Wiedergefunden: C. S. Mahrendorff «Und sie rührten an den Schlaf der Welt»

Das Buch, ein Wert, der bleibt. Denkste! An Buchmessen und Literatursendungen werden nur Bücher vorgestellt, die noch warm von der Druckerei sind. Ich griff für Sie nun ein Exemplar aus meinem Regal heraus, das Sie entdecken sollten.

Ungewöhnliche Spannung und überzeugendes Zeitkolorit, eine Fülle von historischen Personen, eine Liebesgeschichte und eine hochbrisante Kriminalaffäre – all das vereinigt der deutsche Autor C.S. Mahrendorff in diesem Roman.

Er ist das vielschichtige Epos des Fin de Siècle, das Europa in seinen letzten Walzertaumel versetzt. Literatur, bildende Kunst und Musik erleben neue Höhepunkte, Psychoanalyse, Traumdeutung und okkulte Strömungen bewegen die Gemüter. Sigmund Freud etabliert sich in Wien, Gustav Mahler feiert in Hamburg Triumphe. Gleichzeitig beginnt die k.u.k. Monarchie zu zerfallen, und die ersten antisemitischen Ausschreitungen werfen einen dunklen Schatten auf die Kaffeehausidylle der Donaumetropole.
In dieser Zeit des Umbruchs begegnet der Wiener Internist und Nervenarzt Dr. Leonhard Heydinger anlässlich eines Urlaubs auf der Insel Elba einem mysteriösen Engländer, der in Begleitung einer schillernden jungen Frau ist.

Heydinger, der in den Literatenkreisen »Jung-Wiens« verkehrt und im Salon der aufstrebenden Sopranistin Lena von Rother und ihres Vaters ein- und ausgeht, gerät zusehends in den Bann des Fremden, den er in Wien wiedertrifft. Als der Mann eines Tages plötzlich in seiner Sprechstunde erscheint, entpuppt er sich als kokainsüchtiger Amateurdetektiv, den neben einer unglücklichen Liebe vor allem eines an Wien bindet: die finsteren Machenschaften der Geheimgesellschaft »Die Schwarze Hand«.
Deren Erpressungen, die vornehmlich jüdischen Musikern gelten, ziehen in der Donaumetropole ihre unheilvollen Kreise. Als sie sich auch auf Deutschland auszuweiten beginnen und sogar Gustav Mahler, den Ersten Kapellmeister des Hamburger Stadttheaters, bedrohen, kommt man den Drahtziehern des Verbrechens allmählich auf die Spur…

Dieser furiose, sprachlich herausragende Roman ist ein faszinierendes gesellschaftskritisches Panorama der Jahrhundertwende im Gewande eines großen Spannungs- und Kriminalromans. Darüber hinaus zeigt der Autor Persönlichkeit und Wirken Gustav Mahlers in neuem Licht und entwirft ein packendes Porträt jener Legende des Viktorianismus, die den modernen Detektivmythos begründet hat. Vor allem aber erfährt der Lesende in kaum einem anderen Werk der heutigen Belletristik derart viel über die Voraussetzungen für den Lauf der Geschichte in unserem Jahrhundert. Er kann sich dem Sog der Erzählung nicht entziehen und ahnt gleichzeitig, wie es zu jener Entwicklung kommen konnte, die Europa schließlich in den Abgrund stürzte…

Gastbeitrag von Urs Heinz Aerni

Das Buch: «Und sie rührten an den Schlaf der Welt» Roman von C. S. Mahrendorff, Langen Müller, 1999, dann Neuauflagen bei S. Fischer.

C. S. Mahrendorff (1963–2004) studierte Geschichte, Musikwissenschaft und Jura, bevor er als Diplom-Finanzwirt in den hessischen Staatsdienst eintrat. Später lebte er als freier Schriftsteller in Frankfurt am Main.

Astrid Rosenfeld «Kinder des Zufalls», Kampa

Man könnte meinen, die Schriftstellerin von „Kinder des Zufalls“ wäre eine US-Amerikanerin. Nicht wegen der Fotos, die auf Buch, Verlagsvorschau und Netz gezeigt werden, fast immer mit Hut und amerikanischer Landschaft im Hintergrund, sondern wegen der Art ihres Erzählens, als hätte sie sie in ihrem Leben dort eingesogen. Nicht wegen der Schauplätze im neuen Roman, sondern weil ich während des Lesens den Staub der Hihgways in der Nase, selbst auf der Zunge spüre.

Alle Protagonisten in „Kinder des Zufalls“ sind unterwegs und kommen nie an. Maxwell und seine aus Deutschland kommende Mutter, Elisabeth und selbst ihre in Deutschland gebliebene Mutter Annegret. Sie sind getrieben, auf der Suche nach äusserm und inneren Zuhause.

Nach dem zweiten Weltkrieg verstummen die Väter, die späteren Grossväter. Die einen sind auf den Schlachtfeldern verendet, die anderen vegetieren als traumatisierte und geschundene Existenzen, als Rückkehrer und doch Gezeichnete in einem Deutschland, das sie wie den Krieg mehrfach verloren haben. Maxwells Vater starb im Vietnamkrieg, ohne zu wissen, dass er Vater geworden war. Und Elisabeths „Vater“ dämmert bis zu seinem Tod in einem speckigen Ohrensessel.

Maxwells Mutter sucht ihr Glück als Tänzerin, bis das Knie ihre Karriere als Ballerina beendet und sie sich mit Auto und Kind auf die Suche nach dem verlorenen Glück macht. Eine getriebene Existenz auf der ewigen Suche, zusammen mit Maxwell, ihrem Sohn, die niemals Sicherheit oder ein Zuhause erfährt.

Maxwell und Elisabeth begegnen sich, zwei durch Unruhen und permanenten Seitenwind aus der Spur geratene. Irgendwo im texanischen Nirgendwo, einem Ort, der aus nichts Geschichte macht, kreuzen sich Maxwells und Elisabeths Lebensgeschichten, begegnen sich nur kurz, um lange Zeit nebeneinander zu bleiben.

Astrid Rosenfeld spürt zwei verlorenen Existenzen nach. Maxwell und Elisabeth werden nie jene, die sie hätten sein können, sehnen sich ein Leben lang nach Erfüllung, einer Heimat, sei es auch nur in einem einzigen Menschen, und Liebe. Astrid Rosenfeld ent-wickelt, fabuliert, verstrickt neu, verwebt, gibt ihrem nur 270seitigen Roman grosse Dimension und Intensität und jenen „amerikanischen Drive“, der zu ihrem Auftreten passt. Da ist keine Geschwätzigkeit, sondern Reduktion auf einen klaren Strich und filigrane Zeichnung von Figuren und Situationen. Sie bleibt erfrischend offen, manchmal mit ihrem Erzählen gar in der Schwebe.

Ein Buch über die Suche nach Liebe, über die Flucht vor der Vergangenheit, all den Vergangenheiten, die nicht und niemals loslassen. Über Wahrheiten, die verloren gehen und Irrtümer, die sich an ein ganzes Leben haften. Träume beherrschen Leben. Sei es bei Menschen voller Träume oder bei jenen, denen Träume gänzlich abhanden gekommen sind.

«Kinder der Zufalls» Video des Verlags (auf Foto klicken)

Astrid Rosenfeld wurde 1977 in Köln geboren. Ihr Berufsziel war, nach der Schule Schauspielerin zu werden, daher ging sie nach dem Abitur nach Kalifornien, um erste Berufserfahrungen am Theater zu sammeln. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland begann sie eine Schauspielausbildung in Berlin, die sie aber nach anderthalb Jahren abbrach. Anschliessend war sie in verschiedenen Jobs in der Filmbranche tätig. Ihr Romandebüt «Adams Erbe» erschien im März 2011 die Diogenes. Astrid Rosenfeld lebt in Berlin.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Fee Katrin Kanzler «Sofortbild», Literatur Quickie

«Sich ein Sofortbild von seinem Gegenüber zu machen, scheint in dieser Graphic Novel nicht das Ende einer Beziehung zu sein, vielmehr wird es zum Überdauern, zur Wertschätzung des Anderen und des Eigenen, die Kamera als Schlüssel zu neuen Wegen und Blickwinkeln. Wenn ein Polaroid poetisch sein kann, dann hat es Fee Katrin Kanzler in „Sofortbild“ geschossen.»

„Pixi-Bücher für Erwachsene“ steht auf der Verlagshomepage des Literatur Quickie Verlag aus Hamburg. Seit Oktober 2009 sollen sie eine lesenswerte Alternative sein, «um die kleinen Wartezeiten im Leben zu überbrücken».

Prosa im Pocket-Format, Geschichten to Go, Krimis auf dem Kopfkissen, Worte zum Wein oder im Wartezimmer, das Buch zum Bier, in der Bahn oder im Bus, Kafka zum Kaffee, Klabund im Klassenzimmer, das neue Leseformat, Lesen mit Format.

Das Programm umfasst mittlerweile über 90 Titel mit spannenden Kurzgeschichten, von denen 90 Prozent erstmalig verlegt worden sind.

Fee Katrin Kanzler ist eine der ersten AutorInnen, die nun die Reihe Graphic Novels eröffnen.

Fee Katrin Kanzler, 1981 geboren, studierte Philosophie und Anglistik in Tübingen und Stockholm. Sie war Stipendiatin des Klagenfurter Literaturkurses, erhielt den Förderpreis für Literatur der Stadt Ulm und das Jahresstipendium für Literatur vom Land Baden-Württemberg. Sie lebt im Süden Deutschlands. Ihr Romandebüt „Die Schüchternheit der Pflaume“ (FVA 2012) wurde für den aspekte-Literaturpreis des ZDF nominiert. Im Herbst 2016 erschien ihr Roman »Sterben lernen«.

Rezension zu «Sterben lernen» auf literaturblatt.ch

Lika Nüssli „Vergiss dich nicht“ Graphic Novel, Vexer

Ein deutlicheres Statement für die Graphic Novel, für das bei einem Kunstbuchverlag erschienene Buch, für die Arbeit von Lika Nüssli hätte es nicht geben können. Als offizieller Schlusspunkt des 10. Wortlaut Literaturfestivals wurde in den Räumen des Kunstmuseums St. Gallen die Buchtaufe von „Vergiss dich nicht“, dem ersten Graphic Novel der Künstlerin gefeiert.

Der Vorführraum im Kunstmuseum St. Gallen war übervoll. Während einzelne Bildseiten des neuen Buches an die Wand projieziert wurden, unterhielten sich die Künstlerin Lika Nüssli und die Kuratorin des Cartoonmuseums in Basel Anette Gehrig über die Motivationen, den Entstehungsprozess, die Absichten und die Freuden der Buchentstehung. Davon, dass der Comic, die Graphic Novel für viele noch immer eine Nischensparte ist, war der Andrang der Kulturinteressierten im Untergeschoss des Museums an diesem Sonntag trotz wärmender Frühlingssonne nichts zu spüren.

Schon früh schien „Vergiss dich nicht“ unter einem guten Stern zu stehen und gewann 2016 als Projektidee das grosse Comicstipendium der Deutschweizer Städte; Bern, Luzern, St. Gallen, Winterthur und Zürich. Die Grenzgängerin Lika Nüssli, die von Bildender Kunst, Performance, Bilderbüchern für Kinder und einem grossen gesellschaftspolitischen Engagement vieles beackert, besuchte während einer langen Zeit die dement gewordene Mutter in einem Heim.

Besuche, die anfangs lange nur aus gegenseitigem Schweigen bestanden, wurden in jenem Moment, als Stift und Papier zum Raum der Begegnungen wurden zu ganz anderen Besuchen. Mit dem Zeichnen und Skizzieren wurden Mutter und Tochter zu einem Teil eines in sich geschlossenen Kosmos. Lika Nüssli begann zeichnend zu sammeln, begleitet von ihrer Mutter. So wie die Begegnungen mit der Mutter an Greifbarkeit verloren, gewann diese durch Erinnerungen, vermengt mit der gefühlten Absurdität und Surrealität einer Demenzstation.

Eindrücklich an Lika Nüsslis Auseinandersetzen mit dem langsamen Verschwinden ihrer Mutter ist die zärtliche Liebe und der Respekt, der aus dem Geschehen im Buch, den gezeichneten Welten spricht. Da ist nichts von Anklage, keine Bitterkeit, höchstens ein Anflug von Trauer. Lika Nüssli schafft eine Welt in ihrer ganz eigenen Zeichensprache, beschreibt eine Parallelwelt, Menschen, die ihre einstigen Umlaufbahnen verloren haben, entwurzelte Individuen, die wie Topfpflanzen ohne Zuwendung, Pflege und Hilfe zugrunde gehen.

Intime Szenen einer Begegnung, Geschichten von verlorener Heimat, Verdingkindern, Verlust und der Macht der Erinnerung an einem Ort der Auflösung, in einem Haus, in dem nicht nur auf Seiten der Insassen Welten, Nationen und Geschichten aneinanderstossen.

Eine Liebeserklärung an ihre Mutter, die mit jenem Satz endet, den Likas Mutter als letzten ganz über die Lippen brachte: „I nähm nomol eis, wenn‘s nomol eis gäb.“

Lika Nüssli, 1973 in Gossau SG geboren, im Restaurant Schäfli aufge­wachsen. Nach dem Vorkurs in Romanshorn, einem England­auf­enthalt und einer Ausbildung zur Textil­de­si­gnerin in Herisau studierte sie Illus­tration an der Hochschule für Design + Kunst in Luzern. Seit 2003 arbeitet sie als freischaffende Künstlerin in St.Gallen. Lika Nüssli unterrichtet im Propä­deutikum der Schule für Gestal­tung und an der Talent­schule in St.Gallen Illus­tra­tion und Zeichnen. Seit 2014 organisiert sie die Comic-Lesungen im Rahmen von WORTLAUT an den St.Galler Litera­turtagen. Im Kunstraum NEXTEX kuratiert sie eine Comicaus­stellung und eine Performans-Reihe.

Webseite Lika Nüssli

Webseite Vexer Verlag

Dana Grigorcea „Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen“, Dörlemann

Eine Novelle über den Beginn einer Liebe. Die transformierte Geschichte Anton Tschechows „Die Dame mit dem Hündchen“, die er 1899 schrieb, in die Gegenwart, nach Zürich versetzt. Eine zufällige Begegnung, die offenlässt, ob es ein grosser Beginn oder schon das leise Ende ist.

Ein warmer Frühlingstag am See. Hungrig nach Sonne und Wärme sitzen die Menschen in Cafés und spazieren an der Seepromenade. An einem der Tische treffen sich Anna, die Ballerina, mit ihrem Hündchen und Gürkan, der Gärtner. Sie verheiratet mit einem Arzt, er, ein Kurde, vor vielen Jahren mit seiner Familie aus der Türkei in die Schweiz gezogen. Sie beide in einer Atempause. Entgegen ihren Gewohnheiten wird aus der Zufälligkeit ein gemeinsamer Spaziergang, bei dem Anna nicht nur zuhört. Gürkan fasziniert; sein Gesicht, seine Stimme und die scheue Art, die ihn von den sonstigen Avancen anderer Männer abhebt. Anna fühlt sich hingezogen, nicht nur weil er jünger als sie zu sein scheint. Sie treffen sich wieder, immer wieder, fast jeden Tag. Gürkan entschuldigt sich für seine Küsse. Während er sich immer tiefer in den Zwist mit seinem Gewissen manövriert, treibt es Anna immer offensichtlicher hin, ihre Leidenschaft für diesen Mann in die Öffentlichkeit zu tragen. Während es Gürkan zu zerreissen droht, provoziert sie immer offensiver das Schicksal. Etwas, was auch ihr Mann spürt und die Umgebung an Ihrem Arbeitsplatz. So sehr, dass sie unverhofft zu einem vielleicht letzten Engagement als Primaballerina kommt. Noch einmal eine Hauptrolle. Gürkan droht in seinem inneren Zwist zu versinken, während der Stern Annas noch einmal alles überstrahlen soll.

Und trotzdem; Anna fragt sich „War sie denn wirklich verliebt?“ Ein Mann nur Mittel zum Zweck? Ein Spiel? Irgendwann taucht Anna am Wohnort Gürkans auf, in einer Gegend mit Wohnblöcken. Einmal provoziert sie ein Treffen mit ihm und seiner Frau auf einem Flohmarkt in seinem Wohnort. Ein Treffen, das ihr zu gefallen scheint, während es ihn in Panik versetzt.

“Die Dame mit dem Hündchen“ von Anton Tschechow ins Jetzt versetzt. Die Gewichte sind vertauscht und doch bleibt in der Novelle von Dana Grigorcea viel vom Liebreiz Tschechows Novelle. Eine Lektüre für einen Abend. Als hätte ein Musiker ein Stück neu arrangiert. Die Liebe zweier Menschen, die zur Lüge zwingt.

Herausgegeben vom Dörlemann Verlag in Zürich, einem Verlag, der sich in ganz besonderer Weise um das gute und schöne Buch bemüht. Ein Verlag, der der Novelle „Die Dame mir dem maghrebinischen Hündchen“ mit viel Mut schon jetzt das Kleid eines „kleinen“ Klassikers gibt. Mit Sicherheit ein Geschenk an die Stadt Zürich. Ein Buch wie ein Spaziergang im Frühling am See.

Dana Grigorcea liest im Rahmen der von Christian Berger und mir organisierten Lesereihe mit jungen Schweizer Autorinnen am Samstag, den 3. November 2018, 20 Uhr, im Theater 111, in St. Gallen. Für weitere Informationen klicken Sie hier.

Dana Grigorcea, geboren 1979 in Bukarest, studierte Deutsche und Niederländische Philologie in Bukarest und Brüssel. Mit einem Auszug aus dem Roman „Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit“ wurde Dana Grigorcea in Klagenfurt beim Ingeborg Bachmann-­Wettbewerb 2015 mit dem 3sat-­Preis ausgezeichnet. Ihr Erstling „Baba Rada. Das Leben ist vergänglich wie die Kopfhaare“ ist im Oktober 2015 ebenfalls im Dörlemann Verlag erschienen. Nach Jahren in Deutschland und Österreich lebt sie mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Perikles Monioudis, und Kindern in Zürich.