hommage sein an des 1986 letztmals erschienene Meyers Grosses Universallexikon, jenes Nachschlagewerk, dass sich auch der Kleinbürger leisten konnte.

Als Spiel mit dem Grossen gibt Thomas Meyer, der sich mit dem Roman «Wolkenbruchs wundersame Reise in die Arme einer Schickse» ins Bewusstsein der Schweizer schrieb, erst recht mit dem Drehbuch zum gleichnamigen Film, «Meyers Kleines Taschenlexikon» heraus – «150 Stichwörter von A bis Z und ihre schmählichen Bedeutungen».

Zugegeben die Idee hat was, zumal Thomas Meyer von Haus aus Werbetexter ist und es durchaus versteht, Einsichten und Ansichten in allerkürzeste Form zu bringen. Amüsant und auf dem Klo durchaus unterhaltsam; das eine raus, das andere rein. Aber dafür 20 Franken hinblättern ist schon fast frech. Da schätze ich doch Beat Gloors Ratgeber «Erziehung als Aufgabe» für 10 Fr. bei lektorbooks, wo einem versprochen wird, dass alle Fragen bis ins Jahr dreitausend gelöst und in zehn Sekunden auswendig gelernt werden können. Jenes wirklich tiefgründige Buch (Es ist leer!) kostet die Hälfte und ist wenigstens als Notizbüchlein zu verwenden.

vergriffene Ausgabe von 1986, erschienen im Haffmans Verlag Zürich

Wer ein wirklich stacheliges Wörterbuch lesen will, wer stöbern will, wie man es früher tat, als man sich mit einem der dicken Lexiken etwas Wissen anlesen wollte, um beim nächsten Besuch des Vorgesetzten mit Allgemeinbildung zu glänzen, der schaffe sich «Des Teufels Wörterbuch» des US-amerikanischen Schriftstellers Ambrose Bierce an, der 1842 in Ohio zur Welt kam und 1914 irgendwo in Mexiko während der Mexikanischen Revolution von der Bildfläche verschwand. Ambrose Bierce war auch Journalist und hatte ein ausgesprochenes Faible für Horrorgeschichten, die auch hundert Jahre nach seinem Verschwinden noch immer gelesen werden.

Absoluten Genuss aber liefert «Des Teufels Wörterbuch». Viel mehr als bloss eine zündende Idee mit ein paar flockigen Sätzen drin. Hier kann man mit Schaudern schmökern. Vieles, was der Autor 1906 zum ersten Mal unter dem Titel The Cynic’s Word Book verkaufte, hat bis in die Gegenwart nichts von seiner Aktualität und «Allgemeingültigkeit», seinem Biss und seiner Schärfe verloren.

«Bei der Zusammenstellung seiner Misanthropismen ließ «Bitter Bierce» die reine Willkür walten. So folgt auch in der Übersetzung auf die «Braut» das «Brechmittel», auf «Betragen» das Wort «betrügen» und auf den «Erzbischof» der «Esel». Bierce’ Spott gilt sozialen, politischen und charakterlichen Missständen, seine Geißel trifft Machthaber und Autoritäten jeden erdenklichen Kalibers. Mit weit über 1000 Stichworten präsentiert die vorliegende Ausgabe diesen Klassiker der satirischen Literatur so umfangreich wie nie zuvor in deutscher Sprache.» Manesse Verlag

Kein Buch fürs Klo, sonst werden Sitzungen noch viel länger!

Daniel Glattauer «Vier Stern Stunden», Deuticke

Alles ist alt, in die Jahre gekommen. Frederic Trömerbusch, von dem vor sechs Jahren sein letzter Roman erschien – das Vier-Sterne-Hotel beim Kurpark, dem nicht nur der fünfte fehlt – das Immergleiche in Beziehungen, Gewohnheiten und Traditionen – und selbst die Liebe. 

Im Kur- und Kulturhotel Reichenhoffer (Kalauer) kündigt der Hotel-Juniorchef im Gastraum auf der improvisierten Bühne Professor und Schriftsteller Frederic Trömerbusch an. Ein Literaturgespräch in der langen Reihe seiner Stern-Stunden mit der Literaturredaktorin Mariella Brem. Im Kulturhotel haben Events mit Berühmtheiten Tradition. An der Wand hängen Bilder von Reinhold Messner, Martin Walser und DJ Ötzi. Mariella Brem ist glühende Verehrerin der Bücher des grossen Frederic Trömerbusch, der Gästeraum voll mit satten Kurgästen, aber das Gespräch entgleitet. Trömerbusch langweilt sich, weil er die immer gleichen Fragen fürchtet, schaut er seiner Gesprächspartnerin Brem nicht einmal in die Augen. Die Technik setzt aus und eine Frau mit Burka stört.

