Karin Antonia Mairitsch «Schweizweh», Edition Meerauge

Eine Liebesgeschichte, nicht nur eine. Eine Abschiedsgeschichte, existenzielle Ängste, ein Toter und mit „Schweizweh“ ein Buchtitel, der all jene trigert, die sich an diesem Land und seinen „Eingeborenen“ reiben. Karin Antonia Mairitsch zeigt mit ihrem Debüt Sprachkraft, Mut und einen präzisen Blick auf den Nerv der Zeit.

Es mag ein Schachzug gewesen sein. Zumindest bei mir hätte er funktioniert: Eine gebürtige Österreicherin schreibt einen Roman mit dem Titel „Schweizweh“. Man muss nicht hergezogen sein, eingewandert oder als Flüchtling hier leben, um Schmerzen zu lokalisieren. Aber wenn eine Schriftstellerin, Künstlerin und Hochschulrektorin, die in Klagenfurt/Österreich zur Welt kam und schon lange in der Schweiz lebt und wirkt, mit 57 ihr literarisches Debüt schreibt und das Buch mit „Schweizweh“ betitelt, dann reizt mich das. Nicht weil ich eventuelle Kritik am Land und den Einheimischen nicht tolerieren würde, ganz im Gegenteil, sondern weil mich der differenzierte Blick von aussen interessiert. Denn Unterschiede zwischen Kärnten und der Schweiz gibt es unzweifelhaft. Ich bin seit über vier Jahrzehnten mit einer Kärntnerin verheiratet, die mit der Heirat ihre Heimat hinter sich gelassen hatte. 700 Kilometer Distanz – mit den Alpen dazwischen.

Aber „Schweizweh“ ist keine Anklage, keine Abrechnung. Es sind die Geschichten einer Handvoll Menschen, die in der durchorganisierten, dem Perfektionismus verschriebenen Land ihre Schmerzen lokalisieren, die nach ihrer Heimat, ihrer Zugehörigkeit fragen, die nicht zuletzt mit der Angst leben, aus einem leistungsorientierten System zu fallen.

Jonathan hat eine schwierige Zeit hinter sich. Er begleitete seine Frau bis in den Tod, vermisst sie, je mehr seine eigene Existenz ins Wanken gerät. Er verlor seinen Job mit dem Gefühl, von seinem Chef hinausgemoppt worden zu sein. Ein Job, den er mochte. Endlich eine Stelle, in der er Zukunft gesehen hätte. Eine Entlassung, die ihn zu tiefst verunsicherte, spürte er doch zu Beginn seiner Arbeit beiderseitige Sympathie – vielleicht sogar mehr. Und da gab es auch noch Hélène, die Frau, die nach dem Tod seiner ersten Frau in sein Leben getreten war. Die er mochte, aber wahrscheinlich nicht liebte. Eine Beziehung, die scheiterte. Und er ist gebürtiger Österreicher, glaubt, in sich einen etwas anderen Takt zu spüren, als jener, der in der Schweiz vorherrscht, kann das, was er an Heimatgefühlen in sich spürt, wenn er nur schon an seine Grossmutter denkt, nicht so einfach wegstecken. Jonathan braucht Distanz und nimmt sich eine Auszeit in der Türkei. Nicht um Ferien am Strand zu machen, sondern um sich klar zu werden, wohin es gehen sollte. 

Karin Antonia Mairitsch «Schweizweh», Edition Meerauge, 2025, 256 Seiten, CHF 26.00, ISBN 978-3-7084-0684-8

Ausgerechnet in der Zeit, in der Jonathan in den Ort in der Türkei eintaucht, Beziehungen zu knüpfen beginnt, denn er spricht wegen einer ersten grossen Liebe leidlich türkisch, liegt eines Morgens ein toter Mann vor Jonathans Stammcafé. Polizei, Presse und alle, die dort wohnen, beginnen mit Spekulationen und weil die Polizei schnell einen Schuldigen lokalisieren muss und ein mögliches Täterprofil auf Jonathan zu passen scheint, gerät dieser in die Mühlen der türkischen Polizei, in einer Zeit, in der die Sicherheitsorgane des Landes eh schon in Alarmbereitschaft sind und sich vor ausländischer Einmischung fürchten. Jonathan landet in Untersuchungshaft, wochenlang ohne Kontakt zur Aussenwelt.

Gleichzeitig erzählt Karin Antonia Mairitsch von Sophie. Ihre Frau, ihre Lebenspartnerin liegt im Sterben. Sophie nimmt in kleinen und grossen Schritten Abschied von ihr, begleitet sie, in den letzten Tagen zusammen mit dem Bruder ihrer Frau. Sophie, die sich nicht nur mit dem langsamen Sterben ihrer Partnerin konfrontiert sieht, sondern auch mit einer Sinnsuche in dem, was sie bisher als ihre Berufung, ihren Beruf sah, in einem Zustand des Aufbruchs ohne zu wissen, wo all das hinführt, was jetzt eine andere Richtung nimmt. Ein Weg, den Sophie irgendwann zu Jonathan führt.

Was diesen Roman speziell macht, ist seine Sprache und seine Architekur. Da schreibt eine Künstlerin, die es in ihrer Tätigkeit als bildende Künstlerin gewohnt ist, ihr Denken in Worte zu fassen, sehr oft in unkonventionellen Bildern, Sichtweisen, die erstaunen. Aus keiner Schreibschule. Der chronologisch erzählte Roman lebt von schnellen Schritten, hüpft von Perspektive zu Perspektive, zeigt, wie grundverschieden Protagonisten ihr Leben lesen, Entscheidungen fällen. Manchmal sind Abschnitte nur einen Satz lang und dann blendet der Scheinwerfer wieder aus einer anderen Richtung, nie verwirrend, stets vielstimmig.

Karin Antonia Mairitsch ist ein beeindruckendes und kunstvolles Debüt gelungen, das viel Aufmerksamkeit verdienen würde!

Interview

Er wollte sich die Liebe von der Seele schreiben, heisst es von Jonathan. Das wollten auch Sie. Sie schreiben über Liebe, aber auch von den Bedrohungen der Liebe; dem Tod, dem Erkalten, dem drohenden Vergessen, der Hektik, der Selbstoptimierung… Und doch schwingen dermassen viele innige Schilderungen, Liebeserklärungen in Ihrem Buch. Sie schaffen es eindrücklich, ehrlich und ganz nah zu bleiben. Nichts wirkt abgedroschen. Liebe und Tod, die zwei grossen Themen der Literatur. Gab es Leitplanken, Grenzen, die Sie nicht überschreiten wollten?

Ja, es gab Grenzen. Solche, die ich nicht überschreiten wollte und solche, die uns die Sprache setzt. 
Erstere betrifft all die Qualitäten von Liebe, Beziehung und Begegnung, die genau nur der geliebten (oder befreundeten) Person zufliessen können. Sie sind unwiederbringlich und nicht teilbar mit Dritten; in einer Weise entgrenzt, die für Aussenstehende unzugänglich bleibt. So beständig wie sie flüchtig sind, so fest wie flüssig, so leise wie laut, so verhaftet in uns selbst wie in der anderen Person, so unbeschreiblich verlebendigt bleiben diese Qualitäten und erst recht ihre sprachliche Fassung bei den Liebenden (oder Befreundeten) – im Leben, und über das Irdische hinaus. Ein Versprechen, das sich die Liebenden gegeben haben, mehr noch: ein Band, das nicht durchschnitten wird. 

Jene Grenzen, die uns die Sprache setzt, oder genauer: die mir die meine setzt, betreffen all jene Emotionen, die frau artikulieren möchte und doch nicht kann. Schmerz oder Trauer zum Beispiel. Sie lassen sich nicht einmal annähernd so in Worte kleiden, wie diese Empfindungen uns zu erschüttern vermögen. Liebe und Tod sind die grossen Themen der Literatur, weil sie sich ihrer sprachlichen Fassung im Grunde doch entziehen. Und so sehr wir uns mühen, so offen und ehrlich wir in uns hineingraben und wühlen, ringen um Worte und ihre Kraft, so werden wir am Ende nicht erschöpfend ausgedrückt haben, was die Liebe und der Tod in unseren Leben bewegt hat. Mit diesem Phänomen setze ich mich immerfort auseinander und schrieb 2020 in «Helmi Vent – Lab Inter Arts»: «Die Sprache ist fremdkörperlich. Sie ist niemals das Denken selbst. Und auch nicht das Fühlen. Sie ist der Versuch, mich dir mitzuteilen, dir mitzuteilen, was ich denke oder fühle oder bin oder tue. Und das beschreibend gibt sie ihr Bestes. Sie bleibt experimentell.» (Mairitsch 2020, S. D. 95)

Quelle: Mairitsch, Karin (2020): Helmi Vent – Lab Inter Arts. Einblicke in das Labor ‹Hätte Hätte Fahrradkette›. St. Gallen/Berlin: Vexer Verlag.

DES SCHWEIZERS ART, SICH DEM PHÄNOMEN ZUNEIGUNG ZU NÄHERN © Karin Mairitsch
Mischtechnik auf Papier 72×25cm, Luzern Schweiz 2013, Serie

Liest man die Kapitelüberschriften, dann klingt es nach Lyrik, nach Poesie. Auch im Text gibt es Passagen, die an lyrische Prosa erinnern. Kam das gewollt oder war es Intuition?

Wenn ich vorhin von jenen Grenzen sprach, die durch die Herausforderung gesetzt sind, uns mittels Sprache hinlänglich auszudrücken, folgt entweder die (zuweilen durchaus hilflose) Schweigsamkeit oder eine Form der künstlerischen Artikulation, die sich jenseits des Anspruchs auf exakte Be-Zeichnung oder verbale Deutungshoheit oder narrative Vermessung und erzählerische Folgerichtigkeit auszudrücken vermag. Die Lyrik, die Poesie sind für mich jene künstlerisch-sprachlichen Ausdrucksformen, die uns «ermuntern, vom Wissen ins Gefühl zu kommen, um dort, im Gefühl, wissend zu werden» (vgl. Mairitsch 2020, S. D. 93). In diesem Sinne müssen sie nicht immer verstanden werden, sie sind offen gegenüber erzählerischen Möglichkeits- und Vorstellungsräumen und können sich weiten, bis sie verstanden sind. 

Für mich ist dieser Zugang daher weder eine Frage des Willentlichen noch des Intuitiven. Es ist vielmehr der Versuch, den Raum zu weiten für das Mögliche, das Vorstellbare, das Unaussprechliche und Unbekannte in uns; ein Findungsfeld, das sich mit jedem Lesen neu konstituieren, neu erfinden und entfalten kann. Lyrik war im Übrigen mein erster Zugang zur Literatur und zum Schreiben. Ich kehre gerne in diese Beheimatung zurück: «mMan spricht, worin man gewachsen ist. Wir können nicht behaupten, in der Sprache erwachsen zu sein. Wir altern mit ihr und lernen noch. Bestenfalls sind wir in ihr beheimatet.» (Mairitsch 2020, S. D. 92)

Quelle: Mairitsch, Karin (2020): Helmi Vent – Lab Inter Arts. Einblicke in das Labor ‹Hätte Hätte Fahrradkette›. St. Gallen/Berlin: Vexer Verlag.

Es sind nicht so sehr die Personen, die im Vordergrund stehen, sondern die grossen Fragen des Lebens: Wohin geht mein Weg? Wo liegt meine Erfüllung? Wie wird Liebe? Was bleibt von ihr? Wie begegne ich dem Tod? Wie kann ich in meinem Herzen behalten, was Liebe ausmacht? War das Schreiben eine Selbstvergewisserung?

Ein Selbst muss sich nicht vergewissern – es ist. Und es ist viele. Weswegen mein Schreiben keine Selbstvergewisserung ist, sondern Da-Sein ist. In diesem Sinne eröffnet das Schreiben vielgestaltige Möglichkeiten, ein Leben und sein Vieles zu durch-leben.    

SUCHE SCHWEIZ © Karin Mairitsch
Mischtechnik auf Papier 136.5×26cm, Luzern Schweiz 2012, Serie

Es greifen viele Themen ineinander. Manchmal scheint es, als würde ein Thema überhandnehmen, um sich dann wieder in den Hintergrund zu ziehen. Es hätte ein Kriminalroman werden können, ein Gefängnisroman, ein politischer Roman, ein Burnoutroman… Aber es ist in erster Linie ein Liebesroman – wenn auch weit weg von Üblichen, Lichtjahre weg vom Kitsch, aber mit grosser Empathie geschrieben. Drohte nie die Gefahr, die Übersicht zu verlieren? Können Sie etwas erzählen über den Schreibprozess?

In der Tat gab es Momente, in denen es herausfordernd war, die Übersicht zu behalten. Meistens, wenn eine neue Figur den Roman betrat und ich mich zunächst dieser Figur annähern musste, um ihr Da-Sein zu erkunden. Einer der irritierendsten Momente war sicherlich das Auftauchen der Leiche am Strand. Das kam früh, sehr überraschend und blieb lange rätselhaft – denn wenn ich eines nicht wollte, dann einen Kriminalroman schreiben. Schreibend durfte ich erfahren, dass die Verschränkung aller Protagonist:innen und deren Schicksale einen Angelpunkt – eben die Leiche am Strand – brauchte und dass das Erzählen zur Conditio sine qua non wird, um die Verbundenheit mit sich, der Welt und allen Menschen erfahrbar zu machen.  

Womit ich verraten habe, dass ich, die ich normalerweise planvoll und konzeptionell gefestigt vorgehe, bei diesem Roman keinem durchgängigen Konzept folgte, das ich vorab zurechtgelegt und das die Charaktere wie auch die Handlungsstränge definiert hätte. Das Konzept erarbeitete ich zu einem späteren Zeitpunkt und kam bei der Einreichung zum Werkbeitrag der Zentralschweizer Literaturförderung zum Tragen1. Vielmehr begann das Schreiben unvorhergesehen, einzig gekoppelt an die Idee der Gleichzeitigkeit von Ereignissen und der Verbundenheit von allem und jedem, und endete erst mit dem Ende, das ebenso unvorhersehbar eintrat. Mein exploratives Schreiben ins scheinbar Ungewisse verstehe ich dennoch nicht primär als einen intuitiven Prozess. Es ist für mich eher die Erkundung dessen, was ist, das seine Denkform und sprachliche Ent-Äusserung noch sucht. 

