Max Küng «Fremde Freunde», Kein und Aber

Man wird in ein wunderschönes Haus im Burgund eingeladen, bekocht und nach Strich und Faden verwöhnt. Alles perfekt, wenn da nur die kleinen und grossen Katastrophen nicht wären, die wie heisses Magma unter der Oberfläche auf das Beben warten! Max Küngs neuer Roman «Fremde Freunde» ist ein Kammerspiel, das es in sich hat!

Saint-Jacques-aux-Bois liegt im Burgund. Ein Ort, von dem die meisten jungen Einheimischen weg wollen, solange sie können, weil es fast keine Verdienstmöglichkeiten gibt. Einer der Orte, wo es viele hinzieht, die sich mit entsprechender Brieftasche eines der grosszügigen Häuser und deren Renovation, Um- und Ausbau und Unterhalt leisten können, um ein paar Ferienwochen im Jahr etwas von dem zu zelebrieren, was ihnen in der Enge des Alltags unmöglich scheint, was ihnen Hochglanzmagazine vorbeten. Ein Haus mit Charme, ein grosser Garten, ein Obsthain hinter dem Haus, alte Bäume, unter denen man die Seele baumeln lassen kann – savoir vivre!

Jacqueline und Jean hatten sich eines gekauft, von einem in Geldnöte geratenen Freund, etwas unverhofft und schnell, das Haus mit grosser Kelle aus- und umgebaut und in jenes Idyll verwandelt, von dem sie erhofften, es würde sich als Paradies entpuppen, als Ort des Auftankens, der Ruhe, des Geniessens. Aber so sehr Jean bei dem Unternehmen den finanziellen Bogen überspannt hatte und die Kontostände zusammen mit der angespannten wirtschaftlichen Situation in Schieflache gebracht hatte, so sehr macht Jean jeden noch so kleinen Aufenthalt in dem Haus zur militärisch vorbereiteten Übung, die an der Gleichgültigkeit ihres halbwüchsigen Sohnes Laurent abprallt.

Max Küng «Fremde Freund», Kein & Aber, 2021, 432 Seiten, CHF 33.00, ISBN 978-3-0369-5838-5

Deshalb laden sie nicht ohne Hintergedanken zwei Paare ein, zum einen, weil man wusste, dass sich die Kinder verstehen würden, zum anderen weil man sich erhoffte, dass die Gäste ebenso ver- und bezaubert von dem Haus sein und im richtigen Moment formuliert mit wehenden Fahnen auf das Angebot des Miteigentümer-Seins einsteigen würden. Man würde vertrauter untereinander, käme sich näher, wären Gefährten – Fundamente einer Freundschaft. Eine Woche. Man lässt sich von den Gastgebern verwöhnen und bestaunen, beneiden und bewundern.

Aber wie erwartet zeigen sich schon in den ersten Tagen, in den ersten Stunden Risse im Konstrukt. Nicht nur in den von Jacqueline und Jean gehegten Plänen, sondern auch im Paradies in und ums Haus und in den Fassaden, die alle drei Paare mit Bedacht den anderen zu präsentieren versuchen. Die Wände sind dünn und manchmal auch die Haut. Während die einen die frische Liebe demonstrieren und es unter Tränen gar zu einem Hochzeitsantrag kommt, geben die andern die Trennung bekannt. Und während man in der Küche, am Tisch oder nachmittags im Garten unter den alten Apfelbäumen dem Genuss huldigt, verschwinden Schmuckstücke, bleibt das überdimensional grosse Geschäft im Klo liegen oder die Eingangstüre trotz gegenteiliger Versicherung tagsüber bei Abwesenheit sperrangelweit offen. Eines Tages liegt gar eine tote Ratte im Klo, die Jean nur unter Aufbietung letzter Kräfte im Kanal neben dem Haus zu entsorgen vermag. Etwas stimmt nicht. Nicht nur in den aufgesetzten Fassaden, nicht in der Freundlichkeit der Gastgeber, nicht in den Beteuerungen der Eingeladenen, nicht in den friedvollen, entspannten Tagen in Saint-Jacques-aux-Bois.

Bis Steine fliegen.

Als Kolumnist hält Max Küng der Gesellschaft und sich selbst schon seit Jahren einen Spiegel vor. Er kennt die Pappenheimer! Drei Ehepaare und ihre jugendlichen Kinder in einem Haus auftreten lassen – das machte dem geübten messerscharfen Beobachter ganz offensichtlich Spass. Spass, der sich auf mich als Leser überträgt, auch wenn sich am Ende des Romans die Geschehnisse für meinen Geschmack zu arg überstürzen, denn das, was in den drei Paaren und ihren Familien an grossen und kleinen Katastrophen schlummert, hätte für ein Finale gereicht. Trotzdem macht die Lektüre einen Heiden Spass. Max Küng entblösst. Nicht nur die Fassaden der Protagonist:innen, sondern auch die Gesellschaft, in der nur reüssiert, wer es auch zeigen kann. „Fremde Freunde“ entlarvt ohne zu karikieren und führt uns vor, was getarnte Absichten anrichten können. Eigentlich geht es im Roman um die Sehnsucht nach Freundschaft, nach Liebe und einem Zuhause, einem Heim, in dem man sich zu hundert Prozent geborgen und sicher fühlt. 

