„Das Land hat sich verändert, wir werden nie wieder so sein wie einst.“ Artur Klinaŭ erzählte im Literaturhaus Thurgau

Artur Klinaŭ, Schriftsteller, Architekt, einer der wichtigsten Künstler Weissrusslands ist Stipendiat der Kulturstiftung des Kantons Thurgau, lebt und arbeitet während zweier Monate im Literaturhaus Thurgau. Zusammen mit Moderator Ulrich Schmid, Professor an der HSG und der Vorleserin Rebecca C. Schnyder, las und diskutierte er auf der Bühne des Literaturhauses Thurgau.

Artur Klinaŭ bezeichnet seine Aufenthalte im Ausland, ausserhalb seiner Heimat Weissrussland, nicht als Exil, sondern als Durchgangsreise. Auch wenn es unmöglich scheint, in nächster Zeit gefahrlos in seine Heimat zurückzukehren, verströmt Artur Klinaŭ ungeheure Zuversicht, erst recht, weil er seinen klaren Blick nicht verliert und es versteht, auf dem Boden einer ernüchternden Realität die Hoffnung nicht zu verlieren.

Offener Künstler in einer Diktatur zu sein, ist schwierig genug. Wenn Drohung und Verfolgung, Inhaftierung und Folter zur Tagesordnung werden, wird es immer schwieriger. Bis zu den Massenprotesten in Weissrussland 2020 war es im kleinen Kreis noch möglich, sich kritisch dem Regime gegenüber zu zeigen. Seit der blutigen Niederschlagung dieser Proteste aber hat sich das geändert. Für einen einzigen, falschen Satz kann man im Gefängnis landen.

Artur Klinaŭ nennt den weissrussischen Diktator Alexander Lukaschenka in seinem Buch „Acht Tage Revolution. Ein dokumentarisches Journal aus Minsk“ kein einziges Mal mit seinem Namen, bloss Batka. Sein Buch ist Auseinandersetzung und Abrechnung zugleich, ein Versuch der Einordnung, ein Protokoll der Suche nach seiner für Tage verschwundenen Tochter. Artur Klinaŭ ist davon überzeugt, dass eine Revolution in Weissrussland in der gegenwärtigen Lage aussichtslos wäre. Viele Stimmen im Land sind zwar laut, aber nur die wenigsten haben einen „Plan“, wie eine Zukunft in einem ganz anderen System aussehen müsste, allen voran die Opposition unter Swetlana Tichanowskaja, wo mit Slogans den Menschen in diesem leidgeprüften Land nur der „Kopf verdreht“ wird. Russland würde einen „aufmüpfigen“ Nachbarn sofort schlucken, zumal Weissrussland sich nicht dagegenstellen könnte, auch wenn viele in der protestierenden Masse aufrichtig beseelt waren von den Ideen einer Revolution.

Die Verhaftungen in Weissrussland sind willkürlich, die Gefängnisse voll, die Justiz systemgesteuert, Verurteilungen ein Hohn. Erfahren musste das auch Ales Beliazki, Menschenrechter und Friedensnobelpreisträger, der mehrfach festgenommen, immer wieder verurteilt und inhaftiert wurde. Nicht nur die Gassen im Regierungsviertel der Hauptstadt Minsk sind Sackgassen. Artur Klinaŭ nennt selbst die Architektur in seiner Hauptstadt, eine Retortenstadt, die nach dem 2. Weltkrieg fast vollkommen zerstört war, kafkaesk, „Realität in permanenter Katastrophe“, mit totalitärer Struktur, ohne jeden Raum für Individualität. Diktator Alexander Lukaschenka sträubt sich gegen jede Veränderung, eine Tatsache, die sich bis in die staatsgestützte Kunst spiegelt.

Der Abend mit Artur Klinaŭ hinterliess ein beklemmendes Gefühl, etwas Lähmendes. Bei mir nicht zuletzt darum, weil sich kaum jemand in der Schweiz bewusst ist, wie privilegiert ein Leben hier ist, in einem Land, in dem man sich über Nichtigkeiten echauffieren kann.

Der Abend war auch ein Gedenken an all jene, die in Diktaturen auf der ganzen Welt ihr Leben nicht leben können, weil ihnen mit Knüppeln diktiert wird.

Rezension von „Acht Tage Revolution. Ein dokumentarisches Journal aus Minsk“ auf thurgaukultur.ch

Interview zwischen Artur Klinaŭ und Lukas Bärfuss auf literaturblatt.ch 

Alain Claude Sulzer las aus «Doppelleben» im Literaturhaus Thurgau

Alain Claude Sulzers Roman «Doppelleben» ist ein vielschichtiges Porträt dreier Personen, die gefangen in ihrer Zeit, die Polkappen der Pariser Gesellschaft im 19. Jahrhundert ausmachten; die Brüder Edmond und Jules Goncourt, damals ein Dreh- und Angelpunkt der Pariser Kultur – und ihre Dienstmagd Rose, eine Existenz zwischen Ergebenheit und Selbstaufgabe.

«Doppeldank an Cornelia Mechler und Gallus Frei für Vorbereitung und Zubereitung, für die Sorge um mein leibliches Wohl und den barocken Schlafplatz mit Blick auf Wasser und Schwäne. Auftreten ist das eine, gut schlafen das andere. Beides hat perfekt geklappt. Danke an die ganze Equipe in Gottlieben, wo ich stets Udo Jürgens› und Lisa della Casas gedenke.»
Alain Claude Sulzer 
 

1998 begann meine Liebe zu Alain Claude Sulzers literarischem Werk, mit einem Schlag und unauslöschlich. Damals las ich seinen Roman «Urmein», der im Schloss eines italienischen Grafen im bündnerischen Urmein spielt. Ein Roman über eine wilde, bunte und bisweilen schräge Gesellschaft, die sich in den Jahren vor und während des 1. Weltkriegs im fiktiven Schloss des Adeligen trifft. Ein Roman, der wie viele Bücher Alain Claude Sulzers das gesellschaftliche und politische Leben der jeweiligen Zeit spiegelt und illustriert.
Später las ich auch die früheren Werke und fast alle, die auf «Urmein» folgten – und mit aller Selbstverständlichkeit und dem grössten Lesevergnügen seinen neusten Roman «Doppelleben».