Der Haussegen im matt gewordenen Hotel hängt genauso schief wie der zwischen Trömerbusch und seiner viel jüngeren Begleitern, mit der er das Hotelzimmer teilt, aber das Bett eigentlich schon lange nicht mehr. Aus Lisa, die ihren Friedrich einst anhimmelte, aus dem Groupie ist eine junge Frau geworden, die sich auch ein Stück vom VIP-Kuchen abschneiden will. Sie will in Kürze als Bloggerin berühmt werden, Social Media, Kreativ Dancing, Schauspiel, Mode… Sie, die den Mann Trömerbusch wollte und ihn hatte, aber kein einziges Buch gelesen hatte, will aussteigen, aus dem kalten Bett, dem fremden Zimmer, der antiquierten Welt.

Während nach dem Debakel auf der Hotelbühne in der Bar aus der Konserve «Stranges in the Night» trällert, sitzen Juniorchef David-Christian Reichenshoffer am einen Thekenende, am andern die Literaturredaktorin Brem, die schon unter Vater Reichenshoffer die Stern-Stunden im Hotel moderierte. Es kommt auch zwischen diesen beiden zum Knall.

Alles zerbricht, Beziehungen und Traditionen genauso wie die Kultur von gestern, der Literaturbetrieb, die Literatur selbst. Glattauer spielt gekonnt mit seinen Figuren, heizt mit Emotion und Gegensätzen. So alt das Motiv des alternden Schriftstellers, der sich der Gegenwart und Zukunft entgegenzustellen versucht, so erfrischend das Leiden derer, die in dieser Komödie vorgeführt werden.
Ein Theater lesen? Ja, unbedingt. Glattauer inszeniert perfektes Schauspiel im Kopf. Ein gelungener Theaterabend im Ohrensessel vor dem Kamin mit einem Glas Wein. Gar nicht so anders wie die Stimmung im Kur- und Kulturhotel Reichenshoffer.

Daniel Glattauer, geboren 1960 in Wien, Autor und ehemals Journalist. Mit seinen beiden Romanen, «Gut gegen Nordwind» (2006) und «Alle sieben Wellen» (2009), gelangen ihm zwei Bestseller, die in zahlreiche Sprachen übersetzt und auch als Hörspiel, Theaterstück und Hörbuch zum Erfolg wurden. Im Deuticke Verlag sind auch die Romane «Ewig Dein» (2012) und «Geschenkt» (2014) sowie die Komödien «Die Wunderübung» (2014) und «Vier Stern Stunden» (2018) erschienen.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Klaus Merz «firma», Haymon

Klaus Merz las in St. Gallen zusammen mit dem Musiker Rudolf Lutz als Vorpremière aus seinem neuen Buch «firma». Eine Performance im Gewölbekeller der Buchhandlung zur Rose in St. Gallen, bei der sich Dichter und Musiker schlussendlich umarmen, so wie schon den ganzen Abend lang.

Rauriser Notiz

Eine Sprache finden,
Worte, die nicht
über das Erzählte
hinweg flutschen,
sondern Reibung
erzeugen, Wärme,
Licht

Im Prosatext firma versammelt Klaus Merz Tagebucheinträge oder Protokollauszüge aus einem halben Jahrhundert, von 1968 bis 2018, von den Auswirkungen des Prager Frühlings bis zur Finanzkrise in der Gegenwart, von der Firmengründung an einem Sommerabend auf Badetüchern bis zur kollektiven Kündigung 50 Jahre später am Weihnachtsabend nach dem allerletzten Ausverkauf. Es sind Textfenster, zwischen denen Monate und Jahre liegen, Miniaturen, Beobachtungen und Kleinsterzählungen, die die Perspektive in die Zeit öffnen.

Ganz nebensächlich wirkt Weltgeschichte ins Kleinräumige hinein, der Fall der Berliner Mauer, das neue Deutschland, der Krieg im Irak, die Wahl des US-Präsidenten. Das kann erfrischend nah und erfrischend schräg ausfallen, wenn der Revisor vor seiner Arbeit fragt, «ob es recht sei, wenn er zum heutigen Allerseelentag zuerst ein paar Seiten aus Ein anderes Leben von Per Olov Enquist vorlese». Oder erfrischend knapp und erfrischend kantig, wenn sich Merz im Text mit seiner Kritik an der Welt nicht zurückhält.