Max Küng liest am 10. September neben Usama Al Shahmani, Michael Köhlmeier, Philipp Theisohn, Stefan Keller, Valerie Fritsch, Silvia Tschui, Arno Camenisch, Yusuf Yesilöz, Peter Stamm und den Nominierten des 1. Weinfelder Buchpreises an den Weinfelder Buchtagen. Moderiert wird die Lesung von Max Küng von Gallus Frei-Tomic.

Max Küng, geboren 1969 in Maisprach bei Basel, ist seit 1999 Reporter und Kolumnist beim Magazin des Tages-Anzeigers. Neben diversen Musikkompositionen und Veröffentlichungen erschienen zuletzt seine Kolumnensammlung «Die Rettung der Dinge» und sein Roman «Wenn du dein Haus verlässt, beginnt das Unglück». Max Küng lebt in Zürich.

Weinfelder Buchtage

Webseite des Autors

Beitragsbilder © Maurice Haas

Einlandung zu «Literatur am Tisch» mit Martina Clavadetscher und ihrem Roman «Die Erfindung des Ungehorsams»

Am 7. Juli lädt Literaturport Amriswil zu «Literatur am Tisch» ein. Ein ganz besonderes Format mit einer ganz besonderen Autorin.

Hitze, Regen, beissender Gestank. Iris tigert in Manhattan durch ihr Penthouse und wartet voller Ungeduld auf die nächste Dinnerparty, die ihr wieder ein wenig Leben einhaucht. Ling, angestellt in einer Sexpuppenfabrik im Südosten Chinas, kontrolliert künstliche Frauenkörper auf Herstellungsfehler, bevor sie sich abends bei Filmklassikern in ihre Einsamkeit zurückzieht. Und im alten, düsteren Europa folgt Ada ihren mathematischen Obsessionen, träumt von Berechnungen und neuartigen Maschinen, das Ungeheuerliche stets im Kopf.

Drei Frauen in drei Welten: Sie alle sind auf der Suche nach einer Antwort – nach dem Kern der Dinge. Und sie alle sind, ohne es zu ahnen, miteinander verbunden.

Alle Teilnehmenden sollten das Buch gelesen haben. Das Treffen beginnt um 19 Uhr und dauert in der Regel bis 21 Uhr. Für 50 CHF bekommen Sie einen Abend in Literatur eingetaucht, Speis und Trank und eine unvergessliche Erinnerung!

Eine Anmeldung ist unerlässlich, die Platzzahl sehr beschränkt! info@literaturblatt.ch

Literatur am Tisch bei Gallus und Irmgard Frei-Tomic – das ist ein bisschen wie fliegen. Wenn ein knappes halbes Dutzend Leserinnen und Leser über ein Buch reden, unverkopft und unverkrampft, ehrlich und auf Augenhöhe, dann stellt sich ein Gefühl ein, als setze die Schwerkraft aus. Für zwei, drei Stunden. Eine wunderbare Leichtigkeit, die man gerade als Autor selten empfindet.
Ich wünsche Gallus und Irmgard, dass Sie noch lange die Kraft haben, Menschen auf diese Art und Weise das Gefühl vom Fliegen zu ermöglichen!“ Andreas Neeser

Martina Clavadetscher «Die Erfindung des Ungehorsams», Unionsverlag

Vielleicht ist es die Sehnsucht des Menschen nach der perfekten Maschine, der perfekten Hilfskraft, des perfekten, bedürnislosen Dienens. Ganz sicher ist er der Reiz des Machbaren, Erschaffer:in zu werden. „Die Erfindung des Ungehorsams“ ist eine Geschichte in der Geschichte in der Geschichte. Ein Roman, der den menschlichen Code zu knacken versucht, jenes Geheimnis, das uns zu Menschen macht.

Schon in ihrem letzten Roman „Knochenlieder“ spielte Martina Clavadetscher derart gekonnt und verblüffend mit ihrer Sprache, ihrem Sound, ihrer Konstruktion, ihrem ganz eigenen Instrumentarium, dass sie für mehr als „nur“ den Schweizer Buchpreis nominiert wurde. „Die Erfindung des Ungehorsams“ ist die grosse Schwester ihres letzten Romans. Formal ähnlich gestaltet (im Flatter- nicht im Blocksatz), manchmal fast an Lyrik erinnernd, über weite Strecken geschrieben, als wäre die Autorin monologisierend auf einer schwarzen Bühne im Scheinwerferlicht, das Szenario in den Köpfen der Zuhörer:innen aufsteigen lassend. „Die Erfindung des Ungehorsams“ geht aber noch einen Schritt weiter, steht „Knochenlieder“ in nichts nach, überflügelt ihn.

„Ihr Leben verläuft nach Plan.“

Martina Clavadetscher will nicht einfach eine spannende Geschichte erzählen. Sie erzeugt während des Lesens das Bewusstsein, wie schmal der Grat zwischen Realität und Künstlichkeit ist, wie nah wir uns in unserer Gegenwart einer bedrohlich werdenden Zukunft nähern, wohin uns unsere Fantasielosigkeit gepaart mit Profitdenken führen kann, wie klein der Unterschied ist zwischen Menschlichkeit und Automatismus. Dabei rankt sich ihre Sprache in Sphären, die in der deutschsprachigen Literatur nur selten anzutreffen sind. Ihre Sprache, ihr Erzählen ist alles andere als künstlich und schafft einen erstaunlichen Kontrast zum fast blutleeren Geschehen in der Geschichte.