Alain Claude Sulzer hat zweieinhalb Jahre am Roman geschrieben, nachdem er sich schon lange ausgibig sowohl in das Werk der Goncourts und die Zeit, in der die Brüder und ihre Dienstmagd lebten, vertiefte. Edmond und Jules Goncourt lebten wie siamesische Zwillinge, taten alles gemeinsam, und als Jules langsam an Syphilis erkrankte, immer stärker an den Symptomen litt und nicht nur die Fähigkeit zu sprechen verlor, sondern auch die des Schreibens, wurden die drohenden Veränderungen für den älteren Edmond immer existenzieller.
Zum einen lebt Sulzers Roman von den Schilderungen dieses Sterbens, zum andern vom Sterben ihrer Dienstmagd Rose, einer Frau und Angestellten, auf die sich die beiden Brüder ganz und gar verliessen, die das Leben der Brüder erst ermöglichte. Einer Frau, die sich in ihren beinahe nymphomanischen Anwandlungen in einen unnahbaren Mann verliebte, ihr Erspartes und mehr verlor, schwanger wurde und das Kind verlieren musste. Ein Leben im Verborgenen. Ein Leben, von dem die Brüder nichts wussten oder nichts wissen wollten.

Es habe ihn das Gegensätzliche interessiert, das Leben eines Bruderpaars, das gemeinsam Bücher schrieb, die langsamen Katastrophen, sowohl jene der Goncours wie jene ihrer Dienstmagd Rose, erklärte der Autor. Alain Claude Sulzers Roman, der nicht nur seinen Protagonisten nahe kommt, auch ihrem Tun, ihrem Wirken, ihrem Leiden, ist ein beeindruckendes Fenster in eine Zeit, in der die Stadt Paris absolute Kulturmetropole der westlichen Hemisphäre war.

Rezension von «Doppelleben» auf literaturblatt.ch

Ursula Fricker Gast im Literaturhaus Thurgau

Kaum ein Segment in Buchhandlungen ist derart prominent vertreten wie der Sektor Gesundheit/Ratgeber. Kaum ein Thema treibt die Schriftstellerei so sehr um wie die Beziehung von Kindern zu ihren Eltern. Beides vereint der Roman „Gesund genug“ von Ursula Fricker. Kein Wunder trifft er den Nerv!

2004 erschien Ursula Frickers Debüt „Fliehende Wasser“, schon damals ein Roman über die klaustrophobische Enge einer kompromisslosen Erziehung und ihrer katastrophalen Folgen. 2009 der Roman „Das letzte Bild“, in dem sich ein Mann mittleren Alters mit einem Mal mit seiner 15jährigen Tochter konfrontiert sieht. 2012 der Roman „Ausser sich“, die Geschichte eines Paares, dessen gemeinsame Geschichte an einem Sonntag wortwörtlich schlagartig die Richtung ändert. Katja geleitet Sebastian, der einen Schlaganfall erleidet, im Helikopter ins Spital. Der Roman war nominiert für den Schweizer Buchpreis. 2016 „Lügen von gestern und heute“ über drei Leben, die gänzlich aus den Fugen geraten.
Und nun 2022 „Gesund genug“, ein Roman, der an den Erstling anschliesst.

Hanne wird ans Sterbebett ihres Vaters gerufen. Hannes Vater leidet im Endstadium einer Darmkrebserkrankung. Ausgerechnet er, der fast ein ganzes Leben lang zum unnachgiebigen Prediger wurde für ein Leben, dass Ernährung und gesunden Lebenswandel nicht nur zur obersten Maxime erklärt, sondern alles und jeden verdammt, der sich nicht seinen absoluten Ideen und Ansichten anschliesst. Das Leben dieser Familie wird zu einem Inselleben, weil niemand, letztlich nicht einmal seine beiden Kinder, den Vorgaben und Gesetzen des Vaters genügen können. Verwandtschaften und Freundschaften, selbst Nachbarschaften werden schwierig bis unmöglich. Hanne und ihr Bruder Michael können ausbrechen. Die Mutter bleibt.

Eine letzte Gelegenheit zur Annäherung zwischen Tochter und Vater vor der ultimativen Entfernung. Der Versuch, etwas zu verstehen, die verschlüsselte Liebesgeschichte einer Tochter zu ihrem unter Idealen begrabenen Erzeuger, die Sehnsucht nach jenem letzten Schimmer eines Vaterbildes, das sich alle wünschen; Geborgenheit, Sicherheit, Stütze und Kraft.
„Gesund genug“ ist ein Familienroman. Ein Roman ebenso über die Abgründe und Verletzungen, wie über die tiefen Sehnsüchte nach Liebe und Anerkennung. Kein Beziehungsfeld repräsentiert diese Sehnsüchte so sehr wie die Familie. Und in keinem Beziehungsfeld können Verletzungen so irreparabel sein, wie jene in der Familie. Generationen von Psychotherapien leben davon.

Warum gerät man irgendwann auf eine Schiene, von der man sich nicht mehr befreien kann? Hanne findet Zeichnungen, die von Seiten ihres Vaters erzählen, die verschwanden. Ist es einfach die Unmöglichkeit, sein Scheitern eingestehen zu können? Am Sterbebett liest Hanne ihrem Vater aus Robert Falcon Scotts Tagebüchern. Auch für Scott gab es damals auf seiner Reise zum Südpol kein Zurück. Lieber heldenhaft in den Tod als ein frühzeitiges Eingeständnis, dass Ponys in der Antarktis nicht die richtige Entscheidung waren.

Hannes Vater sah sich stets in der Rolle des Opfers. Eine Haltung, die einen perfekten Nährboden für ein messianisches, selbstloses Engagement ohne Wenn und Aber bieten kann. Hat uns nicht die moderne Psychologie dazu gebracht, uns immer bloss als Opfer zu sehen? Jede und jeder, der sich einmal diese Rolle endgültig übergestülpt hat, ist verloren. Hannes Kampf ist auch ein Kampf gegen die Rolle eines Opfers.

«Ich habe mich besonders auf den Besuch im Literaturhaus Thurgau gefreut. Danke Monika und danke Gallus für diesen in mancher Hinsicht prächtigen Abend in Gottlieben!» Ursula Fricker

„Gesund genug“ sticht mitten ins Herz!

Rezension von «Gesund genug» auf literaturblatt.ch

Ein AutorInnen-Kollektiv stellt junge Texte zur Diskussion. Ein Beitrag auf arttv

10 AutorInnen aus der Schweiz; Dieter Boller, Gianna Olinda Cadonau, Marc Philippe Gallus, Corina Heinzmann, Rebecca Holzer, Agnes Weber, Alessandro Weiler, Stefan Wenger-Ledermann, Pascal Witschi und Katharina Wüthrich lasen aus ihren Texten und diskutieren über ihr Schreiben.

