Susann Pásztor «Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster», KiWi

Karla wird an Krebs sterben. Und Fred, ehrenamtlicher Sterbebegleiter, ist wild entschlossen, wenigstens damit seinem Leben einen Sinn zu geben. Freds Sohn Phil kommt ganz gut ohne ihn zurecht. Und vom weiblichen Geschlecht sonst ist kaum mehr etwas für Fred zu erhoffen.

«Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster» erzählt von einem ungleichseitigen Dreieck um die todkranke Karla. Karla hat Krebs und vielleicht noch ein paar Monate zu leben. Karla möchte ihre Ruhe haben. Was unbedingt sein muss, akzeptiert sie. Aber als sich dieser Mann nach telefonischer Voranmeldung an ihrer Wohnungstür in ihre Ruhe klingelt, wird diese Sehnsucht nach Ruhe gestört. Der Unruhestifter lässt sich auch durch absichtliche Unfreundlichkeiten nicht abschütteln, erst recht nicht. Der Mann an der Tür ist Fred. Fred ist ehrenamtlicher Sterbebegleiter und nimmt seine Aufgabe ernst. Er weiss, dass Vertrauen gewonnen werden muss. Fred hat mit dem Leben noch einige Rechnungen offen. Seine Ehe ist gescheitert, seine Ex in die Esoterik abgedriftet. Er als alleinerziehender Vater schmerzhaft weit weg von seinem Sohn entfernt. Auch im Büro reisst ihn nichts mehr aus seinem Trott. Jeden zweiten Mittwoch trifft sich Fred mit andern Berufenen zum Supervisionstreffen der Ehrenamtlichen im Hospiz. Dort holt er Anlauf und später Beistand für seine erste Mission. Eine Aufgabe, die auch durch Einfühungskurse und Handbücher nicht einfacher wird; Sterbebegleitung. Phil ist Freds dreizehnjähriger Sohn. Auch er einer, der sich in seiner Ruhe durch den Vater gestört fühlt. Phil schreibt lieber Gedichte, die er auf Internetforen veröffentlicht, als auf Plätzen einem Ball hinterherzurennen. Phil versteht seinen Vater kaum. Ein Vater, der ein Verlierer zu sein scheint. Einer, der sich als ehrenamtlicher Sterbebegleiter in eine Mission verrennt. Und Gudrun? Gudrun, pensioniert, lebt allein und ist als Karlas Schwester, der einzig übrig gebliebene Rest einer Familie, von der die todkranke Karla nichts, gar nichts mehr wissen will. Bis Fred alle aus ihrer Ruhe reisst.

Susann Pásztor, neben ihrer Berufung als Autorin und Übersetzerin selbst ehrenamtliche Sterbebegleiterin, gelingt es mit ihrem zugleich heiteren wie ernsten Roman ein Tor zu einem Thema zu öffnen, das nicht nur in der Literatur wenig Aufmerksamkeit findet. Zum einen erzählt Susann Pásztor vom Sterben einer Frau, der das langsame Sterben selbst schon vor dem Tod alles zu nehmen droht. Zum anderen von der durchaus ehrenvollen Aufgabe der Sterbebegleitung. Eine Aufgabe, die so ganz anders ist als alles, was wir uns sonst auferlegen. Wie soll man sich Sterbenden nähern, ohne das aus Ehrenhaftigkeit Aufdringlichkeit wird? Was tun, wenn die Signale einer Sterbebegleitung nicht ankommen, nicht so ankommen, wie sie gedacht waren? Wenn aus Übereifer Verletzungen entstehen? Wenn aus Beistand Notstand wird? Susann Pásztor beschreibt mit einem besonderen Gefühl für Feinheiten das Spannungsnetz einer solchen Extremsituation. Susann Pásztor lässt das Geschehen subtil entgleisen. Phil, Freds Sohn, soll für Karla in ihrer Küche all die Negative aus einer «Grateful-Dead-Vergangenheit» einscannen. Dabei gewinnt er unweigerlich jene Nähe, die sein Vater auch mit der Brechstange nicht zu erwirken vermag. Übermotiviert und euphorisiert nimmt Fred heimlich Kontakt zur einzigen Verwandten Karlas, zu Gudrun auf. Die Zusammenführung soll zur Weihnachtsüberraschung werden. Eine, die ihm gelingt, wenn auch gar nicht so, wie er sich das ausgemalt hatte.

Susann Pásztor erzählt kapitelweise aus der Sicht der vier Protagonisten, macht mich zum Verbündeten, zum Hoffenden, zum Zweifelnden. Zudem würzt die Autorin mit Nebenschauplätzen, die nicht verzetteln, sondern das Kerngeschehen in ein anderes Licht setzen. So wie Phils Wörterkrankenhaus für Wörter, die unheilbar erkrankt sind oder endgültig aus dem Verkehr gezogen werden müssten. Obwohl erst dreizehn entwicklt Phil ein Sensorium, das ihn dort hören lässt, wo andere überhören. Oder das durch Freds Übereifer gestörte Leben von Karlas einziger Schwester Gudrun, die eigentlich eine Kreuzfahrt geniessen will. Sie wird zur Kreuzfahrerin in eine Vergangenheit, die zugeschüttet ist. Oder Karlas Leben selbst, das nur andeutungsweise erzählt wird. Aber an den kursiv gesetzten Listen, die den Kapiteln dazwischengestellt sind, bleibe ich hängen. Sie lassen mich spekulieren, tragen mich weiter.