„Gesetzmässigkeiten tarnen sich bloss mit Willkür, damit das Logische nach aussen unlogisch wirkt.“

Martina Clavadetscher «Die Erfindung des Ungehorsams», Unionsverlag, 2021, 288 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-293-00565-5

Iris lebt irgendwo in Manhattan in einem Penthouse. Sie erwartet Gäste, wartet mit Ungeduld. Es wird eine kleine Party sein, wie immer und jedes Mal, mit Godwin und Wollstone, zwei älteren Damen. Iris hat den Part der Erzählenden, während die Gäste lauschen. Iris erzählt aus dem Leben von Ada, Ada Lovelace, die es wirklich gab, die vor mehr als 200 Jahren in England lebte und die Tochter jenes berühmt, berüchtigten englische Dichters Lord Byron (1788–1824) war, den sie aber nie kennen lernte. Von ihrer gestrengen Mutter (im Buch Übermutter) erbte sie das überdurchschnittliche Geschick mit Zahlen, das sie schon in jungen Jahren mit dem Mathematiker Charles Babbage zusammen brachte, der eine Differenzmaschine entwickelte, etwas, das sich als Vorläufer der heutigen Computer entpuppte. Ada, einst ein kränkliches Kind, von der Mutter überbehütet, um es aus dem langen Schatten ihres unseligen Vaters zu zerren, entwickelte mit Charles Babbage die Idee einer Maschine, die weit mehr kann, als jene Spielmaschinen, mit denen man damals ein Publikum zu faszinieren vermochte.

In „Die Erfindung des Ungehorsams“ ist die Geschichte eingebetet in jene der „Halbschwester“ Ling, die an einem andern Irgendwo irgendwann Arbeiterin in einer Produktionsstätte für Sexpuppen ist, alle identisch konzipiert nach dem Vorbild einer Schauspielerin, einer Fanny Lee, die die Hauptdarstellerin eines Film ist, den Ling längst zu ihrem Lebensbegleiter gemacht hat, den sie immer wieder in ihren dämmrigen Feierabenden sieht, nach Tagen, die zwischen Fabrik und Wohnsilo immer gleich aussehen. Lings Arbeit in der Fabrik ist es, die Körper nach dem Guss nach Silikonresten zu untersuchen, bevor sie noch ohne Kopf an einen Haken gehängt werden, um in einer nächsten Halle mit dem Haupt versehen zu werden, einem Modul, das interaktiv auf einen zukünftigen Besitzer regieren soll.

„Ling, das Programm hat gelernt zu lügen.“

Ling ist einsam. Bis sie einen der kopflosen Körper mit nach Hause nimmt, bis sie Jon B., einen der Wachmänner der Sexpuppenfabrik bei sich zuhause einlässt, bis der Wunsch nach Gemeinschaft aus den Treffen in Lings Wohnung Konspiration werden lassen und ein Wagnis daraus entstehen soll.

Martina Clavadetscher verwebt die verschachtelten Erzählstränge aber so, dass ich als Leser nie den Überblick verliere, gewisse Details und Feinheiten aber doch nur bei ganz genauer Lektüre zum Vorschein kommen. So wie etwa das Detail, dass hinter den Namen Godwin und Wollstone die Mutter der Schriftstellerin Mary Shelley, der Schöpferin Frankensteins, Mary Wollstonecraft-Godwin verbirgt. Frankenstein, ein Diener, ein Geschöpf aus der Hand eines Menschen, abgekoppelt von einer natürlichen Ordnung.

„Das Unzähmbare lebt. Es keimt. Und bringt etwas ganz Eigenständiges hervor.“

Martina Clavadetscher gelang mit ihrem Roman „Die Erfindung des Ungehorsams“ Erstaunliches und Verblüffendes! Der Roman bietet genau das, was sich Leser:innen wünschen, die mehr als nur unterhalten werden wollen. „Die Erfindung des Ungehorsams“ ist vielschichtig, vieldeutig und poetisch zugleich!

© Ingo Höhn

Martina Clavadetscher, geboren 1979, studierte Germanistik, Linguistik und Philosophie. Seit 2009 arbeitet sie als Autorin, Dramatikerin und Radio-Kolumnistin. Ihr Prosadebüt «Sammler» erschien 2014. Für die Spielzeit 2013/2014 war sie Hausautorin am Luzerner Theater. Mit ihrem Theaterstück «Umständliche Rettung» gewann sie 2016 den Essener Autorenpreis und war im selben Jahr für den Heidelberger Stückemarkt nominiert. Für «Knochenlieder» erhielt sie 2016 den Preis der Marianne und Curt Dienemann-Stiftung und wurde 2017 für den Schweizer Buchpreis nominiert.
Martina Clavadetscher lebt in der Schweiz.

Rezension und Interview zu «Knochenlieder» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Beitragsbilder © Ingo Höhn 

25. Internationales Literaturfestival Leukerbad, 25. – 27. 6. 2021, Jubiläumsausgabe am Fusse der Gemmi

So viele Mitwirkende wie nie zuvor kommen am letzten Juniwochenende nach Leukerbad zur 25. Ausgabe des Internationalen Literaturfestivals.

Erstmals werden die besonderen Leseorte in Leukerbad um zwei Festivalzelte ergänzt, um flexibel auf Wetter und Hygieneauflagen reagieren zu können.
45 Autorinnen und Autoren, Publizistinnen, Philosophen, Wissenschaftlerinnen, Verleger und Übersetzerinnen reisen für das 25. Internationale Literaturfestival nach Leukerbad. Neben der Gesprächsreihe «Perspektiven» und der Literarischen Wanderung rundet eine Auftaktveranstaltung in Zürich die Jubiläumsausgabe ab.

Gesprächsreihe «Perspektiven»

In insgesamt acht Gesprächen geht die Reihe «Perspektiven» vielfältigen Fragen aus Literatur und Gesellschaft nach. Angefangen in der Schweiz: Wie steht es um den Röstigraben im Literaturbetrieb und welchen Stellenwert hat die Literatur der Romandie in der deutschsprachigen Schweiz? Weitere Gespräche widmen sich dem globalen Phänomen des erstarkenden Populismus und Nationalismus sowie dem Zusammenhang von «Kapital und Ressentiment». In hochkarätiger Besetzung wird ausserdem über die strukturellen Hintergründe von physischer und psychischer Gewalt gegen Frauen debattiert. Und schliesslich werden Ansätze untersucht, Lyrik neu zu denken.

Geschichte des Internationalen Literaturfestivals Leukerbad

1996 lud der Leukerbadner Ricco Bilger zusammen mit René Grüninger zum 1. Internationalen Literaturfestival Leukerbad ein. Innerhalb von zehn Ausgaben avancierte das Festival zum Anziehungspunkt für Literaturinteressierte. Die heutige Festivalleitung, Hans Ruprecht (seit 2006) und Anna Kulp (seit 2007), baute das Festival in 15 Jahren zu einem Knotenpunkt der europäischen Literaturszene aus: Die Eintrittszahlen sind von 1200 gezählten Eintritten im Jahr 2006 auf zuletzt 3800 gestiegen. Statt 20 bis 25 Autorinnen und Autoren sind jetzt jedes Jahr 35 bis 40 in Leukerbad zu Gast. Das Festival hat sein Portfolio erweitert und sein Profil als innovatives und internationales Literaturfestival in der Schweiz geschärft.
Mit dem Übersetzungskolloquium, der Literarischen Wanderung, den Schreibwerkstätten, mit Auftaktveranstaltungen im Wallis oder in Zürich und vor allem mit der Gesprächsreihe „Perspektiven“ hat es seine Bekanntheit auch über die Landesgrenzen hinaus erhöht. Das Literaturfestival Leukerbad möchte einen Beitrag dazu leisten, die Welt, in der wir leben, in ihrer heutigen Komplexität auszuhalten und Inseln des Verstehens zu schaffen. Leukerbad, hoch oben in den Walliser Bergen, ist der perfekte Ort, um die Welt für ein paar Tage aus der Ferne zu betrachten und mit gestärktem Geist und ausgeruhtem Körper in den Alltag zurückzukehren.

Webseite des Festivals

Rolf Lappert «Leben ist ein unregelmäßiges Verb», Hanser

Rolf Lapperts neuer Roman „Leben ist ein unregelmäßiges Verb“ kann einem erschlagen! Sein Roman ist die Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies und den Lügen des Lebens. Erzählt mit weitem Horizont und der Magie eines Geschichtenzauberers!

Lesung mit Rolf Lappert am Donnerstag, den 3. Juni 2021, um 19:30 Uhr im Literaturhaus Thurgau / Bodmanhaus
Eintritt: CHF 10 // CHF 8 Freunde des Bodmanhauses // CHF 5 ermässigt
Wir bitte Sie um Anmeldung unter diesem Link.

Rolf Lapperts Winnipeg liegt nicht in Kanada, sondern irgendwo in der BRD-Provinz, in Niedersachsen, weit weg von der nächsten Siedlung. Dort versucht sich eine Kommune, abgeschottet von der Aussenwelt, einen eigenen Weg durch das Leben zu bahnen. Bis Ämter und Behörden Wind davon bekommen, dass dort Kinder ohne Schule, ohne Kontakt zur Aussenwelt, fest eingebunden in den Tagesablauf der Selbstversorger zu „befreien“ sind. Die Erwachsenen werden festgenommen, vor Gericht gestellt und verurteilt, die Kinder auseinandergerissen und in Pflegefamilien verteilt.

«Wir waren ein Wesen. Was einer dachte, wussten die anderen, was einer fühlte, empfanden wir alle.»

Rolf Lappert erzählt in „Leben ist ein unregelmäßiges Verb“ vier Leben; von Frida, Ringo, Leander und Linus, jenen vier Kindern, drei Jungs und einem Mädchen, die 1980 aus einer Landkommune behördlich befreit wurden. Damals vier Kinder, bis in die Gegenwart, in der sie sich längst verloren haben, nicht nur einander, sondern auch sich selbst. Was damals die Presse über die Kindheit der vier Kinder schrieb, scheint in keiner Weise mit dem in Verbindung zu stehen, was die vier Kinder in die andere, neue Welt mittrugen. Damals ein Fressen für die Presse. Dabei war es ein Übergriff in das Leben der vier Kinder. Vielleicht sogar die Vertreibung aus dem Paradies.

„Niemand kam auf die Idee, den Zustand ihrer gänzlichen Abgeschiedenheit mit etwas anderem gleichzusetzen als ideologischer Inzucht, Einsamkeit und Verwahrlosung.“

Rolf Lappert «Leben ist ein unregelmäßiges Verb», Hanser, 2020, 992 Seiten, CHF 39.90, ISBN 978-3-446-26756-5

In epischer Länge über fast 1000 Seiten breitet Rolf Lappert vier Leben aus wie jene Künstler, die in riesigen Hallen auf dem Boden eine Ordnung in das zu bringen versuchen, was das Leben anschwemmt. Selbst die vier Protagonisten versuchen Ordnung in ihr Leben zu bekommen, sei es durch einen Neuanfang mit anderem Namen, einer anderen Identität, sei es durch eine lange Suche nach sich selbst, einer Aufgabe, einem Sinn oder dem Wunsch, sich möglichst unsichtbar zu machen, sich zurückzuversetzen an den Ort, an dem man nur sich selbst zu sein brauchte, kein Imago.
Ich als Leser taumle durch diesen Kosmos, berührt, verwundert, überrascht, verunsichert. Selbst ich als Leser versuche zu ordnen, während Rolf Lappert ausbreitet und auslegt, Perspektiven ändert, Textsorten collagiert, in Zustände abtaucht und in langen Sätzen genussvoll mäandert.

„Sie wäre jetzt glücklich, sagte sie sich, wenn nur ihre Welt unentdeckt geblieben wäre, wenn niemand sie weggebracht und ins Leere geworfen hätte wie einen Sack mit neugeborenen Katzen in den Fluss.“

Obwohl sich die vier nach ihrer Umplatzierung nie mehr treffen, bleiben sie einander verbunden, weil jene Jahre im Kampstedter Bruch, jenem Hof in Abgeschiedenheit, so etwas wie ein Nest war, Familie, auch wenn nicht nach amtlichem Muster. Sie taumeln durch eine Welt, die ihnen fremd bleibt, die nie das zu erzeugen schafft, was die vier gemeinsam in ihrer begrenzten Freiheit erlebten.

„Wir sind niemand, wenn wir nicht zusammen sind.“

„Leben ist ein unregelmäßiges Verb“ ist ein grosses Vergnügen für all jene, die wie ich gerne in einem Stoff baden, denen ein Buch, das gefällt und zu einem innigen Begleiter wird, nach der Lektüre nicht einfach so weglegen, in ein Regal hineinschieben oder gleich dem Nachbarn ausleihen. Rolf Lappert gelingt es, ein Meer an Geschichten, Bildern, Dialogen, Ideen, Strängen und Personen auszubreiten. Er breitet eine Welt aus, stösst mich hinein. Zugegeben, die Wellen schwappen hoch, fast immer hoch, aber Literatur ist Konzentrat. 

„Die Welt ist schlecht, sagen sie, und wir haben keine andere Wahl, als ihnen zu glauben.“

In den Roman eingeflochten sind Erinnerungen, das „Winnipeg Logbuch“, Erinnerungen aus der Sicht der Kinder, als sie noch zusammen in der Kommune lebten: Manchmal haben wir ein leeres Marmeladeglas dabei, damit tragen wir Ameisen von einem Haufen zu einem anderen. Dann beobachten wir, wie die Eindringlinge getötet werden. Zum einen eine Erinnerung, zum anderen eine Metapher für all die Geschehnisse, die man ihnen als Kinder androht und die ihnen in gewisser Weise auch geschehen. Der Roman ist ein Roman über das Fremdsein, über die Einsamkeit, der Einsamkeit, in die man die vier Kinder verbannt, die Einsamkeit, mit der jeder in seinem Leben als Individuum zu kämpfen hat.

Ein grosser Genuss bei der Lektüre seines Romans ist die Genauigkeit seines Schreibens, seine Lust des Beschreibens. Als wäre er ein Maler, der mit Pedanterie jeden einzelnen Farbpunkt setzt, immer mit dem Blick auf das Grosse, Ganze. Und doch ist dieses Beschreiben nicht Mittel zum Zweck, nicht bloss Kulisse. Ich bade im Filigranen Lapperts Sprache, Lappert Farben, dem verspielten Mikrokosmos, der seinen Roman nicht einfach dick, sondern mächtig macht.

Rolf Lappert wurde 1958 in Zürich geboren und lebt in der Schweiz. Er absolvierte eine Ausbildung zum Grafiker, war später Mitbegründer eines Jazz-Clubs und arbeitete zwischen 1996 und 2004 als Drehbuchautor (Mannezimmer). Bei Hanser erschienen 2008 der mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnete Roman «Nach Hause schwimmen», 2010 der Roman «Auf den Inseln des letzten Lichts», 2012 der Jugendroman «Pampa Blues» und 2015 der Roman «Über den Winter».

Verlagsinformationen zum Buch

«Das Wunder von Kalifornien» von Rolf Lappert auf Gegenzauber

Illustration © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

 

Friedrich Glauser «Die Verschwundene», Illustrationen Sabine Rufener, SJW Verlag

Im SJW Verlag erscheint zum 125. Geburtsjahr des Schweizer Schriftstellers Friedrich Glauser die Novelle «Die Verschwundene». Ihr Bezug zur aktuellen Pandemie ist augenscheinlich: Wieviel darf die Gesellschaft einem Einzelnen zum Wohle der Allgemeinheit aufbürden? Glauser selbst schöpfte Kreativität aus dem Zeitgeist und seinem steten Kampf um persönliche Freiheit.

Eine Novelle über das Zweifeln und Verzweifeln

In Kooperation mit der Stiftung Litar und anlässlich des 125. Jubiläums erscheint im SJW Verlag Friedrich Glausers Novelle «Die Verschwundene». Das Nachwort zur SJW Neuerscheinung hat Christa Baumberger geschrieben, Leiterin der Stiftung Litar und Herausgeberin des Bandes «Friedrich Glauser: Jeder sucht sein Paradies…«, das soeben im Limmat Verlag erschienen ist.

Litar realisiert vom 28. Mai bis 10. Juli 2021 die Ausstellung «Friedrich Glausers Zelle» im Rahmen ihres Programms «Stimmlos – Literatur und (Un)Recht».

«Stimmlos» verleiht Autorinnen eine Stimme, welche in der Welt der Literatur aus den unterschiedlichsten Gründen verkannt blieben. Im Rahmenprogramm «20 Minuten mit…» erleben und Besucher die Illustratorin Sabine Rufener und Lionel Felchlin, den Übersetzer der französischen Sprachversion, in einem Tête-à-tête.

«Die Verschwundene» – spannend und aktuell

Friedrich Glauser «Die Verschwundene» Illustrationen Sabine Rufener, SJW, 32 Seiten, CHF 8.00 (bei SJW direkt CHF 6.00), ISBN 978-3-7269-0237-7

Der Chemiker Johann Furrer gerät nach seiner Rückkehr aus den französischen Kolonien in einen Strudel der Ereignisse. Als er im Hafen von Marseille von Bord geht, folgt er einer jungen Frau, die ihn magisch anzieht. Das Zusammengehörigkeitsgefühl ist gegenseitig. Als Furrer einige Tage geschäftlich verreisen muss, ist die Geliebte bei seiner Rückkehr jedoch spurlos verschwunden. Für den Chemiker beginnt ein beschwerlicher Weg einer aussichtslosen Suche und des Zwiespalts, der in einer hoffnungslosen Verzweiflung sein jähes Ende findet.

Friedrich Glauser kommt 1896 in Wien zur Welt und würde dieses Jahr seinen 125. Geburtstag feiern. Der Schweizer Autor sieht sich zeitlebens mit schicksalhaften Momenten und deren fatalen Folgen konfrontiert. Seine Mutter stirbt, als er vierjährig ist. Der junge Glauser wächst unter der strengen Aufsicht des Vaters auf. Als Dreizehnjähriger entflieht er seinem Elternhaus, wonach ihn sein Vater in das Landerziehungsheim Glarisegg (Thurgau) steckt. Das weitere Leben Glausers ist geprägt von Drogenabhängigkeit, Internierungen in psychiatrische Anstalten, chronischer finanzieller Not und Entmündigung.
Glausers Herz schlägt für die sogenannt «kleinen Leute»: Arbeiter, Aussenseiter, Menschen ohne Macht und wenig Rechten. In seinen Erzählungen und Romanen rückt er sie in den Mittelpunkt. Hochaktuell und brisant ist das Schlüsselthema «der Verschwundenen»: Die rasche und effiziente Bannung der drohenden Pandemie und der damit verbundenen Frage, wie sie Glauser formulierte: «Was ist schliesslich das Schicksal eines einzelnen im Vergleich zu der Panik einer ganzen Stadt?»

Webseite der Illustratorin Sabine Rufener

Einladung zu «Literatur am Tisch» mit Martina Clavadetscher

Hitze, Regen, beissender Gestank. Iris tigert in Manhattan durch ihr Penthouse und wartet voller Ungeduld auf die nächste Dinnerparty, die ihr wieder ein wenig Leben einhaucht. Ling, angestellt in einer Sexpuppenfabrik im Südosten Chinas, kontrolliert künstliche Frauenkörper auf Herstellungsfehler, bevor sie sich abends bei Filmklassikern in ihre Einsamkeit zurückzieht. Und im alten, düsteren Europa folgt Ada ihren mathematischen Obsessionen, träumt von Berechnungen und neuartigen Maschinen, das Ungeheuerliche stets im Kopf.

Drei Frauen in drei Welten: Sie alle sind auf der Suche nach einer Antwort – nach dem Kern der Dinge. Und sie alle sind, ohne es zu ahnen, miteinander verbunden.

Am 7. Juli liest und diskutiert Martina Clavadetscher in ausgewählter Runde aus und über ihren Roman, ihr Schreiben, die Gegenwart und die Zukunft.

Alle Teilnehmenden sollten das Buch gelesen haben. Das Treffen beginnt um 19 Uhr und dauert in der Regel bis 21 Uhr. Für 50 CHF bekommen Sie einen Abend in Literatur eingetaucht, Speis und Trank und eine unvergessliche Erinnerung!

Eine Anmeldung ist unerlässlich, die Platzzahl sehr beschränkt! info@literaturblatt.ch

Ein literarischer Spaziergang mit Franz Hohler

Am 20. Mai führt uns Franz Hohler durch sein reichhaltiges literarisches Gesamtwerk und damit auch durch die letzten 50 Jahre. In seinen Geschichten löst sich die Wirklichkeit unmerklich auf und macht Ereignissen Platz, die sich unserer kühlen Logik entziehen. Mit ungewöhnlich wachem Blick für beunruhigende Details erzählt er von der Brüchigkeit und der Tragikomik unseres Alltags, aber auch von seiner Poesie. Ein heiterer Abend mit einem hintergründigen Kritiker steht bevor, ein ebenso fröhlicher wie nachdenklicher Spaziergang durch unsere Zeit.

«Gäbe es Franz Hohler nicht, müssten wir uns dringend mit der Aufgabe beschäftigen, ihn zu erfinden.» Emil Steinberger

«Hohler ist ein gewiefter Fabulierer, seiner Phantasie hält unsere Realität nicht Stand.» St. Galler Tagblatt

«Franz Hohler ist ein Reisender in Sachen Literatur, einmal als Minnesänger, dann als Beobachter, als Erzähler, als Mahner, als Unterhalter und nicht zuletzt als eine der Identifikationsfiguren der Schweizer Literatur. In den vergangenen Jahren leuchtete der Stern Franz Hohler immer heller und wurde zu einem Fixstern, unübersehbar, als wäre er schon immer da gewesen.» literaturblatt.ch

Franz Hohler wurde 1943 in Biel, Schweiz, geboren. Er lebt heute in Zürich und gilt als einer der bedeutendsten Erzähler seines Landes. Hohler ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, zuletzt mit dem Alice-Salomon-Preis und dem Johann-Peter-Hebel-Preis. Sein Werk erscheint seit über vierzig Jahren im Luchterhand Verlag.

Rezension von «Fahrplanmässiger Aufenthalt» auf literaturblatt.ch

Kurzgeschichte «Enten» auf der Plattform Gegenzauber

Wegen der sehr beschränkten Platzzahl im Literaturhaus Thurgau ist die Veranstaltung leider ausgebucht!

Beitragsbild © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Radio Literaare! Das 16. Thuner Literaturfestival Literaare findet statt!

Es gibt in diesen Tagen viele Gründe, ein Festival nicht durchzuführen. Wir alle kennen sie und haben sie schon zu oft gelesen. Aber: Das 16. Thuner Literaturfestival Literaare findet statt!

So wie es im Moment aussieht, sind Ende Mai tatsächlich Veranstaltungen vor Ort und mit einem kleinen Publikum möglich. Und falls doch nicht – und für all jene, die nicht anreisen können oder möchten – werden die Lesungen in jedem Fall auch als Radiosendungen gestreamt! In Kooperation mit dem professionellen Radio-Team von Bi aller Liebi werden die Lesungen über das eigens eingerichtete Literaare-Webradio zu hören sein – und so Literatur, raumunabhängig, wieder eine Bühne gegeben.

Detailliertere Infos dazu demnächst unter www.literaare.ch und den Social-Media-Kanälen.

Hinweise bezüglich Covid-19 Sicherheitsmassnahmen kommunizieren wir ebenfalls frühzeitig auf unserer Website und den Social-Media-Kanälen. Die aktuellen Schutz- und Hygienevorschriften des BAG werden beachtet und die nötigen Vorkehrungen dazu getroffen.

Pre-Opening:
Thun liest ein Buch mit «Alpefisch» von Andreas Neeser
Ortsangabe folgt demnächst.

Freitag, 28. Mai 2021
17.30 Uhr
«Aus weiblicher Sicht» mit Benedikt Meyer
Rathaus, Rathausplatz 1

20.00 Uhr
Eröffnungslesung mit Monika Helfer
Musikalische Begleitung durch Sonja Huber
Die Lesung wird in Gebärdensprache übersetzt
Rathaushalle, Rathausplatz 1

23.00 Uhr
Absacken mit Matto Kämpf
Rathaus, Rathausplatz 1

Samstag, 29. Mai 2021

13.00 Uhr
Sofalesung mit Felicitas Korn
Rathaushalle, Rathausplatz 1

14.30 Uhr
Lesung mit Martin R. Dean
Rathaushalle, Rathausplatz 1

16.00 Uhr
Lesung mit Sabine Scholl
Rathaushalle, Rathausplatz 1

17.30 Uhr
Lesung mit Levin Westermann
Rathaushalle, Rathausplatz 1

20.30 Uhr
Das Narr – Vernissage
Cafebar Mokka, Thun

Sonntag, 30. Mai 2021

11.00 Uhr
Matinée mit Lucify-Schriftstellerinnen und Tramontana
Rathaus, Rathausplatz 1

13.00 Uhr
Zora del Buono im Gespräch mit Gallus Frei
Rathaus, Rathausplatz 1

14.30 Uhr
Lesung der Gewinner*innen des Textstreich Lyrik-Wettbewerbs
Rathaus, Rathausplatz 1

16.00 Uhr
Ann Cotten im Gespräch mit Paul Jandl
Rathaus, Rathausplatz 1

17.30 Uhr
Page 99 Test: Sieglinde Geisel und Thomas Strässle
Rathaus, Rathausplatz 1

am 16. Thuner Literaturfestival literaare

Webseite Literaare

 

HEARTBEATS – Lesung im Gedenken an Hans Peter Gansner (1953–2021) & Ira Cohen (1935–2021)

von Florian Vetsch

„Alles ist Herz; Herz ist alles!“, sagte einmal der am 1. Mai verstorbene Dichter, Romancier und Journalist Hans Peter Gansner (1953–2021). Der Tag der Arbeit passt zu dem bekennenden Linken. Doch wenn einer wie Gansner stirbt und ein weiterer Stuhl leer am Tisch bleibt, kann einem das schon zu Herzen gehen: konsequenter Antikapitalist, schlagkräftiger, scharfzüngiger Kritiker ungerechter Herrschaftsstrukturen, Freund des grossen Oikos, der Pflanzen, Tiere und Planeten, der Menschen auch, Liebender, an Herz-Insuffizienz demütig und kreativ Leidender, fulminanter Barde, freizügiger Conteur, Gründungsmitglied der Solothurner Literaturtage, ein Ausbund an Ideen und Projekten bis zuletzt… Auf der Homepage des Songdog Verlags schreibt Andreas Niedermann in seinem Nachruf: „Sein Output, sein Œuvre, ist beeindruckend und umfasst so ziemlich jede literarische Gattung. Un vrai homme de lettres.“ Bei Songdog, Bern/Wien, erschienen in den letzten Jahren Gansners „Herz“-Gedichtbände; darin spürt er in einem weiten Verweisungszusammenhang den konkreten und symbolischen Bezügen seines Leitthemas nach.

Der vor 10 Jahren verstorbene US-amerikanische Dichter, Fotograf und Filmemacher Ira Cohen (1935–2011), 18 Jahre älter als Gansner, wurde wie dieser von der Beat Generation beeinflusst, insbesondere von Brion Gysin, dem Entdecker der Cut-up-Methode. Surrealismus und Dadaismus, Alchemie, Dante und Rimbaud bildeten weitere Inspirationen seines Schaffens. Cohen unterhielt in New York eine Kammer, in der er die von ihm erfundene Mylar-Fotografie, eine Zerrspiegeltechnik, praktizierte und Jimi Hendrix, William S. Burroughs u.v.a.m. porträtierte. Er lebte in den 1960er Jahren in Marokko und in den 1970er Jahren in Katmandu, Nepal, wo er im Schatten des Himalaya auf einer Reispapier-Handpresse Erstausgaben von Paul Bowles, Diane di Prima oder Gregory Corso druckte. Er hinterlässt zahlreiche Gedichtbände, darunter Wo das Herz ruht (Stadtlichter Presse, Wenzendorf 2010) und Alcazar (Moloko Print, Pretzien 2021), beide zweisprachig erschienen.

herzlinie

ich habe gelesen: der daumen des prokurators
war nach unten gerichtet und eine hohle hand
wurde verstohlen nach dem lohn ausgestreckt
während rohe fäuste nägel durch hände hämmerten
errichtend das weltreich des faustrechts.
ich weiss: kolbenhiebe haben die hände verstümmelt
des sängers im stadion von santiago de chile
und fäuste schlagen noch immer in stumme gesichter
und die finger am abzug krümmen sich wieder und wieder
im sinternden licht des morgengrauens.
du berichtest: eine hand hat den schlagstock ergriffen
und eine andere im aufgerissenen kopfsteinpflaster gewühlt
um den ersten stein zu werfen auf die gletscherwand
und die hand eines verzweifelten lege schon die lunte
an die zellentür hinter der er erstickt.
und doch glaube ich: eine faust wird sich öffnen
und zeigen dass sie leer ist und ein finger wird sich
nicht krümmen sondern ausgestreckt
vorwärts weisen und der verstümmelte wird mit
seinen armstümpfen dirigieren in der erinnerung des volkes
bis zur befreiung. und die hand des verzweifelten zieht
die zündschnur zurück und eine hand dreht den schlüssel
im schloss und stein und schlagstock entfallen den erhobenen
händen die endlich zueinander finden nach den handgreiflichkeiten
und allen wird schliesslich ihre schwesterliche hand reichen
eine neue und nie gekannte herzlichkeit

(aus Hans Peter Gansner: „megaherz – Gedichte“. Songdog. Wien 2016)

Webseite von Hans Peter Gansner

Wikipedia Eintrag

Viceversa Eintrag

Autoreneintrag Songdog Verlag

Interview in der Schaffhauser Zeitung

 

LAST POEM

When I have nothing
more to say
will some greater truth
come forth to fill the page
with an understanding
never experienced before?
Will the precious yellow satin
cover my thoughts & speak
of secrets hidden from my
deepest self?
After all the scratching out
will anything remain to say
that recovery follows crucifixion
that loss engenders victory
in the passing of things,
that to stand alone
is to encounter the world
and be done with it once &
                    for all

Dec 27, 2006

DAS LETZTE GEDICHT

Wenn ich nichts mehr
zu sagen habe
wird dann eine höhere Wahrheit
eingreifen, um die Seite
mit einem Verstehen zu füllen
das noch nie zuvor erfahren wurde?
Wird die kostbare gelbe Atlasseide
meine Gedanken verhüllen & von
Geheimnissen sprechen, die meinem
tiefsten Selbst verborgen sind?
Nach all dem Geschabe wird
noch etwas zu sagen bleiben
dass Aufschwung auf die Kreuzigung folgt
dass im Lauf der Zeit
Verluste den Sieg erzeugen
dass wer allein steht
der Welt begegnet
und damit hat sich’s erledigt, ein für
                       allemal

27. Dez. 2006

(aus Ira Cohen: „Alcazar – 17 Poems / 17 Gedichte“. Moloko Print. Pretzien 2021)

Ira Cohen auf Wikipedia

New York Times, 1. Mai 2011

Ira Cohen: THE INVASION OF THUNDERBOLT PAGODA (1968) 

Ira Cohen: KINGS WITH STRAW MATS (1998)

Ira Cohen im Interview 1999

The Ira Cohen Archive LLC

Florian Vetsch über Ira Cohen im Saiten

Beitragsbild (Gansner) © Helen Brügger, (Cohen) © Florian Vetsch