1 Das Manuskript »Schweizweh« wurde 2020 mit dem Werkbeitrag der Zentralschweizer Literaturförderung ausgezeichnet.

In der Architektur Ihres Romans wählten Sie eine recht eigenwillige Struktur: Chronologisch, aber immer wieder aus verschiedenen Perspektiven, so dass man Ansichten ganz unterschiedlich gespiegelt las. War diese Form schon von Beginn weg klar oder drängte sie sich während des Schreibens auf?

Diese Form war schnell, fast von Beginn an klar. Bei all der Gleichzeitigkeit von Ereignissen erhoffte ich mir mit der Chronologie eine gewisse Nachvollziehbarkeit. Durch die verschiedenen Perspektiven, Ansichten und Wahrnehmungen, ja, auch durch Wiederholungen und Neu-Kontextualisierungen entfaltet sich eine Vielschichtigkeit, die mir wichtig ist: Ein Leben hat viele Schichten, hat Wiederholungen, Umwege und Wendungen, die sich nicht so einfach preisgeben. Sie wollen durchschritten, oder in diesem Falle: entschieden werden.

Sie sind bildende Künstlerin. Wie weit half Ihnen Ihre künstlerische Arbeit sonst? Ist Schreiben nicht das lange, filigrane Malen auf eine Grossleinwand?

Mit dem künstlerischen Prozess und einem visuellen Ausdrucksrepertoire vertraut zu sein, hilft sehr: So, wie sich in meinem Œuvre seit jeher viele Werke mit Sprache, lyrischen Titeln und Textminiaturen finden1 und ich mit altmeisterlicher Schichtentechnik2, gestischer Abstraktion3 sowie gegenständlicher bzw. figürlicher Malerei und Zeichnung4 vertraut bin, so zeichne und male ich umgekehrt auch beim Schreiben in Schichten und Gesten, setze Striche, lasse Weissraum und trage dramatisch pastos zuweilen sanft transparent auf. Insofern würde ich mich selbst nicht als «bildende Künstlerin» oder «Autorin» bezeichnen, denn ich bin beides und einiges mehr – doch mit der bildenden Kunst auch schreibend und mit dem Schreiben auch zeichnend und malend. 

Interessant sind die prozessualen Parallelitäten: 

  • Erst wenn der Titel (des Werks, der Ausstellung, des Buches) bekannt ist, beginnt das visuelle Gestalten bzw. das Schreiben. 
  • Die weisse Fläche zu Beginn ist stets eine Hürde, die einfühlende Überwindung braucht. 
  • Der erste Pinselhieb, der erste Strich, der erste Satz sind ent-scheidend und be-stimmend für das Ganze und Folgende. Sollte sich zu einem späteren Zeitpunkt herausstellen, dass diese ersten «Gehversuche» nicht passen oder nicht stimmig sind, wird radikal verworfen und der Papierkorb (ein wichtiges Werkzeug im Künstlerischen!) bemüht. 
  • Wenn es zum künstlerischen Vorhaben ein Konzept gibt, dann rudimentär und ergebnisoffen. 
  • Der Prozess lebt von Verwerfungen, Umwegen, Unvorhergesehenem und Überraschungen. Letztlich werden es diese Ereignisse sein, die den Prozess beleben und den Spannungsbogen erzeugen.
  • Denken (im Sinne von Zurücktreten, Analysieren und Bewerten, im Sinne von Vordenken und Entwerfen) und nicht-denkend Tun wechseln einander ab. 
  • Das Ende (der Erzählung, des Werks, etc.) ist eine bewusste Ent-Scheidung.

Karin Antonia Mairitsch, geboren 1968 in Klagenfurt, Studium der Malerei an der Akademie der bildenden Künste in Wien, Promotion an der Kunstuniversität Linz, ist bildende Künstlerin, Gestalterin, Kuratorin, Dozentin, Autorin sowie Herausgeberin einiger Fachbücher im Bereich Medien, Gesellschaft und Kunst. «Schweizweh» ist ihr Romandebüt. Karin Mairitsch kann auf eine rege internationale Ausstellungs- und Performancetätigkeit zurückblicken. 2020 etwa hat sie das Mehrjahresprojekt l21 kuratiert. 2019/2020 wurde sie mit dem Werkbeitrag der Zentralschweizer Literaturförderung und 2020 mit einer Nominierung für den Luzerner Werkbeitrag in der Sparte Freie Kunst ausgezeichnet.

Webseite der Künstlerin

Beitragsbild © Sam Khayari

Sophia Klink «Kurilensee», Frankfurter Verlagsanstalt

Auch die letzten noch intakten Gegenden unseres Planeten drohen im Sog wirtschaftlicher Interessen zu kippen. Am „Ende der Welt“ forscht eine kleine Gruppe, ob mit dem Einsatz künstlicher Stoffe den Veränderungen von Klimawandel und Wirtschaftinteressen entgegnet werden kann. Der Debütroman von Sophia Klink ist ein Sprachkunstwerk – für einmal etwas, das der Welt nur gut tun kann!

Der Kurilensee, ein riesiger Kratersee, 77 km2 gross, liegt ganz im Süden der dünn besiedelten Halbinsel Kamtschatka, auf russischem Staatsgebiet, aber 6773 Kilometer von der Hauptstadt Moskau entfernt. Wenn es also einen Ort gibt, der weit ab vom Schuss ist, und normalerweise nur mit Helikopter erreichbar, dann der Kurilensse, an dem eine Forschungsstation liegt, in der eine kleine internationale Crew sich mit den Auswirkungen des Klimawandels beschäftigt, vor allem darum, weil der See wirtschaftlich eine grosse Bedeutung für die Lachsfischerei hat, einem Wirtschaftszweig, der mehr und mehr in Bedrängnis kommt, weil natürliche Lachspopulationen rückgängig sind, der Überfischung ausgesetzt und die Tiere empfindlichst gestresst auf die Einwirkungen des Menschen reagieren. Ein kleiner, von einem Zaun gegen Bären geschützer Ort, an dem die Protagonistin Anna das drohende Ungleichgewicht zwischen Lachsen und Phytoplankton, zum Beispiel Kieselalgen, untersucht, Lachsfische vor der Laichablage zählt und Teil einer Equipe von Wissenschaftler*innen und Rangern ist. Zur Gruppe gehört Vowa, ein Ranger, der jeden Bären an seinem Fell zu kennen scheint, mit dem Anna schon im sechsten Jahr den Sommer über in der Forschungsstation lebt. 

Anna und Vowa sind ein Paar, was für die anderen in der Station längst kein Geheimnis mehr ist. So wie wenig ein Geheimnis bleibt an einem Ort, von dem man ohne Gewehr, Boot oder Hubschrauber kaum weiter weg kommt. Jeder in der Station hat seine fixe Aufgabe und als Ganzes hat man in diesem Sommer die Aufgabe, wissenschaftliche Grundlagen dafür zu schaffen, ob man mit einer Phosphatdüngung das aus dem Gleichgewicht kippende Ökosystems des Lachssees aufhalten kann, oder ob der Einsatz von 5 Tonnen künstlicher Düngung nicht der Anfang vom Ende ist, ein nicht wieder gut zu machender Eingriff mit nicht vorhersehbaren Konsequenzen. Die Crew auf der Station ist nicht nur auf den Lebensmittel- und Materialnachschub per Helikopter angewiesen, sondern auch auf die finanziellen Mittel derer, die daran interessiert sind, dass wirtschaftliche Interessen wissenschaftlich abgestützt sind.

Wir könnten einfach alle Daten auflisten und ganz ehrlich eingestehen, dass wir keine Ahnung haben, was das Beste für den Kurilskoye ist.

Sophia Klink «Kurilensee», FVA, 2025, 240 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-627-00330-2

Anna ist nicht nur fasziniert von der Artenvielfalt in und um den See, sie ist auch erfüllt von ihrer Arbeit, sieht in den Kleinstlebewesen im See nicht nur einen Forschungsgegenstand, sondern eine Spiegelung der Natur, ihrer Schönheit, ihrer Vollendung als Teil der Evolution. Aber so wie das ökologische Gleichgewicht dieses Sees weitab von der Zivilisation bedroht ist, so bedroht ist die Station selbst. Nicht nur weil jeder Winter an den Bauten nagt, Bären sich immer wieder einmal an den Einrichtungen zu schaffen machen und auch den Bewohnern bedrohlich nahe kommen können, sondern weil man der Station auch ganz leicht über die Finanzen die Nabelschnur zur Zivilisation kappen kann. Eine permanente Ungewissheit, die zusammen mit der zu treffenden Entscheidung wegen der Düngung mehr und mehr zu einer Belastung wird. Trifft man die richtigen Entscheidungen? Wohin führt Annas Weg? Wohin soll es gehen mit Anna und Vowa? Als Anna spürt, dass auch ihre Gesundheit Kapriolen schlägt, weitet sie ihre Untersuchung aus auf den eigenen Körper, misst die Temperatur. Ist sie schwanger, obwohl die beiden mit Gummi verhüten?

Werfe nie einen gestressten Fisch zurück ins Wasser, sagt Vowa.

Alles an diesem menschenfeindlich scheinenden Ort schreit nach einer Entscheidung, bevor die Crew die Station im September für den Winter wieder verlassen wird. Was an Sophia Klinks Debüt fasziniert, ist aber weit mehr als die Geschichte und die Psychologie unter Wisschenschaftler*innen und Rangern. Sophia Klink hängt die Spannung auch an keinen Showdown, kein Psychodrama auf der Forschungsanlage. Absolut faszinierend ist der Blick der Autorin auf die Natur, ihr Tun, auf die Zusammenhänge, die mir als Leser über weite Strecken verborgen bleiben. Sophia Klink ist nicht einfach Schriftstellerin, die sich mit sorgfältiger Recherchearbeit das nötige Wissen holte, um einen „Ökoroman“ zu schreiben. Sophia Klink ist promovierte Biologin und erzählt von ihren eigenen Erfahrungen in einer Sprache, die ihre Liebe, ihre Faszination und ihre Ehrfurcht vor der Natur und ihren Zusammenhängen widerspiegelt. Und weil Sophia Klink „nebenbei“ auch noch preisgekrönte Lyrikerin ist, wird ihre Sprache zu einem magischen Instrument, schillernd, ohne abgehoben zu wirken, schön wie Kieselalgen selbst.

„Kurilensse“ ist ein Roman wie der grosse, weite See selbst; tief und voller Zauber!

Interview

Was für ein Roman! Ich bin hell begeistert! Habe das Gefühl, einem Unikat begegnet zu sein. Ein Unikat darum, weil sie in ihrer ganz eigenen Sprache ihrem Stoff begegnen, aus Sicht einer Wissenschaftlerin literarisch schreiben. Was sie wissenschaftlich vermitteln, bleibt selbst für Laien wie mich verständlich. Gekoppelt mit ihrer Begeisterung in ihrer Sicht auf die Schönheit der Natur und ihrem sprachlichen Können werden aus ganzen Abschnitten literarische „Nahaufnahmen“, Stilleben ganz eigener Art. Wissenschaftliches Schreiben klingt sonst so ganz anders, eine eigene, analytische Sprache. Inwieweit half ihnen bei der Findung einer eigenen Sprache ihr lyrisches Gespür?

Das war ein längerer Prozess über viele Texte hinweg. Ich schreibe ja seit Jahren literarisch über Natur und Wissenschaft und habe viel herumexperimentiert, welche sprachliche Form zu welchem Inhalt passt. Dem Klang nachzuspüren, ist mir dabei sehr wichtig. In der naturwissenschaftlichen Sprache liegt schon an sich so viel poetisches Potential. Es erzeugt aber auch eine Reibung, die ich ästhetisch spannend finde. Diesen Kontrast herauszuarbeiten, hat mich in diesem Roman besonders interessiert. Als ich angefangen habe zu schreiben, hat sich die Sprache dann schönerweise wie von selbst eingestellt. Da musste ich gar nicht mehr lange suchen. Die Sprache stellte sich einfach ein.

Wie leicht wäre es gewesen, die Story dramatisch aufzublasen; noch mehr Countdown in die Handlung, eine dramatische Liebesgeschichte oder ein fatales Psychospiel in einer abgelegenen Forschungsstation. Aber darum ging es ihnen nicht. Es ging ihnen nicht einmal darum, einen „Ökoroman“ zu schreiben, auch wenn es doch einer ist. Aus ihrem ganzen Roman spricht der Respekt, die Ehrfurcht und die Sorge um eine Welt, die durch die Eingriffe des Menschen aus dem Gleichgewicht gebracht wird. Die Liebe zu ihrer Arbeit, sowohl als Biologin, als Wissenschaftlerin wie auch als Sprachgestalterin, als Künstlerin. Was stand zu Beginn ihres Schreibens an diesem Roman? Waren es Verarbeitungen eines eigenen Forschungseinsatzes? Und wie weit mussten sie sich als Wissenschaftlerin zügeln?

Inspiriert haben mich auf jeden Fall meine eigenen Forschungserlebnisse. Im Masterstudium bin ich auf einer meeresbiologischen Station im nordwestlichen Russland gewesen und wusste schon damals, dass ich über diesen Ort schreiben muss. Mich hat beim Schreiben eine Sehnsucht angetrieben und die Trauer darüber, dass es diese unberührte Wildnis irgendwann nicht mehr geben wird. Dass ich auf den Kurilensee gestossen bin, war ein Glücksfall. Dadurch konnte ich viel übertragen, ohne meine eigenen Erinnerungen überschreiben zu müssen. Und natürlich war ich neugierig auf dieses andere Ökosystem, das mir gleichzeitig fremd und bekannt vorkam. Zügeln musste ich mich als Wissenschaftlerin dabei gar nicht so sehr. Es gibt so viele Details über Kieselalgen, Lachse und den menschlichen Körper, die ich liebend gerne im Roman angesprochen hätte. Aber natürlich versuche ich beim Recherchieren jenen Informationen nachzuspüren, die sich mit den Gefühlen meiner Protagonistin Anna verknüpfen lassen. Für mich sind es doch zwei sehr unterschiedliche Modi, Informationen für ein Paper konzise darzustellen oder sie auf eine Emotion hin zu befragen. Allein aus Fakten lässt sich keine Geschichte entwickeln. Zellen und Moleküle müssen auch erst mal so beschrieben werden, dass man sie sich vorstellen kann. Das geht in vielen Fällen einfach nicht auf. Ich freue mich eher, wie viele Proteine, Wasserstoffbrückenbindungen und Dinoflagellaten es am Ende doch in den Roman geschafft haben.

Man kann den Kurilensee sehr gut auch als Metapher für das globale Gleichgewicht sehen. Ist Literatur so etwas wie die verbliebene Hoffnung angesichts der im düster werdenden Prognosen?

Ich hoffe schon, dass Literatur einen kleinen Anstoss geben kann. Wo sollen wir anfangen, eine bessere Welt zu imaginieren, wenn nicht in der Sprache? Ich verstehe die Literatur als Mittel, immer wieder unsere Perspektive zu verschieben und uns emotional für andere Lebenswirklichkeiten zu öffnen. Auch mal den Blick auf winzige Kieselalgen und unsichtbare Stoffwechselprozesse zu richten, die wir sonst nicht wahrnehmen. Ich finde, dass Literatur da nachhaltig unseren Blick auf die Welt verändern kann. Geschichten haben eben eine ganz andere Kraft als Zahlen. Und sie können trösten, wenn die Prognosen immer düsterer werden.

Ich habe mir im Netz Bilder und Illustrationen von Kieselalgen angesehen und bin restlos fasziniert, sei es von ihrer Geometrie, ihrer Körperlichkeit, sei es von ihrer Aufgabe, ihrem Dasein. Es ist der faszinierte Blick in die Kleinheit, der auf das Grosse überschlägt. Ihre Begeisterung, die in ihren Beschreibungen lesbar wird, ist pure Verzückung. Auf der andern Seite der Schmerz darüber, dass Profitgier und kurzfristiges Denken so viel Zerstörung mit sich ziehen. Sie moralisieren in ihrem Roman nicht. Anna hat die Hoffnung nicht verloren. „Kurilensee“ ist auch eine Liebesgeschichte. Eine ganz zarte. Auch eine Liebesgeschichte an die Natur, ihre Arbeit als Wissenschaftlerin, an die Sprache. Wo holen sie den Dünger, um ihre Hoffnung nicht sterben zu sehen?

Vielleicht ist die Wissenschaft auch hier ein wichtiger Anker für mich. Wenn ich mich mit Kieselalgen, Pilzen und Bakterien beschäftige, verliert die winzige Gruppe der Trockennasenprimaten ganz schnell an Bedeutung. Mir diese Dimensionen immer wieder vorzustellen, was wir alles nicht verstehen oder kontrollieren können, daraus ziehe ich persönlich viel Zuversicht. Dass es Lebensformen gibt, die unsere Zerstörungswut überdauern werden. Der Ohnmacht zu verfallen, hilft auch einfach nicht. Anna entscheidet sich schliesslich auch dafür, an das Schöne zu glauben und in eine neue Generation zu investieren, der man diese Liebe mitgeben muss, um die Zukunft besser zu machen.

Nicht vor den Bären oder dunklen Nächten habe ich Angst, sondern vor den Menschen, die glauben, alles unter Kontrolle zu haben, schreiben sie in „Kurilensee“. Das gilt überall, auch in der Politik, denken wir nur an all die Männer, die der Überzeugung sind, ihre Macht mit Kriegen demonstrieren zu müssen. Hat nicht die Spezies Mensch versagt, weil sie den Profit über die Empathie stellt? Sie moralisieren nicht, zumindest spüre ich das nicht. Wie sehr mussten sie sich davor hüten?

Mir ist wichtig, dass die Moral meiner Texte subtil mitschwingt. Meine Kritik an Überfischung, Geldgier und blindem Anthropozentrismus wird hoffentlich auch so deutlich. Es hat sich richtig angefühlt, gerade die Ambivalenzen in der Schwebe zu halten und auch zu zeigen, wie Anna letztendlich bei der Manipulation des Sees dabei ist. Bis zum Schluss weisss sie eben nicht, was richtig oder falsch ist. Aber sie will sich nicht ihrer Verantwortung entziehen, sondern sich der ganzen Tragweite ihres Verhaltens bewusst sein und genau hinsehen.

Lyrik vom Feinsten: Sophia Klink «Ich lösche die Kirschen aus meinen Genen», hochroth Verlag, 2025, 54 Seiten, ISBN 978-3-949850-62-2

Sophia Klink, geb. 1993 in München, hat Biologie studiert und promoviert zurzeit über die Symbiose zwischen Bakterien und Pflanzen. Sie wurde mit dem Literaturstipendium München und dem Wolfgang-Weyrauch-Förderpreis beim Literarischen März ausgezeichnet und mit Stipendien des British Council und der Stiftung Kunst und Natur gefördert. Sie war Finalistin beim open mike, Aufenthaltsstipendiatin der Roger Willemsen Stiftung, des Adalbert Stifter Vereins und der Villa Sarkia in Finnland. Im Frühjahr 2025 erschien ihr Lyrikdebüt bei hochroth München. Durch einen Forschungsaufenthalt am Weissen Meer in Russland zu ihrem Roman »Kurilensee« inspiriert, stand sie mit einem Auszug daraus auf der Shortlist des W.-G.-Sebald-Preises. 

Beitragsbild © Heike Bogenberger

Leon Engler «Botanik des Wahnsinns», DuMont

Manchmal erbt man „Dinge“, die man nicht verweigern kann. Von Generation zu Generation. Und wenn es nur die Angst davor ist, Opfer zu werden von etwas, was sich in der Abfolge der Generationen wie eine genetische Unverückbarkeit festgesetzt hat. Leon Engler erzählt in seinem Romandebüt von einen jungen Mann und seiner Angst, verrückt werden zu müssen.

Als seine Mutter stirbt, bleiben sieben Kartons in einem Lagerabteil in Wien. Die falschen Kartons, denn alles, womit man die Schulden seiner Mutter noch hätte begleichen können, wanderte in die Müllverbrennung. Übrig blieben sieben Kartons mit Dingen, die seine Mutter aussortiert hatte; alte Rechnungen, Steuererklärungen, ungeöffnete Briefe, Müll. Als er seine Mutter zum letzten Mal in der Wohnung besuchte, bevor sie nach der Zwangsräumung in die Klinik kam, war die Mutter nicht nur aus ihrer Wohnung, sondern auch aus ihrem Leben ausgezogen. Einem Leben, das nie zur Ruhe gekommen war, einem Leben mit wenigen Höhen und einer langen Kette von Tiefen. Schon die Mutter seiner Mutter war wie Wasser, ständig in Bewegung, ständig den Zustand wechselnd. Bipolar, zwölf Suizidversuche. Der Vater depressiv und dem Alkohol verfallen, schon lange von seiner Frau getrennt, war schon lange nicht mehr der Fels, der er hätte sein wollen und müssen.

Meine Familie hat ein Talent für Verrücktheit.

Dass er als Junge in ein Internat kam, war eine Befreiung. Und das Studium in den Staaten ein einzig grosser Versuch, um sich aus den festgeschriebenen Mechanismen einer zum Wahnsinn verurteilten Familie zu befreien. Er studiert Psychologie. Nicht zuletzt darum, um eben jene Mechanismen zu verstehen, seine Angst vor dem Wahnsinn zu zähmen. Bis er als Arzt zurückkehrt, in der Psychiatrie arbeitet, dort, wie man alle nach Diagnosen sortiert, um sich selber von seiner Angst zu heilen. Ich leide unter Agateophobie, der Angst, verrückt zu werden.
Was bei der Mutter zu einer Selbstverständlichkeit wurde, war es schon bei der Grossmutter. Sie schluckte Pillen mit sedierender, hypnotischer und narkotischer Wirkung wie Bonbons. Zwölf Mal verkündete sie ihren Glauben, dass es sich nicht lohne zu leben. Immer wieder verschwand die Grossmutter in der Psychiatrie. Ein Muster, dass sich in seiner Mutter fortsetzte.

Leon Engler «Botanik des Wahnsinns», DuMont, 2025, 208 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-7558-0053-8

Er studierte, schloss das Studium ab, von dem er überzeugt war, dass es ihn zu nichts qualifizierte. Er beginnt eine Stelle in der Psychatrie, wird mehr hineingestossen, als dass er die Aufgaben in Angriff genommen hätte – und er liest. Er liest viel. Weil das Lesen das einzige ist, das ihn vor dem Verrücktwerden zu schützen scheint. Lesen, um nicht nachzudenken. Er schickt sich in den riesigen Apparat einer Klinik, von Abteilung zu Abteilung „weiterbefördert“, immer unsicher darüber, auf welcher Seite er wirklich steht. Wir versuchen hier, schreckliches Elend in ganz normales Unglück zu verwandeln.

Entweder passen wir den Patienten der Therapie an. Oder wir passen unsere Theorie an den Patienten an.

Was ist normal? Wer ist normal? Warum gibt es so vieles, dass nie dieser Norm entspricht? Warum fallen jene, die dieser Norm nicht entsprechen durch alle Netze, die sich eine Gesellschaft zum täglichen Überleben eingerichtet hat? Warum hat unsere Gesellschaft keinen Platz für jene Menschen, die diesen Normen nicht entsprechen? „Botanik des Wahnsinns“ hat nichts, gar nichts von einer Abrechnung. Es ist auch kein Hadern mit der Geschichte, der Herkunft, der Familie. Der Roman ist in aller Offenbarung und Ehrlichkeit eine Liebeserklärung, ein liebvoller Erklärungs- und Ordnungsversuch. Da erzählt jemand, der sich beinahe schämt, übergelaufen zu sein. Der Roman ist aber auch eine stille und gleichermassen subtile Kritik am Umgang mit den „Verrückten“ in den dazu eingerichteten Institutionen, ohne damit pampig oder besserwisserisch zu klingen. Neben der Liebeserklärung an seine Familie, den Bildern, die mit so viel Respekt geschrieben sind, ist es auch eine Liebeserklärung an all die Gestrandeten, die Gesellschaft die «Kranken» nennt.

Das schreibt einer, der die Menschen ernst nimmt, erst recht jene, die durch die Maschen fallen. Ein Buch, in dem ich Sätze lese, die hängen bleiben, die sich tief eingraben. Ein Buch, das zu verstehen hilft!

Leon Engler wuchs in München auf und studierte Theater-, Film-, Medien-, Kulturwissenschaft und Psychologie in Wien, Paris und Berlin. Er veröffentlichte zahlreiche Theaterstücke, Hörspiele und Kurzgeschichten und wurde 2022 mit dem 3sat-Preis beim Bachmann-Wettbewerb ausgezeichnet. Er ist tätig als Autor, Psychologe und Dozent für Psychologie und Literarisches Schreiben. «Botanik des Wahnsinns» ist sein Debütroman.

Beitragsbild © Niklas Berg

Paola Lopez «Die Summe unserer Teile», Tropen

Wir sind mehr als die Summe unserer Teile, müsste man der Autorin entgegenhalten, wenn der Titel nicht Programm und Provokation gleichzeitig wäre. Paola Lopez Debüt ist eine Familiensaga, die Geschichte dreier Generationen aus der Sicht ihrer Frauen. Ein Roman darüber, dass unser Leben immer auch auf ganz vielen Leerstellen gebaut ist. Eine Tatsache, die mit einem Mal alles aus scheinbarem Gleichgewicht bringen kann.

Grossmutter Lyudmiła war in Beirut angesehene Chemikerin, ihre Tochter Diara ist Kinderärztin in München und die Enkelin Lucy, Informatikstudentin in Berlin. Ihre Geschichten, die Geschichten ihrer Familie werden aus der Sicht dieser drei Frauen erzählt, starker Frauen, die alle in ihrem Leben, ihren Ansprüchen einer ordentlichen Portion Kompromislosigkeit „unterworfen“ sind.

Dreh- und Angelpunkt des Romans ist der Sommer 2014. Lucy hofft auf einen angenehmen Sommer und dass sie es endlich schafft, zusammen mit Phil, ihrer WG-Mitbewohnerin ihr Computerspiel fertigzustellen. Aber als sie nach Hause kommt, steht da ein schwarzer Steinway-Konzertflügel in ihrem Zimmer, ein glänzendes Ungetüm, das alles zu verdrängen scheint, zugeschickt von ihrer Mutter, mit der sie seit drei Jahren keinen Kontakt mehr hat. Mit einem Mal zwingt dieses Ungetüm Lucy, sich mit ihrer Familie auseinanderzusetzen, all dem Unausgesprochenen, den Geheimnissen, von denen sie Ahnungen mit sich herumträgt, die aber nie zu Gewissheiten wurden. So sehr der Konzertflügel das schwarze Loch in ihrer Familie symbolisiert, so sehr treibt dieser Flügel Lucy auf eine Reise, eine Reise in die Vergangenheit, eine Reise ins polnische Sopot, wohin ihre Grossmutter einst als zwölfjähriges Mädchen „abhaute“.

Ihr ganzes Leben hat sie in einem Raum verbracht, den zu kennen sie geglaubt hat. Und jetzt entdeckt sie eine geheime Tür, die die ganze Zeit über da gewesen ist.

Paola Lopez «Die Summe unserer Teile», Tropen, 2025, 256 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-608-50272-5

Grossmutter Lyudmiła stammt aus Polen und wollte nichts anderes werden als Chemikerin. Marie Curie war ihr grosses Vorbild. Nichts und niemand sollte diesem Ziel im Weg stehen. Der Krieg vertreibt sie aus ihrer Heimat. Lyudmiła wird in Beirut zu einer gefragten Wissenschaftlerin, heiratet einen Kollegen und ist wegen einer Schwangerschaft gezwungen, ihrem Mann nach Deutschland nachzureisen. Daria, ihre Tochter, wächst auf mit dem Gefühl, stets nur Nebensache zu sein, wird von einer Nanny grossgezogen und lässt die Beziehung zu ihrer Mutter erkalten. Als sie mit Lucy schwanger ist, schwört sie sich nicht nur selbst, dass sie ihre Tochter nicht in fremde Obhut geben werde. Ein Entschluss, den sie vor der dominanten Mutter immer und immer wieder verteidigen muss.

Lyudmiła wuchs in Polen auf, studierte in den USA und forschte in Beirut. Ihre Tochter eröffnet in München eine Gemeinschaftspraxis. Lucy, die Abkürzung von Lyudmiła, sagt von sich selbst, sie sei halb Deutsche, ein Viertel Libanesin, ein Viertel Polin. Alle drei Frauen erzählen ein Stück Leben, das von Unruhe geprägt ist, von der Unfähigkeit, die Geschichte der Familie von Generation zu Generation weiterzugeben, im Schweigen stecken zu bleiben, keine Sprache für die ganz eigene Vergangenheit zu finden – und sie nie teilen zu können.

Lucy lernt auf ihrem Tripp nach Sopot im Zug Władek kennen, einen jungen Mann der tagsüber sein Geld als Schaffner verdient und nachts Platten auflegt und Musik produziert. Lucy ist fasziniert und lässt sich nur zu gerne von dem jungen Mann aus der Reserve locken. Er ist der, der die Fragen stellt, die sie sich nicht einmal selbser zu stellen traut. Sie ruft dann doch ihre Mutter an. Und mit einem Mal ist Diara in der Stadt, dort, wo Lucy sie niemals erwartet hätte. Und es beginnt das, was Krusten aufreisst und Lucy ihre Familie zurückgibt.

Eine umfassende Grammatik der Familie bekommt man nicht geliefert. Man muss selber danach suchen und die unvollständigen Brocken, die man findet, zu einem Gesamtbild zusammenkratzen.

„Die Summe unserer Teile“ ist Familien- und Mutter-Tochtergeschichte. Geschickt verwoben drei vehemente Frauengeschichten, die sich auszuschliessen drohen, denen die Stimme zu versagen droht, wenn es um das geht, was die Ungleichung Familie ausmacht. Ein Buch darüber, dass der Versuch einer Gleichung nur aufgehen kann, wenn alle Variablen sichtbar sind. Ein Buch darüber, dass das Wohin erst sichtbar wird, wenn das Woher sich zeigt. Ein Roman, in dem sich Gegenwart und Vergangenheit auf raffinerte Weise ineinanderschieben.

Paola Lopez, geboren 1988 in Wien, ist Mathematikerin und promoviert interdisziplinär über Künstliche Intelligenz. Derzeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bremen und schreibt für den Merkur eine Kolumne zu KI. Für die Arbeit an ihrem Debütroman «Die Summe unserer Teile» wurde sie mit dem Theodor Körner Preis 2023 gefördert. Paola Lopez lebt in Berlin.

Beitragsbild © Schore Mehrdju 

Yuko Kuhn «Onigiri», Hanser Berlin

Was bedeutet Heimat, Zuhause, wenn man zwei Kulturen in sich trägt? Was passiert, wenn sich diese zwei Kulturen streiten, obwohl man ein ganzes Leben beiden Seiten gerecht zu werden versucht? Was ist, wenn die Mutter mehr und mehr von Demenz zerfressen wird und unwiederbringlich zu schwinden beginnt, was bei allem Kampf Familie bedeutet. „Onigiri“ ist ein fein gesponnener Familienroman, ein berührendes Debüt.

Im Vorsatz des Buches steht Für meine Mutter. Akis Mutter wanderte einst nach Deutschland aus, in einer Zeit, in der es unüblich war, dass Japanerinnen ihr Glück in Deuschland suchen. Sie lernt einen Mann kennen, heiratet und bekommt zwei Kinder. Die Tochter, Aki, erzählt die Geschichte. Nicht nur die Geschichte ihrer Mutter, sondern die Geschichte zweier Familien, zweier Kulturen, die in ihrer Familie das Zusammenleben zu einem Schmelztiegel werden lassen.

Es ist mir unbegreiflich, wie meine Mutter es als junge Frau geschafft hat, hier in Deutschlad Fuss zu fassen. Sie hatte nur zwei Koffer, ein bisschen Geld und ihre Stimme.

Yasuko, Akis Grossmutter, ist in Japan uralt gestorben. Aki war immer wieder einmal in Japan, erfuhr ihre Grossmutter als Fixstern einer ganzen Familie. Yasuko bekam trotz ihrer Gebrechen noch mit, das Aki beim letzten Besuch ihre Urenkelin in den Armen trug, eine alte Frau, bis zum letzten Atemzug wach. Ganz im Gegenzeit zu ihrer Mutter, die mehr und mehr in ihrer Demenz abtaucht, für den letzten Teil ihres Lebens in einem Wohnstift lebt und die meiste Zeit des Tages ruhend, mit den Händen vor ihrem Gesicht, verbringt. Das Leben einer Katze sagt Felix, ihr Mann. Eine Frau, die trotz grösster Anstrengungen dem Leben in Deutschland immer fremd blieb, die ganz offen immer und immer wieder latente und direkte Fremdenfeindlichkeit erfahren musste, die sich mit ausbreitender Demenz mehr und mehr in ihrer Einsamkeit verliert, einer Einsamkeit, die ihre Tochter auch mit Zuwendung und Liebe nicht heilen kann.

Yuko Kuhn «Onigiri», Hanser Berlin, 2025, 208 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-446-28311-4

Aki kauft zwei Flugtikets nach Japan, eines für sich, eines für ihre Mutter. Will ein letztes Mal zusammen mit ihrer Mutter das Land ihrer Herkunft, ihre Heimat besuchen. Nicht zuletzt in der Hoffnung, die Verlorenheit ihrer Mutter für ein paar Augenblicke aufzuhellen, ihr die Chance zu geben, sich zu erinnern. Für Aki keine leichte Reise, denn ihr Japanisch ist das, was übrig geblieben ist, das Japanisch, das zwischen ihr und ihrer Mutter gesprochen wurde, eine Zweitsprache. Japan, ein Land, das die Heimat ihrer Mutter und für Aki in Vielem fremd geblieben ist. Eine Reise, von der Aki genau weiss, dass es die letzte zusammen mit ihrer Mutter sein wird, denn diese muss jeden Tag immer und immer wieder daran erinnert werden, dass sie ihre Tochter und dies das Land ihrer Herkunft ist. Eine Reise, bei der Aki feststellen muss, dass ihre Mutter keine Chance mehr hat, wirklich anzukommen. Eine Reise, die auch eine Reise in die Vergangenheit wird. Eine Reise zu einer Frau, die ihr als Mutter schon lange fremd geworden war.

Ich frage mich, warum meine Mutter so geworden ist, wie sie ist, ob ihr Unglück schon in ihr war, bevor sie nach Deutschland gekommen ist.

Auf der anderen Seite die Eltern ihres Vaters, Gesine und Ludwig, die in einem grossen Haus mit Personal leben, einem Haus, dass alles repräsentiert, was deutscher Wohl- und Anstand zeigen kann, die nie mit Überzeugung akzeptierten, dass ihr Sohn eine Japanerin zur Frau genommen hatte. Akis Mutter hatte an allen Fronten zu kämpfen, obwohl sie eine weltoffene, zugewandte Person war, der man aber immer wieder Grenzen zeigte. Eine Frau, der Musik alles bedeutete, die schon in Japan als junge Frau mit ihrer Singstimme in einem Chor die halbe Welt bereisen konnte. Und Akis Vater, der es nicht schafft, das zu werden, was die Eltern von ihm erhofften, der die Ehe scheitern lässt und sich mehr und mehr in sein Schneckenheus zurückzog.

„Onigiri“ ist unzweifelhaft ein sehr autobiographisches Buch, erst recht, weil es in der Ich-Perspektive erzählt und einem die verschiedenen Zustänge des Gespalten-Seins auf ganz eindringliche Weise nahekommen, ohne dass die Autorin unangebracht in Emotionen rührt. „Onigiri“ sind dreieckige „Reisbällchen“, von Hand geformt. Sie sehen aus wie kleine weisse Häuschen. Vielleicht ist dieses Buch der Versuch der Autorin, sich selbst und ihrer Mutter ein Stück Zuhause zurückzugeben. Eine literarische Liebeserklärung, die sanfte Suche nach einem verlorenen Stück Paradies.

Yuko Kuhn wurde 1983 in München geboren. Sie studierte Kulturwirtschaft in Passau und Aix-en-Provence. 2019 fand sie über ihre Tätigkeit an der HFF / Hochschule für Fernsehen und Film München zum Schreiben. Mit ihrem Mann und ihren drei Kindern lebt sie in München.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Peter Andreas Hassiepen

Gina Bucher «Schattengänger», Edition Bücherlese

Jo Graber ist ein stiller Mann, unauffällig. Niemand im Quartier weiss mehr als das, was Gerüchte und Vermutungen in die Welt setzen. Auch bei der Arbeit bleibt er ein Geist. Bis er mit einem Mal verschwindet und man sich fragen muss, was geschehen ist. Gina Buchers literarisches Debüt ist ein Roman über Einsamkeit und die Macht des Gerüchts.

Schon eigenartig. Da schreibt jemand ein Buch, in dem die Hauptperson von einem Nachbarn in der Siedlung „Schattengänger“ genannt wird und auch genau das im Roman selbst bleibt; ein Schattengänger. Man sieht von ihm nur die Kontur eines Schattens. Jo Graber, Einzelgänger in einem Wohnquartier mit tausend Augen, Angestellter im Bauamt der Stadtverwaltung, Abteilung Aufzugsanlagen. So unkonventionell die Erzählperspektive, so eindringlich die Stimmen, die fast alle aus ihrer eigenen Isolation erzählen. Ein Roman über die Gegenwart, über Grenzüberschreitungen, Dichtestress, Gerüchte, Fehlinterpretationen, Distanz und Ängste. Und ein Roman über das Scheitern.

Noch eine Spezialität dieses Romans ist die Erzählstrategie. Wenn sich in vielen Romanen nach und nach die Schichten einer Zwiebel lösen bis man auf den Kern gelangt, fügt sich bei diesem Roman Schicht an Schicht. Auch wenn die Zwiebel dann nicht mehr geschlossen ist, sondern offen wie eine Rose. Es dauerte, bis ich mich bei der Lektüre traute, fixe Rückschlüsse aufs Ganze zu ziehen. Gina Buchers Erzählweise provoziert meine eigenen Spekulationen, genau das, was mit den Stimmen im Buch passiert.

„Schattengänger“ ist nicht nur der Titel, sondern Programm des Romans. Wer das Buch nach der Lektüre zur Seite legt, weiss nur wenig über jenen Jo Graber, über den ein ganzes Quartier und ich als Leser spekuliere. Genau das, was in Wirklichkeit passiert. Was wissen wir von den Menschen, die uns umgeben? Was wissen wir von unseren Nächsten?

Gina Bucher «Schattengänger», edition bücherlese, 2025, 200 Seiten, CHF ca. 29.00, ISBN 978-3-03981-011-6

Fast ein Dutzend Stimmen erzählen; Aurel, ein etwa zehnjähriger Junge aus der Nachbarschaft, ein kindlicher Forscher und genauer Beobachter. Kris, der Nachbar, der „Verpuppte“, der Jo Graber den Schattengänger nennt, traumatisiert von seiner Familie, Kiffer, arbeitsunfähig, permatherapiert. Esmé, eigentlich Frau Kordik, Jo Grabers Ärztin, ängstlich, auch sie in gewisser Weise traumatisiert. Remigio, ein älterer Nachbar aus der Siedlung, verheiratet mit Marta, mit der Angst vor drohender Demenz seiner Frau. Renée, Grabers Chefin im Büro, durchdrungen vom Wunsch, eine gute Chefin zu sein, dauernd im Ungewissen über Nähe und Distanz. Tom, sein ahnungsloser Arbeitskollege, der mit ihm ein Büro teilt. Dennis, der ausländische Pfleger im Altenheim von Jo Grabers Mutter, der ihn bei Besuchen schätzen lernt und ihn fast zärtlich Herr Jo nennt… 

Fast alle Erzählstimmen hätten das Zeug für einen eigenen Roman. Aber es wurde ein Spiegelroman. Die Geschichten der Erzählstimmen spiegeln sich im Erzählen über diesen geheimnisvollen Jo Graber. Und die Interprationen der Erzählstimmen verraten viel über die Erzählstimmen selbst.

Jo Graber ist ein Geist. So wie viele, denen es nicht darum geht, eine möglichst breite Schneise der Publizität hinter sich herzuziehen. Irgendwo im Buch steht die Wendung „das Recht auf Verschwinden“. Wie viel Gewicht legen wir auf die Präsentation dessen, was das Bild von uns sein soll? Gibt es die Freiheit, sich zu verweigern, gibt es sie vor seiner Familie, seiner Umgebung, bei der Arbeit, vor dem Staat, der Polizei?

Wir machen uns ein Bild des anderen. Wie sehr dieses Bild immer wieder durchbrochen wird, erfahren wir immer wieder, wie sehr wir uns irren, verspekulieren. Genau dort steckt eine ordentliche Portion Gesellschaftskritik in diesem Roman.

Lesung von Gina Bucher in der Stadtbibliothek Luzern vom 27. Mai © Theres Roth-Hunkeler

Gina Bucher, geboren 1978, aufgewachsen in Luzern, ist Autorin, freie Journalistin und Dozentin. In Zürich und Hamburg studierte sie Filmwissenschaften, Publizistik und Kunstgeschichte. Heute lebt Gina Bucher mit
ihrer Familie in Zürich und schreibt Kolumnen und erzählende Sachbücher. Zuletzt erschienen Geschichten über das Scheitern: «Der Fehler, der mein Leben veränderte» (2018) und Geschichten über die Liebe: «Ich trug das grüne Kleid, der
Rest war Schicksal» (2016). Als Herausgeberin verantwortete sie verschiedene Bücher im Kunstbereich. Seit 2021 arbeitet Gina Bucher auch als Dozentin an der F+F Kunst- und Designschule, Zürich, und seit 2017 als Schreibtrainerin am Jungen Literaturlabor JULL in Zürich.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Lucas Ziegler.

Katinka Ruffieux «Zu wenig vom Guten», Arche

Eine Familiengeschichte? Eine Exilgeschichte? Ein Roman über Nähe und Distanz? Über Verlust und die Suche nach Identität? Katinka Ruffieux erzählt in ihrem literarischen Debüt kunstvoll und gekonnt, mit jener Portion Witz, die das Schwere leicht macht und mit Sätzen, die man festhalten will.

Manchmal beseelt einem die Lektüre so sehr mit Feinheiten, dass man das Buch nur in kleinen Schlucken geniessen will. Was mir dann doch nicht gelingt, weil, wie der Erstling von Katinka Ruffieux beweist, hier eine Autorin erzählt, die nicht nur sprachlich glänzt, sondern auch in ihrer Erzählstrategie. „Zu wenig vom Guten“ ist mit einer derartigen Reife geschrieben, dass man erstaunt ist, einer literarischen Debütantin zu begegnen, denn Katinka Ruffieux erzählt mit grosser Souveränität. In ihrem Erzählton steckt jene unverkrampfte Leichtigkeit, die man in helvetischer Literatur nur selten trifft, jene Portion Schalk und Humor, die das Lesen leicht macht und nicht zuletzt ein ordentlicher Schuss Lebensweisheit, den man wohl erst dann erreicht, wenn man selbst in den Tiefen der eigenen Existenz den Erfahrungen die richtigen Fragen stellt.

Katinka Ruffieux erzählt von einer Familie, die in der Folge des Ungarnaufstands ihr Land verlassen hatte, um wie viele andere Familien ihr Glück in der Schweiz zu suchen. Ich selbst erinnere mich gut an eine Nachbarsfamilie im Quartier meiner Kindheit, bei der zuhause noch immer Ungarisch gesprochen wurde und die Besuche bei meinem Schulkameraden zu Expeditionen in eine andere Kultur wurden. Nicht nur roch es in jener Wohnung anders als bei mir zuhause. Der Vater jenes Jungen war ein hagerer, grosser Mann mit Schuhgrösse 48, dessen riesige Hände die meinigen bei der Begrüssung zu Puppenhänden machten. Ein Mann der immer freundlich und immer leise sprach, als ob er in der Luft um ihn herum nicht zu grosse Wellen machen wollte.

Unsere Familie gleicht einem Hühnerstall. Wer wen hacken darf, steht fest. Trotzdem lassen alle Federn.

Katinka Rufieux «Zu wenig vom Guten», Arche, 2025, 256 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-03790-161-8

Genauso die Familie in „Zu wenig vom Guten“. Man wohnt zu fünft in einer winzigen Wohnung in der grössten Stadt der Schweiz, versucht um jeden Preis nichts falsch zu machen und tut alles, um den Traditionen und stillen Gesetzen des neuen Zuhauses zu genügen. Mutter, Vater, zwei Töchter und der Grossvater, den man regelrecht entwurzeln musste. Weil der Platz in der Wohnung gering ist und man die freien Stellen lieber mit den Errungenschaften des Westens auffüllt, leben die beiden Töchter zusammen mit dem Grossvater in einem Zimmer unter dem strengen Diktat der Mutter, mit einem Vater, der lieber durch Abwesenheit glänzt und einem Grossvater, der ganz unverblümt die Enge in der Wohnung mit In diesem Haus wird man kein echter Mensch, hier wird man bloss verrückt! kommentiert. Ein Grossvater, der im Reduit seiner kleinen Familie von dem träumt, was er zurücklassen musste und mit dem hadert, womit er sich in seinem Exil konfrontiert sieht. Kommentare, die die Mutter stoisch erträgt, die Töchter aber meist wörtlich nehmen, was die Stimmung in der Wohnung alles andere als entlastet.

Auch zwischen den Schwestern herrscht keine Verschwesterung, ganz im Gegenteil. Die Erzählerin versucht die Wogen in der Familie zu glätten, sieht sich im Gefüge als jene, die für das Gute zuständig ist und doch immer das Gefühl mit sich herumträgt, nicht zu genügen, letztlich verantwortlich zu sein für all das, was der Familie widerfährt. 

Schon zu Beginn des Romans wird von der Asche der Schwester erzählt und dass nicht einmal diese sich den Wünschen der Familie beugt. Der Roman beginnt mit einem Verlust. Ein Thema, das sich durch das ganze Buch zieht; der Verlust der Heimat, der Identität. Der Verlust des Vaters, der irgendwann aus der Enge auszieht und ein anderes Leben beginnt, eine neue Familie gründet. Der Verlust des Grossvaters, jener Person, die auf alles eine Antwort hatte, der für die Erzählerin trotz der räumlichen Enge der Fels in der Brandung war. Und der Verlust der Schwester, die immer tiefer in ihrer Revolte gegen alles und jeden abrutschte, die sie aus dem Drogensumpf zu retten versuchte, die ihr Leben aber unrettbar gegen eine Wand fuhr.

„Zu wenig vom Guten“ ist eine literarische Perle. Wie schade wäre es, man würde sie zwischen all den bunten Kieseln nicht sehen!

Interview

Ein grosses Thema ihres Romans ist Verlust. Die Familie verliert ihre Heimat – Ungarn. Sie verliert den Vater, der sich das Glück mit einer neuen Familie sucht, den Grossvater, der im Exil stirbt und die Schwester. Verluste, die das Leben der Erzählerin prägen und doch nicht zerreiben. In ihrem Roman spürt man den Schmerz, aber ebenso die Kraft, die daraus entsteht. Obwohl sich alles um diese Verluste dreht und andere daran zerbrechen würden, bewahrt sich die Erzählerin jenen Mut, den es braucht, um nicht zu zerbrechen. Wie gelang es Ihnen, diesen Ton zu finden? Ist er Ihnen gegeben oder war es ein Prozess des Findens?
Eine glaubhafte Stimme für diesen Roman zu finden, war entscheidend. Schreibt man aus der Perspektive einer Jugendlichen, wirkt das Geschriebene schnell aufgesetzt, schlimmstenfalls anmassend. Da kommt man um das Suchen und Finden nicht herum. Als die richtige Tonalität jedoch gefunden war, ging mir der «Sound» des Buches nicht mehr aus dem Kopf und das Schreiben leicht von der Hand. 

Neben der Suche nach der eigenen Identität ist Ihr Roman auch ein Spiegel dessen, was in den 80ern in der Schweiz geschah; Jugendunruhen, Spiessbürgertum, Drogenszene Zürich, Einbürgerung… Und trotzdem spiegelt sich das sozialpolitische Geschehen ganz in den Protagonisten. Es schwingt unterschwellig derart viel mit, dass ich als Leser manchmal das Gefühl hatte, mehrere Bücher miteinander zu lesen. Leser*innen in meinem und Ihrem Alter fühlen sich gespiegelt, erinnert – und junge Leser*innen wundern sich über die Abgründe hinter den Fassaden. War das Absicht?
Absicht würde ich es nicht nennen. Als Autorin möchte ich möglichst viele Menschen erreichen und dafür treffe ich gewisse Entscheide. «Zu wenig vom Guten» ist im Grunde eine ziemlich traurige Geschichte, die ich mit einer grossen Leichtigkeit erzählen wollte. Aber einen solchen Entscheid trifft man instinktiv und nicht absichtlich. Ein tieftrauriges Buch hätte mich wohl selbst beelendet. Dass das Buch auch generationenübergreifend zu funktionieren scheint, freut mich besonders.

Sie beschreiben einen Kosmos, jenen der Familie. Einen ganz eigenen Kosmos, weil die Familie, aus Ungarn stammend, alles tut, um der „Schweiz“ zu genügen. Eine aus dem Ausland stammende Familie, die alles, aber wirklich alles tut, um sich zu integrieren. Das Idealbild gewisser Kreise auch heute. Integration bis zur Selbstverleugnung. Ein Prozess, der aber auch im Leben eines jungen Menschen passiert, dann, wenn man während der Pubertät unbedingt zu eine Piergruppe „dazugehören“ will, wenn man ein Teil von etwas Grösseren sein will. Ein Prozess, der die beiden Schwestern spaltet. Die Erzählerin will sie retten, scheitert aber. Ihre Schilderungen scheinen keine Innenansichten, sondern Aussenansichten zu sein, versöhnt distanziert. Viele Bücher, die sich mit ähnlichen Themen auseinandersetzen, triefen vor Selbstergriffenheit. Liegt das an Ihrer „Reife“?
Um diese Geschichte zu erzählen, musste ich so alt werden, wie ich heute bin. Ich nehme vieles entspannter, fühle mich freier in meinem Denken aber auch sonst. Für distanziert halte ich die Erzählerin nicht. Aber sie weiss sich zu schützen und hält es für gut, dass alle irgendwann vergessen werden «dürfen». Eine Ansicht, die ich mit ihr teile.

Eine Familie mit Grossvater. Ich mag diesen Grossvater sehr, zumal ich selber Grossvater bin. Aber im Gegensatz zu mir, ist der Grossvater in Ihrem Roman einer aus der immer seltener werdenden Sorte „Grossfamiliengrossvater“, obwohl die Familie selbst, trotz falscher Onkel und Tanten, klein ist. Man lebt eng zusammen, hat eine fixe Rolle, ist Teil des Lebens, nimmt gegenseitig Einfluss. Dieser Grossvater nimmt auch kein Blatt vor den Mund, etwas, was ich mir nicht leisten kann. Etwas, das nur funktioniert, wenn man Teil eines Zusammenlebens ist. Trotzdem zerfällt diese Familie. Ist dieser Roman auch ein Stück „Sehnsuchtsbewältigung“?
Ich mag den Grossvater selbst gut leiden, kenne ihn jedoch kaum. Aus Neugier wollte ich ihn mit besonderer Sorgfalt zeichnen. Der Roman soll keine Sehnsüchte bewältigen, aber es stimmt schon: Familien müssten immer gross und bunt und laut sein! Dass die einzelnen Familienmitglieder dieselbe Herkunft haben, ist dazu nicht nötig. Aber wenn da ein toller Grossvater wäre, der sich engagiert, dann wäre er ein Gewinn für die Familie und jedes Enkelkinds.

Schwestern. Jede mit ihrer Rolle. Jede im festsitzenden Glauben, diese Rolle spielen zu müssen. Für beide gibt es keinen Ausweg. Die eine verschreibt sich der Rebellion, die andere der Anpassung. Ein Motiv, das bis in die Märchenwelt greift. Ist das Schreiben ein Versuch, der eigenen Rolle zu entfliehen?
Nein, das glaube ich nicht. Ich unternehme als Autorin keine Fluchtversuche, vielmehr wende ich mich den Dingen hin, bin eine aufmerksame Beobachterin für alles, was um mich herum geschah und noch geschieht. Auch das ist meiner Neugier geschuldet. Ich halte fast alles für interessant.

Katinka Ruffieux wurde 1968 in der Schweiz geboren und wuchs in einer ungarischen Familie auf. Sie lebt und arbeitet in der Nähe von Zürich. 2019 gewann sie mit ihrer Kurzgeschichte »Streuner« den Wettbewerb des Literaturhauses Zürich. Es folgten das Wanderbuch »Auf den Spuren der Literatur« und das SRF-Hörspiel »Kalter Kaffee«. 2023 war sie Stipendiatin der Bayerischen Akademie des Schreibens am Literaturhaus München, wo sie an ihrem Romandebüt »Zu wenig vom Guten« arbeitete.

Katinka Ruffiex liest und diskutiert im Rahmen von «Die Nacht der Debüts» in Frauenfeld in Theaterwerkstatt Gleis 5 am 26. September

Beitragsbild © privat

Gianna Lange «Und dann springen wir», FVA

Eine junge Frau springt von einer Brücke. Aber nicht, weil sie Schluss machen will, sondern weil es ein Neubeginn sein soll. Von der „Alten Brücke“ in Mostar, jener steinernen Bogenbrücke über die Neretva, über eine Brücke, die mit ihrer Zerstörung 1993 zum Symbol des Bosnienkrieges wurde. Ein Sprung, der ein Versprechen einlösen sollte.

Gianna Lange schrieb mit ihrem feinmaschigen Debüt ein Stück Literatur, dass es in sich hat. Eine vielschichtige Geschichte über eine junge Frau und ihre Familie. Eine Familie, die zerrissen ist. Über die Gewissheit, dass man sich seiner Herkunft nicht verschliessen kann, dass die Frage nach dem Woher wenigstens jenes Mass an Antworten braucht, um sich von der Enge unbeantworteter Fragen befreien zu können. „Und dann springen wir“ ist ein Roman über eine junge Frau, die sich vom Schweigen, der Verdrängung in ihrer Familie befreien muss.

Elise stirbt, die Mutter von Rosa. Es war ein Leben, dass immer wieder tauchte. Elise sprang immer wieder, ohne je unten anzukommen. Auch wenn es Phasen des Glücks gab, war das Leben mit der Mutter und die Abwesenheit des Vaters für die junge Rosa ein permanentes Minenfeld, bescherte ihr ein Leben in Ungewissheit, übertrug ihr Verantwortung, die die Kraft eines Kindes, einer Jugendlichen übersteigt. Irgendwann entfloh Rosa ihrer Mutter, zog aus, in ein Wohnheim auf der anderen Seite der Stadt. Einen Abstand, den es brauchte, um vor den Katastrophen der Mutter zu entfliehen.

Gianna Lange «Und dann springen wir», Frankfurter Verlagsanstalt, 2025, 192 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-627-02337-9

Man teilt ihr mit, dass die Mutter gestorben ist, nachdem sie an Tuberkulose erkrankte und ins Spital eingeliefert wurde. Obwohl man ihr versicherte, an Tuberkulose würde heute niemand mehr sterben, kam der Anruf dann doch. Mit einem Mal war ihre Mutter weg, unwiederbringlich. Und weil Rosa für die Bestattung ihrer Mutter Geld brauchte, war sie gezwungen, mit ihrem Vater Kontakt aufzunehmen. Einem Vater, der schon lange das Weite gesucht hatte, der wieder heiratete und einen neue Familie gründete, mit dem sie eigentlich nichts mehr zu tun haben wollte.

Mutter und Vater. So sehr sie sich aber von ihrem „Vater“ distanzierte, so sehr wurde Elise in guten Phasen zu einer Freundin. Immer so lange, bis ein neuer Absturz in den Suff oder sonstige Rauschmittel wieder kappte, was Liebe hätte sein können. Wie damals, als Rosa mit ihrer Mutter nach Mostar reiste, an jenen Ort, an dem schon für die Mutter vor Jahrzehnten etwas zurückgeblieben war, einen Ort, der viel mehr war als das Ziel einer Urlaubsreise. Damals standen Elise und Rosa auf der steinernen Brücke in Mostar und wussten nicht, ob sie gemeinsam springen sollten. Irgendwann sprang die Mutter aber dann doch, wenn auch nicht von der Brücke, sondern in Prag auf einer gemeinsamen Reise, einmal mehr in ihren Suff. Sie verschwand mitten in der Nacht aus dem grossen Bett, um im Bad des Hotelzimmers in ihrem Erbrochenen zu liegen, um Rosa einmal mehr in Todesangst zu versetzen. Damals half man ihr. Damals wurde auch mehr als deutlich, dass Rosa, so sehr sie sich nach Familie sehnte, diese verlassen musste, um wieder atmen zu können.

Aber weder der plötzliche Tod ihrer Mutter noch das eigentlich so freundliche Bemühen ihres Vaters genügen für einen Neuanfang. Rosa spürt, dass sie Spuren aufnehmen muss, von denen sie nicht weiss, wohin sie sie führen werden. Unterstützt von ihrer Freundin Emma unternimmt Rosa Reisen dorthin, wo sie ahnt, dass mehr ist. Zurück nach Mostar, zurück zur Brücke, weil da ein Versprechen war – „und dann springen wir“.

Gianna Langes Roman ist ein Familienroman. Ein Wurzelbuch. In ineinnader verschränkten Zeitebenen erzählt die Autorin routiniert und gekonnt aus einem Leben, das seine Spur sucht. Ohne jede Zuordnung von Gut und Schlecht. So ruhelos das Leben von Elise war, so getrieben und anfällig auf Erschütterungen und Verunsicherungen, so gross ist Roses Sehnsucht nach einem festen Anker. Ein zarter Roman voller Wärme!

Interview

Momentan sind autobiographische oder autofiktionale Bücher angesagt. Ich kenne Leute, die die Qualität ihrer Lektüre nach der „Glaubwürdigkeit“, der „Echtheit“, nach dem „Selbst Erlebten“ messen. Gute Bücher sind jene, die davon triefen. Als ich „Und dann springen wir“ las, war es durchaus die Geschichte, die mich fesseln sollte. Aber wenn eine gute Geschichte gut erzählt ist, wenn die Sprache passt, dann relativiert sich „Echtheit“. Ist es nicht die Fähigkeit zur Empathie, die gutes Erzählen ausmacht?
Dem würde ich auf jeden Fall zustimmen. Ich bezweifle, dass sich gute Geschichten ohne eine ausreichende Portion Empathie erzählen lassen. Daher freue ich mich auch, wenn Lesende meinem Roman immer wieder unterstellen, autofiktional zu sein. Das ist er nicht, aber ich fasse es als Kompliment auf, denn die Geschichte wurde in diesen Fällen offensichtlich als authentisch empfunden. Und dafür muss man sich, meiner Meinung nach, in seine Figuren hineinversetzen können, verstehen, was sie empfinden und warum. Ich finde auch nicht, dass es unbedingt „leichter“ ist, selbst Erlebtes authentisch zu erzählen. Oft gelingt es mir ganz gut, ich habe mich aber auch bei der einen oder anderen Geschichte zu nah dran gefühlt, um sie zu entwirren. Oder ich stand mir selbst dabei im Weg, mich zurückzuversetzen. Ich denke, das kennen die meisten Menschen, man möchte nicht alles Erlebte ungefiltert noch einmal erleben.

Prag © Gianna Lange

Rosa macht sich auf eine Reise, auf eine innere und eine äussere. Einer der Anlässe, dass sich Rosa aufmacht, ist der Tod ihrer Mutter. Eine Mutter, die für sie fast immer Elise hiess, in guten Phasen mehr Freundin war und in schwierigen ein Alp. Viele Familiengeschichten sind Emanzipationsgeschichten. Und dabei ist Emanzipation viel mehr als Selbst- und Eigenständigkeit. Ist Emanzipation in Ihrem Roman nicht vielmehr das ganz umfassende Bewusstsein, woher man kommt?
Das fasst es sehr schön zusammen! Emanzipation hat ja immer auch damit zu tun, woher man kommt. Was ist das grosse Ganze eigentlich, von dem ich mich da löse? Und wo möchte ich hin? Es ist für mich das Verstehen, quasi das Aufdecken der Richtung, aus der man kommt, um so die Richtung zu bestimmen, in die man möchte. Und nicht womöglich versehentlich genau dort zu landen, wo man eigentlich gar nicht hin wollte. Vielleicht ist später das, wovon man sich unter Anstrengung gelöst hat, dann doch das, was man für sich selbst wählt. Doch ich glaube, die Wahl lässt sich befreiter und selbstbestimmter treffen, wenn ihr eine Emanzipation vorausgegangen ist.

Vieles in Ihrem Roman kann man metaphorisch verstehen. Rosa ist in Bosnien unterwegs; Abseits der Wege herrschte Minengefahr heisst es, als Rosa auf einer ihrer Reise in einem Bus gewarnt wird. Dieser Satz gilt doch auch für ihr eigenes Leben, das sie doch einfach weiterleben könnte, ohne all die Fragen, Konfrontationen, das Suchen. Waren sie sich dieser Metaphern bewusst oder geschehen sie unbewusst?
Das ist bei mir ein Mischverhältnis. Manche Metaphern habe ich beim ersten Tippen der Worte bewusst eingesetzt. Die Teflonpfanne am Anfang des Romans ist so eine, zerkratzte Teflonschichten sind giftig. Das ist die grosse Sorge einer Frau, die aber freiwillig lauter anderes Gift zu sich nimmt. Es gibt aber durchaus auch Metaphern, die mir erst später aufgefallen sind, die dann entweder noch einen Feinschliff verpasst bekommen haben oder rausgeflogen sind, weil sie doch nicht so gut funktioniert haben. Das ist sowohl in der eigenen Überarbeitung als auch später im Lektorat noch vorgekommen. Ich würde behaupten, mehr Metaphern bewusst als unbewusst ins Buch geschrieben zu haben. Ich werde aber auch immer mal wieder von Interpretationen und Eindrücken Lesender überrascht, da offenbaren sich mitunter ganz neue Deutungen. Das finde ich total spannend.

Ein Familienroman darum, weil sich Rosa aus einer schwierigen Familienkonstellation „distanzieren“ will, nicht weil sie das alles nicht mehr will, sondern weil sie einzuordnen versucht, nicht zuletzt die Gründe dafür, dass sich Elise, ihre Mutter, immer wieder in ihren Abstürzen verliert. Auf der einen Seite das hochstilisierte Idyll der Familie, auf der anderen Seite die Realität vieler Abgründe, Zerrüttungen. Warum werden wir derart beherrscht von der Sehnsucht nach Familie und Zugehörigkeit?
Eine Freundin von mir hat mal einen Satz zu mir gesagt, der hängengeblieben ist. Ich sass auf ihrem Sofa, vollkommen überfordert von einem sich anbahnenden Todesfall innerhalb der Familie, und geisselte mich dafür, mit der Situation nicht besser klarzukommen. Für mich hiess „besser“ damals, dass ich es allein verkraften können muss, weil ich ja nun mal erwachsen war. Und meine Freundin sagte: «Also Gianna, der Mensch ist ja nun mal ein soziales Wesen.“ Sie hat danach noch viel mehr kluge Worte gesagt, aber dieser Einstieg bringt es schon so gut auf den Punkt. Das sage ich mir auch heute noch, wenn ich mal wieder meine, ich müsste ganz allein mit allem zurechtkommen. Wir Menschen sind nicht dafür gemacht, vollkommen und immer allein zu sein. Ich bin eher introvertiert und wirklich gern allein, ich brauche das auch, aber genau so brauche ich meine Herzensmenschen, meine Familie, meine Freund*innen, meinen Partner. Und das ist etwas Universelles, wir alle brauchen unsere Netzwerke, in denen wir sicher sind, in denen wir Unterstützung erfahren, wenn wir darum bitten. Ich weiche den Begriff Familie im Buch bewusst etwas auf, weil ich weiss, dass Familie nicht immer die Blutsverwandtschaft ist. Familie ist für mich ein dehnbarer Begriff mit so vielen Facetten, die man zum Glück auch selbst gestalten kann.

Mostar © Gianna Lange

Im Titel des Buches steckt ein Versprechen. Die „Alte Brücke“ in Mostar ist nicht nur für Rosa ein Symbol für ein Davor und Danach. In Ihrem Buch erzählen Sie unterschwellig auch vom Bosnienkrieg und seinen Auswirkungen bis in die Gegenwart. Sie schieben Schicht um Schicht unter die Geschichte, die Sie an der „Oberfläche“ erzählen, tun das sehr gekonnt. Ist da nie die Gefahr, dass man den Bogen überspannt?
Ich würde sagen, die Gefahr ist immer da. Gerade in Bezug auf die noch immer recht junge Vergangenheit der ex-jugoslawischen Länder habe ich den Text wieder und wieder unter die Lupe genommen. Ich selbst habe die Region durch eine ähnliche Brille betrachtet wie Rosa und Elise, nämlich durch eine westeuropäische. Da waren die Schönheit der Orte und der Landschaft, die gastfreundlichen Menschen, aber auch die unübersehbaren Spuren des Krieges. All das sollte mit ins Buch, all dem wollte ich gerecht werden, ohne dabei ein weiteres, west-eurozentrisches Buch über den Osten zu schreiben. Ich bin dafür im Schreibprozess sehr nah an eigens Erlebtem und Beobachtetem geblieben, um im Text dann nah an den Figuren und ihren Erlebnissen und Beobachtungen zu bleiben. Dabei habe ich unweigerlich hier und da den Bogen auch mal überspannt, aber zum Glück wird ein Text ja noch einige Male und von mehreren Augenpaaren genauestens geprüft, bevor er gedruckt wird. So ist mir am Ende hoffentlich gelungen, was ich mir vorgenommen hatte.

Rosas „Vater“ ist nicht zuletzt eine tragische Figur. Mir hat er bei der Lektüre fast Leid getan, tut er doch viel, um Rosa eine Versöhnung anzubieten, nicht nur er, seine ganze Familie. Eines dieser unterschwelligen Themen in ihrem Roman ist die Adoption, ohne dass Sie daraus ein „Thema machen“. Beziehungen zwischen leiblichen Eltern und ihren Kindern bieten viel Angriffsfläche. Allein aus der Beziehung zwischen Rosa und ihm hätte man einen Roman schreiben können. Nähe und Distanz ist nicht nur in der Familie heikel. Gilt das nicht auch fürs Schreiben?
Auch dem würde ich zustimmen und es lässt sich auf so vieles anwenden. Die Nähe und Distanz zu sich selbst beim Schreiben, zum Text, zu den Figuren, zwischen den Figuren. In meinem Fall gehören Schreibblockaden zum Schreiballtag und die haben oft damit zu tun, dass mir die eigene Geschichte an dieser und jener Stelle nicht vertraut genug ist. Ich muss dann meistens erstmal herausfinden, woran es liegt, und dann eintauchen. Das kann eine einzelne Figur sein, dann muss ich die sozusagen besser kennenlernen, oder das Verhältnis zwischen Figuren. Meistens hilft es, in die Tiefe zu gehen und diese Feinheiten aufzuspüren, um die Blockade zu lösen und zu wissen, wohin die Geschichte als nächstes führt. Bei vollkommen fiktionalen Elementen ist es für mich oft die zu grosse Distanz, je mehr selbst Erlebtes mit einfliesst, desto eher erlebe ich wiederum den Effekt, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen. Den kenne ich aber auch im späteren Verlauf, wenn der Text fertig, mehrfach überarbeitet und schon zigmal gelesen ist. Dann stehe ich auch hin und wieder mal mitten im Wald und sehe ihn nicht. Und dann sind wir wieder beim Fazit der vorigen Antwort, es lesen ja zum Glück noch Andere mit, die das grosse Ganze im Blick haben.

Gianna Lange, geboren 1988 in Bremen, studierte Journalistik und Transnationale Literaturwissenschaft in Bremen und London. Sie ist Gründungsmitglied des ‹Lyrikkollektivs gabrieleschreibtgedichte› sowie des Kollektivs für junge Literatur ‹Kollit‹ und Redaktionsmitglied der Literaturzeitschrift ‹Koller‹. Für die ersten Seiten ihres Manuskripts »Und dann springen wir« erhielt sie das Bremer Autor:innenstipendium vom Bremer Literaturkontor. Die Autorin lebt in Bremen und arbeitet im Konzerthaus ‹Die Glocke› sowie beim ‹Musikfest Bremen›.

Beitragsbild © Franziska Evers

Agnes Siegenthaler «So nah, so hell», Zytglogge

Man kennt sie, jene, die in verlassene Häuser steigen, mit Taschenlampe und Rucksack, Fotos von Lost Places machen, Spuren suchen nach verlorenem, vergessenem Leben. In einem kleinen Haus, kurz vor der Räumung, treffen zwei junge Menschen aufeinander, Letta, die ungefragt eingestiegen ist und Paul, der im Haus seiner Grossmutter Ordnung machen will.

Wer ein Leben lang ein Haus bewohnt, hinterlässt einen kleinen Kosmos voller Spuren, Signale, Markierungen, dinggewordener Erinnerungen. Ich erinnere mich gut an die Besichtigung jenes Hauses, in dem wir zehn gute Jahre mit unserer Familie verbringen konnten. Die Frau, die mit ihrem Hund Jahrzehnte in dem Haus wohnte, am Schluss nur noch im Untergeschoss, musste wegen eines Unfalls ins Pflegeheim. Als man uns das Haus zeigte, sah man auf dem kleinen Tisch im Wohnzimmer noch einen Notizzettel und in der Küche auf der Anrichte eine Schale mit Früchten.

Agnes Siegenthaler «So nah, so hell», Zytglogge, 2025, 160 Seiten, CHF ca. 28.00, ISBN 978-3-7296-5182-1

Lore führte vor ihrem Tod ein ruhiges und zurückgezogenes Leben. Nicht einmal ihre nächsten Nachbarn wussten etwas von der stillen Frau. Agnes Siegenthaler verrät nur Verschlüsseltes aus dem Leben der stillen Frau. Das wird auch sichtbar im Aufbau des eigenwilligen Romans. Wenn Agnes Siegenthaler von Lore erzählt, dann sprechen die Dinge im Haus von der Frau und den Menschen, die mit Lore Zeit in diesem Haus teilten. Textpassagen, die sich eindeutig vom Erzählstrang nach ihrem Tod absetzen, lyrische Prosa, gesetzt wie Gedichte. Für mich als Leser sind es Atempausen, Einladungen, meinen Lesefluss zu verlangsamen, dem Text Zeit zu lassen, auf die Stimmen der Dinge einzugehen, auf das Hasenauge, die Porzellanfigur, den Hygrometer, die Kaffeetasse, den Elefanten aus Glas. Agnes Siegenthaler gibt den stumm gewordenen Dingen in Lores Haus ihre Stimme zurück, den eingelagerten Erinnerungen, die sich sonst spurlos verflüchtigen. Jeder, der schon einmal die Pflicht hatte, ein Haus Räumen zu müssen, weiss, wie wertlos mit einem Mal Dinge geworden sind, die in einem anderen Leben unentbehrlichen Wert besassen.

Paul ist Lores Enkel. Als er das Haus seiner Grossmutter aufschliesst, merkt er, dass Spuren zu finden sind, die nicht von seiner Grossmutter stammen. Und irgendwann findet er im grossen Bett der Grossmutter eine junge Frau liegen, jemanden, den er nicht kennt, von dem er aber spürt, das keine schlechten Absichten der Grund dafür sind, dass sich jemand unerlaubt Zutritt in das Haus seiner Grossmutter verschaffte. Letta wacht auf. Vielleicht wacht sie aber nicht nur aus dem Schlaf auf, sondern auch aus deinem Rauschzustand, der sich jedes Mal einstellt, wenn Letta in ein nicht mehr bewohntes Haus einsteigt.

Letta ist keine Einbrecherin. Sie ist nicht an dem interessiert, was Einbrecher interessieren würden. Sie hat sich in ihrer Passion ein eigentliches Protokoll zurechtgelegt, das sie genau befolgt. Sie sucht nach einem Andenken. Aber nach einem Andenken, das nicht sie aussucht, sondern von dem sie ausgesucht wird. Ein Taschentuch mit gehäkeltem Rand und den eingestickten Worten „Mensch nütze den Tag, denn er ist kurz“, eine zerkratzte Schallplatte von Miles Davis, ein einzelner Kinderschuh mit vergilbten Maikäfern als Muster. Letta sucht nach dem Andenken in diesem Haus, sucht viel länger als erwartet, erst recht mit Verzögerung, weil da dieser Mann auftaucht und erklärt, er wäre der Enkel. Letta und Paul sind Suchende; Letta nach dem Andenken, Paul mit der Aufgabe, die Asche an Lores liebstem Ort zu verstreuen.

Das verlassene Haus kurz vor seiner Räumung wird zum Schauplatz vieler Begegnungen. Vordergründig zwischen Letta und Paul, unterschwellig zwischen Lore über all die Dinge mit den Menschen, die einst in diesem Haus ein Stück ihres Lebens verbrachten, mit Lore Leben teilten.

„So nah, so hell“ ist ein zartes Debüt von grosser poetischer Kraft. Ein Buch, das viel Aufmerksamkeit verdient, geschrieben von einer Autorin, die mit diesem Roman einen vielversprechenden Weg begonnen hat. Wir werden noch mehr lesen!

Interview:

Ich las Dein Debüt mit grossem Interesse, mit ungetrübter Freude. Nur schon, weil Du eine mutige Form gewählt hast, Lyrisches mit Prosa mischst, deinem Erzählen ganz verschiedene Stimmen und Tonlagen gibst. War von Beginn weg klar, dass Du mehr als nur eine Art des Erzählens für Dein Debüt wähltest? Wieviel Mut brauchte es?

Die unterschiedlichen literarischen Formen sind zusammen mit den verschiedenen Erzählperspektiven entstanden. Es war klar für mich, dass diese nicht einfach in derselben Weise erzählen können. So haben die Gegenstände eine Art Chorfunktion für mich, wie sie gemeinsam und doch sehr individuell von etwas erzählen, was direkt nicht mehr erfahrbar wäre. Ihre Sprache gleicht der verknappten Form von Lyrics in Liedern und hat auch etwas Künstliches. Die Felsteile ihrerseits erlauben es sich, über Jahrtausende auszuholen und doch kurze Momente hervorzuheben. Wenn über Letta oder Paul erzählt wird, sind wir relativ nah an ihnen dran und folgen ihren Bewegungen und Gedanken. Es ist eine alltäglichere und menschlichere Sprache. Es hat nicht unbedingt Mut gebraucht, den Text auf diese Weise zu schreiben, es war vielmehr schön und hat Spass gemacht, zu entdecken, wie es gelingt, eine Geschichte aus unterstimmlichen literarischen Formen heraus zu erzählen. Danach waren es eher Ausdauer und Standhaftigkeit, die nötig waren, um die unterschiedlichen Formen und Perspektiven, zu verteidigen, nicht davon abzukommen und einen Verlag zu finden, der bereit war, dieses Textgewebe herauszubringen.

In alten Kurzbiographien über Dich heisst es „Für ihre Texte sucht sie nach Zeugenschaft in verlassenen Häusern und bei herumirrenden Steinblöcken. Sie interessiert sich für unwahrscheinliche Perspektiven und für das übersehene Offensichtliche.“ Mit diesen beiden Sätzen könnte man auch Letta, die Protagonistin in deinem Roman beschreiben. Keine alltägliche Leidenschaft. Irgendwie doch knapp an den Rändern zur Illegalität. Auch ein Outing?

Ich glaube, ich habe in dieser Kurzbiografie eine Methode offengelegt, die ich brauchte, um ins Schreiben zu kommen. Für diesen Text bin ich von konkreten Orten ausgegangen, die dann im Laufe des Erzählens zu fiktionalen Orten wurden. In dieser Kurzbiografie übertreibe ich ein wenig. Tatsächlich war ich in nicht mehr als einem verlassenen Haus unterwegs und das im Rahmen der Legalität. Aber zugegeben, das klingt auch etwas nach Letta. Möglicherweise ist aus dieser Methode ihre Figur entstanden. Sie ist da aber deutlich abenteuerlicher und eigenwilliger unterwegs, als ich es war. 

Ich musste in meinem Leben schon mehrfach helfen, eine Wohnung oder ein Haus zu räumen. Ein ganz eigenes, spezielles Erlebnis. Da wandert in eine Entsorgungsmulde, was zuvor ein Leben lang wie ein Schatz gehütet wurde. Man nimmt Dinge in die Hand, die ihren Wert mit einem Mal verloren, ihre Geschichte eingebüsst haben. Letta sucht nach einem Andenken, einem kleinen Denkmal, das auch im Unscheinbaren steckt. Ist Letta eine Anwältin jener, die ins Vergessen zu rutschen drohen?

Was du in der Frage beschreibst, war auf eine gewisse Weise eine Erzählabsicht von mir: über ein Leben zu schreiben, das scheinbar ungesehen vergangen ist und darüber, wie die Dinge, die für diese Person Schätze waren, mit ihrem Tod zu Müll werden. In dem Roman übernehmen diese Anwaltschaft gegen das Vergessen aber eher die Stimmen der verschiedenen Gegenstände. Durch sie wird nochmals ein Licht auf ein zurückgezogenes Leben geworfen, welches sich zunehmend ohne menschliche Beziehungen abspielte.
Ich glaube, Letta verfolgt da egoistischere Motive, sie sucht nach Dingen, die eigentlich mit ihr zu tun haben, sie sucht sich eine Art selbst gewählte Hinterlassenschaft zusammen. Es sind eher die Umstände, die sie dazu bringen, näher an Lore heranzugehen, über sie nachzudenken.

Paul ist mit der Urne seiner Grossmutter in diesem Haus. Er nimmt zum einen Abschied von seiner Grossmutter, zum andern ist er da mit der Aufforderung seiner Grossmutter, ihre Asche an ihren Lieblingsort zu bringen. Paul muss im Haus mit seiner Grossmutter Zwiesprache halten, um herausfinden, wo dieser „Lieblingsort“ sein könnte. Dein Roman ist neben diesem Kammerspiel zwischen Letta, Paul und Lore auch ein Buch über den Abschied. Wie wichtig ist dir dieses Thema?

Hier geht es um den Abschied von einem Menschen, der zurückgezogen lebte und eigentlich von den Menschen, die dableiben auch nicht vermisst wird. Solche Geschichten gibt es ja sehr viele. Und Paul nimmt sicherlich Abschied von Lore, aber auch von einem Teil seiner selbst. Vielleicht geht es um diesen selbstbezogenen Anteil von Abschied. Aber auch andere Lesarten sind möglich, zum Beispiel Abschied zu nehmen, von einem Leben, welches man vielleicht gerne geführt hätte, Abschied nehmen von Bildern, die wir uns von Menschen machen.

Bist Du ein Mensch, der Dinge sammelt? Wie sehen Deine Regale aus? Ist Schreiben eine Form des Festhaltens, den Dingen ihre Stimme zu geben?

Ich glaube nicht, dass ich den Dingen eine Stimme geben wollte, ich wollte eine Form finden, in der ich Lores Geschichte erzählen kann. Es ging um ein Erschrecken darüber, dass ein Menschenleben vergeht und die materiellen Dinge einfach weiterbestehen, dableiben, und würden sie nicht entsorgt, könnten sie unerträglich lange da sein. Es ging um die Imagination darüber, was in diesen Räumen passiert sein könnte; und gesehen haben es halt bloss die künstlichen Augen dieser Gegenstände. Daher benutze ich die Dinge eher, als dass ich ihnen eine Stimme gebe. Um mit ihrer Hilfe die Geschichte von Lore zu erzählen. 

Selbst bin ich keine grosse Sammlerin, so ganz traue ich den Dingen wohl nicht über den Weg.  

Agnes Siegenthaler, geboren 1988 in Bern, hat am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und davor Soziale Arbeit studiert. Sie schreibt Prosa und Lyrik und arbeitet aktuell an ihrem zweiten Roman. Neben dem Schreiben ist sie als Soziokulturelle Animatorin in einer interkulturellen Bibliothek tätig. Aufgewachsen im Emmental, lebt und arbeitet die Autorin rund um die Städte Bern und Fribourg. «So nah, so hell» ist Agnes Siegenthalers Debüt.

Agnes Siegenthaler «Meret 2» & «Café Krokodil» auf der Plattform Gegenzauber

Beitragsbild © Karen Moser & Elias Bannwart

Mariann Bühler «Verschiebung im Gestein», Atlantis #SchweizerBuchpreis 24/09

Mariann Bühler wurde für ihr Debüt «Verschiebung im Gestein» anlässlich der Weinfelder Buchtage der Weinfelder Buchpreis verliehen, eine Auszeichnung, die im Hinblick auf den Schweizer Buchpreis durchaus als Hinweis verstanden werden kann.

Angesichts unserer eigenen Endlichkeit erscheint das, was wir an Welt wahrnehmen, in eine Ewigkeit getaucht, unverrückbar, „in Stein gegossen“. Aber selbst das, was fest erscheint, ist einem Fliessen unterworfen. Mariann Bühler beschreibt drei Leben, die aufbrechen, zu fliessen beginnen, die sich verschieben, eine neue Richtung bekommen. Mariann Bühler tut dies derart souverän, dass das Staunen zum Schaudern wird! Tektonische Verschiebungen, die ganz langsam, kaum wahrnehmbar vonstatten gehen. Mariann Bühler beschreibt genau jene feinen Risse, die mit der Verschiebungen im Gestein einhergehen.

Ihr heute preisgekrönter Roman ist Mariann Bühlers Debüt. Debüt ja, aber bereits ein Meisterstück! Mariann Bühlers Buch besticht vielfach; zum einen die Konstruktion, das Übereinanderschichten verschiedener Leben, die Schichtungen im Buch selbst, zwischen den drei scheinbar unabhängigen Leben und den sanften, zarten Schilderungen, die die drei Leben in einen grösseren Zusammenhang, in einem grossen Bild zusammenfügen. Weiter die Sprache, die sich ganz dem Feinen zuwendet, nichts Reisserisches braucht und mit grosser Empathie maximale Nähe zum Geschehen erzeugt. Es sind die Geschichten von Suchenden, die auf ganz unterschiedliche Weise durch die Sedimente des Lebens geführt, geschoben und gezogen werden. Mariann Bühlers Roman ist Lesegenuss der Extraklasse. Ein Versprechen! Ein Versprechen, das nicht nur dieser Preis hier in Weinfalden gibt, nicht zuletzt auch die intakten Chancen, dass im November noch ein weiteres Ausrufezeichen dazukommen könnte, der Schweizer Buchpreis 2024.

Elisabeth lebt und arbeitet in einem Dorf. Der Tod ihres Mannes bringt sie gänzlich aus dem Trott, lässt sie taumeln, obwohl die Ehe mit ihm nicht das gebracht hatte, was sie sich noch zu Beginn erhofft hatte. Sie führten über Jahrzehnte die Bäckerei im Dorf, ein Geschäft, das Jakob so wie immer führen wollte und die vorsichtigen Änderungs- und Anpassungsvorschläge seiner Frau stets mit Trotz und aufbrausenden Drohungen quittierte. Drohungen, die Jakob mitunter auch mit Schlägen verdeutlichte. Elisabeth, ein halbes Leben in die Pflichten einer Familienfrau, Mutter, Ehefrau und „Angestellte“ eingebunden, muss sich nach dem Auszug ihrer Tochter und dem Tod ihres Mannes neu aufstellen. Das alte Leben soll enden, auch die Rolle, die Elisabeth im Dorf einzunehmen hatte. Nach Wochen, in denen die Notiz an der Einganzstür zur Bäckerei langsam zu vergilben begann, öffnet Elisabeth wieder die Tür zur Bäckerei. Nur mit dem Unterschied, dass sie es ist, die nun den Lauf der Dinge bestimmt.

„Anfangs erschrak Elisabeth, wenn Jakob spurlos im Bäcker verschwand. Mit den Jahren entwickelte sie ein Frühwarnsystem, wie es das für Erdbeben gibt.“

Mariann Bühler «Verschiebung im Gestein», Atlantis, 2025, 208 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-7152-5040-3

Alois ist Bauer. Ob er den Hof damals hätte übernehmen wollen, stand nie zur Frage. Er wuchs über die Jahre in diese Rolle hinein. So wie seine Eltern alt und gebrechlich wurden und mit der Zeit nicht mehr die Kraft hatten, so gab er sich immer mehr in die Aufgaben des Bauern hinein. Eine Aufgabe, die mehr und mehr zur seinen wurde, eine Selbstverständlichkeit, ein Naturgesetz. Aber in Alois stiller Ergebenheit blieb stets ein Rest Zweifel. Sollte es das gewesen sein? Nur schon die dauernden Sticheleien der Eltern, weil sich keine Bäuerin finden wollte, oder die Erzählungen im Musikverein von grossen Abenteuern, stellen Alois Innenleben auf eine harte Probe. Selbst seine Schwester, die mit ihrer Familie im gleichen Dorf lebt, spürt, dass da etwas ist, was ausbrechen will. Bis sich Jakob entschliesst, den Hof zumindest für ein Jahr zu verpachten und reissaus zu nehmen, all die Pflichten hinter sich zu lassen.

„Wenn er Halt zu verlieren drohte, hielt er sich an Heugabeln, Besen, Steuerrädern fest.“

Und da ist Ruth, von der Mariann Bühler manchmal in der dritten Person, als Ruth erzählt, und manchmal in der Du-Form, als wäre die junge Frau gleich neben der Erzählstimme, würde sie sie durch das Geschehen schieben. Die junge Frau kehrt ins Dorf zurück, holt sich die Schlüssel für das schon lange unbewohnte Ferienhaus hoch über dem Dorf. Ein kleines Haus, in dem die Zeit still gestanden ist, die Luft sich über Jahre nicht bewegte. Das Haus soll verkauft werden. Ruth trägt ihr Leben hinauf in dieses Haus, die Suche nach ihrem Platz, die Bilder und Stimmen aus ihrer Vergangenheit, einer Familie, in der sich der Schmerz tief eingegraben hatte.

„Du hast dich mit deiner Schwester vom Wald verschlucken lassen, vom Tobel, vom Bach und den moosigen Steinen. Ihr habt eure Mädchenhaut mit den Gummistiefeln abgestreift und seid zu Zwergen geschrumpft, habt aus Tannennadeln und Lehm Häuser gebaut, seid als Löwen mit Mähnen aus Farn durch den Urwald geschlichen, als Hexe mit Tannenzapfennase und Astbesen.“

Jeder Ausschnitt aus diesem Buch zeigt, wie bildhaft Mariann Bühler erzählt, wie sie mit malerischer, zeichnerischer Freude mit Sprache umgeht, wie nah sie sich den Menschen und ihrer Geschichte zuwendet.
Mariann Bühler erzählt von drei Leben, die sich erst nach und nach miteinander verweben. Drei Leben, die sich über- und untereinder verschieben, aufeinanderstossen und sich aufwerfen. Erst über die Zeit wirksame Kräfte, die an ihren Rändern brechen und Abgründe sichtbar machen. 

Ein beeindruckendes Kunststück! Ein Buch, dass das Herz öffnet.

Interview

Nun ist er draussen, Dein erster Roman, an dem Du ganz offensichtlich sehr lange und intensiv gearbeitet hast. Was bis vor kurzem noch ganz Dir gehörte, liegt nun auf Tischen in Buchhandlungen zum Kauf bereit, wartet auf Nachttischchen und in Bücherstapeln auf die Lektüre und auf den Schreibtischen der Rezensenten auf Zuspruch oder Ablehnung. Wie sehr verändert die Veröffentlichung Deines Buches Dein Leben, oder zumindest die zeitliche Ausrichtung?
Diese Frage würde ich in einem Jahr vermutlich anders beantworten, jetzt, kurz nach Erscheinen des Buches beantworte ich sie so: Ich freue mich darüber, dass ich diesen Text und seine Figuren nun mit allen, die ihn lesen wollen, teilen kann. Und ich freue mich auf die Reaktionen darauf – darauf, dass ich dank den Leser*innen den Text selbst noch einmal mit neuen Augen sehen kann. Ich bin gespannt, was auf mich zukommt, welche Wege dieser Roman nehmen wird. Und wie das weitergeht mit meinem Schreiben.

© Mariann Bühler

Die Menschen, von denen Du erzählst, sind Gefangene. Sie alle versuchen auf die eine oder andere Weise auszubrechen, geschoben oder gezogen. Ich bin sicher, dass Du mit dem Thema Deines Romans eine menschliche Ursehnsucht ansprichst, seien es nun kleine oder grosse Ausbrüche, haben wir Menschen doch wie kein anderes Lebewesen die Fähigkeit, uns selbst zu fesseln, zu blockieren – bis zur vollkommenen Lähmung?
Wir alle sind Teil eines Gefüges – da sind zwischenmenschlich Beziehungen, die über Jahre wachsen und uns prägen, ein soziales, berufliches, familiäres Umfeld, das uns ebenso formt wie wir unseren Platz in der Welt mitformen. In manchen Situationen verspricht das Verharren im Bekannten mehr Sicherheit als eine Verschiebung ins Unbekannte. Gleichzeitig geschehen manche Veränderungen, ob wir wollen oder nicht. Auch wenn die Situation eng aussieht, wenn es scheint, dass alles stillsteht, gibt es einen kleinen Spielraum. Ich mag das englische Wort für Spielraum, «wiggle room», wiggle heisst wackeln oder schlängeln, ich stelle mir einen ganz kleinen Raum vor, der sich durch konstante, kleine Bewegungen verändern und erweitern lässt. Ich mag dieses Bild, darin ist eine Zuversicht.

Warum schaffen wir es nicht, Veränderungen selbst zu provozieren? Warum gelingt uns eine Veränderung meist erst dann, wenn wir sie im Windschatten anderer Ereignisse vollziehen können, wenn das Beben bereits stattgefunden hat, wenn die Risse in den Versteinerungen aufgebrochen sind?
Wir können alle nicht aus unserer Haut. Unser bisheriges Leben hat sich in uns eingeschrieben, hat unsere Möglichkeiten und Grenzen geformt. Tiefgreifende Veränderungen geschehen nicht notwendigerweise mit Pauken und Trompeten und einem einzigen umgelegten Hebel, sondern leise, über eine lange Zeit, unter der Oberfläche. 
Für meine Figuren kommt das Beben nicht plötzlich. Auf den ersten Blick vielleicht, aber bei genauerem Hinsehen wird klar, dass sich das schon lange angebahnt hat. Wie die tektonischen Verschiebungen, die lange bevor wir sie begreifen konnten, stattgefunden haben, braucht es manchmal Zeit, die Risse, die Aufbrüche als solche wahrzunehmen.

Ich bin tief beeindruckt von der Sprache und der Erzähltechnik Deines Romans. Wie weit bist Du Deiner Intuition gefolgt? Oder war da eine Strategie, ein Plan? Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Roman das Resultat eines chronologischen Schreibens sein kann. Viel mehr macht er den Eindruck, als wäre es der Sud eines langen Entstehungsprozesses, ohne dass der Roman dabei seine Leichtigkeit eingebüsst hätte.
Der Entstehungsprozess war alles andere als geradlinig. Ich bin im Arbeitsleben die, die für alles eine Liste und einen Plan erstellt. Im Schreiben funktioniere ich offenbar anders. Erst ganz am Schluss gab es eine Liste, die mir den Überblick über die Kapitel erleichterte und die Struktur, die Schichtung, zeigte. 
Davor war alles in Bewegung. So viel in der Schwebe zu halten, war manchmal schwer erträglich, im Nachhinein aber wichtig: Ich konnte Szenen, die nicht funktionieren wollten, an einen anderen Ort schieben, in ein anderes Lebensalter der Figur – oder sie einer ganz anderen Figur zuordnen. So wurde manchmal ein scheinbar unwichtiges Motiv, von dem ich mich nicht recht trennen konnte, wie die Narbe an Alois’ Finger, zentral. Bei jeder Figur gab es einen – manchmal ziemlich ausgedehnten – Moment, wo es nicht weiter ging, wo sich etwas in meiner Wahrnehmung verschieben musste, damit etwas, das ich nicht geplant und manchmal nicht einmal geahnt hatte, Form annehmen konnte. Auf das Geologische bin ich per Zufall gestossen. Ich bin staunend in diese Sprache eingetaucht, die mir genau die Bilder und Prozesse geliefert hat, die mir fehlten. 
Der Text hat die lange Gärphase gebraucht, ich habe sie gebraucht, um besser zu verstehen, was ich schreibe und wie ich schreibe. Welche Möglichkeiten ich habe und wie ich sie nutzen kann. Dem Prozess zu vertrauen und nichts voreilig festzumachen.

© Mariann Bühler

Da gibt es Szenen in der Backstube oder im Stall, die unmöglich ohne persönliche Erfahrungen hätten entstehen können. Ganz offensichtlich wolltest Du nicht nur bei deinen ProtagonistInnen nah rangehen, sondern auch in dem, was sie tun. Kannst Du melken und grosse Mengen Brot backen?
Mir war es wichtig, diese Arbeitsprozesse abzubilden, weil sie viel über die Figuren erzählen und auch als Gegenstück zu den geologischen Verschiebungen. Das Backen und Melken sind auf den ersten Blick repetitive Arbeiten, die jeden Tag gleich geschehen. Gleichzeitig verändern sie sich dauernd: Wer backt oder melkt, braucht ein grosses Erfahrungswissen und ist sich einer Vielzahl von Faktoren bewusst, trifft dauernd kleinste Entscheidungen, um den Prozess an die aktuellen Gegebenheiten anzupassen, führt also dauernd die für das Gelingen nötigen Veränderungen herbei. So durch und durch gekonntes Handeln finde ich sehr schön – fast wie ein Tanz. 
Ich habe selbst zwar einmal gelernt, ein Melkmaschinenaggregat an ein Euter zu hängen, und würde von Hand etwas Milch aus einer Kuh bekommen, aber wirklich melken kann ich nicht. Beim Backen ist es ähnlich, ich backe gerne mal einen Zopf, aber in grossen Mengen Brot backen, das kann ich nicht. Da war ich beim Schreiben auf das Wissen anderer angewiesen. Ich habe zum Beispiel eine Bäuerin besucht, die jede Woche aus mehreren hundert Kilo Mehl Brot backt, konnte ihr bei der Arbeit zuschauen und Fragen stellen. Das war sehr wichtig: Den blossen Ablauf dieser Arbeit hätte ich aus Texten und Videos zusammenschustern können, aber beim Beobachten wurden die Bewegungen, Konsistenzen, Materialitäten, das ganze verkörperte Wissen, wahrnehmbar. 
Beim Melken und auch beim Holzen war es ähnlich: Die Bewegungen und Körperhaltungen kenne ich seit meiner Kindheit, meinte, mich an die Abläufe erinnern zu können – und musste dann feststellen, dass meine Erinnerung ungenau war. Zum Glück hatte ich einen Testleser für die landwirtschaftlichen Dinge, der mir Reihenfolgen und Aufgabenteilungen geradegerückt hat. Das lässt sich nicht googeln, um das zu vermitteln braucht es Menschen mit entsprechendem Wissen.

Was mich ebenfalls beeindruckte, sind beschriebene Stimmungen. Seien es Stimmungen in Szenerien oder solche in den Innenwelten deiner ProtagonistInnen. Klar ist Empathie eine Voraussetzung, um sich in solche Innenwelten hineinzubegeben. Wann merkst Du, dass das Gleichgewicht zwischen Nähe und der nötigen Erzähldistanz erreicht ist?
Da muss ich nachdenken. Die Stimmungen waren mir wichtig, vielleicht, weil sich damit manchmal die Innenwelten nach aussen übersetzen lassen, wenn den Figuren nicht nach Reden ist. Die können und wollen nicht alles in Worte fassen, was in ihnen vorgeht. Da habe ich versucht, ihre Umgebung so zu beschreiben, dass nachvollziehbar wird, was in den Figuren vorgeht. 
Ich glaube, bei den Figuren entsteht das Gleichgewicht in der Bewegung, im Wechsel zwischen Nähe und Distanz. Die richtige Erzähldistanz zu finden war nicht ganz einfach. Der Vorteil war, dass ich zwischen den Strängen hin und her wechseln konnte. Wenn ich bei Elisabeth nicht weiterkam, konnte ich beispielsweise zu Alois wechseln und schauen, ob der gerade gesprächiger ist. Das brauchte Geduld: So, wie wir anderen Menschen nicht im ersten Gespräch unsere tiefsten Geheimnisse verraten, musste ich die Figuren erst kennenlernen, langsam erarbeiten, was sie umtreibt und mich manchmal ebenso selbst überraschen lassen wie auch mal einzugreifen als Autorin, bewusst eine Weiche stellen im Text. 
Die Distanz zu den Figuren verändert sich noch immer: Anfangs war es nicht leicht, ihnen nah genug zu kommen. Kurz vor dem Ende der zweiten Fassung waren sie mir so nah, dass ich abends nicht einschlafen konnte vor Sorge um sie, ob das alles gut kommt – eigentlich absurd, schliesslich gab es sie nur in meinem Kopf und in einer Datei. Und jetzt, wo das Buch da ist, gehen sie ihre eigenen Wege.

Mariann Bühler, geboren 1982 in der Nähe von Luzern, hat in Basel und Berlin Englische Literatur­ und Sprachwissenschaft, Islamwissenschaft und Gender Studies studiert. Sie lebt als Autorin, Literaturvermittlerin und Veranstalterin in Basel. «Verschiebung im Gestein» ist ihr Romandebüt; für einen Auszug aus dem Manuskript wurde sie mit dem Zentralschweizer Literaturpreis ausgezeichnet.

Weinfelder Buchtage 2024

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