„Schaufenster einer andern Zeit“ Ein Abend mit der Dichterin Lisa Elsässer im Literaturhaus Thurgau

eine erzählung
reicht nicht aus
es muss die bibel sein
ein von mir geschriebenes
testament über gallus
der mit den bären spricht
das brot mit ihnen teilt
und sei es nur das mahl
literatur diese karge rinde
verwandelte gallus zum genuss
heitere verstandesfreuden
und die bärin gezähmt wie ein
gut lesbares harmloses gedicht

Die eigenen Bilder in eine eigene Sprache zu setzen sei schon immer ihr Wunsch gewesen, auch in den Jahrzehnten vor ihrer ersten Buchveröffentlichung, auch wenn sie lange nur für sich und «die Schublade» geschrieben habe. Lisa Elsässer hat ihre ganz eigene Sprache gefunden – und ihren Platz in der Literaturlandschaft. In den letzten beiden Jahrzehnten formte sich ein Werk, das sich wenig schert um die Strömungen der Zeit, ohne sich der Gegenwart zu verschliessen. So wenig sich die Schriftstellerin mit Nabelschauen beschäftig, so wenig biedert sie sich den angesagten Themen der Gegenwart an, mit denen man sich in aktuelle Diskussionen mit einmischen könnte. Ob in ihrer Prosa oder in ihrer Lyrik; Lisa Elsässer beschäftigt sich mit den verschiedensten Zuständen des Seins, spürt ihnen nach, ohne sie kalt auszuleuchten, immer im Bewusstsein, ihnen ihr Geheimnis lassen zu wollen.

Lisa Elsässers Werk besticht durch ein hohes Mass an Verdichtung. Ihre Lyrik, die sich nie verkopft und verschlüsselt gibt, erzeugt Bilder und Assoziationen, die ganze Geschichten auslösen. Und ihre Prosa schafft es, in fast lyrischen Bildern von Zuständen zu erzählen, die der Wahrnehmung sonst verschlossen bleiben.

die dunkelheit

erhellt alle gedanken
in ihnen geistern
geschichten das leben
ich liege schlaflos da
die erste Liebe zieht
an mir vorbei wie ein
schwan den ich zum 
ersten mal richtig sehe
was ich klar erkenne
ich war nicht dabei 
immer schon beim 
nächsten vergänglichen
spiel der film schmerzt 
ich schliesse die augen
der schlaf steht wach
am see leise gleitet
das leben übers wasser
verschwindet in die tiefen
die jede regung kennt
wenn die fische schlafen
gestaltet sich das angeln 
leicht

In ihrem 2022 bei der Edition Bücherlese erschienen Roman «Im Tal » erzählt Lisa Elsässer in Rückblenden ganz behutsam vom Leben, das eine Frau in der Hütte im Tal zurückliess, von den Männern ihres Lebens, von ihrer Arbeit, auch von ihrem Schreiben und nicht zuletzt von einer Fremden, die sie über die letzten Monate und Jahre kennengelernt hatte, die sie manchmal bediente, wenn sie in einer Café-Bar aushalf. Eine Frau, die ihr irgendwann erzählte von einem Leben, aus dem sie geflohen war und noch immer flieht.

Der Abend im Literaturhaus Thurgau war und ist eine Huldigung an das stille Werk einer Schriftstellerin, die tief berührt.

«Elsässers Sprache, die aus dem Unbewussten kommt, funktioniert wie eine Lupe. Sie vergrössert und bündelt das Licht, bis es plötzlich brennt. Sodass die alten Themen Liebe und Tod uns neu packen.» (Felix Schneider, SRF Literatur)

«Im Tal» Roman. edition bücherlese,
«Schnee Relief» Gedichte. Wolfbach Verlag,
«Erstaugust» Erzählungen. Rotpunktverlag/Edition Blau, 
«Fremdgehen» Roman. Rotpunktverlag/Edition Blau,
«Da war doch was» Gedichte. Wolfbach Verlag,
«Feuer ist eine seltsame Sache» Erzählungen. Rotpunktverlag,
«Die Finten der Liebe» Prosa. Zytglogge,
«Genau so sag es, genau so sag es» Gedichte. Wolfbach, 
«Ob und darin» Gedichte. Edition Pudelundpinscher

Beitragsbilder © Gallus Frei

«Ein Knäuel aus etwas Hartem» Bettina Scheiflinger liest im Literaturhaus Thurgau aus ihrem Debüt «Erbgut»

«Am Bahnhof abgeholt und wiedererkannt werden, später herausfinden, dass man weit entfernt vom Bodensee den gleichen Fleck Erde so gut kennt, mich von Cornelia und Gallus in der Lektüre meines Buches so gut verstanden fühlen, ein zugewandtes und einfühlsames Publikum: wie manchmal einfach alles zusammen kommt und passt, so war das letzten Samstag im Bodmanhaus. Danke, dass ich bei euch lesen durfte!» Bettina Scheiflinger

Im Roman «Erbgut» verschmelzen die Lebensspuren von vier Generationen zwischen den Jahren des Zweiten Weltkriegs bis in die unmittelbare Gegenwart des 21. Jahrhunderts. Szenen aus verschiedenen Biografien breiten sich wie Mosaiksteinchen nebeneinander aus, bis allmählich sichtbar wird, wie über Generationen Verhaltensweisen, Lebensentwürfe und Traumata weitergegeben werden.

Rund um die Ich-Erzählerin wird ein Netz aus Beziehungen offenbar: vom gewalttätigen Grossvater väterlicherseits, der NSDAP-Mitglied und später Kriegsgefangener war, der Grossmutter mütterlicherseits, die als Tochter von italienischen Gastarbeitern in der Schweiz aufwuchs, bis zu den Eltern, die sich in Bezug auf ihre Vergangenheit in Schweigen hüllen. Als sie erwachsen wird, steht die junge Frau vor der Wahl, welchen Weg sie selbst gehen möchte. Der Roman setzt sich mit grossen Lebensfragen auseinander: Wie wurde ich zu der, die ich bin? Wie viele Erlebnisse, Erinnerungen und Traumata meiner Familie trage ich in mir und was macht das mit mir?

Im vom Verlag produzierten Trailer zum Buch, bei dem Teig und Erde von zwei Händen verarbeitet wird, werden die Szenen von Schlagwörtern überblendet: Fremde, Familie, Ich, Geburt, Körper. Bettina Scheiflingers kunstvoll konstruierter Roman taucht in ganz viele Themen. Das prägendste gibt dem Buch auch den Titel: «Erbgut». Nicht nur die Traumatisierung des Grossvaters durch Krieg und Gefangenschaft wird weitergegeben an den Vater der Ich-Erzählerin. Traumata oder andere prägende Erlebnisse prägen und beeinflussen nur schon durch die Erziehung spätere Generationen. Die Frage ist nur: Ist es möglich, sich von diesem „Erbe“ zu befreien?

Ein anderes Thema offenbart sich in der Geschichte der Eltern der Erzählerin. Arno, Sohn jenes gewalttätigen Grossvaters, heiratet eine Italienerin und wird mit Tausenden anderer «Saisonier», oder wie man in der Schweiz scheinheilig freundlich formulierte, «Gastarbeiter». 1970 sprach sich die Schweiz nur ganz knapp in einer abgelehnten Initiative (Schwarzenbach-Initiative) dagegen aus, dass der Anteil «Überfremdung» die 10%-Marke nicht überschreiten darf. Eine politische Diskussion, die nicht nur den Abstimmungskampf ausserordentlich hitzig machte, sondern auch die Ängste all jener schürte, die ihr Auskommen in der Schweiz fanden, fern ab von ihrer Heimat. Ängste, die für die illegal nachgeholten und sehr oft versteckten Kinder katastrophale Folgen hatte.

Noch ein Thema in «Erbgut» ist das Körperliche selbst, die Auseinandersetzung mit dem eigenen Sein, dem eigenen Körper, mit Schwangerschaft und Geburt. «Erbgut» ist ein erstaunlich körperlicher Roman, ein mutiges Stück Literatur!

Rezension «Erbgut» auf literaturblatt.ch

«Sicher ist nur, dass nicht wir bestimmen, wer wir sind.» Anna Kim im Literaturhaus Thurgau mit «Geschichte eines Kindes»

Anna Kim, 1977 in Südkorea geboren, als kleines Kind mit ihrer Familie nach Deutschland und später nach Österreich gekommen, veröffentlicht seit 2004, bald 20 Jahre, vor allem Romane und Essays. Ein erstes Mal hörte und sah ich Anna Kim in Leukerbad am Internationalen Literaturfestival 2017 mit ihrem Roman „Die grosse Heimkehr“, ein Roman über die Geschichte Nord- und Südkoreas nach dem zweiten Weltkrieg, von einer jungen Frau auf den Spuren ihrer Wurzeln.

Anna Kim trennt ihr biographisches nicht von ihrem politischen Schreiben, das Individuelle und das Politische wäre stets eine Einheit gewesen, weil ihr Aussehen scheinbar nicht das repräsentiert, was ihrer Biographie entspricht, weil man Menschen allzu schnell nach ihrem Äusseren taxiert. 

Logische Konsequenz daraus ist ihr Roman „Geschichte einer Kindheit“, mit dem Anna Kim von Wien nach Gottlieben angereist war.

Wie alle ihre Bücher ein erstaunliches Werk schon deshalb, weil sich Anna Kim nie auf das Kleinräumige, Nationale, Regionale reduzieren lässt, weil ihre Geschichten, die Schauplätze ihrer Romane stets einen global übersetzbaren Hintergrund besitzen, der sich genauso global verortet in den Romanen niederschlägt; ob in Grönland, Kosovo, Korea oder den Nordamerika; ihre Romane sind Suchen nach den Gründen, warum Menschen nicht zur Ruhe kommen, warum Menschen sich und andere stets in Schubladen pressen, grosse Schubladen oben mit viel Raum, enge unten, in die man alles stopft, was man oben nicht haben will. Sozio-politische Themen, die die Autorin, so verriet sie in einem Interview, auch dann nicht loslassen, wenn die Romane zu ende geschrieben sind und ihr Fokus auf Neues ausgerichtet wird.

„Geschichte einer Kindheit“ führt uns in eine us-amerikanische Kleinstadt im im Jahr 1953. Carol Truttmann ist jung und bekommt ein Kind. Als Vater ist keiner da. Aber auch ihre Muttergefühle siegen nicht über den Entschluss, den kleinen Jungen noch in der selben Nacht zur Adoption freizugeben. In der kleinen, konservativen Stadt, in der nichts verborgen bleibt, wäre das schon Skandal genug. Aber der kleine Junge ist nicht „weiss“ wie seine Mutter, sondern „negrid“. Und seine Mutter weigert sich, den Vater zu nennen, obwohl sie von den Sozialdiensten der Stadt immer und immer wieder aufgefordert wird, einen Namen zu nennen, um das Verfahren einer rechtsgültigen Adoption in Gang zu bringen. Der kleine Daniel wird bis zur Adoption in ein Heim gebracht, während eine ganze Maschinerie versucht, einen Pflegeplatz für den dunkelhäutigen Jungen zu finden und eine übereifrige Angestellte das Sozialdienstes keinen Versuch unterlässt, der jungen Mutter wegen des unbekannten Vaters auf den Zahn zu fühlen. Detektivische Nachforschungen, die aus gegenwärtiger Sicht mehr als übergriffig erscheinen, die mehr als verständlich machen können, dass sich eine junge Frau mehr und mehr verweigert.

Man sorgt sich durchaus um den kleinen Daniel. Man ahnt, dass er es in einem rein weissen Umfeld in Zukunft schwer haben wird. Dass auch eine Familie, die den kleinen Daniel adoptieren wird, nicht einfach einen Jungen in ihre Familie aufnehmen wird, sondern sich einer beinah feindlichen Gesinnung stellen muss. Anna Kim verdeutlicht das schmerzhaft eindringlich in den Akten des Sozialdienstes der Erzdiözese Green Bay, die in drei Teilen die Nachforschungen dokumentieren. Briefe, Telefonate und Berichte, die schneidend präzise verdeutlichen, wie sehr Behörden und vor allem die österreichischstämmige Sozialarbeiterin Marlene Winckler, durchdrungen sind von völkischem Gedankengut, der Überzeugung, dass alle nichtweissen Menschen der weissen Rasse unterlegen sind. Die Passagen dieser Akten, die Sprache, die Art und Weise, wie über das Schicksal des kleinen Jungen verhandelt und verfügt wird, schmerzt und macht offensichtlich, wie tief das elitäre Bewusstsein institutionalisierte „Nächstenliebe“ dominiert.

Anna Kims Roman hat mehrere Stimmen. Zum einen jene der jungen Frau, die einen ruhigen Ort zum Schreiben sucht, die eine Fährte aufnimmt und in Rückblenden zu reflektieren beginnt und von ihrem eigenen Leben erzählt, zum andern die unterkühlten Aktenpassagen, denen tatsächliche Akten zu Grunde liegen, die einen Schriftverkehr dokumentieren, der in schmerzhaft übergriffiger Weise zeigt, wie wenig es bei einer scheinbar objektiven Beurteilung um den jeweiligen Menschen selbst geht. Schon der Titel des Romans „Geschichte eines Kindes“ impliziert, dass Anna Kims Roman exemplarisch sein will.

Warum steht der Mensch so sehr unter dem Zwang, einzuordnen, alles in eine von Werten geprägte Hierarchie zu bringen? Ist das unsere Unfähigkeit, die natürliche Gleichheit von allen zu ertragen? Weil wir Menschen uns als Spitze der Evolution sehen?

In den Akten werden ungeheuerliche Behauptungen aufgestellt, die wie in Beton gegossene Wahrheiten präsentiert werden. Zum Beispiel: Im Durchschnitt ist die Intelligenz der Negerkinder um zwei Prozentpunkte niedriger als die der weissen Kinder.“ Aussagen, die heute zu tiefst schockieren, gleich mehrfach, in ihrer Zeit aber hingenommen wurden. Heute passiert solches Erwachen fast täglich, wenn gefragt wird, ob gewisse Bücher heute noch lesbar sind bis hin in die bildende Kunst, wo Männer wie Picasso auf ihren Sockeln wackeln.

„Geschichte eines Kindes“ ist aber auch der Roman einer jungen Frau, die sich aus welchen Gründen auch immer weigert, ihre Mutterschaft anzutreten. Ein scheinbares Unding, ganz im Gegensatz zu all den Vätern, die nicht bereit sind, ihre Vaterschaft anzutreten.

Anna Kims Roman beschreibt die menschliche Unfähigkeit, das Gegenüber nicht an Äusserlichkeiten zu messen: Warum kannst du mich nicht so akzeptieren, wie ich bin? Eine Schlüsselfrage, die bis in die Weltpolitik hineingeht.

Kurzgeschichte «Die Zähne» von Anna Kim auf der Plattform Gegenzauber

Rezension «Geschichte eines Kindes» auf literaturblatt.ch

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

«Verpuppt» – je eine Lesung von Ana Marwan im Literaturhaus Thurgau und am «Wortlaut» St. Gallen

Ana Marwans Sprache beeindruckt. An zwei Lesungen in der Schweiz, im Literaturhaus Thurgau in Gottlieben und am «Wortlaut» Literaturfestival in St. Gallen, bezauberte die slowenische Schriftstellerin mit Bild- und Sprachkraft, die noch lange nachhallen wird!

“Die Anreise per Boot und Zug nach Gottlieben und der wild blühende Baum vor dem Zimmer im Literaturhaus waren ein Anfang, dem der Rest im gleichen Takt folgte. Es war eine wunderbare Lesereise, meine erste in die Schweiz. Danke, Gallus, für die Einladung, Moderation, und besonders für deine vertieften Leseweisen und bereichernden Gespräche!“ Ana Marwan

„Verpuppt“ („Zabubljena“) wurde in Slowenien 2021 als „Bestes Buch des Jahres“ ausgezeichnet. 2022 gewann Ana Marwan den Bachmannpreis mit ihrem Text „Wechselkröte“. Ana Marwan hat Romanistik studiert, hat sich mit Fotographie auseinandergesetzt und widmet sich seit bald 10 Jahren nun ganz dem Schreiben. 2019 kam ihr Roman „Der Kreis des Weberknechts“ auf die Bühne der deutschen Literatur, ein Roman, dessen Dichte und Kunst schon damals überraschte und überzeugte. Im vergangenen Jahr trat Ana Marwan im Otto-Müller-Verlag die nicht ganz einfache Nachfolge von Karl-Markus Gauß an, als Herausgeberin der Zeitschrift „Literatur und Kritik“.


Die junge Rita landet in der geschlossenen, psychiatrischen Klinik, ohne Möglichkeiten mit der Aussenwelt, ausser durch gelegentliche Besuche, in Kontakt zu kommen. Sie war schon als Mädchen anders, viel mehr nach innen orientiert, als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler. Warum Rita in die Psychiatrische eingeliefert wurde, kann zumindest ich bloss erahnen. Aber eine nicht unwesentliche Rolle dabei hat wohl ihre Mutter gespielt – Frau Klammer. Im Laufe einer Therapie ermuntert man Rita zu schreiben. Und Rita schreibt, beschreibt ihre Innenwelt. Eine Innenwelt, die kein Abbild der Realität ist, sie aber sehr wohl spiegelt. Rita schreibt, schreibt nie von einer Klink, aber von einem Ministerium für Verkehr und Kommunikation, Abteilung Raumfahrt, in dem sie arbeitet. Von Ivo Jež, einem 30 Jahre älteren Mitarbeiter, einen Bürokraten, dem sie einige Nähe zulässt. Von ihrer viel schöneren Freundin Anja, der alle Sympathie zufällt, ganz im Gegensatz zu ihr, die sich lieber mit Büchern anfreundet. Oder von Frau Klammer wie Rita ihre Mutter nennt, wenn sie sich in ihrem Schreiben inszeniert. Rita erzählt, wie sie mit aller Souveränität das Leben auf der Bühne des Erzählens ausbreitet.


Ana Marwans Roman liest sich, als wäre es der aufgewickelte Seidenfaden jener Puppe, die die Protagonistin Rita umwickelt, der sie einengt und einschnürt, der sie aber auch schützt vor der Welt „draussen“. „Verpuppt“ ein Versuch, die Welt ausserhalb dieser Puppe zu verstehen. „Jede Geschichte ist Gewalt über das Leben.“ Rita fürchtet sich, ihre Sprache zu verlieren. Eine Angst, die angesichts dessen, was aktuell in der Welt passiert, nachvollziehbar ist. Ritas Therapeuten legen ihr ans Herz, Herr Jež sei der Schlüssel. Rita schreibt sich immer mehr in die Nähe dieses Herrn Jež, seinem Leben, seiner verlorenen Ehe, seiner Einsamkeit. Rita erzählt von der Welt, die sie sich macht, einer Welt im Kopf.

Ana Marwans Roman ist nicht plottorientiert, entzieht sich in vielem den gängigen Mustern der Unterhaltung. Bei der Lektüre ihres Buches hatte ich das Gefühl, als ob die Synapsen meines begrenzen Verstands dauernd gezwungen sind, neue Verbindungen, Kopplungen einzugehen. Sie schreibt, um Bilder zu erzeugen (Fotografie, die sich dem reinen Abbilden entziehen), um Geschichten zu erzählen, aber nie, um zu erklären, zu klären, schon gar nicht, warum Rita dort ist, wo sie ist, in der Psychiatrie. Ana Marwan möchte „schön verbergen“.

Lesung am «Wortlaut» Literaturfestival in St. Gallen

Ihr Roman ist voller Sätze, die man wie Sprachperlen mitnehmen und nicht mehr hergeben möchte. Ein Beispiel: «Das schöne an verpassten Gelegenheiten ist, dass uns nichts hindert, sie Gelegenheiten zu nennen.“ Immer wieder Sätze, über die man mit Vergnügen stolpert. „Jeder Künstler ist lieber begabt als fleissig, eher ein König denn ein Arbeiter.“ Noch so ein Satz. Oder „Gott sei dank schützt uns die Etikette vor allem, zu was uns der Wusch zwingen möchte, sie schützt uns wie eine starre Ritterrüstung.“ Oder „In der Handtasche hatte sie einen Taschenspiegel, um sich von Zeit zu Zeit zu vergewissern, wer sie war.“

Rezension zu «Verpuppt» auf literaturblatt.ch

Ana Marwan «Die Wechselkröte» Siegertext Bachmannpreislesen 2022 auf der Plattform Gegenzauber

Rezension zu «Der Kreis des Weberknechts» auf literaturblatt.ch

Beitragsbilder © Philipp Frei

„Wir verstehen nicht, was geschieht» – eine Reise in einen sowjetischen Gulag

Seit in Europa mit Bomben beladene Drohnen Wohnhäuser zerreissen, Panzer Radfahrer beschiessen und ein unüberwindbarer Graben zwischen Europa und Russland gähnt, ist das Interesse vieler, verstehen zu wollen, gross. Vielleicht auch ein Grund, warum das Interesse am Schriftsteller und Historiker Viktor Funk so gross war.

«Wir haben uns lange auf den Besuch in Gottlieben gefreut, und ihr habt uns mit eurer Gastfreundschaft gezeigt, dass unsere Vorfreude gerechtfertigt war. Danke für Deine sehr empathische und herzliche Moderation, Gallus, danke an Sandra für die Bilder und auch an das Publikum für alle die Aufmerksamkeit und die Neugierde. Und danke auch, dass wir dank euch Gottlieben kennengelernt haben.» Viktor Funk

Wir leben in beängstigen Zeiten. Hätten wir uns vor 13 Monaten vorstellen können, was in Europa geschieht? Viktor Funk kam 1978 in Kasachstan, einer ehemaligen Sowjetrepublik zur Welt und zusammen mit seiner Familie als Zwölfjähriger nach Deutschland. Wenn man auf seiner Webseite liest, muss das für jenen Viktor damals mehr als nur eine schwierige Zeit gewesen sein. Trotzdem gelang es ihm, Geschichte zu studieren und mit einer Magisterarbeit über den Vergleich von mündlicher und schriftlicher Erinnerungen von Gulag-Überlebenden abzuschliessen.

2017 debütierte Viktor Funk in der Literatur mit seinem Roman „Bienenstich“, eben genau mit jenen Krisen junger MigrantInnen, die sich überall abspielen, seit dem von Russland angezettelten Krieg millionenfach, bis vor unsere Haustüren. 
Seit 2006 ist Viktor Funk Redakteur bei der Frankfurter Rundschau im Ressort Politik, schreibt aber nicht nur dort, sondern engagiert, intensiv und emphatisch Romane, die aktueller nicht sein könnten.
Als ich seinen aktuellen Roman „Wir verstehen nicht, was geschieht“ vor ein paar Monaten zu lesen begann, wusste ich schon während der ersten Seiten, dass ich darüber schreiben musste und am Ende der Lektüre, dass ich es versuchen musste, den Schriftsteller in die Schweiz, nach Gottlieben einzuladen. Dass Viktor Funk die Einladung annahm, freute mich ungemein.

In den Konzentrationslagern der Sowjetzeit starben über 4 Millionen Menschen an Erschöpfung, Krankheiten, Unterernährung oder den Folgen sadistischer Strafen. Es ist nicht anzunehmen, dass im Nachfolgestaat Russland die Gulags zu Geschichte wurden. „Wir verstehen nicht, was geschieht“ ist aber nicht einfach ein Versuch des Wachrüttelns und schon gar kein Vorwurf an ein träges Westeuropa, das sich neben all dem gegenwärtigen Schrecken nicht auch noch mit jenem in der Vergangenheit beschäftigen möchte.

Viktor Funk hat sich ganz intensiv mit mündlichen und schriftlichen Erinnerungen von Gulag-Überlebenden beschäftigt und stiess dabei auf die Geschichte des Physikers Lew Mischenko und seine Frau Svetlana.
Lev und Svetlana sind keine Fiktion. Genauso wie Petschora, der Gulag, in den man Lev nach seiner Zeit im KZ Buchenwald schickte. „Wir verstehen nicht, was geschieht“ ist der Versuch des Autors selbst zu verstehen; Wie kann man die Jahre in einem Gulag überstehen? Und wie schaffte es ein Mann wie Lev nicht daran zu zerbrechen?

Zentrales Element im Buch und im Überlebenskampf sind die Briefe zwischen Lev und Svetlana. Es gibt viele Gründe, warum Lev die Zeit im Gulag überlebte; sein Glück ein Techniker, ein Physiker zu sein, seine Freundschaften – aber mit Sicherheit diese Liebe zu seiner Frau.

Der Roman ist die Geschichte einer Reise; einer Reise mit dem Zug nach Petschora Richtung Sibirien, eine Reise in die Vergangenheit und eine Reise in die Tiefen eines Lebens. Viktor Funk hat Lev dort zurückgelassen, mit diesem Buch aber eigentlich wieder mitgenommen. 

Vielen Dank für den wichtigen Abend!

Rezension zu «Wir verstehen nicht, was passiert» auf literaturblatt.ch

Beitragsbilder © Sandra Kottonau

Das Licht kommt zurück. Eine Ausstellung mit Lyrik von Bert Strebe D und Keramik von Ursula Bollack CH

«Was für ein grosses Glück, dass ich diesen Abend im Bodmanhaus erleben durfte, mit den Werken von Ursula Bollack um mich herum, mit kundiger und so wunderbar empathischer Moderation – und mit einem fantastischen, aufmerksamen, warmherzigen Publikum. Eine meiner schönsten Lesungen. Danke.» Bert Strebe

Septembermorgen

              für Ursula & Wolfgang

die nachtkerzen weisen den weg als wir kommen
zwei uhr früh die tür ist offen

die steine ums haus herum barfußwarm
von all den sommern von den kindern vom moos

im badezimmer kauert der buchsbaumzünsler
er mag nicht mehr reden um diese zeit
die flügelspitzen sind schon in rost getaucht

der mond pustet etwas katzengold 
auf first und garten und unsere wimpern 

später zieht er an einer dünnen schnur 
den ersten schimmer des tages herauf
und legt ihn unter die sonnenblumen 
und über unsere träume

das licht kommt zurück die amseln werden blau
und die schwingen der engel und die herzen

Bert Strebe, geboren in Hunteburg, einem winzigen niedersächsischen Dorf, schon lange wohnhaft in Hannover, ist Zeitungsmann mit Leib und Seele. Seit einem Vierteljahrhundert gehört ein Teil seiner Seele aber auch der Literatur. Vor längerer Zeit kam mir eine Kuvert mit Kopien seiner Gedichte in die Hand. Schon damals war ich beeindruckt von der Zartheit dieser Texte. Neben verschiedenen Gedichtpublikationen schrieb Bert Strebe auch einen Roman, ein Theaterstück und ein Hörspiel. Dass Bert Strebe  nach einer langen Reise vom Norden Deutschlands auf der Bühne des Literaturhauses Thurgau sass, freute mich sehr.


Nicht unbeteiligt am Umstand, dass Bert Strebe den Weg vom Norden Deutschlands nach Gottlieben unter die Räder nahm und dass es zu dieser einmaligen Zusammenarbeit zwischen zwei Kunstrichtungen kam, die sonst nur wenig Berührungspunkte zu haben scheinen, war vor Jahren die Keramikerin Ursula Bollack-Wüthrich selbst. Neben ihrer Lehrtätigkeit geht sie schon lange ganz eigene Wege in der Keramik und zeigte sich schon an zahlreichen Einzel- und Gemeinschaftsausstellungen an verschiedenen Orten in der Schweiz und im Ausland. Sie hat sich auf Raku-Keramik spezialisiert, eine alte japanische Technik.

«Der Samstagabend war schlicht und einfach wunderbar; ein sehr waches, aufmerksames Publikum, Bert Strebes Worte, die von Verletzungen und Schönheiten erzählten und danach berührende Gespräche zwischen Keramik und einem Glas Wein. Danke für die Fragen, mit denen du uns herausgelockt hast und besonders dafür, dass du dich auf dieses Wagnis eingelassen hast.» Ursula Bollack-Wüthrich

Ursula Bollack-Wüthrich produziert keine Alltags- oder Gebrauchskeramik. Ihre Werke haben Stimmen, flüstern, laden ein zu einem tieferen Blick. Dabei quillt die Sprache förmlich aus den Objekten heraus. Gedichte und Objekte sind voller Sinnlichkeit, sind materialisierte Innenansichten.


Ursula Bollack und Bert Strebe tauchten mit den BesucherInnen in sieben Blöcken in ihr Schaffen, zeigten, dass sich so verschiedene Kunstformen, in ihrer Art, sich mit Wahrnehmung und Welt auseinanderzusetzen, mehr als nur berühren können. Der Abend mit Ursula Bollack-Wüthrich und Bert Strebe war eingetaucht in Freundschaft und gab Einblick in die Tiefen zweier Kunstschaffenden, die sich abseits vom Gefälligen mit Leib und Seele in ihre Ausdrucksformen hineingeben.

Ursula Bollack-Wüthrich ist am Samstag 18. März von 15 – 18 Uhr und am Freitag 24. März von 18 – 20 Uhr im Literaturhaus Thurgau in ihrer Ausstellung anwesend.

Fotos © Gallus Frei

„Mit dem Erbe ging es mir wie allen; eines Tages muss sich jeder darum kümmern.“ Lukas Bärfuss im Literaturhaus Thurgau

Wir haben sie alle, die Kisten, Schachteln, Keller, Boxen, Tresore, in denen wir wegsperren, womit wir uns nicht konfrontieren wollen. Vielleicht ist das Ausschlagen einer Erbschaft bis zu einem gewissen Grad doch nichts anderes, als sich der Vergangenheit nicht stellen zu wollen – oder zu können.

«Meinte nicht Robert Walser, jeder Weg sei ein Heimweg? – So fand ich mich auch in Gottlieben zu Hause, am Rhein, mit dem Blick auf das Ried, wo ich vor vielen Jahren eine Liebe hatte, und an jenem warmen Februarabend auf eine Gemeinschaft von Lesenden traf, im Bodmanhaus, am Ende der Holztreppe. Danke dafür!» Lukas Bärfuss

Das kleine, schmucke Literaturhaus am Seerhein war besetzt bis auf den letzten Platz. Und es war höchste Zeit, dass der Büchnerpreisträger Lukas Bärfuss endlich Gast im Literaturhaus Thurgau wurde. Von Lukas Bärfuss, Romancier, Theaterautor, Regisseur, Essayist und „Kommentator“, Träger der angesehensten Preise und seit 2015 Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung las ich als Allererstes „Hundert Tage“, ein Buch, das bis heute nachhallt. Ein Buch, das sich in meinem Lese- und Bücherbewusstsein eingegraben hat, das mich mehr als neugierig machte auf einen Autor, der sich nicht scheut, zu Themen der Zeit eine dezidierte Meinung zu äussern, selbst dann, wenn er damit aneckt. Seine Vielfältigkeit beweist Lukas Bärfuss mit jedem seiner Bücher aufs Neue. Er wird es auch mit seinem allerneusten, dem Roman „Die Krume Brot“ tun, der diesen Frühling bei Rowohlt erscheinen wird, und einiges an politischer und historischer Schärfe verspricht.

Lukas Bärfuss wurde fünfzig. Vielleicht einer der Gründe für den Autor und Vater, endlich jene eine DelMonte-Bananenschachtel, mit der ganze Generationen in der Schweiz siedelten, die während Jahrzehnten in den verschiedensten Zwischenräumen seines Daseins lagerte, nun endlich zu öffnen. Eine Art Büchse der Pandora. Eine Tür zur Vergangenheit, die sich nicht verschliessen lässt, durch die immer wieder der Wind pfeift.

Ganz zu Beginn seines Essays «Vaters Kiste. Eine Geschichte über das Erben» steht der Satz: „Mit dem Erbe ging es mir wie allen; eines Tages muss sich jeder darum kümmern.“ Eigentlich geht es in seinem Buch um jede Form der Erbschaft, denn alles worin, worauf und wohin wir uns bewegen, ist Erbschaft. Ebenso wie all das, was wir zurücklassen, bis zum Gang aufs Klo. Vor allem der Müll sei das Erbe ohne Erben. Wir hinterlassen zwar, aber es ist uns «scheissegal». Eine Tatsache, die sich schon in der Gegenwart katastrophal auswirkt, mit der wir uns in der Zukunft radikal auseinandersetzen müssen, wenn wir weiterhin Gast auf diesem klein gewordenen Planeten sein wollen.

Lukas Bärfuss erzählt von seinem Vater, den man in seiner Familie als „Schwarzes Schaf“ bezeichnete. Selbst ein solcher Titel ist Erbe, den jede*r ist bis zu einem gewissen Grad Opfer seiner Zeit, Opfer von Konventionen und Regeln, Opfer seiner Herkunft, Opfer seiner selbst. Auch das ist Erbe, das man nicht ausschlagen kann. Lukas Bärfuss schreibt vom «Herkunftswahnsinn». Betrachte man nur die Tatsache, dass Reichtum fast immer bei den Reichen bleibt und sich die Armut wie ein Fluch fortzusetzen scheint. Wie gerne berufen wir uns auf unsere Herkunft, sei sie nun ruhmreich, siegreich oder kampferprobt. Selbst Lukas Bärfuss bewegt sich in seiner Herkunftsblase, einer Blase, der man nicht entfliehen kann.

Weder die Kinder haben ihre Eltern ausgesucht, noch die Eltern ihre Kinder, auch wenn die Zukunft Änderungen verspricht. Zu wie viel Gegenliebe der Nachkommenschaft an ihre Eltern ist man verpflichtet?

Bärfuss› Buch hat auch einen humoristischen Zug: „Deine Welt ist Dir bekannt, und falls du etwas finden solltest, dessen Ursprung du nicht kennst, dann rufst du die Polizei oder die Feuerwehr oder schreibst ein Buch über unbekannte Flugobjekte oder machst auch alles zusammen.“
In Sachen Herkunft machte Darwin einiges erklärbar. Ganz im Gegensatz zur Kirche, die über Jahrhunderte sämtliches Wissen verklärte und instrumentalisierte. Aber so wie wir noch immer in christlich zentrierter Gedankenwelt verhaftet sind, so sehr kettet uns die Darwin’sche Vererbungslehre in Verhaltens- und Gedankenmuster.

Rezension von «Vaters Kiste. Eine Geschichte über das Erben» auf literaturblatt.ch

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

„Das Land hat sich verändert, wir werden nie wieder so sein wie einst.“ Artur Klinaŭ erzählte im Literaturhaus Thurgau

Artur Klinaŭ, Schriftsteller, Architekt, einer der wichtigsten Künstler Weissrusslands ist Stipendiat der Kulturstiftung des Kantons Thurgau, lebt und arbeitet während zweier Monate im Literaturhaus Thurgau. Zusammen mit Moderator Ulrich Schmid, Professor an der HSG und der Vorleserin Rebecca C. Schnyder, las und diskutierte er auf der Bühne des Literaturhauses Thurgau.

Artur Klinaŭ bezeichnet seine Aufenthalte im Ausland, ausserhalb seiner Heimat Weissrussland, nicht als Exil, sondern als Durchgangsreise. Auch wenn es unmöglich scheint, in nächster Zeit gefahrlos in seine Heimat zurückzukehren, verströmt Artur Klinaŭ ungeheure Zuversicht, erst recht, weil er seinen klaren Blick nicht verliert und es versteht, auf dem Boden einer ernüchternden Realität die Hoffnung nicht zu verlieren.

Offener Künstler in einer Diktatur zu sein, ist schwierig genug. Wenn Drohung und Verfolgung, Inhaftierung und Folter zur Tagesordnung werden, wird es immer schwieriger. Bis zu den Massenprotesten in Weissrussland 2020 war es im kleinen Kreis noch möglich, sich kritisch dem Regime gegenüber zu zeigen. Seit der blutigen Niederschlagung dieser Proteste aber hat sich das geändert. Für einen einzigen, falschen Satz kann man im Gefängnis landen.

Artur Klinaŭ nennt den weissrussischen Diktator Alexander Lukaschenka in seinem Buch „Acht Tage Revolution. Ein dokumentarisches Journal aus Minsk“ kein einziges Mal mit seinem Namen, bloss Batka. Sein Buch ist Auseinandersetzung und Abrechnung zugleich, ein Versuch der Einordnung, ein Protokoll der Suche nach seiner für Tage verschwundenen Tochter. Artur Klinaŭ ist davon überzeugt, dass eine Revolution in Weissrussland in der gegenwärtigen Lage aussichtslos wäre. Viele Stimmen im Land sind zwar laut, aber nur die wenigsten haben einen „Plan“, wie eine Zukunft in einem ganz anderen System aussehen müsste, allen voran die Opposition unter Swetlana Tichanowskaja, wo mit Slogans den Menschen in diesem leidgeprüften Land nur der „Kopf verdreht“ wird. Russland würde einen „aufmüpfigen“ Nachbarn sofort schlucken, zumal Weissrussland sich nicht dagegenstellen könnte, auch wenn viele in der protestierenden Masse aufrichtig beseelt waren von den Ideen einer Revolution.

Die Verhaftungen in Weissrussland sind willkürlich, die Gefängnisse voll, die Justiz systemgesteuert, Verurteilungen ein Hohn. Erfahren musste das auch Ales Beliazki, Menschenrechter und Friedensnobelpreisträger, der mehrfach festgenommen, immer wieder verurteilt und inhaftiert wurde. Nicht nur die Gassen im Regierungsviertel der Hauptstadt Minsk sind Sackgassen. Artur Klinaŭ nennt selbst die Architektur in seiner Hauptstadt, eine Retortenstadt, die nach dem 2. Weltkrieg fast vollkommen zerstört war, kafkaesk, „Realität in permanenter Katastrophe“, mit totalitärer Struktur, ohne jeden Raum für Individualität. Diktator Alexander Lukaschenka sträubt sich gegen jede Veränderung, eine Tatsache, die sich bis in die staatsgestützte Kunst spiegelt.

Der Abend mit Artur Klinaŭ hinterliess ein beklemmendes Gefühl, etwas Lähmendes. Bei mir nicht zuletzt darum, weil sich kaum jemand in der Schweiz bewusst ist, wie privilegiert ein Leben hier ist, in einem Land, in dem man sich über Nichtigkeiten echauffieren kann.

Der Abend war auch ein Gedenken an all jene, die in Diktaturen auf der ganzen Welt ihr Leben nicht leben können, weil ihnen mit Knüppeln diktiert wird.

Rezension von „Acht Tage Revolution. Ein dokumentarisches Journal aus Minsk“ auf thurgaukultur.ch

Interview zwischen Artur Klinaŭ und Lukas Bärfuss auf literaturblatt.ch 

Alain Claude Sulzer las aus «Doppelleben» im Literaturhaus Thurgau

Alain Claude Sulzers Roman «Doppelleben» ist ein vielschichtiges Porträt dreier Personen, die gefangen in ihrer Zeit, die Polkappen der Pariser Gesellschaft im 19. Jahrhundert ausmachten; die Brüder Edmond und Jules Goncourt, damals ein Dreh- und Angelpunkt der Pariser Kultur – und ihre Dienstmagd Rose, eine Existenz zwischen Ergebenheit und Selbstaufgabe.

«Doppeldank an Cornelia Mechler und Gallus Frei für Vorbereitung und Zubereitung, für die Sorge um mein leibliches Wohl und den barocken Schlafplatz mit Blick auf Wasser und Schwäne. Auftreten ist das eine, gut schlafen das andere. Beides hat perfekt geklappt. Danke an die ganze Equipe in Gottlieben, wo ich stets Udo Jürgens› und Lisa della Casas gedenke.»
Alain Claude Sulzer 
 

1998 begann meine Liebe zu Alain Claude Sulzers literarischem Werk, mit einem Schlag und unauslöschlich. Damals las ich seinen Roman «Urmein», der im Schloss eines italienischen Grafen im bündnerischen Urmein spielt. Ein Roman über eine wilde, bunte und bisweilen schräge Gesellschaft, die sich in den Jahren vor und während des 1. Weltkriegs im fiktiven Schloss des Adeligen trifft. Ein Roman, der wie viele Bücher Alain Claude Sulzers das gesellschaftliche und politische Leben der jeweiligen Zeit spiegelt und illustriert.
Später las ich auch die früheren Werke und fast alle, die auf «Urmein» folgten – und mit aller Selbstverständlichkeit und dem grössten Lesevergnügen seinen neusten Roman «Doppelleben».