Und nicht zuletzt ist «Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster» ein Roman über das Sterben. Soll man sich ergeben oder trotz Krankheit gestalten? Wann wird Hilfe und Beistand zur Belastung? Wo und wann wird angebotene Hilfe zum Selbstzweck? Muss man Ordnung machen? Susann Pásztors Roman lebt von den Erfahrungen der Autorin, von den Tiefen und Untiefen jenes letzten Lebensabschnitts.

Ein Interview

Vor der Lektüre Ihres Romans wusste ich nicht einmal, dass es ehrenamtliche Sterbebegleitung gibt. So wie Sie Sterbebegleitung beschreiben, kann der Eindruck entstehen, manche dieser Ehrenamtlichen seien ziemlich überfordert, könnten viel mehr zur Belastung einer eh schon schwierigen Zeit werden, als Entlastung.
Wenn ich ein Sachbuch geschrieben hätte, könnte ich Ihre Bedenken verstehen. Aber es ist ein Roman! Und mal abgesehen davon: Ich denke, dass jede Aufgabe, jede Interaktion mit sterbenden Menschen Momente der Überforderung bereithält, ebenso wie Momente des Glücks, der Hilflosigkeit, der Intimität. Der überwiegende Teil der Sterbebegleiter kann damit umgehen; die wenigen, die das nicht gut aushalten, hören bald wieder auf. Hier in Berlin gibt es viele, bei denen niemand am Bett säße, wenn es die Ehrenamtlichen nicht gäbe. Selbst wenn sie Fehler machen, sind sie alles andere als eine zusätzliche Belastung.

Fred sucht sich eine Aufgabe, eine schwierige Aufgabe. Eine Aufgabe, die mit dem Tod endet. Darf Sterbebegleitung zum Selbstzweck werden? Man sucht sich eine Aufgabe, um sich selbst zu helfen. Fred ist geschieden, überfordert im Zusammenleben mit seinem Sohn Phil, wenig ausgefüllt von seiner Arbeit, ziemlich isoliert.
Das ist etwas, das ich nie verstanden habe: Warum soll man keine Aufgabe übernehmen, mit der man auch sich selbst helfen kann? Jeder Mensch, der Arzt oder Feuerwehrmann oder Therapeut wird, bringt irgendetwas aus seiner Biografie mit, das man auch gegen ihn verwenden könnte. Ich finde nicht, dass es bei so einer Wahl richtige oder falsche, ehrenwerte oder schlechte Motive gibt. Entscheidend ist, wie offen man ist, wie neugierig und wie bereit, sich zu hinterfragen und dazuzulernen und an seiner Aufgabe zu wachsen.

Freds zwölfjähriger Sohn Phil ist ein besonderer Junge. Einer von der stillen Sorte. Einer der Gedichte schreibt und kranke Wörter sammelt. Nicht Fred sein Vater gewinnt Nähe zur sterbenden Karla, sondern sein Sohn Phil. Unspektakulär durch eine Arbeit in Karlas Küche. Braucht es Sterbebegleitung? Braucht es nicht viel mehr soziale Formen, in denen Sterben nicht zum Ausnahmezustand wird? Liegt nicht der Schlüssel zu solchen Menschen in Phils Art, dem Leben und Sterben zu begegnen; ganz fein, ganz still, ganz «nebenbei“?
Oh ja, solche sozialen Modelle sind schön und wünschenswert. Es gibt sie nur nicht, und wenn wir sie haben wollen, müssen wir irgendwo anfangen. Einer der Wege dorthin ist, dass die Hospizarbeit – und damit auch die Möglichkeit einer Sterbebegleitung – mehr und mehr ins Bewusstsein der Menschen dringt und immer selbstverständlicher zum Leben dazugehört. Viele, so wie Sie, wissen gar nicht, dass es so etwas gibt. Andere organisieren Protestdemos, wenn sie erfahren, dass in ihrer Nachbarschaft ein Hospiz gebaut werden soll. Wir müssen noch so viel lernen. Von daher: Ja, es braucht Sterbebegleitung, und zwar dringend.

Sterbebegleiter Fred will in seinem Übereifer die sterbende Karla mit ihrer einzigen Schwester zusammenbringen. Er will eine Versöhnung provozieren. Sie selbst sind auch Sterbebegleiterin. Braucht es Versöhnung vor dem Tod? Sind wir nicht einfach zu harmoniesüchtig, selbst wenn es um die letzte Strecke vor dem Tod geht?
Ich halte das mit der Versöhnung am Sterbebett für einen romantischen Mythos, der von verzweifelten Hinterbliebenen erfunden wurde. Oder von Schriftstellern. Das Wichtigste ist, glaube ich, mit sich selbst ins Reine zu kommen und seinen inneren Frieden zu finden. Falls das eine Versöhnung erfordert: Man kann auch innerlich um Verzeihung bitten oder verzeihen, dazu braucht es die große dramatische Geste nicht. Das gilt übrigens auch für die Hinterbliebenen.

Ich bin sicher, dass es gute Romane braucht, die Themen ins Gespräch bringen, über die man sonst nicht spricht. Ich bin sicher, dass Ihr Roman genau dies tut. Ich lese und diskutiere mit in zwei Lesekreisen. Ihr Buch scheint mir wie geschaffen dafür? Trotzdem würde ich mich nicht wundern, wenn gerade ältere Menschen bei diesem Thema » blocken». Will man sich wirklich mit dem Sterben beschäftigen?
Ich weiß es nicht. Ich kenne ja auch nicht das Durchschnittsalter der Leser dieses Buchs. Zu den Lesungen kommen jedenfalls erstaunlich viele ältere Menschen. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass es in allen Altersgruppen etwa gleich viele „Blocker“ gibt. Junge und Mittlere blocken, weil sie Angst vor dem Verlust ihrer Eltern und Großeltern haben, Alte blocken, weil sie wissen, dass sie selbst bald dran sind.

Ich danke Susann Pásztor für das kleine Mail-Interview.

Susann Pásztor, 1957 in Soltau geboren, lebt als freie Autorin und Übersetzerin in Berlin. Ihr Debütroman »Ein fabelhafter Lügner« erschien 2010 und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. 2013 folgte der Roman »Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts«. Sie hat die Ausbildung zur Sterbebegleiterin abgeschlossen und ist seit mehreren Jahren ehrenamtlich tätig.

Titelfoto: Sandra Kottonau

Tim Krohn «Erich Wyss übt den freien Fall», Galiani

Tim Krohns Romanserie „Menschliche Regungen“ ist ein fantastisches Projekt und geht mit „Erich Wyss übt den freien Fall“ in seine zweite Runde. Eine Enzyklopädie der „Menschschlichen Regungen“; Courage, Perfektionismus, Eloquenz, Geiz, Familiensinn, Zorn, Begierde, Originalität… über 65 neue menschliche Regungen. Und weil Tim Krohn immer wieder in Kontakt tritt mit jenen Menschen, die eine dieser Regungen aussuchen und mit weiteren Begriffen einbetten, ist das, was in den beiden bisher erschienenen Bänden geschah, durchaus repräsentativ dafür, was die Welt an der Röntgenstrasse in Zürich ausmacht.

Sie kennen den altmodischen, aber noch immer reizvollen Adventskalender mit den kleinen Türchen, von denen man jeden Tag eines öffnen darf und mehr oder weniger überrascht wird, von dem, was sich dahinter verbirgt. Auch der zweite Band „Erich Wyss übt den freien Fall“ ist ein solcher Kalender, ein überdimensionaler, ein ganzes Haus, in dem sich nach und nach alle Türen öffnen, nicht nur die in die Wohnungen und Zimmer. Ein städtischer Kosmos, in dem sich das Leben auf vielfältigste Weise durchaus spektakulär manifestiert.

Sonst mag ich Serien nicht. Keine Brunettikrimis, keine Netflix-Serien, nicht einmal Gesamtausgaben. Sobald ich mich geknechtet fühle, krampft sich mein Misstrauen. Und wenn wie bei bei «Game of Thrones» um Film, Buch und Autor ein wahrer Hype ausbricht, stachelt das meinen Widerwillen noch an. So ganz anders bei Tim Krohns urbanem Quartierepos. Es fliesst kein Blut, kein Drache speit Feuer, es öffnen sich keine Abgründe, selbst die Intrigen bleiben in Bodennähe. Was in dem Zürcher Mietshaus passiert, erkenne ich wieder. Es riecht und fühlt sich an wie die Wirklichkeit. Ich mag das ganz normale Personal, selbst jenes, mit dem ich in der Wirklichkeit lieber nichts zu tun haben möchte. Tim Krohn erzeugt Nähe, weil sich die Menschen, die er leben, lieben und sterben lässt, mit dem herumschlagen, was Realität ist. Die Schauspielerin Selina kämpft um ihr Filmprojekt, Julia als alleinerziehende Mutter in ihrem schlecht bezahlten Beruf als Lektorin um ihre Existenz, Pit und Petzi als Studenten und junges Paar, Moritz der Lebenskünstler und Hubert Brechbühl, die Leitfigur aus dem ersten Band als schüchterner Liebhaber um ihre Lieben, Familie Costas ums tägliche Brot (das allzu oft als Fisch auf dem kleinen Balkon brutzelt) und Erich Wyss mit seiner Frau Gerda gegen die Tücken von Alter und Familie.

Tim Krohns Personal wächst mir derart ans Herz, dass ich mir mit Sicherheit auch Band 3 nicht entgehen lassen werde. So gesehen ist das Rezept kein anderes als bei jeder anderen Serie. Ich will nichts versäumen, selbst den Schmerz darüber nicht, dass Personen ziemlich plötzlich verschwinden. So wie Paul Lutz, der als neuer Hauswart seine Stelle antritt und sich zuallererst in seine Dienstwohnung durchkämpfen muss, weil die vom Verwandtschaftsbesuch der Familie Costas annektiert wurde. Ich mochte diesen Paul, der sich mit der umtriebigen Familie anzufreunden versuchte, letztlich aber scheiterte an seinem strategischen Bemühen, im Mietshaus für Ordnung zu sorgen.

Ich leide mit! In Band 2 mit Erich Wyss, einem schon lange pensionierten Tramfahrer. Einem, der ein Leben lang nicht nur seiner Frau Gerda treu war, sondern auch seiner Redlichkeit, dem Vorsatz, ein guter Mensch zu nsein. Ausgerechnet ihm schlägt das Schicksal nicht nur in die Knie, sondern mitten ins Herz. Nach der Geburtstagsfeier seiner Frau Gerda, bei der fast das ganze Haus mitfeierte und Gerda noch einmal richtig ausgelassen tanzte, entreisst der Tod ihm seine Frau. Und als wäre das nicht genug, versuchen ein ungeratener Sohn und ein durchtriebener Enkel aus Erich Wyss einen Strohmann für dunkle Geschäfte zu formen. Aber nicht so mit Erich Wyss. Dieser schlägt zurück, nachdem er auch schon im ersten Band einiges einzustecken hatte. Erst recht, als er sich nach dem Tod seiner Frau nur noch um sich zu sorgen braucht und sein Fundament Familie zu bröckeln beginnt. So wie die einen im Haus an der Röntgenstrasse um ihre Familie kämpfen, streitet Erich gegen sie. So heftig Erich seinen Sohn Sepp vor die Türe setzen muss, so sehr wird Pit von seinem Vater vor die Türe gesetzt und ausgegrenzt. Wahrscheinlich auch dies ein Qualitätsmerkmal des Kohn’schen Kosmos. So wie „Game of Thrones“ jene Welt nicht in Gut und Böse aufteilt, zeigt Tim Krohn in seiner Romanserie keine krassen Gegensätze, aber Menschen in sehr verschiedenen, durchaus gegensätzlichen Lebenssituationen. Pit, der Philosophiestudent, der im ersten Band ziemlich ausufernd die Grenzen der körperlichen Liebe auslotete und versuchte, ist in Band 2 ein Gestrandeter, ein Verzweifelter. Ernüchtert bricht er sein Studium ab und sieht sich nicht nur wegen dieses Entschlusses mit einem übermächtigen Vater konfrontiert, der ihm seine Familie verweigert.
In „Erich Wyss übt den freien Fall“ leide ich an nichts so sehr mit wie an „Familie“! So viel Sehnsucht und magische Liebe darin steckt, so viel Schmerz, Demütigung und Bedrohung kann aus ihr erwachsen.

Was ich am Unternehmen „Menschliche Regungen“ bewundere, ist die pure Lust des Autors an Ent- und Einwicklung, die Souveränität, mit der Tim Krohn erzählt und mir immer noch eine Tür öffnet, ohne sich zu verzetteln. Auch wenn mir die Lebensentwürfe der Protagonisten im Roman nicht alle gleich nah kommen, bleiben sie realistisch.

„Erich Wyss übt den freien Fall“ ist auch ein Buch über den Weltenbruch im Jahr 2001, über 9/11 und seine Folgen. Und das Bild, das im Buchtitel durchscheint, „The Falling Man“, stimmt letztlich treffend für Erich Wyss. Sein Turm brennt. Ein Turm, der durch ein Verbrechen in Brand gerät. Ein Turm, der einzustürzen droht. Aber Erich Wyss wird nicht aufschlagen, nicht zerstört liegen bleiben.

Ich liebe viele Bilder im Roman von Tim Krohn; wenn Herr Brechbühl mit der Tuba auf dem Rücken in den Glarner Alpen Höhepunkte sucht, wenn Costas aus der Not Pornofilme mit Literatur synchronisieren, wenn im Stadttheater Solothurn telefonierende Zuschauer während der Vorstellung von Schauspielern geohrfeigt werden.
Tim Krohn bleibt nicht an der Oberfläche. So gross die Liebe zu seinem Personal ist, so tief lässt er blicken. Zum Beispiel dann, wenn Max Frischs Fragebogen zur Hoffnung beantwortet wird. Und zwar nicht einfach so. Da helfen zwei Flaschen Château Lafite und der Umstand, dass die Fragen am Telefon beantwortet werden, ohne Möglichkeit, das Gesicht zu verlieren.

Und noch ein Versprechen von mir: Geniessen Sie Band 2 „Erich Wyss übt den freien Fall“. Jedes Buch für sich ist ein Leseabenteuer der besonderen Art. Lassen Sie sich verführen, anstecken und mitreissen!

Tim Krohn ist 1965 in Nordrhein-Westfalen geboren, wuchs ab seinem zweiten Lebensjahr in der Schweiz im Glarnerland auf und wohnte danach gut zwanzig Jahre lang in Zürich, in einer sehr liebenswerten Genossenschaft. Inzwischen lebt er mit Frau und Kindern in Santa Maria Val Müstair. Er ist freier Schriftsteller. Er schrieb zuletzt die Romane „Quatemberkinder“ (1998), „Irinas Buch der leichtfertigen Liebe“ (2000), „Vrenelis Gärtli“ (2007) und „Ans Meer“ (2009), die Erzählbände „Aus dem Leben einer Matratze bester Machart“ (2014) und „Nachts in Vals“ (2015) sowie zahlreiche Theaterstücke, so auch die Vorlage zum „Einsiedler Welttheater 2013“. Er gewann unter anderem das Berliner Open Mike, den Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis, den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung und den Kulturpreis des Kantons Glarus.

menschliche-regungen.ch

Titelfoto: Sandra Kottonau

Nina Jäckle «Stillhalten», Klöpfer & Meyer

Otto Dix malte 1933 das «Bildnis der Tänzerin Tamara Danischewski mit Iris» kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Wenig später vertrieb man ihn von Dresden nach Hemmenhofen an den Bodensee, nicht nur weit weg in ein Dorf, sondern in die innere Emigration. Tamara Danischewski, einst eine vielversprechende Tänzerin, ist Nina Jäckles Grossmutter.

Was die Schriftstellerin Nina Jäckle mit ihrer Geschichte, ihrem Stoff macht, ist keine Nacherzählung. «Stillhalten» ist die Abrechnung einer Gefangenen, die Geschichte eines erstarrten Lebens, eine Feldstudie der Täuschung und Lüge.

Tamara schreibt mehr als nur Zahlen in ihr Abrechnungsbuch. Sie lebt einsam und alt geworden im Obergeschoss ihres Hauses am See. Ein ehemaliger Steinbruch ihres Mannes. Mit Wasser gefüllt zum perfekten See gemacht, wie sie einst zur Ehefrau. Ein Dublikat des «Bildnis der Tänzerin Tamara Danischewski mit Iris» hängt über ihrem Schreibtisch, in den Räumen, die ihr Mann niemals betritt. Ein Bild, das sie mit einundzwanzig Jahren zeigt, als umschwärmte, junge Tänzerin, voll mit dem Brennen auf ein abenteuerliches Leben. Gemalt vom damals über sechzigjährigen Maler Otto Dix, der sie nicht nur malte, sondern in ihr ein Gefäss fand, um all die Wut und den Zorn über die Unvernunft des Menschen angesichts des beginnenden Tausendjährigen Reichs für Augenblicke loszuwerden. Damals sass Tamara Danischewski in einem schwarzen, hochgeschlossenen Kleid, das ihre Mutter genäht hatte, dem streitbaren Maler Modell, mit einer weissen Lilie in der Hand. Ein Bild, das heute in Museen der ganzen Welt hängt und im hellen Lächeln der jungen Tänzerin all die Hoffnung zeigt, die die junge Frau damals mit sich trug. Aber gedrängt von ihrer Mutter und den Wirren der Zeit heiratet Tamara einen Mann, der ihr für die Ehe das Versprechen abringt, nie mehr für fremde Augen zu tanzen und kein Wort mehr über den Schmierer und dieses Künstlerpack zu verlieren. Nach einer Totgeburt und Jahrzehnten der Anpassung, Unterordnung und versprochenen Zurückhaltung, in jenem Moment, in dem sie untrüglich spürt, dass die Existenz ihres Mannes zu wackeln beginnt, zieht die alt und einsam gewordene Tamara Bilanz. Auch wenn sie weiss, dass es letztlich kaum Einträge in der Sparte «Gewinn» geben wird.

Nina Jäckles Roman fasziniert! Was für ein Buch! Ganz nebenbei erfahre ich so viel über das Leben des Künstlers Otto Dix in Zeiten des Faschismus mit der Erinnerung an einen verlorenen ersten Weltkrieg, dass ich mich wundere, nicht längst einmal in Hemmenhofen am Bodensee oder in den Museen Stuttgarts dem Maler nachgegangen zu sein. So wie die junge Frau fasziniert war vom durchdringenden Blick und Verstand des Malers, so faszinieren mich im Anschluss an die Lektüre des Romans die Bilder und Zeichnungen des Malers Otto Dix, der sich kaum um künstlerische Strömungen und Modeerscheinungen seiner Zeit kümmerte.

Ausgerechnet eine Tänzerin erstarrt in den Blicken eines Malers zum Modell, sitzend zu einer Blumenhalterin. «Stillhalten» ist das Protokoll all jener Sitzungen in Bewegungslosigkeit beim Maler. Eine Ermahnung der allgegenwärtigen Mutter an ihre Tochter, die sich mit der Heirat Tamaras Sicherheit, Wohlstand und endlich Respekt verspricht. Diese unerträgliche Ergebenheit einer Mutter. Dieses permanente Daherbeten «Alles wird gut». Das «Sich Fügen in ein ausgemaltes Schicksal». «Stillhalten» ist auch der Zustand einer zu Stein gewordenen Ehe, des kranken Hundes im Zwinger vor dem Haus und der Situation, in der sich die alt und einsam gewordene Tamara befindet. Der kranke Jagdhund im Zwinger, seiner Bestimmung beraubt und nur seiner Krankheit wegen geduldet, wartet in seinem Geviert auf eine Ende ohne Schrecken.

Nina Jäckle überzeugt derart in Sprache, Feinheit, Konstruktion und Perspektiven, dass ich jedem das Buch mit Nachdruck empfehlen und in die Hände legen möchte. Allein die Verwandlung einer aufblühenden, jungen Tänzerin, die von ihrer Lehrerin ermuntert wird, im Tanz jene absolute Hemmungslosigkeit zu suchen, zur tief verletzten Ehefrau in einem Gefängnis der Lügen und Täuschungen, lohnt das Buch zu lesen. Eine Frau im Gnadenverliess, so wie der kranke Hund im Zwinger. Ein Buch voller Bilder mit Tiefenschärfe, voller Metaphern, Doppelbödigkeiten und sprachlicher Raffinesse. Super!

Nina Jäckle, 1966 in Schwenningen geboren, wuchs in Stuttgart auf, besuchte Sprachschulen in der französischen Schweiz und in Paris und wollte eigentlich Übersetzerin werden. Mit 25 Jahren beschloss sie aber lieber selbst zu schreiben, erst Hörspiele, dann Erzählungen, dann Romane. Ihre ersten Bücher erschienen im Berlin Verlag: »Es gibt solche«, »Noll«, »Gleich nebenan« und »Sevilla«. Bei Klöpfer & Meyer erschienen 2010 mit großem Erfolg ihre Erzählung »Nai oder was wie so ist«, 2011 ihr Roman »Zielinski« und 2014 der Roman »Der lange Atem«. Nina Jäckle erhielt zahlreiche literarische Auszeichnungen. Nina Jäckle ist Stipendiatin der Villa Massimo in Rom 2016/17.

«Der lange Atem» auf literaturblatt.ch

14. Lyriktage Frauenfeld – grossartig!

Was in der Gastronomie mit slow-food die Gegenbewegung zum fast-food sein soll, ist bei der Bewegung der Gegensatz Gehen und Fliegen. In der Musik ist es das seichte Rieseln im Hintergrund und die eindringliche Stimme eines einzelnen Instruments. Die Lyrik ist es in der Welt des Geschriebenen. Weit weg von allem Schnellen, allem beiläufig Konsumierten, der Wegwerfsprache, den Verbrauchstext, der in Zügen unter den Bänken liegen bleibt und irgendwann bloss noch als Unterlage für nasse Schuhe taugt.

Lyrik ist slow-food für hungrige Seelen, Wandern durch fremde Innenwelten, das Lauschen geheimnisvoller Stimmen. Dichter und Dichterinnen sind Streiter des Wortes, des Klanges, der Komposition und all der Leerschläge zwischen den Wörtern. Sie schmeicheln nicht, biedern sich nicht an. Wer sich nicht einlässt, bleibt draussen, ausgesperrt.

Das 14. Lyrikfestival vom 15. bis 17. September im Eisenwerk Frauenfeld bot Gelegenheit, in verschiedenen Kombinationen und Settings, sich mit den Werken der eingeladenen Künstler auseinanderzusetzen. In Portionen, die es möglich machten, die nicht zudeckten und überhäuften. Denn in kaum einer anderen Kunstrichtung ist Nähe besser und intensiver spürbar, wie bei der unmittelbar vorgetragenen Dichtung.

Zum Beispiel die 1973 in Frankfurt geborene und in Zürich wohnende Svenja Herrmann mit ihren Gedichten aus den Büchern «Ausschwärmen» und «Die Ankunft der Bäume». Svenja Herrmann schweift mit ihrem inneren Auge, überzeugt mit starken Bildern, erzählt fast ohne Abstraktion, dafür mit leisen, zarten Verschiebungen im Blick, der Wahrnehmung. Ihre Gedichte sind voller Emotionen, so stark, dass die Dichterin selbst beim Vortagen mit ihnen zu ringen hat. Es sind vielschichtige Bilder, helle und dunkle Gedichte, engagiert und stark, voll vom Schmerz über das Vergehen.

Zum Beispiel die 1959 in Split geborene Dragica Rajčić, die 1991, nach Ausbruch des Krieges in Ex-Jugoslawien, mit ihren Kindern in die Schweiz flüchtete, aber schon seit 1972 schreibt. Unter anderem Gedichte über einen fast vergessenen Krieg, von dem ich damals auf dem Sofa im Wohnzimmer mithörte, der Dichterin in der Seele ein Trümmerfeld hinterliess. Ein Friedhof von Gefühlen, Geschichten und Gesichtern, die selbst im ausgesprochenen Schmerz nicht schwächer zu werden scheinen. Ihre Gedichte sind voller Sehnsüchte nach Vergangenem und Vergessenem.

Zum Beispiel Thilo Krause, der, 1977 in Dresden geboren, 2012 den Schweizer Literaturpreis erhielt für sein Debüt «Und das ist alles genug» (poetenladen Verlag). Sein auch in seiner äusseren Form wunderbares Buch «Um Dinge ganz zu lassen» ist ein Gedichtband der Erinnerungen. Erinnerungen an die Kindheit, eine Stadt, an die Frisöse im Erdgeschoss seiner Eltern, an Friedhöfe oder an die Elbe. Geschichten in Gedichten mit vielen Leerstellen, Klangbilder in vollendeter Sprache.

Auf dem schwarzen T-shirt des ukrainischen Dichters und Schriftstellers Serhij Zhadan stand neben der Illustration eines offenen Kopfes «read the best mind of my generation»! Eine Aufforderung! Und wer die Romane und Gedichte von Serhij Zhadan liest, dessen Roman «Die Erfindung des Jazz im Donbass» von der BBC zum Buch des Jahrzehnts erkührt wurde, erahnt, wie viel Zündstoff im Engagement eines Dichters liegen kann. »Schlimm ist es zu sehen, wie Geschichte entsteht.« Serhij Zhadan beschreibt, was mit ihm auf seinen Reisen ins ostukrainische Kriegsgebiet passiert. Lyrische Momentaufnahmen, Kürzestgeschichten über Menschen, die plötzlich auf zwei verfeindeten Seiten stehen oder nicht mehr wissen, wo sie hingehören und was aus ihnen werden soll. Serhij Zhadan las ukrainisch aus seinem aktuellen Roman «Mesopotanien», einem Roman, der zwischendurch immer wieder mit lyrische Stimme erzählt. Vorgetragen wurde der deutsche Text von der Schriftstellerkollegin Esther Kinsky.

Ein Reigen der Kostbarkeiten, angerichtet von Anna Kulp (Organisation Internationales Literaturfestival Leukerbad, Poetische Schweiz) und getragen von der Kulturstiftung des Kantons Thurgau. Vielen Dank!

Jess Jochimsen «Abschlussball», dtv

Marten, noch jung und doch schon alt, ist Musiker, Friedhofstrompeter im Anzug für Musik am Abgrund. Friedhofsmusiker nicht aus Berufung, mehr weil er einfach dort hingespült wurde. An den einzigen Ort, der dann doch beweist, das alle Menschen gleich sind. An jenen Ort, an dem mit einem Mal alle Bewegung gebremst wird.

Vielleicht war es der Zufall, dass Marten eines Tages am Grab eines ehemaligen Klassenkameraden spielen sollte. Vielleicht genauso ein Zufall, dass Sonia immer wieder auf dem Friedhof auftaucht. Eine jener Sonderbaren, die auf dem Friedhof nicht die ewige, so doch die vorläufige Ruhe suchen. Auch Sonia war einst aus der selben Klasse. Bis Klassenkamerad Wilhelm eines Tages verschwand, untertauchte und nun, Jahre später, als Leichnam zurückkehrt. Marten findet die Bankkarte seines verstorbenen Klassenkameraden Wilhelm. Eine Spur, die ihn dorthin zurückbringen soll, wo Wilhelm und sein Leben zu knicken begannen.

Jess Jochimsen beschreibt das Leben eines Sonderlings, der schon mit zwölf Jahren vor Erschöpfung zu kapitulieren droht und noch vor dem Abitur die ersten grauen Haare bekommt. Martens Mutter verunglückt tödlich. Der Grossvater unter dem gleichen Dach wird vom Krebs weggefressen. Sein Vater verliert die Arbeit und tröstet sich mit dem Fernsehprogramm. Und Martens Bruder stürzt sich in die Welt des Zwielichts. Bloss Martens Schwester scheint die einzige, die den Boden unter den Füssen nicht verliert. All das ist viel und nicht unbedingt das, was Erfolg verspricht. Marten beginnt eine Lehre in der Stadtbibliothek, versucht sich in einem beschaulichen Leben oder zumindest dem, was er sich darunter vorstellt. Nur die Trompete gibt seinem Leben eine Stimme, eine unüberhörbare, selbst dann, wenn er auf dem Friedhof für die Toten und viel mehr für die Hinterbliebenen spielt.

Die Beschreibungen darüber, wie Marten zu einem Sonderling wird und wie er sich in seinem Tun und Lassen eines solchen eingräbt oder auch vergisst, ist höchst amüsant zu lesen. Wie leicht vergisst man! Jeder sucht seinen Platz, im Leben, in der Gesellschaft. Dass diese Suche mitunter erfolglos sein kann, vergisst jener, der am Sonntag auf der Hollywoodschaukel ein Buch lesen kann, allzu leicht. Marten taucht, ziemlich tief. Obwohl er tapfer das Leben eines Jugendlichen und Erwachsenen zu führen versucht. Erstaunlich genug, dass ein Entertainer, Tausendsassa und TV-Mann wie Jess Jochimsen einem stillen Eigenbrötler so nahe kommen kann wie in diesem Roman. Marten wird zum Sonderling, weil ihm das Talent zur Anpassung an Modeströmungen fehlt. Irgendwann kollabiert das System Marten. Und nur mit Hilfe seiner Trompete, der Musik, eines Buches mit dem Titel «Eine unvollständige Geschichte der Begräbnisvioline» (ein real existierendes Buch!) und der Bankkarte seines ehemaligen Klassenkameraden macht sich Marten auf den verschlungenen Weg zurück in sein Leben.