Klicken Sie auf das Bild und sehen Sie den Beitrag in voller Länge.

Schreibkurse, Schreibschulen gibt es viele. Diskussionen darüber, ob „kreatives Schreiben“ erlernt werden kann werden zuweilen heftigst geführt. Auch wenn ihre Wirksamkeit umstritten ist, sind Schreibschulen, sei es eine Vollzeitschule wie das Schweizerische Literaturinstitut in Biel oder Schreibkurse wie das Schreibwerk Ost oder die SAL Zürich, Orte, an denen Schreibbegeisterte ihren Willen, ihre Energie fokussieren. Man will mit dem Schreiben und der Auseinandersetzung darüber Perspektiven öffnen, Techniken erlernen, Mut finden.

Literaturhäuser sind keine Elfenbeintürme, sondern Orte des Wortes, der Poesie, für Stimmen aller Couleur, für ein Publikum, das sich nicht allein mit dem Endprodukt „Buch“ auseinandersetzen will, sondern mit Prozessen, Auseinandersetzung.

Und weil solche Prozesse nie ein Ende finden, haben sich 10 AutorInnen aus allen Teilen der Schweiz in einem Kollektiv zusammengefunden, dass sich auch nach abgeschlossener Ausbildung immer wieder zum gegenseitigen Austausch trifft. Das Literaturhaus Thurgau ermöglichte es diesem Kollektiv, Auszüge aus ihrem Schaffen einem Publikum zu präsentieren. In drei Blöcken mit kurzen Diskussionen gaben AutorInnen mit ganz unterschiedlichen literarischen Absichten einen konzentrierten Einblick in ihr Schaffen.
Während des Apéros im Anschluss bot sich auch für das Publikum Zeit, um auf das Gehörte zu reagieren, sowohl direkt durch Gespräche oder indirekt über Kommentare auf Plakate.

«Mein Zuhause sind die Bücher» Patrick Tschan mit «Schmelzwasser» im Literaturhaus Thurgau

„In diesem kleinen pittoresken Weiler, am Rhein, zwischen Ober- und Untersee, gibt es nicht nur ein mächtiges Schloss, sondern auch ein Haus, in dem einst ein Dichter wohnte, der seine drei Schreibtische gestern verlassen hatte, um den Lesungen seiner Kolleginnen und Kollegen zu lauschen, die von einem Menschen eingeladen wurden, der wie ganz wenige auf dieser Welt Literatur lebt.“ Patrick Tschan

Patrick Tschan erzählte mir schon vor Jahren mit Leidenschaft von einem Buchprojekt, für das er damals schon des öfteren ins kleine Städtchen am Bodensee gereist war. Weil er aber sehr lange mit der Erzählperspektive zu kämpfen hatte und ihn schmerzhafte Einsichten immer wieder zurückwarfen, dauerte es ungewöhnlich lange, bis der berührende Stoff einer äusserst kämpferischen Frau, die an eine reale Person, eine Buchhändlerin aus Überlingen angelehnt ist, den Weg zwischen Buchdeckel fand.
Aus der realen Buchhändlerin Eleonore Weber wurde die Protagonistin Emelie Reber. Eine kämpferische Buchhändlerin in einem Nachkriegsstädtchen, das exemplarisch ist für die Zeit nach dem Tausendjährigen Reich. Emelie Reber liebt nicht nur die Freiheit, die Wahrheit, die Gerechtigkeit, sondern die Sprache, einen untrennbaren Teil der Freiheit, der Wahrheit, der Gerechtigkeit. Und das Buch als Träger davon. Bücher als Inbegriff der Kultur. Sie bringt Tausende von Büchern aus Paris mit ans Bodenseeufer. Gleichzeitig ist Emelie Reber eine Versehrte, in vielerlei Hinsicht, auch in der Liebe. Trotzdem strahlt sie in unbändiger Kraft, mobilisiert eine ganze „Bewegung“.

„Ich weiss nicht, ob Mut einfach eine andere Form von Angst ist.“

Jeder Krieg ist ein Vernichtungskrieg. Ein Vernichtungskrieg gegen Leben. Aber auch ein Vernichtungskrieg gegen Kultur, nur schon deshalb, weil sich Kultur an keine Grenzen hält. Sinnbildlich in Deutschland für den Wiederaufbau in den Nachkriegsjahren, auch jener der Kultur, waren die „Trümmerfrauen“. Männer schlagen sich die Köpfe ein, Frauen ordnen, was übrig bleibt. „Schmelzwasser“ ist ein KämpferInnenroman.

Patrick Tschan erzählte im Literaturhaus Thurgau in seiner unnachahmlichen Art von einer kleinen Stadt, die sich, angetrieben von Frauenpower, aus dem Würgegriff alter Strukturen befreit. Da erzählte ein in Leidenschaft Getauchter nicht einfach von seinem Buch, sondern von der Macht der Literatur. Patrick Tschan ist einer, der an die Kraft der Literatur, die positive Macht der Worte glaubt. „Schmelzwasser“ ist eine Geschichte des Widerstands, des Kampfs gegen Unfreiheit und Borniertheit. Widerstand ist Überzeugung.

Zur Rezension von «Schmelzwasser»

Beitragsfotos © Sandra Kottonau

An der BuchBasel 2022 öffneten sich Fenster zur Gegenwart und zur Jugend

Mit der neuen Leitung der BuchBasel hat sich das Festival in seiner Öffnung in jene Richtung weiter entwickelt, die in den Jahren zuvor einen Anfang machte. Eine Öffnung, die nicht heuer nur mehr, sondern auch jüngeres und junges Publikum anzog. Aber die BuchBasel war auch ein Festival der Gegensätze.

Hier Lesungen, wie es sie immer gab, da stumme BesucherInnen ohne AutorIn mit VAR-Brillen im Gesicht. Hier höfliches Gegenüber, dort laut und auch einmal schrill. Die eine Lesung wird zum Happening mit Glitzer und Farben, die andere gibt sich getragen, ganz der Tradition verbunden. Vielfalt war Programm. Zu hoffen ist nur, dass sich die Atmosphären mischen.

«Wagdy El Komy kommt aus Ägypten und beschreibt seit dem Arabischen Frühling die repressiven postrevolutionären Umstände im Land. Zurzeit lebt er in der Schweiz, wo er auch schon mehrfach Stipendien erhielt. El Komys Romane spielen in der Unterwelt von Kairo, erzählen von der Auflösung der ägyptischen Mittelschicht und der Widersprüchlichkeit der immer quälenderen Alltagssorgen.»

Aus den über 70 Veranstaltungen zwei:

Juri Andruchowytsch ist neben Serhij Zhadan eine der ganz wichtigen Stimmen für die Ukraine. Nicht nur in ihrem Schreiben, sondern auch deshalb, weil wie bei vielen SchriftstellerInnen dieses gebeutelten Landes fast alles, wonach sie gefragt werden, zum politischen Statement wird. Dass die BuchBasel mit Juri Andruchowytsch, der Historikerin Olha Martynyuk und dem Historiker Frithjof Benjamin Schenk ExponentInnen auf die Bühne bringt, die neben persönlicher Betroffenheit auch Kompetenz und Prägnanz in Diskussionen bringen, tut einer solchen Veranstaltung gut, wo es doch schwierig ist, den Krieg in der Ukraine nicht zum Thema zu machen.

Juri Andruchowytsch unterbrach für den Besuch an der BuchBasel seine Lesereise in der Ukraine, eine Lesereise, die ihn auch in Städte bringt, die unter russischem Beschuss liegen. Eine so ganz andere Lesereise wie eine vergleichbare in der Schweiz. Die Menschen in der Ukraine dürstet es in diesen Zeiten nach Kultur, nach Literatur. Juri Andruchowytsch erzählt, es gäbe SchriftstellerInnen an beiden Fronten, dort, wo geschossen wird und dort, wo eine ganze Nation nach Worten sucht. Juri Andruchowytsch las auch in Charkiw, in vollen Luftschutzbunkern, unterbrochen vom Luftalarm, aber immer in der Hoffnung, alles sei ein kleiner Schritt zur Normalität.

Zusammen mit Verlegern bringen SchriftstellerInnen Bücher an die Front, eine Front, die längst keine Linie mehr ist, sondern das Land in eine einzige Front verwandelt, immer und überall bedroht von russischer Willkür. Kein Strom, kein Frischwasser, kaum mehr medizinische Versorgung, Hunger und Kälte. Aber Bücher. Bücher werden zu einem Fundament ukrainischen Selbstbewusstseins. Ein Selbstbewusstsein, das sich wie die weissen Flecken im westlichen Bewusstseins um die Geschichte dieses Landes, mit Stoff füllt. Eine westliche Sicht auf Geschichte, die über Jahrzehnte eine sowjetische und postsowjetische Perspektive beschränkte. 

Nicht erst seit Februar 2022 steht die Ukraine im Krieg. Aber seit dem 24. Februar und den Geschehnissen danach reibt sich der Westen die Augen. Seit bei den Protesten 2014 auf dem Maidan in Kiew scharf geschossen wurde, seit der Annexion des Donbas und der Halbinsel Krim herrscht ein Krieg, der von Westeuropa fast ein Jahrzehnt meisterlich ignoriert wurde. Ein Krieg, der in den letzten acht Jahren das ukrainische Selbstbewusstsein nur stärkte.

«Wie haben diese Ereignisse das Land geprägt? Welchen Platz nahm und nimmt die Ukraine in Europa ein? Wie sind die Zukunftsaussichten, wenn der Krieg vorbei sein wird? Welche strukturellen und politischen Herausforderungen erwarten das Land und Europa?»

Juri Andruchowytsch beteuert, dass im Zentrum aller Kräfte in der Ukraine die Freiheit steht, eine Freiheit, die es in seinem Land nie gab, aber schon lange als Idee, Hoffnung und Ziel. Ein Besteben, das im krassen Gegensatz zum russischen Aggressor steht. Die Ukraine führe einen Krieg für die Zukunft einer Demokratie, Russland einen Zerstörungsfeldzug für eine Verteidigung eines steuernden Imperiums, der Verteidigung einer toten Vergangenheit.

***

Es gab die grossen Namen; Sibylle Berg, Tsitsi Dangarembga, Trägerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, Carolin Emcke, Thomas Hürlimann, Donna Leon, Kim de l’Horizon und andere mehr.
Aber es waren auch die kleineren Veranstaltungen, die bezaubern konnten. Wie jene mit Gabrielle Alioth, die als Schweizerin seit fast 40 Jahren im County Louth an der Ostküste, nördlich von Dublin lebt und schreibt. In ihrem bei Caracol erschienenen zweisprachigen Text- und Bildband „Seapoint – Strand“ erzählt die Autorin von ihrem Leben an jenem Stand in Irland, eine zärtliche Reflexion in ein Hinein und in die Weite hinaus.

Gabrielle Alioth spaziert jeden Morgen dem Meer entlang, zwischen Himmel und Erde, zwischen Meer und Sand. Sie schreibt und fotografiert Bilder weit über Betrachtungen hinaus. Eingetaucht in die Sagen und Geschichten jenes Landes, das eigene Leben, das langsame Eintauchen in eine Kultur. Alltägliches verbindet sich mit Geschichte und Geschichten, dem Angeschwemmten, Hergetragenen, Liegengelassenen. Texte zwischen Betrachtungen und Nacherzähltem, manchmal lyrisch, manchmal episodisch.

Irische Sagen, die wie alle Sagen stark mit Orten verknüpft sind, erzählen wie die Schriftstellerin Geschichten, die klären und erklären wollen. Gabrielle Alioth klärt eine Landschaft, ohne ihre Geheimnisse entschlüsseln zu wollen. Das Meer sei ein geduldiges Gegenüber, ein unendliches Füllhorn, das die Geschichten nicht wie in den Bergen als Echo zurückwirft.

«Aufgewachsen in einem schäbigen Schweizer Vorort, ist die Erzählfigur von Blutbuch (Dumont Buchverlag, 2022) den engen Strukturen der Herkunft entkommen, lebt in Zürich und fühlt sich im nonbinären Körper wohl. Doch dann erkrankt die Grossmutter an Demenz, und das Ich beginnt, sich mit der Vergangenheit und den bruchstückhaften Erinnerungen an die eigene Kindheit auseinanderzusetzen.»

Möge das Echo dieser In Literatur getauchten Tage noch lange nachhallen!

Zum Titelbild: «Die offizielle Erinnerungspolitik und das mahnende «Nie wieder», das im Rückblick auf die Zeit des Nationalsozialismus aufgerufen wird, werden mehr und mehr zu inhaltsleeren Ritualen. Mit Texten von Überlebenden gaben Carolin Emcke, Lena Gorelik und Maryam Zaree denjenigen eine Stimme, die Lager erlebt und beschrieben haben.»

Illustrationen © Charlotte Walker 

Eine pralle Literaturlandschaft Spanien in einer leeren Landschaft – Literaturtage Zofingen – Rückblick

Spanien war 2022 Gastland an der Frankfurter Buchmesse, der grössten europäischen Buchmesse. Zum ersten Mal wieder «nach» Corona machten ein Dutzend AutorInnen auf ihrem Heimweg von Frankfurt zurück nach Spanien Halt in Zofingen. So wurden die Literaturtage in Zofingen zu einem Brennpunkt spanischer Geschichte und Geschichten.

Man kennt Spanien hierzulande als Ferienland. Spanien und die Schweiz verbindet wenig, auch wenn in der Vergangenheit die Schweiz für viele Gastarbeiter ein Land der Hoffnung war und Spanien für manch einen Schweizer während des Bürgerkriegs gegen die Francodiktatur Schauplatz für den ganz eigenen Kampf gegen Diktatur und Willkür. Aber Spanien ist wie die Schweiz ein Vielsprachenland. Neben dem Spanischen, das man dort als Castellano bezeichnet und offizielle Landessprache ist, wird galizisch, katalanisch und baskisch gesprochen. Ein Umstand allerdings, der im Gegensatz zur Schweiz, Ursprung für viel Zwiespalt ist und war.

Spanien, ein moderner Industrie- und Agrarstaat, über weite Teile entvölkert, Jahrzehnte gespalten durch extreme Unterschiede zwischen Land- und Stadtbevölkerung ächzt noch immer unter den Nachwirkungen einer Geschichte, die in Bürgerkriegen vielfach zerrissen wurde. Geschichte, die noch lange in die Literatur, in die Geschichten dieses Landes einwirken wird.

Ray Loriga mit «Kapitulation», Dolmetscherin Daniela Dias und Moderator Hanspeter Müller-Drossaart
Ray Loriga «Kapitulation», Culturbooks, 2022, aus dem Spanischen von Alexander Dobler, 200 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-95988-155-5

Ray Lorigas preisgekrönter Roman „Kapitulation“ erzählt als Dystopie die Geschichte einer Flucht. Zehn Jahre sind seit dem Ausbruch eines Krieges vergangen. Der Erzähler hadert und weiss noch immer nicht, wofür seine im Krieg verschollenen Söhne überhaupt gekämpft haben. Er und seine Frau befolgen Befehle und bewirtschaften ihren Hof, bis angeordnet wird, dass alle Bewohner der Gegend ihre Häuser verbrennen und nichts zurücklassen sollen und in die neue Hauptstadt umziehen müssen. Diese Stadt erscheint zunächst als wahres Paradies. Unter einer atemberaubenden Glaskuppel findet sich ein endloses Gewirr aus durchsichtigen Strassenzügen, Gebäuden und Geschäften. Für alles Lebensnotwendige ist gesorgt, und die Frau des Mannes lebt sich schnell in ihr neues Leben ein. Doch der Mann findet keine Ruhe in dieser vollkommenen Transparenz, in der es weder Geheimnisse noch blickdichte Mauern gibt. Wer gegen die unausgesprochenen Regeln verstösst, muss mit den schlimmsten Konsequenzen rechnen, wie der Erzähler bald feststellt. Ein einfacher Mann, der zu verstehen, der zu entschlüsseln versucht. Sinnbildlich für den Zustand der gegenwärtigen Welt. Ray Loriga schrieb den Roman 2017. Er liest sich wie durch die Gegenwart hindurch in eine mögliche Zukunft, sind wir doch mit all dem, was an Überwachung und „Transparenz“ unternommen wird, nicht weit von einer gläsernen Welt entfernt.

José Ovejero mit «Aufstand», Moderatorin Monika Schärer
José Ovejero «Aufstand», Edition Nautilus, aus dem Spanischen von Patricia Hansel, 328 Seiten, CHF 35.90, ISBN 978-3-96054-296-4

Der Roman „Aufruhr“ von José Ovejero ist eine zärtliche Liebesgeschichte zwischen Vater und Tochter, die nicht mehr miteinander reden können, weil sie in verschiedenen Welten leben, weil die Tochter diesen einen Vater nicht haben will und einem Vater, der seine Tochter verloren hat. Eine Tochter, die sich um jeden Preis emanzipieren will und von zuhause abhaut. Anna will ganz in der Gegenwart leben. Der Vater hingegen will die Gegenwart nur überleben, will und muss sich anpassen, das Unrecht mit Lügen, mit Unwahrheiten kompensieren. Anna will aufbrechen. Während Anna sich einem anarchistischen Leben verschreibt, verlieren sich Vater und Tochter immer mehr in Welten, die sich in nichts zusammenfügen. Anna schreibt Gedichte, Signale an einen Vater, die einzige Form der (einseitigen) Kommunikation:
„…Papa, noch hast du Zeit:
Entsteige diesem Sarg, in dem du schläfst;
leg den Vampirumhang ab;
setz dich der Sonne aus, auch wenn sie dich versengt…“
José Ovejero interessiert sich für Risse und Spannungen. Was sind Gründe und Ursachen, dass junge Menschen in besetzten Häusern nach neuen Lebensentwürfen suchen? Warum muss Leben zu einem Protest werden? Ovejero recherchiert tief, schlüpft nicht in die Personen, die er beschreibt, sondern in ihre Welt, ihre Umgebung, ohne blosser Tourist ihrer Existenz zu sein.

Elena Medel «Die Wunder», Suhrkamp, aus dem Spanischen von Susanne Lange, 2022, 221 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-518-43028-6

„Die Wunder“, der Debütroman von Elena Medel führt in die Vorstädte Spaniens. Am 8. März 2018 fand in ganz Spanien ein Frauenstreik statt. Frauen sämtlicher Generationen und gesellschaftlicher Schichten riefen auf Spaniens Strassen lautstark nach ihren Rechten. Sie machten sich im Kampf zu Schwestern, Millionen von Schwestern. Dieser Streik bildet den eigentlichen Erzählrahmen, aus dem die junge Autorin ihre Geschichte, ihre Geschichten erzählt.
Ein Motiv des Romans ist die Frage, wie sehr Geld Leben beeinflusst. Zwei Frauen, Enkelin und Grossmutter, die einander nicht kennen, deren Wege sich nie kreuzten. Zwei Frauen am Existenzminimum, deren Geldsorgen ihr ganzes Leben durch und durch dominieren. Zwei Frauen, eine älter, die sich kämpferisch zeigt, eine Frauengruppe gründet und sich im Streik engagiert und eine junge Frau, angepasst, in ihrem Leben eingeschnürt. Zwei Leben, die sich in ihrem Ausdruck genau entgegengesetzt zur traditionellen Vorstellung spiegeln, fixe Vorstellungen, über die ich als Leser immer wieder stolpere.
Elena Medels Roman überzeugt durch grandiose Beschreibungen und Feinanalysen der spanischen Gesellschaft, jener Menschenschicksale, denen das Geld nie reicht.

Elena Model mit «Die Wunder»
Vincente Valero «Krankenbesuche», Berenberg, 2022, aus dem Spanischen von Peter Kulten, 107 Seiten, CHF 31.90, ISBN 978-3-949203-39-8

Vincente Valero lebt und wirkt als Schriftsteller, Essayist, Lyriker, Journalist und Lehrer auf der „Ferieninsel“ Ibiza. Eine grosse europäische Stimme, deren Klang es aber bisher nur ganz zaghaft über spanische Grenzen schaffte, trotz der wunderschönen Bücher, die der Berenberg Verlag vom Autor herausgibt. Durch Vincente Valero wird Ibiza das, was Ibiza eigentlich ist, weit mehr als eine Urlaubs- und Rambazamba-Insel im Mittelmeer. Ibiza war beispielsweise lange Sehnsuchtsort Generationen von Kunstschaffenden, vielen Schriftstellerinnen und Schriftstellern.
Vincent Valero, der sich zuerst als Lyriker einen Namen machte, schreibt erst seit einigen Jahren Prosa, weil es, wie er erzählte, Geschichten gibt, die unbedingt erzählt werden müssen. Seit 2014 widmet sich Vincente Valero nun der Prosa, einer konzentrierten Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts mit dem Fokus auf die spanische Provinz, die Insel Ibiza.
Sein Roman „Krankenbesuche“ ist weniger Roman als eine geschichtliche Betrachtung über den Zustand des Krankseins, einen Zustand, der in vielen Fällen damals mehr „Auszeit“ zu sein schien als „Angstzeit“. Ein heiteres Buch mit langen, kunstvoll mäandernden Sätzen eines Autors, der mit grosser Lust und Freude in den Wellen der Sprache badet.
Demokratie und Tourismus haben Spanien im 20. Jahrhundert völlig verändert. Vielleicht hat der Tourismus die Demokratie in Spanien sogar begünstigt und unterstützt, war Spanien unter der Diktatur Francos weit weg vom kosmopolitischen Charakter des Landes heute.
„Krankenbesuche“ ist ein betörender Roman über eine Insel, von der wir alle wissen, dass sie schön ist. Vincente Valero aber gibt ihr jene Schönheit, die nichts mit den Hochglanzfotos von Reisführern zu tun hat.

Miqui Otero «Simón», Klett-Cotta, 2022, aus dem Spanischen von Matthias Strobel, 448 Seiten, CHF 36.90, ISBN 978-3-608-98074-5

Miqui Otero, der sich auch als Journalist einen Namen machte, bezeichnet sich als Chronist Barcelonas. Er schreibe Geschichten seit er sechs Jahre alt ist, erzählt der Autor auf der Bühne der Zofingen Literaturtage. „Simón“ erzählt die Geschichte zweier Cousins am Rande Barcelonas, von der Kindheit bis tief ins Erwachsensein, vom Paradies bis zur totalen Desillusionierung. Zwei Cousins, die das Tor zur Welt in Büchern suchen und finden. Die beiden verstehen Bücher als „Liebesbriefe“ an das Leben. Simón bekommt antiquarische Bücher von seinem zehn Jahre älteren Cousin Rico, Bücher, in denen immer wieder Textstellen unterstrichen sind. Textstellen, die für Simón zu Wegzeichen werden, lange über den Moment hinaus, als Rico aus dem Leben Simóns verschwindet.
Die beiden Cousins sind zwei grosse Schwindler. So wie Literatur immer Schwindel ist. Wahrheiten werden verschoben, ohne dass sie damit zu Unwahrheiten werden, auch dann wenn Wahrheit Fiktion ist.
Der Erzähler wendet sich an mich als Leser, der Erzähler im Buch aber auch an Miqui Otero, den Autor. So entsteht ein Geflecht aus Stimmen, Kommentaren, Hinweisen und Versprechungen. Der Erzähler zwinkert mir zu und Miqui Otero klammert sich an mich, ihn mit aller verfügbaren Ironie ernst zu nehmen.
„Simón“ ist ein literarisches Panorama, eingetaucht in überbordende Fantasie und Fabulierlust, prägnanter Charakteren , verschlungener Biographien und schillerndem Humor, gespickt mit grandiosen Wahrheiten.

Was für ein Literaturfest in Zofingen! Vielen Dank allen im Organisationsteam: Sabine Schirle, Julia Knapp, Daniel Huber, Urs Heinz Aerni, Aleksandra Janz und Mike Wacker.

Rezension «Singe ich, tanzen die Berge» von Irene Solà

Thommie Bayer und «Sieben Tage Sommer» im Literaturhaus Thurgau

Thommie Bayer veröffentlichte seit den 80ern mehr als 20 Romane, nachdem er damals als Musiker und Texter schon eine beachtliche Karriere hingelegt hatte. Das bezeugten im Literaturhaus Thurgau die fast komplette Bayer-Bibliothek mit Langspielplattensammlung.

Max Torberg ist reich, lebt mit seinen siebzig Jahren zurückgezogen und macht sich Gedanken, was dereinst mit seinem Vermögen geschehen soll. Eigentlich ist alles ein- und angerichtet. Und doch kann Torberg jenen einen Tag vor 30 Jahren nicht vergessen, als eine Handvoll junger Leute ein Gewaltverbrechen verhinderte, das seinem Leben mit Sicherheit schlagartig eine andere Richtung aufgezwungen hätte, wäre damals jener eine Stein nicht geflogen. Jan, einer der fünf zufällig Anwesenden, einst Handballer und treffsicher, traf einen der Angreifer am Kopf. Der eine stürzte getroffen in den Abgrund, der andere nahm Reissaus. Jene fünf, die damals Torbergs Leben retteten, blieben. Auch wenn sich ihre Wege trennten und man sich nie wider sah, blieb die Verbindung und Torberg setzte im Hintergrund alles daran, jener Gruppe über die Jahrzehnte seine Dankbarkeit angedeihen zu lassen.

Thommie Bayer im Gespräch mit Moderatorin Cornelia Mechler

30 Jahre später lädt Torberg jene fünf ein in eine schicke Villa über dem Meer an der Côte d’Azur. Er möchte wissen, was aus den Menschen geworden ist, möchte ihre Seelen erkunden, ihren Herzen auf die Spur kommen. Er verspricht, in jenen sieben Tagen im Sommer irgendwann aufzutauchen, lässt sich vertreten durch seine junge Freundin Anja, der er die Rolle der Gastgeberin gibt, die aber die eigentliche Spionin spielen soll.

Thommie Bayers Roman «Sieben Tage Sommer» ist die behutsam nachgespürte Geschichte jener fünf Menschen, die damals sein Leben retteten. Fünf Menschen, die sich nach 30 Jahren nichts mehr zu sagen haben, die einzig Neugier, Hoffnung und eine Ahnung in jene Villa über dem Meer führt. «Sieben Tage Sommer» ist aber viel mehr der Brief- oder Mailwechsel zwischen zwei gänzlich unterschiedlichen Stimmen, nicht nur in ihrer Rolle, auch in ihrer Tonalität. LeserInnen erfahren nur soviel, wie sich die beiden erzählen. Es ist ein gegenseitiges Berichten, das um das Geschehen in diesem Haus mäandert, ein Ab- und Herantasten an Geheimnisse, die nie entblössen.

Das Veranstaltungsformat «Literatur am Tisch» gibt neben der klassischen Lesung die Möglichkeit, ganz unmittelbar im kleineren Kreis mit dem jeweiligen Autor ins Gespräch zu kommen. Ein Gespräch, das weit über das Inhaltliche hinausgehen kann. Ein Gespräch, von dem auch Autorinnen und Autoren schwärmen, weil ihnen offenbart wird, was ihre Bücher bei aufmerksam Lesenden auslösen und bewirken. Der Abend im Literaturhaus Thurgau zusammen mir Thommie Bayer verschränkte Schreiben und Lesen in ganz besonderer Weise!

«Es kommt selten vor, dass ich in der Schweiz lesen darf, umso mehr habe ich mich gefreut auf diesen Abend, und umso größer war die Freude, als ich so gastfreundlich, herzlich und fröhlich empfangen, gehätschelt und präsentiert wurde. Danke Gallus, Danke Cornelia und Danke Besucher für das Highlight in meinem Autorenleben.» Thommie Bayer

Ein literarischer Doppelstern im Literaturhaus Thurgau; Julia Weber & Heinz Helle

Julia Weber und Heinz Helle verkörpern alles, was ein „Schreibendes Paar“ ausmachen kann: Ein erfolgreiches SchriftstellerInnen-Paar, eine Familie, in der Kinder nicht bloss Beigemüse sind, ein Paar, das sich respektiert und zwei Stimmen, die sich unabhängig voneinander in den Kulturbetrieb mit einbringen, ihn auch aufmischen.

Julia Weber, Jahrgang 1983, Mutter von zwei Kindern, zwei Romanen, zwei Theatern und unzähliger Beiträge zu Literatur, Gesellschaftsfragen oder Kultur, vielfach preisgekrönt. Heinz Helle, Jahrgang 1978, Vater der gleichen Kinder, von vier Romanen, bis in Chinesische übersetzt und ebenso vielfach preisgekrönt.

zusammen mit Co-Moderatorin Cornelia Mechler

Beide sind kurz vor der gemeinsamen Lesung in Gottlieben zurückgekommen von einem mehrmonatigen Aufenthalt zusammen mit ihren Kindern in der Villa Massimo in Rom. Monate an einem Ort, der nicht zum Ferien machen gedacht ist, sondern Zeit und Raum geben sollte fürs Schreiben. Das, wofür man zuhause im Strudel der familiären Pflichten zuweilen kämpfen muss. Das, was in ihren beiden Romanen zum Stoff wurde. Das, was literarisch im gleichen Sonnensystem um einen Stern kreist, verschieden in Atmosphäre und Färbung, als wären es Doppelstern – Sie kreisen umeinander, zeigen sich wechselseitig; „Die Vermengung“ von Julia Weber erschien im Frühling dieses Jahres bei Limmat und „Wellen“ von Heinz Helle, diesen Herbst bei Suhrkamp erschienen.

Auf die Frage, ob es eine Strategie dahinter gegeben habe, oder einfach nur wirkungsvoller Zufall sei, erzählten die beiden, sie hätten nach der Geburt des zweiten Kindes schnell gemerkt, dass es im Austausch über ihr Schreiben Parallelen gegeben habe. Aber die Anfänge der beiden Bücher seien unabhängig voneinander entstanden, bei beiden aus einer Notwendigkeit heraus.

Julia Weber und Heinz Helle lernten sich schreibend in Biel am Schweizerischen Literaturinstitut kennen. Julia Weber und Heinz Helle gibt es nicht ohne die Literatur. Beide Bücher „Die Vermengung“ und „Wellen“, ein Doppelhelix und doch völlig verschieden, kreisen um das Thema Schreiben, Familie, Mutter- und Vatersein, Rollenverständnis, Auseinandersetzung mit sich selbst und der Welt. Heinz Helles Buch liest sich wie ein Tagebuch, wie eine Liebeserklärung an das Schreiben, seine Frau, seine Kinder, eine philosophisch-gesellschaftliche Auseinandersetzung. In Julia Webers Roman vermischen sich eigentlich zwei Romane; den, den ich lese und den, den sie während des Schreibens schreibt. Zwei Romane, die sich gegenseitig spiegeln. Aber Julia Webers Roman hat noch andere Ebenen; Briefe, Generationenstimmen, die vielfache Auseinandersetzung mit Muttersein. „Wellen“ ist ein Solostück, „Die Vermengung“ ein Orchesterstück.

«Liebe Cornelia, lieber Gallus, vielen Dank für den schönen Abend mit Euch im Bodmanhaus! Wir habe uns sehr wohl gefühlt und nicht nur das gemeinsame Essen und den Spaziergang am Rheinsee genossen, sondern auch das anregende, einfühlsame Gespräch auf der Bühne. Wir kommen sehr gerne wieder einmal. Vielen Dank und herzliche Grüsse» Julia und Heinz

Rezension von «Die Vermengung» von Julia Weber auf literaturblatt.ch

Rezension von «Wellen» von Heinz Helle auf literaturblatt.ch

Eine Reise in die Tiefe – «Leoparda» von Anja Schmitter im Literaturhaus Thurgau

Anja Schmitters Romandebüt «Leoparda» erzählt den Alp einer jungen Frau. «Leoparda» ist Verwandlungsgeschichte, Beziehungsroman, Klima- und Gesellschaftskritik und Ausbruchsversuch. Eine Spiegelung über die Abgründe, aus denen man sich nur mit Übermenschlichem befreien kann.

Die Liebe – Die Hitze – Die Reise – Die Hoffnung

Die eigentliche Buchtaufe zu Anja Schmitters Debüt „Leoparda“ findet am 12. Oktober in der Buchhandlung Sphères in Zürich statt. Dass Anja Schmitter dem Literaturhaus Thurgau eine Vorpremière schenkt, verdankt das Haus nicht zuletzt der Tatsache, dass die Autorin nicht weit von Gottlieben in Landschlacht aufgewachsen ist (für Nichtthurgauer zwei eigenartige Ortsnamen, im Zusammenhang mit dem Buch der Autorin aber irgendwie passend!).

Anja Schmitter: «Die erste Lesung zum ersten Roman vergisst man wohl nie. Umso schöner ist es, dass meine Erinnerungen daran ein wunderbares Bild ergeben, gestaltet durch die herzliche Gastfreundschaft des Literaturhauses Thurgau, durch die Zimmer aus altem Holz, Holz, das tausend Geschichten erzählt, durch die spannenden Gespräche mit Gallus, durch den Spaziergang am graublauen Rhein, die Seeluft, durch mein allererstes, so freundliches Publikum, den Apéro mit Wein, Zopf, Lachen und Gesprächen. Und durch die Zugfahrt von meinem Heimatort nach Gottlieben, eine Zugfahrt, die nur 18 Minuten dauerte. Tausend Dank für diese schönen Erinnerungen!»

Was für Aussenstehende fast wie eine Inszenierung anmutetet; Anja Schmitter feiert in diesem Jahr einen runden Geburtstag, präsentiert sich mit ihrem ersten Roman, hat mitgemischt als Dramaturgin bei „Lysistrata“ beim diesjährigen Seeburgtheaterspektakel am Bodensee in Kreuzlingen – war beeindruckend. Zumal der Roman in vielen seiner Themen absolut in die Zeit passt und mit Sicherheit nicht fremd bleibt: Drohten sie auch schon einmal, aus der Haut zu fahren? «Moderner» könnte man das auch „austicken“ nennen. Mit Kleo, der Protagonistin in Anja Schmitters Debüt, passiert das einer jungen Frau wörtlich, ganz langsam, als schleichender Prozess. Es löst sich die alte Haut in Fetzen, keine harmonische Metamorphose – aus der jungen Frau wird ein Mischwesen, halb Mensch, halb Leopard. 

Kleo trennt sich von ihrem langjährigen Freund, sie hängt ihren Beruf als Lehrerin an den Nagel, sie muss feststellen, dass sie von der Welt ihrer Eltern mehr als nur abgenabelt ist und dass sie selbst den Draht zu ihrer besten Freundin Feli verliert. Eine Szenerie wie ein Abgrund. Und um sie herum flimmert eine unbarmherzige Hitze über einer nach Verwesung stinkenden Stadt.

Über und in Kleo, die eigentlich Kleopatra Frei heisst, eine elterliche Laune wegen einer Ägyptenreise, bricht die Welt zusammen. Kleo ist Lehrerin. Ihre Begeisterung, ihr Enthusiasmus und ihre Euphorie in ihrem Beruf sind arg abgekühlt. Wenn sie nicht während des Unterrichts ganz bildlich gesprochen an einer Wand steht, plagen sie Schreckensszenarien in ihren Träumen. Kleo propagiert in einer schwierigen Phase mit ihrem Freund Ernst die Vorzüge einer «offenen Beziehung», weil sie sich selbst aus der Enge befreien will. Als sie dann aber feststellen muss, dass sie Ernst völlig unerwartet im Bett mit einer andern finden muss, bleibt von der Proklamation „Offene Beziehung“ nicht mehr viel übrig. Kleo taucht ab, schliesst und igelt sich ein.

Anja Schmitters Roman ist zweigeteilt, auch wenn man erst im Laufe der Lektüre merkt, dass man im zweiten Teil des Romans angekommen ist. Kleo geht mit Feli, ihrer Freundin und Therapeutin, an die Limmat, oder zumindest dem, was in der Hitze des Sommers von ihr übrig geblieben ist, schwimmen, im brackigen Wasser, neben toten Fischen. Kleo holt sich einen Sonnenbrand. Vielleicht ist dieses „holt“ ganz wörtlich zu verstehen. Mit dem Sonnenbrand beginnt eine Transformation.

Im zweiten Teil ist Kleo nicht mehr jene, die sie einmal war. Sie gibt vor, irgendwo in den Ferien zu sein, weit weg. Dabei schläft sie in ihrem zur Höhle gewordenen Zuhause, wie eine Katze zusammengerollt auf dem Boden und streift nachts mit Leopardenfrisur und -haut durch die Stadt, faucht Menschen an, verliert sich immer mehr in einem Dazwischen. Es ist, als wäre «Leoparda»  ein Album der Alpträume.



Ganz besondere Bilder spielen in ihrem Roman tragende Rollen, sei es eine Amaryllis, die nicht mehr zu wachsen aufhört und sich irgendwann zu sehr aus dem Fenster lehnt, Möwen und Raubvögel, die alte Nachbarin am Rollator, das Lochergut, der Zoo kurz vor dem Kollaps, Eltern, Meister der Fassade. Kleos Mutter will nicht einmal das Burnout des Vater verraten, um die ins Wanken geratene Tochter zu «schützen» – und Männer: Ernst, der Verflossene, der tut, was Kleo nicht kann, Amir, ein Afghane, der sich durch einen Übergriff Kleos Nähe verwirkt und Adriano, ein angeblicher Bildkünstler, der ihr arg an die Haut will – und nicht zuletzt ein gebrochener Vater, der nur noch seine Sonnenblumen malt.

Beitragsbilder © Gallus Frei