Alain Claude Sulzer hat zweieinhalb Jahre am Roman geschrieben, nachdem er sich schon lange ausgibig sowohl in das Werk der Goncourts und die Zeit, in der die Brüder und ihre Dienstmagd lebten, vertiefte. Edmond und Jules Goncourt lebten wie siamesische Zwillinge, taten alles gemeinsam, und als Jules langsam an Syphilis erkrankte, immer stärker an den Symptomen litt und nicht nur die Fähigkeit zu sprechen verlor, sondern auch die des Schreibens, wurden die drohenden Veränderungen für den älteren Edmond immer existenzieller.
Zum einen lebt Sulzers Roman von den Schilderungen dieses Sterbens, zum andern vom Sterben ihrer Dienstmagd Rose, einer Frau und Angestellten, auf die sich die beiden Brüder ganz und gar verliessen, die das Leben der Brüder erst ermöglichte. Einer Frau, die sich in ihren beinahe nymphomanischen Anwandlungen in einen unnahbaren Mann verliebte, ihr Erspartes und mehr verlor, schwanger wurde und das Kind verlieren musste. Ein Leben im Verborgenen. Ein Leben, von dem die Brüder nichts wussten oder nichts wissen wollten.

Es habe ihn das Gegensätzliche interessiert, das Leben eines Bruderpaars, das gemeinsam Bücher schrieb, die langsamen Katastrophen, sowohl jene der Goncours wie jene ihrer Dienstmagd Rose, erklärte der Autor. Alain Claude Sulzers Roman, der nicht nur seinen Protagonisten nahe kommt, auch ihrem Tun, ihrem Wirken, ihrem Leiden, ist ein beeindruckendes Fenster in eine Zeit, in der die Stadt Paris absolute Kulturmetropole der westlichen Hemisphäre war.

Rezension von «Doppelleben» auf literaturblatt.ch

Ursula Fricker Gast im Literaturhaus Thurgau

Kaum ein Segment in Buchhandlungen ist derart prominent vertreten wie der Sektor Gesundheit/Ratgeber. Kaum ein Thema treibt die Schriftstellerei so sehr um wie die Beziehung von Kindern zu ihren Eltern. Beides vereint der Roman „Gesund genug“ von Ursula Fricker. Kein Wunder trifft er den Nerv!

2004 erschien Ursula Frickers Debüt „Fliehende Wasser“, schon damals ein Roman über die klaustrophobische Enge einer kompromisslosen Erziehung und ihrer katastrophalen Folgen. 2009 der Roman „Das letzte Bild“, in dem sich ein Mann mittleren Alters mit einem Mal mit seiner 15jährigen Tochter konfrontiert sieht. 2012 der Roman „Ausser sich“, die Geschichte eines Paares, dessen gemeinsame Geschichte an einem Sonntag wortwörtlich schlagartig die Richtung ändert. Katja geleitet Sebastian, der einen Schlaganfall erleidet, im Helikopter ins Spital. Der Roman war nominiert für den Schweizer Buchpreis. 2016 „Lügen von gestern und heute“ über drei Leben, die gänzlich aus den Fugen geraten.
Und nun 2022 „Gesund genug“, ein Roman, der an den Erstling anschliesst.

Hanne wird ans Sterbebett ihres Vaters gerufen. Hannes Vater leidet im Endstadium einer Darmkrebserkrankung. Ausgerechnet er, der fast ein ganzes Leben lang zum unnachgiebigen Prediger wurde für ein Leben, dass Ernährung und gesunden Lebenswandel nicht nur zur obersten Maxime erklärt, sondern alles und jeden verdammt, der sich nicht seinen absoluten Ideen und Ansichten anschliesst. Das Leben dieser Familie wird zu einem Inselleben, weil niemand, letztlich nicht einmal seine beiden Kinder, den Vorgaben und Gesetzen des Vaters genügen können. Verwandtschaften und Freundschaften, selbst Nachbarschaften werden schwierig bis unmöglich. Hanne und ihr Bruder Michael können ausbrechen. Die Mutter bleibt.

Eine letzte Gelegenheit zur Annäherung zwischen Tochter und Vater vor der ultimativen Entfernung. Der Versuch, etwas zu verstehen, die verschlüsselte Liebesgeschichte einer Tochter zu ihrem unter Idealen begrabenen Erzeuger, die Sehnsucht nach jenem letzten Schimmer eines Vaterbildes, das sich alle wünschen; Geborgenheit, Sicherheit, Stütze und Kraft.
„Gesund genug“ ist ein Familienroman. Ein Roman ebenso über die Abgründe und Verletzungen, wie über die tiefen Sehnsüchte nach Liebe und Anerkennung. Kein Beziehungsfeld repräsentiert diese Sehnsüchte so sehr wie die Familie. Und in keinem Beziehungsfeld können Verletzungen so irreparabel sein, wie jene in der Familie. Generationen von Psychotherapien leben davon.

Warum gerät man irgendwann auf eine Schiene, von der man sich nicht mehr befreien kann? Hanne findet Zeichnungen, die von Seiten ihres Vaters erzählen, die verschwanden. Ist es einfach die Unmöglichkeit, sein Scheitern eingestehen zu können? Am Sterbebett liest Hanne ihrem Vater aus Robert Falcon Scotts Tagebüchern. Auch für Scott gab es damals auf seiner Reise zum Südpol kein Zurück. Lieber heldenhaft in den Tod als ein frühzeitiges Eingeständnis, dass Ponys in der Antarktis nicht die richtige Entscheidung waren.

Hannes Vater sah sich stets in der Rolle des Opfers. Eine Haltung, die einen perfekten Nährboden für ein messianisches, selbstloses Engagement ohne Wenn und Aber bieten kann. Hat uns nicht die moderne Psychologie dazu gebracht, uns immer bloss als Opfer zu sehen? Jede und jeder, der sich einmal diese Rolle endgültig übergestülpt hat, ist verloren. Hannes Kampf ist auch ein Kampf gegen die Rolle eines Opfers.

«Ich habe mich besonders auf den Besuch im Literaturhaus Thurgau gefreut. Danke Monika und danke Gallus für diesen in mancher Hinsicht prächtigen Abend in Gottlieben!» Ursula Fricker

„Gesund genug“ sticht mitten ins Herz!

Rezension von «Gesund genug» auf literaturblatt.ch