«firma» lässt sich mit ‹beglaubigen›, ‹unterschreiben›, ‹Signatur setzen› übersetzen. Und Klaus Merz tut genau dies, er setzt dem Weltgeschehen seine Signatur hinzu. «Wir führen / nur sporadisch Buch. / Es geht um die Denk- / würdigkeiten.» steht im Vorspann.

Die Verwandlung

Fotografien heben
die Wirklichkeit auf.

Wir lagern sie aus
In die Wolke. Und

unsere Allerwelts-
verbundenheit hält

uns gefangen. Auf
engstem Raum.

Der zweite Teil des Buches unter dem Titel „Über den Zaun hinaus“ tun genau das, was der Titel meint; sie schärfen den eigenen Blick, den Blick nach Innen.

Klaus Merz Gedichte sind derart unangestrengt schlicht, dass sie einem mit offenen Armen empfangen. Er muss nichts mehr beweisen, weiss sich seiner Leserschaft sicher. Einmal vom Merzvirus befallen, auf ewigem verfallen. Ob feine Beobachtungen im Alltag, Einsichten eines langsam Schreitenden, ob bissig, feinsinnig, witzig oder mit hellen Farben malend, Klaus Merz ist stiller Könner, der sich nie verliert. Man möchte seine Gedichte langsam abschreiben, sie verinnerlichen, oder so wie der Freund, der mir einmal verriet, dass er die abgeschrieben Gedichte von Klaus Merz auf kleinen Zettel auf den Spiegel im Badezimmer klebt, um sie beim Rasieren und Zähneputzen auswendig zu lernen.
So klar alle Texte scheinen und sie alle so tun, als waren sie Teile eines Ganzen, ist jeder Text für sich Sprachblitzlicht, das all das für einen kurzen Moment ins Zentrum stellt, was sonst vergessen ginge, was man übersehen würde. Die Texte wirken weiter, hallen nach.

Kleiner Reiseführer

1
das Auge, unser
individuelles Salz-
kammergut.

2
Vielleicht sind
die Unentwegten
die eigentlich
Entwegten.

3
Wohin nur
führen die Blut-
bahnen uns?

4
Eden. Gerste. Elfmeter
schreibt die Zugsnachbarin.
Und hat ihr Rätsel gelöst.

5
Auf welcher Seite
des fahrenden Zuges
liegt eigentlich die bessere
Hälfte der Welt?

Die Vorpremière in St. Gallen war dem Musiker Ruedi Lutz zu verdanken, die Tatsache, dass Klaus Merz vor der Premiere im Literaturhaus Zürich die St. Galler beschenkt. Lutz und Merz ist keine zufällige Begegnung, sondern langjährige Freundschaft zwischen Musik und Literatur. Ruedi Lutz uns Klaus Merz übergeben einander das Wort, die Musik, die Melodie, den Klang. So wie Klaus Merz› Prosa und Lyrik weit mehr als Häppchen, literarisches Kurzfutter sind, spielt Ruedi Lutz filigran, zauberhaft, einen ganzen Saal mitreissend.
Musik und Literatur verschränken sich, so wie Lyrik und Prosa in Klaus Merz Schaffen, so wie Freude am Schluss eines Abends.

Wie fast immer ist «firma» illustriert mit Pinselzeichnungen des Künstlers Heinz Egger.

Ich danke dem Haymon Verlag für die Erlaubnis, zwei Gedichte aus dem Band «firma» in die Rezension einfügen zu dürfen.

Foto © David Zehnder

Klaus Merz, geboren 1945 in Aarau, lebt in Unterkulm/Schweiz. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Hermann-Hesse-Literaturpreis 1997, Gottfried-Keller-Preis 2004, Aargauer Kulturpreis 2005, Werkpreis der schweizerischen Schillerstiftung 2005 sowie zuletzt Rainer-Malkowski-Preis (2016), Basler Lyrikpreis und Friedrich-Hölderlin-Preis (beide 2012).
2016 erschien «Helios Transport. Gedichte» und 2017 zusammen mit Nora Gomringer, Marco Gosse, Annette Hagemann und Ulrich Koch «Flüsterndes Licht. Ein Kettengedicht». Seit Herbst 2011 erscheint bei Haymon die Werkausgabe Klaus Merz in mehreren Bänden.

Webseite des Musikers Ruedi Lutz

Rezension von «Helios Transport» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau