Silvia Tschui «Vögel, frittiert»

Bei 36 Grad fallen einem Vögel tot vor die Füsse. Wenn einem wieder mal ein Vogel vom Himmel tot vor die Füsse fallen würde, denkt man, das wäre schön. Das wäre schön, denkt man, während man neben dem Grab eines Schriftstellers sitzt und auf die Hitze wartet, weil man dann am Anfang der ganzen Misère stünde. Und man wüsste noch nicht, was kommen wird, und man würde denken, oh, seltsam und irgendwie apokalyptisch, ein Vogel fällt tot vom blauen Himmel vor meine Füsse, und es würde einen nur ein leichtes Grauen befallen, statt dass es sich einem längst in jeden Knochen und jede Zelle gebohrt hätte. Und man würde nicht da sitzen und auf die letzte Hitze warten. Bei 27 Grad beginnt man schon leicht zu schwitzen. Und man hätte in diesem Moment vielleicht noch etwas tun können, wirklich etwas tun.

Und ausserdem hätte man etwas Frisches zu essen, so wie die Libanesen und Italiener in ihren Wäldern die da jeweils sassen, auf so Hockern, mit ihren Luftgewehren und auf alles schossen, was sich bewegte, also in der Luft, klitzekleine Singvögelchen, die sie dann frittierten. Wenn man etwas frittiert, binden sich die Proteine, und mit Haut und Haar, nein mit Schnabel und Feder frassen sie sie auf, zuhauf, und man hat sich damals, als man noch reiste, gefragt, weshalb die das tun, weshalb die so stolz ihre Gewehre schwangen, weshalb die das tun, so zum stupiden Sport, und man hat sie verachtet. Wenn doch die Supermärkte voll sind, mit Fleisch und Tomaten und Gurken und Wassermelonen.

Auch Jahre später, als einem ein Vögelchen nach tagelanger Hitze tot vor die Füsse fällt, sind die Supermärkte voll mit Tomaten und Gurken und Wassermelonen unter Neonlicht, und es packt einen eine Ahnung dieses Grauens, draussen dörren Felder unter blauem Himmel vor sich hin, wochenlang schon, und Bauern erschiessen sich und der hartbackende Boden zeigt Risse wie man sie früher auf Hungerbildern in Äthiopien auf diesen Hilfekatalogen gesehen hat, die zu Weihnachten in Unmengen unsere Briefkästen fluteten, erst hochglanz, später politisch korrekter auf mattem Papier, draussen hat es geschneit und jetzt gibt es keine mehr.

Keine Post, bestimmt keine Äthiopier, wahrscheinlich kaum mehr Italiener und Libanesen, keinen blauen Himmel, keine kleinen Singvögelchen, die sangen vorher schon kaum mehr, frittiert haben sie sie, trotz Tomaten, Wassermelonen und Gurken in Supermärkten und ich habe mich gefragt warum nur, und sie verachtet, und später im Supermarkt ein Huhn gekauft, mit Zitronen, die es nicht mehr gibt und Tomaten, die es nicht mehr gibt, und Oliven, die es auch nicht mehr gibt, in einem Ofen gebacken, und später war man froh, wenn die Temperatur Abends unter dreissig Grad gefallen ist, und hat darauf mit Weisswein auf einer Terrasse unter blauem Himmel angestossen, und auf das Huhn, und war guter Dinge und hat Musik gehört und Geschichten erzählt und in die blauen Augen von einem Mann geschaut, hinter ihm der See, so dass man dachte, man schaue durch diese Augen dieses Mannes direkt in die grosse Abendbläue, und das war schön.

Als es die Farbe Blau noch gab, blau, ein Wort, das die Jüngeren nicht mehr kennen, genausowenig wie grün, als die Sonnenuntergänge zuerst so richtig kitschig schockpinkorange rot wurden und man das noch schön fand, bevor sich auch tagsüber zunehmend eine Art bräunlicher Schleier über den zunehmend nicht mehr so blauen Himmel legte, das Methan, sagten die Zeitungen, und einige Zeit lang gab es dann diese Vollspektralglühbirnen, dass man den Kindern immerhin in Bilderbüchern zeigen konnte, wie das Meer und der Wald einst ausgesehen hatten und man hat ihnen vorgeschwärmt, wieviele Abstufungen von Blau und Grün es gegeben habe, Türkis und Moosgrün und Petrolgrün und Flaschengrün und Apfelgrün und Ceruleumblau und Ultramarin wie nur schon der See, an dem man wohnt, jeden Tag eine andere Farbe gehabt habe und wie schön das ausgesehen hat im Frühling mit dem blauen See unter dem blauen Himmel hinter dem unglaublich frischen Grün dieser Bäume, deren Namen man vergessen hat, diese Bäume, die einst das ganze Mittelland bedeckten, und dass der See eigentlich blau war, und nicht braun, dass der Himmel blau war und die Sonne gelb, dass Wolken weiss waren, und jetzt kennen die Kinder unserer Kinder die Wörter «blau» und «grün» nicht mehr, weil es auch diese Vollspektrallampen längst schon nicht mehr gibt, schon bevor es auch keine Elektrizität mehr gab, und wir haben aufgehört zu erzählen, von Meer und blauem Himmel und Vögeln die flogen, als wären sie schwerelos, weil die Wörter den Jüngsten nichts mehr bedeuten, sie können sie nicht fassen, und uns schmerzen sie zu sehr, und man lacht, wenn auch bitter, man lacht sowieso oft nur noch bitter, wenn man daran denkt, wie man sich
über Konnotationen und Denotationen von Wörtern gestritten hat in Seminaren und wofür das Wort blau alles stand, und wie ist etwa der grösste Teil deutscher Dichtung noch verständlich wenn es etwa keine blauen Blumen mehr gibt?

Wie sie etwa der Schriftsteller beschrieben hat, neben dessen Grab man jetzt sitzt, ohne Gewehr, man braucht es nicht mehr, und auf die letzte Hitze wartet, sonst wären sie nie gegangen, die Kinder, die keine mehr sind, und deren Kinder, die die Wörter «grün» und «blau» nicht mehr kennen, und für die die Konserven nun vielleicht reichen bis in den Norden, wo es noch regnen soll, sagt man sich, und den man vielleicht erreicht, wenn man nur nachts wandert und tagsüber einen Unterschlupf findet, denn ab siebenunddreissig Grad verlangsamt sich der Herzschlag und man kann nicht für längere Zeit wandern, ohne sich der Gefahr eines Hitzschlags auszusetzen.

Man wartet auf die Hitze unter einem beigen Himmel, neben dem Grab des Schriftstellers, der die blaue Blume beschreiben hat, sie stand für Sehnsucht, und man hatte nie eine Chance, wir hätten nichts tun können, in einem System, das auf Fressen ausgelegt ist, mit endlichen Grundstoffen, auf kleinster biologischer Ebene schon, jeder Mikroorganismus, der einen anderen frisst, hat einen Vorteil, und dann entwickeln sich Belohnungswechselwirkungen in Hirnen, die einem Glückshormone verschaffen, wenn man ein Vögelchen vom Himmel schiesst, oder die Zähne in einen Hühnerschenkel rammt, und man hat noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen dabei, bei 39 Grad erweitern sich die Blutgefässe, man hatte keine Chance, weil man sich wahlweise gute oder rachevolle Überväter ausdenkt, die einem vom blauen Himmel herunter lächelnd zunicken und sagen, jaja, macht Euch die Erde untertan, denn inmitten aller kreisenden, glühenden oder längst toten Sterne und Nebel und Planeten ist es wichtig, dass Du, genau Du unter einem blauen Himmel deine Zähne in einen Hühnerschenkel rammst, und bei vierzig Grad beginnen bald Halluzinationen. Und man denkt nicht, wenn sich einer so eine Scheisse ausgedacht hätte, so ein krasser systemimmanenter Fehler, gehörte der gefoltert, bis ans Ende der Zeit gefoltert, weil die Wahrheit ist: Man hätte nichts tun können, nichts, man hatte nie eine Chance, mit Belohnungssystemen im Hirn, die und auf die Schulter klopfen wenn wir Vögelchen vom Himmel schiessen, und satt werden wir doch nie, ab einundvierzig Grad beginnen die Eiweisse in unseren Körpern sich zu binden, und da steht der Mann, seine Augen sind blau, ich sehe durch seine Augen direkt in die grosse Abendbläue, Ceruleum und Ultramarin und Türkis, und das ist schön, und die Kinder werden in der Nacht losgehen, nach Norden, der Schriftsteller steht daneben und sie nicken mir zu und niemand hätte rein gar nichts tun können und die Felder sind grün, moosgrün, apfelgrün, flaschengrün, ich bin ein Vogel, ich bin ein Vogel und ich fliege und ich singe und das ist schön.

(Originaltext erstmals erschienen 2022 in «20/21 Synchron» von Charles Linsmayer. Ein Lesebuch zur Literatur der mehrsprachigen Schweiz von 1920 bis 2020. Reprinted by Huber Bd. 40)

Silvia Tschui wird im August zusammen mit dem Musiker Philipp Schaufelberger (Gitarre) Gast beim Sommerfest des Literaturhauses Thurgau sein!

Silvia Tschui wurde 1974 in Zürich geboren. Sie studierte ein paar Semester Germanistik, absolvierte die Fachklasse Visuelle Gestaltung an der ZHdK und erwarb 2000 das Lehrdiplom Oberstufe. 2003 machte sie ihren Bachelor in Grafikdesign und Animation an Central St. Martins College in London und arbeitete vier Jahre als Animationsfilm-Regisseurin bei RSA Films in London. 2004 wurde ihre Arbeit für den British Animation Award nominiert. Zurück in der Schweiz arbeitete sie als Grafikerin, Journalistin und Redaktorin und schloss 2011 ihr Studium am Institut für literarisches Schreiben mit dem Bachelor ab. Zurzeit arbeitet sie als Redaktorin in Zürich bei Ringier.
Ihr erster Roman «Jakobs Ross» wurde mit dem Anerkennungspreis des Kantons Zürich ausgezeichnet und von Peter Kastenmüller fürs Theater Neumarkt adaptiert. Eine Verfilmung des Stoffs ist bei der Produktionsfirma Turnus Films in Arbeit. Ihr zweiter Roman «Der Wod» wurde von der Stadt Zürich 2017 mit einem halben Werkjahr gefördert. 2019 war sie damit für den Ingeborg Bachmann Preis nominiert (Videoportrait).

Beitragsbild © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Theres Roth-Hunkeler «Luftwurzeln», Plattform Gegenzauber

Die Zeit verdunstet. In den Parks sprechen Alte mit winterharten Vögeln und üben bereits die Litanei der Namen für den nahenden Frühling. Viele Freunde sind verschwunden in den letzten zwei Jahren. Himmelwärts, vermutlich, aber ohne Sang und ohne Klang. Die Begabten unter den Zurückgebliebenen, schüchterner denn je, skizzieren ein neues Heimweh und kaufen Postkarten: Meer und Himmel, abstrahiert in Strichen. Oder eine Carte Blanche, von ihnen dann beidseitig beschrieben: Lebst du noch? 
Die, die noch können, stolpern ungelenk über den Friedhof. Auf den Gräbern gutmütige Blumen wie Druckfehler im Gras. Viel Wind wühlt in fast tauben Ohren, fährt unter die Kleider der Schmächtigen und beinahe fällt sie der Föhn. Die Jahre mussten wir an der Grenze lassen, sagen die Toten.

In der Altersresidenz tobt das Heimspiel. Leib gegen Leben. Die Partie endet unentschieden. Es sind ja bloss Wörter, beschwichtigt Eine ihr einsilbiges Herz. Dieweil ihre Zimmernachbarin täglich Eigenschaften abgibt, eine nach der andern. Eine der Fröhlichen der zweiten Etage streicht unentwegt Teppichfransen glatt und stellt ein paar verpixelte Fotos nach. Flausen im Kopf, ausschliesslich. Ich muss hier schliessen, schreibt Einer im Einzelzimmer. Seinem Sohn. Schicke liebe Grüsse an dich und deinen Anhang. Dann ertränkt er seine Orchideen auf dem Fensterbrett, pünktlich wie jeden Tag. Um fünfzehn Uhr kommt die Pflegerin. Sie bringt Tee. Einen Lappen hat sie stets dabei. Für alle Fälle. Das sei doch keine Zuversicht, diese täglichen Überschwemmungen, stellt sie fest. Der Alte nickt. Stimmt, sagt er, und wir wissen wenig über Pflanzen. Stimmt auch, sagt die Pflegerin, vermutlich sind sie in einem der weichsten Momente entstanden.

Eine Glückliche lebt noch daheim. Ist bei sich. Dein Reich komme. Morgens, mittags und abends. Die Spitex. Die Augen wollen nicht mehr recht. Die Beine geben nur noch Kurzstreckentickets aus. Der Rest sei eine Sache des Willens. Und der Vorfreude auf den Frühling. Auf die Gartenarbeiten. Auf die Luft. Sie ist bald hundert Jahre alt. Sie macht täglich ein paar Übungen. Knie hochziehen, auf Zehenspitzen gehen, auf einem Bein stehen und dabei kurz die Augen schliessen. Nicht stolpern. Nicht fallen. Das sei im Alter das Wichtigste, sagt sie. Standfest sein. Im Gleichgewicht bleiben. Haltung bewahren. Ab und zu strauchle sie über die eigenen Regeln. Ich habe genascht. Der Herrgott werde ihr die lässliche Sünde nachsehen. Und, sie sei ready, im Fall. Jederzeit abholbereit. Dein Reich komme. Wobei, die Tulpen und die Narzissen in ihrem Garten würde sie doch gerne noch einmal sehen. Wenn sie es recht bedenke, seien Blumen schon immer ihre grösste Freude gewesen. Die Anemonen, die Osterglocken, der Sommerflor erst, die wilden Rosen, Astern und Dahlien im Herbst, und Erika und Christrosen schliesslich zu Allerheiligen auf dem Friedhof. Wo sie lieber nicht hin wolle. Sie wünsche, dass sich ihr letztes Bett im Garten befinde. Sorgst du dafür?

Und dann noch die uneinigen Paare. Einer von beiden ist aus dem Leim gegangen. Hat sich einen schlurfenden Gang angewöhnt. Kommt nicht mehr aus Morgenmantel und Pantoffeln raus, nicht mehr hoch aus dem Lehnstuhl. Zeitung und TV. Zwei, drei Gläser Rotwein, Weissbrot, Käse und Trockenfleisch. Dem andern ist das zu zäh. Nun beissen sie sich aneinander die Zähne aus. Getreulich.

Theres Roth-Hunkeler, geboren 1953 in Hochdorf Luzern, lebt heute in Baar bei Zug und oft in Berlin. Schreiben, Lesen und Literaturvermittlung sind ihre Schwerpunkte, die auch ihre langjährige Lehrtätigkeit an Kunsthochschulen prägten. Die Autorin hat neben Erzählungen und journalistischen Texten fünf Romane publiziert, zuletzt «Allein oder mit andern» (2019) und das Text-Bild-Werk «Lange Jahre» (2020) mit Bildern der Malerin Annelis Gerber-Halter.
Zu «Geisterfahrten» (2021): «Die Autorin versteht es meisterhaft, uns sowohl das unmittelbare Geschehen der Gegenwart vor Augen zu führen wie dieses mit vergangenen und nachwirkenden Hintergründen so zu verbinden, dass die verschiedenen Zeitebenen fliessend ineinander übergehen. So gelingt ihr ein psychologischer Familienroman, der auf kunstvolle Weise die faktische Realität der Vergangenheit mit dem Realismus einer fiktiven Gegenwart verbindet.» Daniel Rothenbühler

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Ayse Yavas

Barbara Marie Hofmann «Gedichte», Plattform Gegenzauber

es winkt mir es zerstreut sich
es ist ein fremdes [ein weißes ein lichtes]
das sich von oben her in meine augen schiebt wimpern teilt
weiche wimpern zärtliche wimpern astig verästelnd
schiebt es sich teilt es schaut es mich an schau ich es an
hörige anschauung mit fremdaugen blauaugen astaugen
gehört mir sein blick
auch wenn es fremd ist gehört mir sein blick
sein ungetüm von blick
ein lichtes ungetüm das mir winkt und sich duckt
und springt nah und liegt
schon am hals am kinn
reicht mir bis zu den augen den wimpern
weichen wimpen zärtlichen wimpern
fremdlich schaut es zurück es winkt und blickt
zerstreut sich

 

 

Stelle neben jeden Stuhl einen zweiten,
neben jeden Becher einen dazu,
habe zwei gläserne Karaffen im Haus,
eine für Wasser, eine für Tränen,
giesse Sand in eine zweifache tönerne Schale.
Betrachte den Mond zweifach (zwei Monde) durch ein Fenster,
lege dich in dein Bett mit zwei Laken, zwei Kissen,
lasse neben dir eine Kuhle, schlafe, träume zwei Träume.
Wache.
Am nächsten Tag, gehe aus dem Haus,
trage zwei Mäntel, einen am Körper, einen am Arm,
kaufe zwei Hüte, zwei Zeitschriften,
setze dich in ein Café an der Ecke einer Straße,
lege Hüte und Zeitschriften (alles) ab,
lies die Nachrichten des Tages.

Warte.

Stehe auf und lasse den Hut zurück, die Zeitschrift,
hänge einen Mantel an die Bushaltestelle,
gehe die Straße (alleine) entlang zurück in dein Haus,
trink ein Glas mit Wasser aus einer Karaffe.
Betrachte dein Bett, ein Kissen, ein Laken, des Nachts: den Mond.
Füge die zweifache tönerne Schale zu einer ganzen zusammen.
Giesse Sand hinein.

Warte.

 

 

Seit du fortgegangen bist
fehlt in meinem Zimmer der Platz für Mondlicht.
ist es windstill ist es vor der Tür.
scheint die Luft weniger nahrhaft.
singen keine Vögel mehr.
schweigen die Kälber.

Seit du fortgegangen bist
habe ich in Ermangelung an Wärme angefangen
Bäume zu züchten, aus einem Birkenzweig in einem Topf.
kann ich keine Fenster mehr schließen, keine Türen.
hab ich dich erkannt in der Leere einer Ecke,
in meiner Achselhöhle
und hinter dem Vorhang, der sich bewegte.

Seit du fortgegangen bist
hat sich das Dunkel zu mir gelegt.
trägt jede Nacht dreizehn Stunden.
betrachte ich den Himmel mit aller Aufmerksamkeit.
lebe ich in erkalteten Tagen.
habe ich die Hitze vergessen, die Sonne, das Meer.

Seit du fortgegangen bist
ist alles leise.
zerbrach ich keine Schale mehr, keinen Krug.

Sauber ist das Haus.
Die Laken still und glatt.
Keine Krume Brot
unter dem hölzernen Küchentisch.

Seit du fortgegangen bist
wartet alles auf Rückkehr.

 

 

gibt es
in deinem herzen
ein regal
in das du
dinge stellen kannst
wie es dir gefällt
von unten
nach oben
und nebeneinander
und du kannst sogar
eine lücke lassen
für etwas
das fehlt

 

ich trage meine träume mit mir in einer tasche meines
mantels ich trage diesen mantel immer ich lege ihn nicht
ab auch nicht in geschlossenen räumen ich behalte
meine träume bei mir wohin ich auch gehe

 

was bedeutet glück?
bitte sag es mir langsam.
ich möchte mir

notizen machen.

 

Barbara Marie Hofmann (*1988) ist Autorin und Künstlerin. Sie schreibt Lyrik und szenische Texte. Ihr Schreiben ist geprägt von Sprachspiel, Bildhaftigkeit und Eindringlichkeit. In der Umsetzung arbeitet sie oftmals mit mehrsprachigen Ansätzen und Kooperationen, die interdisziplinär (Videobild, Animation, Sound, Grafik, Tanz) umgesetzt werden. Sie schrieb und inszenierte mehrere szenische Lesungen und veröffentlichte ihre Lyrik in Anthologien und Magazinen. Nach Stationen in Paris, München und Konstanz lebt sie derzeit in Berlin.

Porträt der Autorin

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Klaus Merz aus «firma»

Wir führen
nur sporadisch Buch.
Es geht um die Denk-
würdigkeiten.

 

20. Juli 1968

Fast dämmert es schon unter den hohen Bäumen der Badeanstalt, die ihre Kronen mit den nahen Friedhofsbäumen verschränken. Seit je schwebt leichter Karbolineumgeruch, vermischt mit einem Hauch von Urin, über den grünen Wassern. Frau Droz macht Kasse und räumt das Leckereienkabäuschen auf, sie will heim, läutet mit ihren Schlüsseln. Während der junge Heilsarmeeoffizier zu einem letzten Überschlag vom Einmeterbrett ansetzt, greifen wir entschlossen nach den Kugelschreibern und setzen unsere Signaturen unter den Mietvertrag des Gebäudes, der schon seit dem Morgen in doppelter Ausführung vor uns auf den Badetüchern liegt: Die Firma steht.

 

7. August 1969

Kurz vor Feierabend versetzt Alexander, unser kaufmännischer Lehrling, die junge Belegschaft in Unruhe: Es gebe kein richtiges Leben im falschen, habe er über Mittag in einem Nachruf gelesen. Und er fragt grübelnd nach, ob es das „richtige“ Leben vielleicht gar nicht gebe. Da unser Dasein schon von Grund auf „falsch“ angelegt sei: sodass es eigentlich nur das falsche im falschen geben könne. Was ja dann aber, minus mal minus ergibt plus, durchwegs wieder zum „richtigen“ führen müsse. Unsere Belegschaft atmet auf, hörbar.

 

2. September 1971

Im Frühjahr entsteht neben dem florierenden Betrieb eine Minigolfanlage, achtzehn Bahnen, was bei den Angestellten natürlich stets für unliebsame Ablenkung sorgt und auch wochentags „viele Sportbegeisterte samt Familie ans Schlageisen ruft“, wie der Berichterstatter des Tagblattes elegant festzuhalten weiß. – Am Samstag, es nieselt, ziehen wir das Milchglas hoch, bis über den Scheitelbereich.

 

16. Mai 1972

Wir werden durchleuchtet. Der Wagen der Frauenliga fährt vor – Schirmbild – und macht uns alle ein wenig krank. Zuerst sind die Männer an der Reihe, sie machen sich schon im Freien oben frei. Einatmen. Still- halten. Ausatmen. „Aufatmen“, sagen die Raucher und langen noch schnell nach einem Sargnagel, bevor sie wieder an die Arbeit gehen. „Nach dem Durchleuchten der Damen riecht es jeweils weniger streng im Wagen als bei den Herren, Angstschweiss halt“, sagt der Fahrer, er raucht eine mit. „Die strahlende Röntgenschwester hat uns ja alles ganz leicht gemacht“, sagen wir, versenken die Kippen im  Abwasserschacht.

 

19. Januar 1973

Irina, die wir kurz nach dem Scheitern des Prager Frühlings bei uns aufgenommen und dann gern in der Firma behalten haben, trägt ein Medaillon um den Hals. Wer sich denn unter dem feinen Golddeckel verstecke, wollen wir immer wieder von ihr wissen. Sie widersetzt sich den Neckereien konsequent, „zieht den Eisernen Vorhang zu“, sagt Graber und erschrickt, als Irina ihm ihr Kleinod vor die Nase hält: Es ist ein Bildchen des jungen Jan Palach, der sich aus Protest gegen den sowjetischen Einmarsch auf dem Wenzelsplatz selbst angezündet hat. Vier Jahre zuvor, auf den Tag genau.

 

19. April 1975

Wäre der Geschlechtsverkehr nicht offensichtlich in geschäftseigenen Räumen vollzogen worden, wir hätten darüber hinwegsehen können: Die beiden Beteiligten zeigen ihre erhitzten Gesichter, dahinter unscharf das Firmenlogo. (Vom Fotografen, der das Bild kurz nach Neujahr ans Schwarze Brett gepinnt hat, keine Spur.) Wir haben Stellung beziehen müssen und halten fest: Es ist Liebe. Unterm Reisregen der gesamten Belegschaft verlässt das Hochzeitspaar kurz vor Mittag guter Hoffnung die Kirche.

 

2. April 1978

In unserem Firmenkeller wird getrommelt und geschwitzt. Mittwochnachmittags ist schulfrei, Kambers Sohn hat sich mit drei Freunden und ihrem Schwermetall zwischen den Kartoffelhorden eingerichtet. Von fern nur erahnen wir Obergeschossigen, was es heisst, wenn einem Hören und Sehen vergehen soll. „Gezinst“ wird auf den 1. Januar, ein Gratiskonzert für die Belegschaft, so steht’s im „Vertrag“. Noch wissen wir nicht, ob wir uns darauf freuen oder davor fürchten sollen.

 

7. Februar 1980

Hutlose Lieferanten werden nicht empfangen! Das Emailschild dräut über dem Geschäftseingang unseres einzigen Untermieters, dem permanent klammen Hutfabrikanten mit seinen sieben Kindern. Aus Solidarität zu ihm und seiner kleinen Belegschaft, der zarten Modistin aus Graz, entschliessen wir uns, über der Tür des eigenen Betriebes eine entsprechende Warntafel anzubringen: Herzlose Lieferanten werden nicht empfangen. Der Nachbar dankt es uns mit einem Allwetterhut.

 

7. Januar 1981

Mit ihrem nigelnagelneuen Schweizer Pass in der Jackentasche hat unsere lebensfrohe Irina ihre erste, lang ersehnte Reise in die einstige Heimat angetreten. Anfangs Woche ist sie wieder aus Pilsen zurückgekehrt. Sie habe ihr Geburtshaus betreten, sei vorgegangen bis zum Wohnzimmer: „Auf der Ofenbank sitzt Grossvater, Onkel Pepin auf der Couch, Grossmutter hantiert wie immer in der Küche.“ Beim Erzählen steigen Irina Tränen in die Augen: „Aber ich“, sagt sie, „bin eine andere geworden. Eine Fremde.“

 

11. Juni 1981

„Zweierlei Blunzen. Und dann geschnetzeltes Herz, hat unser neuer Kunde beim Mittagessen im Salzamt in Auftrag gegeben, während mir in meiner kulinarischen Unentschlossenheit nur das Schnitzel (aber was für eines!) in den Sinn gekommen ist.“ – Fast habe er sich vor dem Schlachtverständigen ein wenig geschämt. Überhaupt sei es einer seiner anregendsten Kundenbesuche seit Jahren gewesen, berichtet Karl, der langjährige Aussendienstmitarbeiter, bevor er uns die Bestellliste der Wiener Firma, korrekt wie immer, durchfaxt.

Klaus Merz, geboren 1945 in Aarau, lebt in Unterkulm/Schweiz. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Hermann-Hesse-Literaturpreis 1997, Gottfried-Keller-Preis 2004, Aargauer Kulturpreis 2005, Werkpreis der schweizerischen Schillerstiftung 2005, Basler Lyrikpreis und Friedrich-Hölderlin-Preis (beide 2012) sowie zuletzt Rainer-Malkowski-Preis (2016) und Christine-Lavant-Preis (2018). Seit Herbst 2011 erscheint bei Haymon die Werkausgabe Klaus Merz in mehreren Bänden. 2020 ist mit der Erzählung «Im Schläfengebiet» ein Sonderdruck in bibliophilem Gewand und mit einem Begleitwort von Beatrice von Matt erschienen.

Beitragsbild © Fotowerk Aichner

Christine Zureich «Tiny Furniture – Lyrikobjekte für eine schrumpfende Welt»

Eigentlich schreibt Christine Zureich seriös. Also Texte auf Papier mit Stift und Papier oder Tastatur. In der Lockdown-Zeit aber wurde die Arbeit an ihrem aktuellen Romanmanuskript jäh ausgebremst, als über Monate ihr Schreibplatz Homeoffice, Homeschool, Homealles für die ganze Familie wurde. 3 Personen, 2 Türen, offener Grundriss. 

Spaziergänge durch Konstanz wurden zu wichtigen kleinen Fluchten für die Autorin. Auf einer ihrer Runden fand sie in einem „zu verschenken“-Karton eine Stoß Zeitschriften, die sie mitnahm. Zu Hause begann sie, statt darin zu lesen, das Altpapier auseinander zu schneiden, zu neuen Aussagen zusammenzufügen. Eine Methode, mit der auch die Dadaisten vor über 100 Jahren schon spielten, oder auch Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller. 

Neu an Zureichs Zugang ist die dritte Dimension: Sie bringt die Worte nicht auf Papier, sondern auf vintage Puppenmöbelchen auf. Das erste Objekt hatte sie dabei schon 2015 collagiert, als Hausaufgabe für einen Online-Kurs eines Art-Colleges. Einem leeren Bücherschrank klebte sie damals einzelne Worte auf, um die Lücken zu benennen. Aber erst mit dem Altpapierfund in der merkwürdigen Zeit holte die Möbelchen-Kiste wieder hervor, das Projekt Tiny Furniture nahm seinen Lauf. 

Entstanden ist mehr als eine neue Form der Lyrikinszenierung. Die sorgfältig ausgesuchten Möbelchen (inzwischen hat Zureich etliche Konvolute zum ursprünglichen hinzu erstanden) gehören untrennbar zu Gesamtaussage des Objekts. Sie erlauben verschiedene Lesarten, Betrachtungsweisen und laden auch weniger lyrikaffine Menschen zum Spiel mit Worten ein. Tiny Furniture verkörpern dabei auf kongeniale Weise Zureichs (K)Lebensphilosophie: Spamt das Leben sich mit Altpapier zu, mach Lyrik draus.

 

I bet you’d rather
polish the
edge of the rainbow
now
Ich habe das Opernglas in die Tasche gesteckt.

1. Trojanische Pferdchen
Alte Puppenstubenmöbel, teils handgefertigt, überwiegend aus Holz. Alle haben eine Patina, weisen kleine Brüche auf, Risse, Beschädigungen, sichtbare Reparaturen. Neben ihrer Geschichte transportieren sie jetzt auch Worte. Fundstücke aus Altpapier, neu zusammengesetzt und aufgeleimt. Poetische Kommentare in eine Möbelschau geschmuggelt, nicht wie bei Homer im Bauch des Artefakts sondern auf dessen Hülle.

*****

 

Tatü
das Heidenröslein vildros (eg. Hedros).
der Knab’, Knabe gosse.

Tata
Mit unterschiedlich verkörperten Ideen, die Welt zu verändern.

2. Schöner Fragen
Sprechen Möbel? Muss man sie immer verstehen? Lassen sich mit Lyrik innere Räume einrichten?

*****

 

unübersehbar Schaden
Aber im Moment ist es Liebe
utväg der Ausweg
Leseübung.

3. Kintsugi
Das Verfahren, mit dem in Japan zerbrochene Keramik gekittet wird. Nicht unauffällig, versteckt, sondern mit Gold. Wie der Faden, der dieses Buch am Rücken zusammenhält. Auf den Möbeln: Papier-Kintsugi, Wort-Kitt.

*****

 

Ort, an dem wir miteinander reden können
Von der Schönheit im Beschädigten
It will be a good year
42:a lektionen
en handling

4. Risse
Leonard Cohen, der singt: There is a crack in everything. That‘s how the light gets in. Brüche, Risse, Beschädigungen überall, nicht nur an Tiny Furniture. Auch an uns. Vielleicht sind sie die Grundlage von Schönheit, Zartheit?

Mit ihren Tiny Furniture präsentiert die in Konstanz lebende Autorin Christine Zureich ein absolut ungewöhnliches Format: Lyrik, die in den Raum spricht, 3D-Gedichte. Aus Zeitschriften ausgeschnittene Worte und alte Puppenmöbel werden zusammengefügt zu poetischen Hybriden irgendwo zwischen Gedicht und Skulptur, selbstvergessenem Wort-Spiel und kompositorischer Strenge. Einen ersten Prototypen schuf Zureich bereits 2015, jedoch erst als mit der Pandemie die Welt zum Stillstand kam, holte sie die Spielzeugkiste wieder aus dem Keller und begann Lyrik in großem Maßstab zu vermöbeln… Zureichs Tiny Furniture passen mit ihrer Brüchigkeit und Verletzlichkeit sehr gut in diese Zeit, setzen ihr dabei zugleich auch etwas entgegen: eine Aufforderung zur bedingungslosen Verspieltheit. 

Zeitgleich mit der Vernissage im Bodmanhaus erscheint im axel dielmann-Verlag, Frankfurt, ein Gedichtband mit dem gleichen Titel. 

Christine Zureich, in Suffern, New York, geboren, studierte Soziologie, Amerikanistik und VWL in Tübingen, Uppsala und Frankfurt Main, wo sie im Anschluss als Übersetzerin und Museumspädagogin arbeitete. Heute lebt sie als freie Autorin und Dozentin in Konstanz am Bodensee. Im Februar 2018 debütierte sie mit ihrem Roman «Garten, Baby!» bei Ullstein fünf, Berlin. 2019 veröffentlichte sie mit «Whisperblower» (Kollaboration mit Veronika Fischer) bei Drei Masken, München, ein Bühnenstück zum Cum Ex Steuerskandal. Für ihr Manuskript «Ellens Song» war sie 2019 für den Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis und 2020 für den Hans im Glück-Preis der Stadt Limburg nominiert. Im gleichen Jahr war sie mit der Kurzgeschichte «nahlandig» Preisträgerin des Schwäbischen Literaturpreises.

Webseite der Autorin

Verena Uetz «Der Duft nach frisch gebackenem Brot», Plattform Gegenzauber

Soll ich denn wirklich von dem kleinen Mädchen schreiben, das ich einmal war? Zeigt es sich mir? Auf Fotos ja, in der Erinnerung kaum. Deshalb erfinde ich jetzt ein sechs-jähriges Mädchen. Es heisst „Es“. So wurden damals Mädchen genannt: „Es“ , das Mädchen. Ich aber nenne es Vreneli. 
Vreneli hat eine zwei Jahre ältere Schwester. Diese lebt in einer ganz anderen Welt, obschon im gleichen Dorf, an der gleichen Adresse mit der gleichen braunen Haustüre, deren Türfalle nicht mehr richtig schliesst, im gleichen roten Mietshaus mit der gleichen traurigen Grossmutter in der Küche am Herd, die ein feines Essen aus immer den gleichen wenigen Lebensmitteln zaubern muss.
Das Mädchen, ich, hat viele Ämtlein in der Küche und beim Einkaufen im Dorf. Brot holen zum Beispiel. Von dieser Duft-Wunderwelt in der Backstube hat niemand sonst eine Ahnung. Und auch nicht von der noch warmen goldenen Kruste dank der ich den kurzen Heimweg ad libitum verlängern kann, bis das Brot nackt aussieht und Grossmutter verärgert. Jeden Tag aufs Neue. Und jeden Tag schmeckt die warme Brot-Rinde einfach köstlich.

Und jetzt, mein kleines Vreneli? Freust du dich auf die Schule? Erstklässlerin bist du dann mit einem richtigen Schulweg. Weiter noch als bis zum Bäcker. Dem Dorfbach entlang und vorbei an den zwei breiten Schaufenstern des Schuhgeschäfts. Dort werden auch Schultornister verkauft, jedoch deinen hast du vom Götti aus der Stadt bekommen. Viel lieber hättest du den roten aus dem Schaufenster gehabt. Er liegt noch immer dort zum Verkauf.

Mein brauner Schultornister – was für ein Wort! – ärgert mich jeden Tag mehrmals. Am Morgen daheim und später erst recht im Schulzimmer, wo wir alle unsere Theks leeren und in einer Zimmerecke in gerader Linie aufreihen müssen.
Wäre meiner rot gewesen statt sch…braun hätte ich immer mal wieder liebevoll zu ihm hingeschaut. Aber so?

Aus meiner Fantasie kommt Hilfe in der Not. In Gedanken färbe ich ihn. Rot. Ein schönes Dunkelrot. Nein, nicht so dunkel!! Vielleicht tomaten- oder geranienrot mit einem silbrig glitzernden Schnappverschluss und….

„Vreneli, was träumst du in den Tag hinein? So geht das nicht in der richtigen Schule, weisst du!“ Ich zeige mich zerknirscht, freue mich aber umso mehr auf den Heimweg, wo ich einen langen Umweg mache an der Kirche vorbei und dem angrenzenden Friedhof. Aber dort renne ich schnell, kann nichts anfangen mit einem Friedhof. Könnte ja eigentlich mal die Grossmutter fragen, die muss es ja wissen, sie hat schon weisse Haare. Ich dafür einen roten Thek! Glattleder. Nicht wie die Buben, die ein Kuhfell darauf haben. Wären sie nicht Buben, hätte ich vielleicht etwas Mitleid erübrigen können.

Wieder daheim erschrecke ich die Grossmutter.
„Was um Himmels-Härdöpfelswillen ist mit deinem Thek passiert?“
„….“
„So so, ein bisschen waschen im Bach wolltest du ihn?!“
„Ja, und dann ist halt auch ein bisschen Schlamm draufgekommen. Ist ja egal, ich hasse ihn.“

Seit Schulanfang darf ich in ein Heft alles schreiben was ich möchte. Die Fröilein Zürcher hat es mir geschenkt. „Weil du doch so eine berühmte Mutter hast, die Bücher schreibt. Da willst du sicher auch immer mal wieder etwas aufschreiben.“
„Ist Mutti berühmt? Was ist berühmt?“
Ich schreibe jeden Tag in mein Heft. Bin stolz. Es liegt immer unter meinem Kissen. Niemand darf es lesen. So also wird man berühmt!
Mutti schreibt immer Nachts im Bett, raucht dazu ihre Parisienne-Filter, Vati schläft daneben und die voll geschriebenen Blätter fliegen im Zimmer herum.

Die Schule gefällt mir. Aber sie gefällt mir auch nicht. Es ist langweilig, die Buben sind so dumm und rotzig und frech. Ich will nie einen Bruder, oder doch, ja, ein grosser Bruder wäre mein Traum, einer, der mir immer hilft auf dem Pausenplatz und schon heimlich Zigaretten raucht.

 

femscript.ch publiziert zu ihrem 30-jährigen Bestehen eine Anthologie mit rund 50 Beiträgen. Es sind Geschichten, aus dem Verborgenen ans Licht geschrieben. Es ist Poesie, zwischen Tag und Nacht aus der Dämmerung gesiebt. Inspiriert von einer gemeinsamen Werkstatt, haben die Autorinnen formal, stilistisch und inhaltlich ganz verschiedene Türen geöffnet und vielfältige Zugänge geschaffen.

Verena Uetz-Manser, * 1937 Georen und aufgewachsen in Bassersdorf. Ausgebildet als Musikpädagogin, verheiratet, zog eine Schar Kinder auf, eigene und Pflegekinder. Mit dem Schreiben begann Verena Uetz-Manser, als die Kinder aus dem Haus waren. Texte in Anthologien («Wörterknistern» und «Dreiundsechzig», KaMeRu 2015) und in «mein Magazin». Verena Uetz-Manser war auch Keramikerin mit eigener Werkstatt und in vielen Bereichen Kursleiterin.

Ruth Loosli «Narbengebiet», Plattform Gegenzauber

Bildbetrachtung zu Hoppers „Four lane road“

Frau steht am Fenster
Frau ruft
Mann hört weg
        wirft Schatten an die Wand
        als hätte er nichts anderes zu tun
        als hätte er keine Spuren zu sichten
        kein Haus zu richten (keine Frau zu lieben)

Als müsste er niemals Sprit verkaufen als führen 
keine Autos vorbei. So sitzt er da. Konzentriert in sich
versunken mit dem linken Ohr ganz der Frauenstimme
zugewandt – doch dieses Hören trotzig verweigernd.

Niemand kommt vorbei
Niemand wirft Schatten 
Niemand kommt und bewegt die Gesichtsmuskeln

Diese Stunde steht ewig da und wirft Schatten an die Wand
Den Mann in den Stuhl
Die Frau ans Fenster
Die Strasse in ihre Linie
Den Himmel in seine Farbe
Den Wald an seinen Rand

Hält er in der linken Hand eine dicke Zigarillo?
Ja, er hält sie und sie brennt langsam nieder. 
Dass niemand merkt wie sich die Hitze in die Finger brennt!
In die Hand. 
Brennt der Mann?
Brennt die Frau?
Ja, sie brennen und ein jeder brennt für sich.

 

Kap der guten Hoffnung

An steilen
Klippen 
Klappern 
Brillenpinguine.

Ein Naturreservat am
Kap der guten Hoffnung.

Da leben Elanenantilopen
Bergzebras Paviane
Baboons Dessies 
Schildkröten
Echsen und Strausse.

Südafrika. 
Das Kap der Guten Hoffnung
Treibt mich in mein eigenes 
Minenfeld absterbender Korallen
Riffe. Sorry Mann, Hoffnung ist 
zuweilen grosse Lüge,
stinkende Brühe. Was wir alles 
zu retten meinen mit der Hoffnung.

Bergzebra gegen Milchzahn.
Milchpulver gegen Muttermilch.

An steilen Klippen klappern 
Brillenpinguine. Lass sie laufen,
alte Kolonialistin.

 

Auf dem Spaziergang

Es klappert im Wind das Signal.
Es wachsen durch Ritzen die Mauerblümchen
Es scheint
Dass die Sonne Batterien auflädt und den 
Brombeeren die Säure raubt.
Sieht so aus 
Als seien die Beine 
Der Katze rasiert 
Wie Seidenstrümpfe so elegant und glatt

Es schaut zurück:
Ein Hund mit ergrautem Schnauz.

 

Arpade mit Hof (fnung)

hof
hofieren
chauffieren
echauffieren
zitieren
vegetieren

auf dem Hof der Chancengleichheit
zieh ich Schweine auf

Vegetarier stehen 
Schlange

 

Frag nicht

Die Schafgarbe, sie weiß es.

Frag nicht den Kieselstein

Frag vielleicht deine Schwester 
Sie klügelt aus
Oder den Spaziergänger 
Er bleibt stehen 
Das Gedicht 
Es motzt sich auf

Das Herz ist stark
doch kennt es nur das Alphabet
der verschlungenen Wege.

 

Brennende Geduld, sagt Jordi Vilardaga

Am Ufer des kleinen Baches wachsen Brennnesseln. Ich habe
den Impuls, meine Hände hineinzulegen, damit sich der
Schmerz in der Kehle im ganzen Körper verteilt. Das Wasser
fließt sachte dahin,
die Sonne verguckt sich ins Fließen und ich bleibe lange
stehen.
Danach setze ich mich in Bewegung, setze Fuß vor Fuß, bücke
mich nach einem Holzstück, nach einer Katze, setze Fuß vor
Fuß, höre Kinder schreien, sie schreien, ich mache einen
Umweg. Danach hören sie auf zu schreien, ich breche den
Umweg ab, setze Fuß vor Fuß und bin mir nicht sicher das
Nötige zu wissen. Ich denke eher, dass die Brennnesseln
fähiger sind, sich ihrer Entfaltung zu widmen.
Überall werden alte Häuser abgebrochen, und neue hingestellt.
Woher kommen die Steine? Woher kommt der Zement?
Woher kommen die Arbeitskräfte? Ich bin fast sicher, dass die
Antworten nahe liegen, aber ich erkenne sie nicht.
Dann beginnen die Kirchenglocken zu läuten, es ist
Samstagabend. 
Eine Ameise sucht irritiert einen neuen Weg, die Hecke wurde
entfernt, die Bäume gefällt.

 

Ruth Loosli, geboren 1959 in Aarberg und im Seeland aufgewachsen. Sie hat drei erwachsene Kinder und ist ausgebildete Primarlehrerin. Seit einigen Jahren lebt und arbeitet sie in Winterthur. Sie veröffentlicht in Anthologien und Literaturzeitschriften. Ein erster Gedichtband «Aber die Häuser stehen noch» erschien 2009. Es folgte im Wolfbach Verlag 2011 «Wila, Geschichten» und 2016 der Lyrikband «Berge falten«. 2019 brachte der Waldgut Verlag den Lyrikband «Hungrige Tastatur» heraus. Im Frühling 2021 ist im Caracol Verlag der erste Roman erschienen: «Mojas Stimmen«.

Beitragsbild © Vanessa Püntener

Max Annas „Local Train“, Plattform Gegenzauber

Neukölln
»Dahinten.« Kareem zeigte durch die Blätter vor ihren Augen. »Die S-Bahn …« Sein Körper spannte sich.
Vom Bahnhof Hermannstraße kommend, tauchten die Scheinwerfer auf, noch fern. Der surrende Ton, den die Bahn mit sich brachte, erreichte die Ohren etwas später.
»Hmhm …« Issam steckte die Hände in die Hosentaschen. Schwieg. Rührte sich nicht.
»Jetzt ist es sowieso zu spät.« Kareem entspannte sich wieder.
»Wir müssen darüber reden, wie wir das genau machen«, sagte Issam.
Die Scheinwerfer waren fast auf ihrer Höhe, zogen unter der Brücke vorbei. Kareem und Issam schauten dem Vorortzug hinterher. Durch das Blätterwerk vor ihren Augen und über das Grün auf der Böschung am Gleis flackerten die Lichter vorbei.
»Was gibt es da zu reden? Ist doch alles gesagt.«
»Na ja … Ob wir erst losgehen, wenn die Lichter zu sehen sind. Zum Beispiel.«
Jetzt sagte Kareem keinen Ton.
»Oder ob wir rennen. Ich meine … Wir wollen ja nicht, dass es so lange dauert, weil wir wollen ja auch nicht, dass uns jemand sieht und so. Oder ob wir …«
»Da …« Kareem zeigte in Richtung Tempelhof, wohin die erste S-Bahn verschwunden war. Scheinwerferflackern, das Surren. Auch von dort kam eine S-Bahn. »Aber wir wollten ja die von der anderen Seite nehmen.«
»Hmhm …« Issam drückte mit einer Hand ein paar Zweige neben seinem Kopf zur Seite. »… also ob wir am Geländer warten. Wie oft kommen die um diese Uhrzeit? Und wie lange noch?«
»Woher soll ich das wissen? Immer noch ganz schön oft. Und am Geländer zu warten ist zu gefährlich. Was, wenn die Bahn dann einfach nicht kommt? Wir können da ja nicht so rumstehen. Dahinten …« Kareem zeigte nach Norden. »Da sind Leute.«
»Kommen die hier vorbei? Aber irgendwann fahren die auch nicht mehr. Die Leute …«
»Sieht so aus. Ja … irgendwann ist Schluss mit den Bahnen.«
»Was machen wir?«
»Einfach leise sein. Aber es ist Freitag …« Kareem redete jetzt tonlos. »Da fahren die doch die Nacht durch.«
»Nnnnnnnnnn …« Hinter ihnen im Gebüsch war ein Rascheln zu hören. »Nnnnnnnnn …«, machte es wieder.
Kareem drehte sich um und trat dem Bündel fest in die Seite. »Ng …«, machte es und hörte auf, sich zu regen.
Kareem bückte sich und überprüfte den Knebel im Mund. Seine Fußballshorts saßen bombenfest zwischen den Zähnen. Er stand wieder auf und trat noch einmal zu.
»Die Schnürsenkel halten?«, fragte Issam leise.
»Bombenfest.« Kareem hob einen Daumen, checkte trotzdem noch einmal Hände und Füße.
Die Leute waren nähergekommen. Ihre Stimmen waren deutlich vernehmbar. Kareem erkannte drei Gestalten. Drei Männer. Leicht schwankend.
»Alles piccobello sonst …«, sagte einer.
»Die Strände?« Der zweite.
Der dritte lag einige Meter zurück und blickte sich um. Suchte einen Platz im Gebüsch. Kareem tippte Issam an. Legte den Finger auf die Lippen.
»Alles in Antalya. Leute nett und höflich. Strände sauber und nicht zu voll. Und kein Mensch redet über Politik.«
»Komm schon«, sagte der zweite und drehte sich dabei um. Der dritte beschleunigte seine Schritte.
Von Osten, von der Hermannstraße, kam die nächste S-Bahn gefahren. »Zu spät«, sagte Kareem. »Guck mal. Wenn die abfährt in der Hermannstraße, das kann man ja hören. Dann gehen wir los.«
»Hmhm …« Issam drehte sich um und blickte zu dem Bündel hinab.
»Wir können es nicht austesten. Gibt keinen Probedurchgang. Bahn fährt los. Wir starten und ziehen das durch.«
»Doch. Wir können das schon einmal durchgehen. Wenn wir hören, dass die Bahn abfährt, gehen wir zum Geländer. Dann sehen wir ja, ob das mit der Zeit hinhaut. Das sind … guck … 40 Meter?«
Kareem sagte nichts.
»Der hier kann ja nicht weg. Oder?«
»Du willst gar nicht mehr.«
»Doch … Aber … Ich meine … Washington kommt jetzt bald aus dem Krankenhaus.«
Kareem schüttelte den Kopf. »Er war eine ganze Woche im Koma.«
»Ja, aber jetzt ist er bald wieder bei uns.«
»Er wird die nächsten Monate mit Schienen an den Beinen rumlaufen. Nix Fußball und so.«
»Die Ärzte haben gesagt …«
»Mann, der Typ hat Washington fast umgebracht. Hast du das vergessen?« »Nein, natürlich nicht.«
»Wir haben nicht mal gewusst, ob er das überleben wird. Am Anfang haben sie gesagt, das wird nix mehr.«
»Ja …« Issam war ganz leise geworden.
»Gleich, da, die nächste Bahn. Komm …« Kareem bückte sich und fasste die Füße des Bündels.
Als sich Issam nicht rührte, erhob er sich wieder. Die Bahn näherte sich und fuhr vorüber.
»Guck mal«, sagte Issam.
»Was?«
»Da …«
»Der Hund? Der ist gleich wieder weg.« »Das ist kein Hund.«
Kareem sah genauer hin. Vier Beine, nicht so lang, dichtes Fell, braun oder rot, spitze kleine Ohren, der Schwanz buschig. Er hatte das Tier gar nicht kommen sehen. Es guckte die eine Straße entlang, dann über die Brücke.
»Ein Fuchs«, sagte Issam. »Hab ich auf YouTube gesehen.« »Was guckst du denn auf YouTube?«
»So was eben … Alles Mögliche.«
Ein Motor wurde in der Nähe gestartet. Viel zu viel Schwung beim ersten Kontakt mit dem Gaspedal.
»Wenn sie krank sind, greifen sie sogar Menschen an«, sagte Issam. »Haben sie da gesagt. Echt interessant.«
Der Fuchs drehte den Kopf ein paar Mal und verschwand dann Richtung Tempelhofer Feld. Ohne Eile.
Kareem beobachtete die Kreuzung aus dem Gebüsch heraus. Der Motor lief weiter, ohne dass der Wagen bewegt wurde. Noch keine Scheinwerfer zu sehen.
Das Tempelhofer Feld und Grün und Laubenwirtschaft im Rücken. Wohnhäuser auf der anderen Seite, zu viele Balkone für seinen Geschmack. Die kleine Brücke über die S-Bahn-Trasse ein Teil der T-Kreuzung. Bis zum Geländer auf der Brücke 50 Meter. Vielleicht sogar nur 40, da konnte Issam Recht haben. Jetzt wurden die Scheinwerfer angestellt. Das Geräusch des Motors wurde höher. Der Wagen kam um die Ecke gerollt. Die Scheinwerfer blendeten ihn für einen Moment. Er war froh, dass sie beide dunkle Klamotten trugen.
Als der Wagen gerade um die Ecke in der Emser Straße verschwunden war, tauchte genau dort eine Figur auf, die Kareem zu erkennen glaubte. Der Typ orientierte sich kurz, checkte den Grünstreifen, in dem sie sich verborgen hielten. Er sah dann auf sein Telefon und kam zielstrebig auf sie zu.
Nach dem Fußballspiel hatte sich Emeka geduscht und zurechtgemacht. Er war es tatsächlich. Als er vor dem Gebüsch stand, in dem sie sich verborgen hatten, guckte er noch einmal aufs Telefon. »Hey«, rief er.
Kareem packte ihn und zog ihn ins Versteck. »Was ist los?«, fragte er.
»GPS«, sagte Emeka. »Ganz einfach.« Er klopfte Issam auf die Schulter.
»Ja, ist ja gut …«, sagte Issam. »Ich hab ihm ein Foto geschickt.«
»Ein Foto?«
»Hier.« Emeka reichte Kareem das Telefon. Auf dem Foto war das Bündel zu sehen. Gefesselt und mit dem Knebel im Mund. Erstaunlich, wie gut diese Fotos heute waren, dachte Kareem. Die gelbe Borussia-Dortmund-Hose war selbst im Dunkeln gut zu sehen. Sie quoll aus dem Mund von dem Arschloch raus.
»Krass«, sagte Emeka und betrachtete das echte Bündel. Den geschorenen Schädel. Die isolierten Koteletten, gerade noch im Widerschein der Straßenlaternen zu sehen. »Wo habt ihr den her?«
»Auf dem Heimweg.« Kareem. »Wir wollten eigentlich Richtung Hermannstraße. Dann haben wir ihn gesehen.«
»Er hat uns gesehen und ist auf die andere Straßenseite.« Issam.
»Nein. Er hat uns nicht gesehen. Wir sind ihm einfach nach.«
»Und dann waren wir auf einmal hinter ihm.« »Genau hier.«
»Und dann hab ich ihn ins Gebüsch gezogen.« »Ich eher …«
»Also … wir haben das zusammen gemacht.«
»Aber wer ist das?« Emeka hatte den Blick bislang nicht von dem Bündel gelassen.
»Das ist der, der Washington fast umgelegt hat«, sagte Kareem.
»Scheiße.« Emeka sah jetzt hoch. »Der ist das?«
»Hmhm …« Issam. »So sieht’s aus.«
»Jou …« Emeka holte aus und trat dem Bündel in die Seite. Hinter der gelben Hose war ein Röcheln zu hören. Emeka trat noch einmal zu. Das Röcheln wurde schwächer.
»Und jetzt?«, fragte Emeka.
Eine S-Bahn fuhr vorbei. Kareem blickte sich um und sah den Lichtern hinterher.
Emeka sagte zuerst keinen Ton. Und blies dann langsam Luft durch die Lippen. »Okay«, meinte er.
»Und jetzt, wo wir zu dritt sind, geht das viel besser. Passt auf, da kommen schon wieder Leute.«
Eine Gruppe junger Frauen näherte sich. Die letzte von ihnen, die den anderen mit etwas Abstand folgte, blieb genau auf der Höhe ihres Verstecks stehen und nahm einen langen Schluck aus einer Sektpulle. Die drei anderen waren schon ein paar Meter weiter und blieben stehen. Eine von ihnen kam zurück und nahm die Flasche in die Hand. Sie sagte irgendetwas auf Spanisch, schnell und rau, bevor sie die Flasche an den Hals setzte. Dann noch etwas. Kareem verstand nicht ganz, worum es ging. Irgendwas mit einem Job. Dann trank sie noch einen Schluck, gab die Flasche zurück und ging wieder zu den anderen. Die Nachzüglerin folgte ihr langsam. Schweigend zogen die Frauen von dannen. Zwei S-Bahnen begegneten sich unter der Brücke, als die Frauen noch zu sehen waren. In Kareems Hose brummte das Telefon, dass er dem Bündel abgenommen hatte.
»Einer nimmt die Füße.« Kareem stellte sich so, dass er die aneinander gefesselten Hände des Bündels greifen konnte. »Ich glaube, ich höre die S-Bahn schon. Kommt!«
»Da ist einer.« Emeka stand halb auf dem Gehweg und lugte zur Seite. Auf der Brücke war ein Mann stehen geblieben. Er trug eine viel zu weite graue Jacke. Kareem zog Emeka ins Gebüsch zurück. Der Mann machte ein paar Schritte, blieb stehen, blickte hoch und zur Seite. Kam wieder näher.
»Was macht der da?«, fragte Issam.
»Pssst!« Kareem legte den Finger auf die Lippen. »Nnnnnnnnnnnn …«, kam es vom Boden.
Kareem trat dem Bündel in die Seite.
»Krrr …«, machte es von unten.
Der Mann hatte die Brücke mittlerweile überquert und schaute ins erste Auto, das gegenüber dem Grünstreifen geparkt war. Ein Kombi. Checkte den nächsten Wagen, einen Golf. Sah in den daneben. Bückte sich. Ging weiter. Neben einem kleinen Sportwagen ging er in die Hocke. Im Licht einer Straßenlaterne konnte Kareem sehen, dass seine Hose einen Riss im Schritt hatte. Die Schuhe fielen beinah auseinander. Der Mann stand auf und blickte sich wieder um. Dann holte er aus und hieb mit dem Ellbogen gegen das Fenster der Fahrertür.
Nichts passierte.
Er holte etwas weiter aus und versuchte es noch einmal. Jetzt zerbrach die Scheibe.
»Scheiße!«, sagte Emeka.
Kareem wartete auf den Alarm. Aber der kam nicht.
Der Mann griff ins Auto hinein. Steckte, was er rausholte, schnell in die Jacke und ging davon. Er sah sich nicht noch einmal um.
»Wow«, sagte Issam. »Das macht der aber nicht zum ersten Mal.«
»Kann man von so was leben?«, fragte Emeka.
Eine S-Bahn passierte die Brücke von Tempelhof kommend. Eine andere gleich darauf von der Hermannstraße aus.
»Was ist jetzt?«, fragte Kareem und bückte sich.
Issam und Emeka standen neben dem Bündel.
»Okay, na gut, ich nehme die Füße«, sagte Issam.
»Ich glaub’s nicht.« Kareem stand wieder auf.
»Was?« Issam stand sofort neben ihm. »Wer ist das denn?«, fragte er, als er den Blick justiert hatte. Eine Frau kam zielgenau auf das Gebüsch zu. Sie stützte sich auf einen Gehstock. Die Schritte waren unterschiedlich lang.
»Auntie Mo«, sagte Kareem. »Hast du ihr auch das Foto geschickt?«
»Ich kenne die gar nicht.« Issam.
»Ich hab’s ihr gezeigt.« Emeka.
»Scheiße. Die hat uns gerade noch gefehlt.« Kareem drehte sich ab und starrte auf das Bündel.
Der Stock klackerte deutlich, als sich Auntie Mo näherte. Sie stand schon vor dem Gebüsch. »Wo ist er?«, fragte sie, ohne sich Mühe zu geben, ihre Stimme zu senken.
»Schsch …« Kareem blickte auf das Haus gegenüber, als die Frau durch das Gesträuch brach.
»Ist er das?«, fragte sie in derselben Lautstärke. Dann spuckte sie auf ihn. Sie holte mit dem Stock aus, überlegte es sich aber anderes, bevor er auf dem Bündel niederging.
Kareem atmete aus. »Lass uns bitte leise sein, Auntie.« »Sie ist die Tante von Washington«, sagte Emeka zu Issam. »I am not«, sagte Auntie Mo, immer noch in voller Lautstärke. »I happen to know him from Lagos.«
»Okay.« Kareem legte Auntie Mo die freie Hand auf die Schulter. »Keine Tante. Aber wir müssen leise sein.«
Ein stotternder Motor kam langsam näher. Zu niedriger Gang, Aussetzer, wieder der Motor, erneut ein Aussetzer. In dem alten Toyota waren die Scheiben herabgelassen. Kareem machte ein leises »Sssss!« Sofort waren alle ganz ruhig.
Vier junge Männer saßen in dem Wagen. Glotzten in die Gegend. Einer war eine Glatze, die anderen sahen aus wie alle. Der Wagen war hellgrün, hatte aber rostbraune Türen. Das Dach war eingedellt. Ganz kurz stockte der Motor wieder, als der Wagen den Busch passierte. Der Fahrer blickte in den Fußraum unter sich und gab dem Gaspedal unter vollem Körpereinsatz ein paar Tritte. Der Motor hustete und fing sich dann wieder. Die vier fuhren schweigend um die Ecke.
Eine S-Bahn kam von der Hermannstraße angefahren. Dann eine aus der anderen Richtung. Kareem sah sich um. Die anderen machten keine Anstalten, ihm zu helfen. Issam schaute auf die Straße. Emeka war mit sich selbst beschäftigt. Auntie Mo blickte nach unten. Sie schüttelte den Kopf. Der Arm mit dem Stock zuckte.
»Wir können das jetzt ganz schnell machen«, sagte Kareem. »Zu viert geht das ganz einfach.«
Emeka bückte sich, Issam drehte sich zu dem Bündel. »Ich kann das nicht«, sagte Auntie Mo. »Mein Bein.«
Laufende Schritte, die näherkamen.
»Nnnnnnnnnnn …«, kam es vom Boden. Die vier Stehenden wandten sich der Straße zu.
»Nnnnnnnnnnn …«
Die Schritte waren jetzt deutlicher hören. Schnell und leicht. Keine Sneakers.
Eine S-Bahn übertönte die Laufgeräusche. Als die S-Bahn verklungen war, tauchte die Gestalt aus der Emser Straße kommend auf.
»Fuck me«, sagte Kareem. »Wo kommt die denn jetzt her?«
»Tanja.« Emeka schien weniger überrascht. »Das Foto?«, fragte Kareem.
»Ja … Sie auch.«
»Wo seid ihr?«, rief Tanja.
»Komm.« Emeka hielt eine Hand aus dem Gebüsch heraus. Tanja sprang durch die Lücke, die er mit dem Arm schuf.
»Die sind hinter mir her.« Tanja war außer Atem. »Wer?«
»So … Rechte … Nazis …« Tanja atmete aus. »Ein ganzer Wagen voll.«
»Mist«, sagte Issam.
»Haben angehalten. Und … Kacke geredet. Das war voll unangenehm.«
Kareem wollte wissen, was sie gesagt hatten, wollte aber nicht fragen.
»Das ist er?« Tanja hatte wieder Luft und zeigte nach unten.
»Hmhm«, sagte Kareem. »Die Narbe.«
Sie bückte sich und verteilte eine Reihe von Backpfeifen. »Hnnn …«, kam es vom Bündel.
Tanja schlug weiter, bis sie erneut außer Atem war. »Hnnn … hnnn … hnnn…«
»Komm«, sagte Emeka und nahm Tanja in den Arm.
»Reicht.«
»Und die Nazis?«
»Sind mir nicht hinterher.«
Der stotternde Motor war fern wieder zu hören. Kam näher. Jetzt war auch Rockmusik im Spiel. Sie wurde gleichzeitig mit den Motorgeräuschen lauter.
»Arschlöcher.« Kareem wartete darauf, dass der Wagen auftauchte. »Wir könnten einfach rausgehen und sie alle zusammenschlagen.«
»Bist du bescheuert?« Tanja war jetzt ganz laut. »Die sind bestimmt bewaffnet.«
Der Wagen tauchte wieder auf. Er kam aus der Emser Straße und blieb vor dem Gebüsch stehen, in dem sie verborgen waren. Der Fahrer stellte die Musik aus und öffnete die Tür. Er stieg aus und schaute die Straße erst in die eine, dann in die andere Richtungen hinunter. »Die muss doch irgendwo sein«, sagte er.
»Oder sie wohnt hier«, rief jemand aus dem Auto.
»Komm.« Noch eine andere Stimme. »Wir haben zu tun. Wir suchen doch den Björn.«
Der Fahrer setzte sich in den Wagen, stellte die Musik wieder an. Es war fürchterlicher Krach. Neben sich hörte Kareem jemanden kichern.
Hinter einem Balkon auf der gegenüberliegenden Straßenseite ging das Licht an. Zweiter Stock. Ein großer Mann trat heraus und sah auf die Straße. Er stellte sich an die Brüstung und zündete sich eine Zigarette an. Die vier Män- ner fuhren davon. Der auf dem Balkon beugte sich so über die Brüstung, dass er dem Auto nachsehen konnte.
»Ganz leise jetzt«, sagte Issam.
»Hnnnnnnnn!«, machte das Bündel. Kareem trat nach hinten aus.
In der gleichen Etage ging ein weiteres Licht an. Ein anderer Mann kam heraus. Auch er zündete sich eine Zigarette an. Die beiden Männer blickten sich nicht an. Kein Wort fiel zwischen ihnen. Als der erste zu Ende geraucht hatte, schnippte er die Kippe nach unten und zog sich zurück. Der andere tat es ihm kurz darauf gleich und verschwand auch.
Emeka hielt Tanja immer noch im Arm, als sich Kareem umdrehte. Er sah, wie sie sich befreite und mit dem Absatz genau in die Mitte des Bündels trat.
»Iiiiiirrr …«, kam es hinter der Borussia-Hose hervor. »Iiiiiirrr …«
Er wusste, dass der Verschnürte ein Nazi war, aber Kareem tat es beim Zusahen weh. Instinktiv zog er die Hoden ein.
Tanja trat noch einmal zu und dann noch einmal. Das Bündel krümmte sich, so gut es ging. Kareem zog sie weg.
Sie blies vor Wut. »Am Anfang haben sie gesagt, dass Washington nie wieder einen hochkriegt. So sehr haben sie ihn getreten. Da lag er ja schon am Boden. Und …«
»Wie viele waren die denn?«, fragte Issam.
»Drei. Der eine hat mich festgehalten. Und die anderen haben Washington verprügelt. Und als er am Boden lag haben sie ihn zuerst gegen den Kopf getreten. Und dann … Es war so schrecklich. Der war das.«
»Und dann?«, fragte Issam.
»Der, der mich festgehalten hat, der hat mir eine geschallert. Ganz fest. Aber ich hab das gar nicht gemerkt. Ich hab nur Washington gesehen. Dann sind sie weg.«
Eine S-Bahn passierte die Brücke von Tempelhof kommend.
»Jetzt?«, fragte Kareem und ließ Tanja los.
Issam griff sich die Füße. Tanja griff unter die Knie. Kareem bückte sich und wartete auf Emeka. Auntie Mo stand dabei und sagte kein Wort. Das Bündel wand sich. Vor Schmerz oder um sich zu wehren.
»Bestimmt kommt bald eine«, sagte Tanja.
»Beeilung«, sagte Issam.
»Kommt«, sagte Emeka.
Als sie ihn sicher im Griff hatten, erlahmte der Widerstand des Bündels etwas. Kareem überprüfte, ob die Straße frei war. »Also«, sagte er.
Sie stürzten aus dem Gebüsch und gingen eilig zur Brücke. Der Typ war mager und leicht.
An der Hermannstraße wartete eine S-Bahn auf die Weiterfahrt. Sie konnten die Scheinwerfer sehen. Ganz leise war die Ansage zu hören. Das Bündel begann, sich zusammenzuziehen. Die Türen der Bahn würden sich jetzt schließen. Sie hatten ihn immer noch fest im Griff, als die S-Bahn losfuhr.
»Wir müssen ihn aufs Geländer legen«, sagte Emeka.
»Mit Schwung dann.« Kareem war der Zug schon viel zu nah. Jetzt mussten sie sich beeilen. »Auf drei«, sagte er. »Eins …«
»Zwei …«, sagte Issam.
»Halt«, rief Tanja. »Das ist er nicht.«
Alle ließen zur gleichen Zeit los. Das Bündel knallte gegen das Geländer und fiel dann vor ihnen auf den Fußweg. Die S-Bahn rauschte unter ihnen hindurch.
»Was heißt: Das ist er nicht?« Emeka stand direkt vor Tanja. Auntie Mo schüttelte den Kopf.
»Da«, sagte Kareem. Er zeigte auf das Gesicht. »Die Narbe.«
»Sie ist auf der falschen Seite.«
»Wie falsche Seite?«
»Die falsche Seite.«
Alle beugten sich über das Bündel.
»Da …«, sagte Tanja. Sie fuhr die Narbe unter dem rechten Auge nach. Kurz und dick gab sie dem Auge den Anschein, als würde es leicht schräg zu dem anderen liegen.
»Die muss da sein«, sagte Tanja. Sie zeigte auf die linke Wange. »Von hier …« Das war direkt neben dem Auge. »Bis da …« Das war fast am Mundwinkel. »Ganz anders.«
»You sure?«, fragte Auntie Mo.
»Ja. Absolut. Er hat mich immer wieder so angegrinst, als er Washington zwischen die Beine getreten hat. Das vergisst man ja nicht.«
Alle richteten sich wieder auf.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Issam.
Schweigen. Eine S-Bahn kam aus Tempelhof.
»Nazi ist er auf jeden Fall«, sagte Emeka. »Keine Frage.« »Hast du denn die beiden anderen gesehen«, fragte Kareem.
»Den einen gar nicht. Den, der mich festgehalten hat. Und den anderen nicht richtig.«
»And these guys in the car?«, fragte Auntie Mo.
»Keine Ahnung. Die konnte man ja nicht erkennen.« »Wisst ihr was?« Issam hielt den Zeigefinger hoch. »Wir lassen ihn hier liegen. Dann kommt die Polizei und findet ihn. Der hat bestimmt einen Haftbefehl offen …«
»Wenn die Polizei das überhaupt mal interessiert?«, sagte Kareem. »Aber okay …« Er dachte nach. »Schillerkiez? Ein letztes Bier?«
Alle setzten sich in Bewegung. An der Kreuzung, ganz in der Nähe vom Gebüsch, wo sie sich versteckt hatten, fiel Kareem noch etwas ein. Er ging zurück zu dem Bündel.
Als er sich über den Jungen beugte, weiteten sich dessen Augen. Er hatte immer noch Angst. Kareem zog ihm die Borussia-Dortmund-Hose aus dem Mund.
Die Augen des Jungen wurden schmaler. Kareem sah, wie er die Muskeln um seinen Mund herum anspannte. »Kanacke«, sagte der Junge heiser.
Kareem holte das Telefon des Nazis aus der Hosentasche. Er warf es auf die Gleise, als an der Hermannstraße eine S-Bahn startete. Dann drehte er sich um und ging den ande- ren hinterher. Er freute sich auf das Bier.

Max Annas «Der Hochsitz» Rowohlt, 2021, 272 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-498-00208-4

Max Annas, geboren 1963, arbeitete lange als Journalist, lebte in Südafrika und wurde für seine Romane «Die Farm» (2014), «Die Mauer» (2016), «Finsterwalde» (2018) und «Morduntersuchungskommission» (2019) sowie zuletzt «Morduntersuchungskommission: Der Fall Melchior Nikolai» (2020) fünfmal mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet. Bei Rowohlt erschien ausserdem «Illegal» (2017).

Rezension mit Interview von «Der Hochsitz» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Max Annas

Alexandra Lavizzari «Silke», ein Romananfang

Seit Tagen herrschte mieses Wetter. Ich meine, wirklich mieses Wetter. Nicht grollender Donner und blendende Blitze, das wäre ja noch aufregend gewesen, auch stürzten keine golfballgrossen Hagelkörner runter, nein, es tröpfelte nur leise, dafür anhaltend. Das war eine Weile in Ordnung, tut ja den Blumen im Garten gut, aber als es dann am nächsten und übernächsten Tag immer noch leise und anhaltend tröpftelte, wurde es langweilig, zumal das Grau über den Dächern sich auch nie veränderte oder, wenn man genau hinschaute, höchstens mal von asch- zu mausgrau wechselte und umgekehrt.
Mies eben.
Als ich jung war, verliefen meine Launen und Gemütsschwankungen unabhängig vom Wetter. Ich konnte im tiefsten Winter die glücklichste Schneeprinzessin sein und im Hochsommer ein Häufchen Elend. Mit zunehmendem Alter begann ich jedoch, mein inneres Klima dem äusseren anzugleichen, ich weiß nicht, warum das so ist; vielleicht waren es die Hormone, es sind ja immer die Hormone, wenn man nicht weiß, warum einem so oder so zumute ist, jedenfalls funktionieren wir inzwischen fast schon in vollkommener Harmonie, das Wetter und ich, womit ich letztlich sagen will, dass es mir damals seit Tagen mies ging.
Wenn es mir mies geht, schlurfe ich entweder ziellos durchs Haus oder verkrieche mich mit einem Buch ins Bett, das ich nach drei Seiten weglege, um mich unter der Decke zu verstecken. Das Herumschlurfen tue ich im Bademantel, denn zur miesen Befindlichkeit gehört, dass ich den Sinn des Duschens, Haarekämmens und Ankleidens nicht einsehe und es mir auch egal ist, was Martin von mir denkt. Jene Tage aber waren anders. Ich fühlte mich mies, keine Frage, doch duschte ich morgens, kämmte mich und zog auch was einigermaßen Hübsches an. Ich konnte sogar mit Martin einen Spaziergang machen und die Kirschblüten bewundern – wir waren im Mai – , und wenn es sein musste, führte ich auch ein Gespräch mit ihm. Es waren keine tiefen Gespräche, nichts Philosophisches oder Politisches, aber besprechen, was wir einkaufen sollten und wer diese Woche den Rasen mäht, das ging. Alles andere war verlorene Mühe, ich war einfach nicht dabei. Wer redete, war weit weg von mir, und ebenso erging es mir, wenn ich Nachrichten oder einen Film schaute. Bilder und Wörter bedeuteten rein gar nichts, und da sass ich dann Abende lang neben Martin auf dem Sofa und hatte keine Ahnung, was ablief.
Immerhin wusste ich diesmal, warum ich in diesem Zustand war. Das Wetter spielte sicher eine Rolle. Jedesmal wenn ich aus dem Fenster blickte, schlugen mir das leise, anhaltende Tröpfeln und ewige Himmelgrau ein bisschen mehr aufs Gemüt, aber der eigentliche Grund lag anderswo, nämlich buchstäblich in der obersten Schublade des Flurmöbels zwischen Schlüsselbund und Sonnenbrillenetui. Dort hatte ich Silkes neue Ansichtskarte versorgt. Ad acta gelegt sozusagen.
Wobei ich mir keine Illusionen machte; nach unzähligen ähnlichen Karten wusste ich, dass ich sie nicht so ohne weiteres würde ad acta legen können. Die Karte blieb in meinem Kopf eingraviert, ob sie nun im Flurmöbel lag oder im Papierkorb landete. Einstweilen hatte das Flurmöbel den Vorteil, dass die Ansichtskarte unsichtbar und gleichzeitig in Reichweite blieb. Ich konnte daneben stehen und es beim Zuknöpfens der Jacke bei einem flüchtig unangenehmen Gefühl belassen, oder, auch möglich, vor dem Hinausgehen die Schublade ziehen und mich der Ungeheuerlichkeit stellen. Letzteres wagte ich selten und nur, wenn ich allein war. Das unangenehme Gefühl war schwer genug zu verkraften, es schwankte zwischen Wut und Hilflosigkeit und machte mich grantig, doch mit etwas Glück lenkte mich Martin ab, weil er gerade den Mantelärmel nicht erwischte oder den Schirm nicht fand, so dass ich beim Helfen auf andere Gedanken kam.
Besagte Ansichtskarte war nicht irgendeine Ansichtskarte, sondern Silkes Ansichtskarte. Der Name stand gut lesbar am unteren rechten Rand hinter den herzlichen Grüssen, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt gewesen, dass sie mir welche schickt. Überhaupt gab sich diese Karte verglichen mit früheren ziemlich harmlos. Keine Ansicht von Weimar mit tiefgründigem Goethezitat, keine Reproduktion von Magrittes ‚Die durchbohrte Zeit‘, über deren Bedeutung ich mir den Kopf zerbrechen musste, nichts Verfängliches diesmal, sondern bloss ein Strand, weit und golden wie auf Werbeprospekten, dahinter ein Streifen Meer, in das eine Seebrücke hineinwächst, und das Wort ‚Ahlbeck‘ in Kursivschrift quer über den Himmel gezogen. Ich hatte noch nie was von Ahlbeck gehört, doch dank Google war ich bald im Bild: Ahlbeck liegt auf der Insel Usedom nahe der polnischen Grenze, zählt zusammen mit Heringsdorf und Bansin zu den drei sogenannten Kaiserbädern und besitzt eine der imposantesten Seebrücken der Ostsee. Ein eleganter Bade-, Ferien- und Kurort also: Das passte zu Silke. Wenn ich mich nicht täusche, kam sie sogar von dieser Ecke.
Martin habe ich nie von Silke erzählt. Selbst am Anfang nicht, als wir uns noch für unsere Vorgeschichten interessierten. Ich beichtete ihm damals ein paar Ladendiebstähle und Tändeleien mit Unikollegen, erwähnte vielleicht auch diese oder jene Schulfreundin, mit der ich nach der Matur eine Weile in Kontakt blieb, aber über das letzte Schuljahr, jenes, in dem Silke zu uns stieß, habe ich stets geschwiegen. Hätte die Karte im Flurmöbel doch mal Martins Neugier geweckt, was ich bezweifelte, hätte ich versucht, so gelassen wie möglich zu antworten: „Silke? Ach, das ist eine ehemalige Schulkameradin von mir. Keine Ahnung, warum sie mir immer wieder Karten schreibt. Ich schreibe jedenfalls nie zurück, wüsste nicht einmal, wohin.“ Es wäre nicht gelogen gewesen – aber die Wahrheit wiederum auch nicht. Wie auch immer, ich brauchte mir deswegen keine Gedanken zu machen, Martin fragte nicht. Er stellt mir kaum Fragen, über meine Vergangenheit schon gar nicht. Vielleicht fürchtet er, ich könnte mit etwas Unerhörtem aufwarten, das ihm sein Bild von mir zerstört; er schaut mich manchmal ganz unauffällig von der Seite an und beisst sich dabei auf die Unterlippe, das tut er immer, wenn ihn etwas beschäftigt, aber wenn ich ihn frage, was los ist, ob ich Zahnpasta im Mundwinkel habe oder meine Wimperntusche schmiert, sagt er immer „nichts, Schatz, alles ist in Ordnung“ und blickt auf den Boden. So einer ist Martin. Ein Verschlossener, nach innen Gewandter. Einer, den ich an guten Tagen ‚mein stilles Wasser‘ nenne und an schlechten ‚die Wand‘.
An dem Tag war er irgendwie beides. Wir schwiegen während der ganzen Dauer unseres Spaziergangs zum Fluss und anschliessenden Einkaufsbummels. Daran ist an sich nichts Aussergewöhnliches, wir schweigen fast immer, wenn wir nebeneinander gehen, aber der Einkauf nahm dieses Mal mehr Zeit in Anspruch, weil ich im Bioladen Sanddornsaft und in der Papeterie Pauspapier kaufen wollte, und dort kam Martins zwiespältiges Schweigen plötzlich zu voller Geltung. Im Bioladen war es noch das klassische Stilles-Wasser-Schweigen, an das ich mich über die Jahre gewöhnt habe, aber als ich mir in der Papeterie noch das neu eingetroffene handgeschöpfte japanische Papier zeigen liess, spürte ich, wie sich Martin hinter meinem Rücken versteifte. Beim vierten Papierbogen war die Verwandlung vollzogen und es herrschte Wandschweigen. Klar, einkaufen ist nicht Martins Ding, ich weiß das, er kommt nur mit, um die Taschen zu tragen und mir nicht das Gefühl zu geben, dass ich immer alles allein machen muss. Vielleicht war es sogar meine Schuld, das Wandschweigen. Weil ich seine Geduld strapazierte, weil ich mich zu sehr ablenken liess, weil ich zu neugierig auf neue Produkte war, will heissen ‚zu kapitalistisch veranlagt‘, meinetwegen. Ich habe das alles, und mehr, schon hundert Mal aus seinem Schweigen herausgehört. Da Martin seine Vorwürfe jedoch nur im Extremfall ausspricht, kann ich nicht sicher sein, was ihn genau stört, und an jenem Morgen, da ich nicht bei der Sache war, schon gar nicht.
Immerhin hatte ich mir mit einem japanischen Papierbogen eine kleine Freude gegönnt. Es brauchte wenig, um meine Laune um ein paar Grad und ein paar Stunden zu heben, ein mit Goldpailletten durchzogenes Stück Washi, keine zehn Gramm schwer, und schon verzog sich ein Wölkchen am dunklen Horizont. Die schwerste Wolke aber drückte weiter auf meinem Gemüt. Als ich den Papierbogen im Atelier auspackte und mir schon ausmalte, wie der nächste Holzdruck darauf wirken würde, überrollte mich die Ungeheuerlichkeit von Silkes Karte wie ein Tsunami. Ich spürte, wie das Blut mir in den Kopf raste, sah für den Bruchteil einer Sekunde schwarz, ja, ich schwamm plötzlich in einem Meer unendlicher, tiefster Schwärze, schwankte haltlos, bevor ich irgendwie die Stuhllehne erwischte, mich setzen konnte und langsam wieder klar sah. Silke! Sie war vor neununddreissig Jahren gestorben! Sie konnte mir gar keine Karten schreiben, weder aus Ahlbeck noch aus Weimar. Und aus dem Jenseits schon gar nicht. Diese Einsicht war natürlich nicht neu, ich wusste in jeder Minute meines Lebens, dass Silke tot ist. Aber es gibt wissen und wissen. Wie beim eigenen Tod. Man weiß, dass man irgendwann drankommt, doch dieses Wissen dringt gewöhnlich nicht durch, es bleibt beim vagen Irgendwann, das kann man aushalten, und dann gibt es wie aus heiterem Himmel Momente, in denen die Einsicht tiefer dringt und unseren ganzen Körper, unser Denken und Fühlen schlagartig mit Grausen erfüllt.

Alexandra Lavizzari, 1953 geboren in Basel, studierte sie Ethnologie und Islamwissenschaft. Nach langjährigen Aufenthalten in Nepal, Pakistan und Thailand lebt sie seit 1999 in Rom, in der Schweiz und in England. Sie schreibt für Schweizer Zeitungen und ist Autorin von zahlreichen belletristischen, kunstgeschichtlichen und literaturkritischen Werken. Für ihr Schaffen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Bieler Literaturpreis, dem 13. Würth Literaturpreis, der Poetik-Dozentur der Universität Tübingen und dem Feldkircher Lyrikpreis.

Peter Henisch «Über Rilke (eine Textstelle, die es nicht in den Jahrhundertroman schaffte)»

Angeblich schrieb er zuerst etwas ganz Anderes. Sollte irgendwelche Briefe beantworten, die ihm lästig waren, vielleicht Fanpost. Saß, so heißt es, im Zimmer, das war wahrscheinlich ein hoher Raum. Aber trotzdem, so empfand er es möglicherweise in diesem Moment, von einer beklemmender Enge.

Draußen blies die Bora, dieser berüchtigte, enervierende Wind. Da spürte er den Druck an den Schläfen, den wetterfühlige Leute schon bei Föhn spüren. Und gewiss war er wetterfühlig, das kann man sich vorstellen, wenn man ein Foto von ihm ansieht. Er hat so was im Gesicht, so eine Hypersensibilität, so eine mit der Zeit zum physiognomisch sichtbaren Ausdruck gewordene Überempfindlichkeit.

Und er steht auf vom Schreibtisch auf und tritt ans Fenster.

Und sieht, fast erschrocken über so viel plötzlich über ihn hereinbrechende Helligkeit das Meer glänzen.

Und obwohl das Licht draußen noch greller sein wird, und seine Augen erst recht überempfindlich sind, wird er hinaus ins Freie stürmen. Und wird aus dem Sturm eine Stimme hören – vielleicht das Echo seiner eigenen Stimme, obwohl er noch gar nicht gerufen hat.

Wer, wenn ich schriee –

hörte mich denn aus der Engel

Ordnungen

Und das ist zweifellos eine recht hochgestochene, hochgeschraubte Formulierung, aber gewiss auch, ja doch, ein gewaltiger Satz.

Den habe Rilke, heißt es, sofort niedergeschrieben, Notizbuch und Bleistift hatte er anscheinend bei sich, der heftige Wind hat ihn dabei merkwürdigerweise nicht gestört.

Stimmt, Roch erinnert sich: Er war mit Ingrid dort gewesen. Auf dem Rilke-Pfad, zwischen Duino und Sistiana. Unten das Meer, glitzernd, oben ein Raubvogel mit von der Sonne durchleuchteten Flügeln. Schön, aber trotzdem enttäuschend – der Pfad war auf halbem Weg gesperrt.

Sie wollten über das Gitter klettern, sie fühlten sich damals noch jung. Aber da war ein Custode, der sie daran hinderte. E pericoloso! Der Weg sei durch Unwetter beschädigt. Der Rand drohe abzurutschen. Sie würden abstürzen.

Dann am Abend, im Albergo, hatten sie die erste Elegie nachgelesen.

Wer, wenn ich schriee … Zweifellos beeindruckend … Aber nicht doch auch eine Spur zu prätentiös?

Übrigens sei dieser Text, so groß er im Ansatz klang, in gewisser Hinsicht auch kleinmütig

Um an sich als Engelbeschwörer zu glauben, dazu war dieser beinah Begnadete dann doch wieder zu skeptisch.

Dann am Abend, im Albergo, hatten sie die erste Elegie nachgelesen.

Wer, wenn ich schriee … Zweifellos beeindruckend … Aber nicht doch auch eine Spur zu prätentiös?

Übrigens sei dieser Text, so groß er im Ansatz klang, in gewisser Hinsicht auch kleinmütig

Um an sich als Engelbeschwörer zu glauben, dazu war dieser beinah Begnadete dann doch wieder zu skeptisch.

Sie blätterten damals auch in einer Biographie, die, adrett arrangiert, unter einer Vase mit parfumierten Kunstblumen, auf dem Tisch ihres Zimmerchens lag. Rainer Maria Rilke, in vergoldeten Lettern. Dieser Mensch hatte (abgesehen von seiner literarischen Begabung) ein erstaunliches Talent, noble Bekanntschaften zu machen. Gast auf Schloss Duino, eingeladen von einer Fürstin, Marie von Thurn & Taxis Hohenlohe und weiß Gott was noch.

Anfangs leistete sie ihm noch Gesellschaft, lud ein paar andere Gäste ein, die den Dichter besichtigen durften, aber dann (ab Mitte Dezember 1911) überließ sie ihn sich selbst. Begab sich auf ein anderes ihrer Schlösser. Aber die Köchin und der Kammerdiener blieben natürlich zu Rilkes Verfügung. Offenbar dezente Personen, die er nur sehr nebenbei bemerken musste.

Nun bin ich wirklich, seit vorgestern, ganz allein in dem alten Gemäuer, schrieb der Dichter an eine andere edle Freundin, eine geborene Prinzessin von und zu – den Adelsnamen hatte Roch vergessen.

Nein, hatte Ingrid gesagt, ich halte diesen Typ nicht aus!

Aber er ist ein Jahrhundertdichter, hatte Roch eingewandt.

Schon möglich, so Ingrid, aber dann hat sich im Jahrhundert geirrt – in was für einer Welt hat denn der gelebt, ich bitt dich!?

Aber er habe doch auch Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge geschrieben und das sei doch ein durch und durch moderner Roman.

Ach was, sagte Ingrid, der Protagonist, dieser überempfindsame Däne in Paris, sei ja im Grunde auch von einem anderen Stern.

Ein Wort gab das andere. Am Ende waren sie fast aufeinander böse gewesen wegen Rilke. Und hatten sich erst im Bett versöhnt, in dem sie, zuerst voneinander abgewandt, bald aufeinander zu rollen mussten, weil die Matratze derart durchhing.

Und Roch blättert weiter. Er sucht ja nach wie vor Musil. Doch ein paar Seiten später: noch immer Rilke. Allerdings nicht mehr in Duino, in diesem Schloß mit der atemberaubenden Aussicht. Sondern in der Stiftskaserne, einem schmutzig- kaisergelben Gebäude im siebenten Wiener Bezirk.

Die Fenster sind offen, die Räume müssen täglich zwei Mal gelüftet werden. Das hat der Major, dem die dubiosen Schreiber in dieser Abteilung unterstellt sind, so angeordnet. Rilke hüstelt, er ist für Verkühlungen anfällig. Doch so viel ist wahr, gelüftet muss werden, jeweils mindestens zehn Minuten sollen die Fensterflügel sperrangelweit offen stehen, sonst hält man den Mief hier drinnen einfach nicht aus.

Da sitzt er nun, Rilke – hängende Schultern, runder Rücken, vor sich eine verblichen grüne Schreibunterlage aus Filz. Durch die halb vergitterten Fenster sieht man nichts als die Häuserfront vis à vis. Und dort auf dem Dachfirst ein paar steinerne Engel. Allerdings elend schlecht gelungene, zu Karikaturen misslungene Engel aus irgendeiner mediokren Manufaktur.

Rilke, der zu einer Zeit, die nun sehr fern scheint, fast unwirklich, weil es damals zwischen Deutschland und Frankreich noch keine von Tag zu Tag wachsende Barriere aus Leichen gab –

Rilke, der die Arbeit des großen Rodin in seinem Atelier zu Paris beobachtet und beschrieben hat –

der die Entstehung von Skulpturen bis in die Fingerspitzen, bis an die Schmerzgrenze nachfühlt –

Rilke kann diese Engel gar nicht länger ansehen.

Diese bedauernswerten Engel, die später dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer fallen werden. (Von dem man damals, mitten im ersten, noch nichts ahnt.) Diese Engel haben Käppchen aus dreckigem Schnee auf den Köpfen. Unter ihren Füßen hängen Wächten,

von denen ab und zu ein Stück abstürzt, was jedes Mal ein dumpfes Geräusch auf dem Gehsteig verursacht.

Und da sitzt er nun also fröstelnd am Schreibtisch. Es ist Februar 1916, die Nachrichten von den Fronten sind schlecht. Eine trübe Verdrießlichkeit liegt in der Luft, ein bis in die Knochen spürbarer Pessimismus. Sogar die Stimmen der Fiakerkutscher, die unten vor dem Tor der Stiftskaserne auf Offiziere warten, klingen inzwischen kleinlaut.

Ein paar Wochen wird es dauern, hat es im August 1914 geheißen, vielleicht ein paar Monate. Und gewiß wird man Opfer bringen müssen, Soldaten werden fallen, doch dazu sind sie schließlich da. Aber das wird sich unten in Serbien abspielen oder oben in Galizien und der Bukowina. Na ja und wenn die deutschen Bundesgenossen durchaus wollen, dann sollen sie halt dort drüben in Frankreich einmarschieren.

Bloß: Dass man hier, in dieser Haupt- und Residenzstadt, in der zwar vielleicht manchmal streitlustige aber im Grund ihres Herzens doch friedliche Menschen (ungefähr zwei Millionen) wohnen, auf einmal von der Heimatfront reden wird, das hat man nicht erwartet. Und dass man nicht nur Fleisch und Gemüse kaum mehr bekommt, sondern nun auch schon Marken für Brot und Mehl braucht. Die Freude am Krieg, falls es die je gegeben hat, kommt da leicht abhanden. Dagegen muss was getan werden, diesen defätistischen Schlendrian, darf man nicht einfach einreißen lassen.

So der Major. Das ist doch nicht zu viel verlangt. Ein bisschen dichten, meine Herrn, ein bisschen über den Krieg dichten. Über die Tapferkeit und das Durchhaltevermögen unserer Feldgrauen, über den auch bei taktischen Rückzügen ungebrochenen Willen zum Vormarsch. Sie haben doch Fantasie, sie müssen nicht wirklich dabei sein, ich würde sagen, das ist ein entscheidender Vorteil.

Und Sie, Rilke, werden doch auch noch was zustande bringen. Sie können das nicht? Sie würden einfache Abschreibarbeiten vorziehen? Jetzt reden Sie keinen Blödsinn, dafür haben wir Sie nicht hierhergeholt! Nehmen Sie sich ein Beispiel an Ihren Kollegen Werfel und Kisch, die können das ja auch.

Peter Henisch, geboren 1943 in Wien. Nachkriegskindheit, Wiederaufbaupubertät. Studium der Philosophie und Psychologie. 1969 gemeinsam mit Helmut Zenker Begründung der Zeitschrift «Wespennest». Seit den 1970er­n freischwebender Schriftsteller. 1975 erschien Henischs erster Roman «Die kleine Figur meines Vaters», seitdem zahlreiche Romane. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Österreichischen Kunstpreis

Rezension von «Der Jahrhunderroman» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild @ Eva Schobel