Der Roman ist nur schon deshalb lesenswert, weil nicht nur Martens Geschichte erzählt wird, sondern Geschichten von all jenen Sonderlingen um ihn herum, die sich im Soziotop Friedhof bewegen; Sebastian, der Geiger in Gehrock und Zylinder, Jensen, der Paternostermacher oder Berger, der unter seinen angestellten Friedhofsmusikern immer wieder einmal einen «Abschlussball» organisiert. Aber eben ein ganz anderes Fest als jenes, nachdem Martens Schulkamerad Wilhelm, den man nun mit viel Pomp zu Grabe trägt und eigentlich doch ein Gescheiterter war, in die Zukunft abtauchte.

Fünf Fragen an Jess Jochimsen

Ihr Roman ist die Geschichte eines Sonderlings. «Abschlussball» ist die Geschichte eines jungen Mannes, für den es auf dieser Welt keinen Platz zu geben scheint. Das Leben eines erfolgreichen Kabarettisten, Künstlers und «TV-Menschen» scheint wenig Schnittflächen mit dem eines Sonderlings zu haben. Trotzdem machen sie einen solchen zu ihrem Helden. Wie viel Sonderling steckt in ihnen?
O, das täuscht, „erfolgreich“ ist doch sehr relativ und so selten wie ich im Fernsehen auftreten darf, bin ich doch weit weg vom Leben eines „TV-Menschen“. Die überwiegende Zeit verbringe ich ziemlich zurückgezogen und mit dem Feilen an den Geschichten beschäftigt, die ich erzählen will. Kurz: Ich fürchte, in mir steckt mehr „Sonderling“ als mir lieb ist.

Ein wichtiger Schauplatz in ihrem Roman «Abschlussball» ist einer der Friedhöfe Münchens. Friedhöfe sind besondere Ort. Solche in grossen Städten sowieso. Nach der Lektüre ihres Romans habe ich geschworen, bei meiner nächsten Reise in eine grosse Stadt deren Friedhöfe zu besuchen. Wie kam es zu ihrer «Faszination Friedhof»?
Diese Faszination habe ich schon lange. Warum, kann ich gar nicht mit Bestimmtheit sagen. Ich fand schon als Kind, dass Friedhöfe spannende und „gute“ Orte sind, war dort oft, um meinen früh verstorbenen Großvater „zu besuchen“ und gehe auch heute noch oft dorthin. Einfach so. Es herrscht eine schöne Mischung aus Ruhe und Geschäftigkeit, die Pflanzenpracht und der Vogelbestand sind eine Wucht … und mal ganz abgesehen davon, bin ich überzeugt: So wie wir trauern, leben wir auch.

Eine wichtige Nebenrolle in ihrem Roman spielt das Buch von Rohan Kriwaczek «Eine unvollständige Geschichte der Begräbnisvioline». Damals, als ich das Buch kaufte, weil ich nur schon vom Titel fasziniert war, erlosch die Begeisterung schnell wieder. Ganz offensichtlich muss die Begeisterung für Musik und im Speziellen für Begräbnismusik bei ihnen gross sein. Wo liegt der Ursprung?
Mir ging es anfangs ähnlich. Ich kam mit dem akademischen Stil Kriwaczeks erst gar nicht zurecht … aber mir war von Anfang an klar, dass dieses Buch der Schlüssel zu einer Geschichte ist. Was die Musik angeht: Ich mache Musik, ich höre Musik, ich wäre gerne Profi-Musiker geworden. Musik ist – neben Fußball – eine der beiden Sprachen, die man wirklich überall auf der Welt versteht … Auf den Punkt gebracht: Bei mir ist Musik nicht nur Begeisterung, es ist Liebe!

Marten fällt es schwer, seinen Platz im Gefüge, in der Gesellschaft zu finden. Ihr Roman ist eine Liebeserklärung an alle Sonderlinge, von denen es immer weniger zu geben scheint. Oder sind sie nur gut versteckt oder gar versorgt in Institutionen?
Ja. Eine Liebeserklärung an die Sonderlinge, an die Menschen, die nicht überall mitmachen und dabei sein müssen, an die, die verschlungenste Wege gehen. Ich weiß es nicht, ob es weniger von ihnen gibt als früher oder ob sie besser versteckt sind, mag sein. Kein Grund, nicht von ihnen zu erzählen. Oder anders formuliert: Vielleicht kann man sie nicht immer finden, aber „er“finden schon.

Sie sind ein vorzüglicher Beobachter mit einem speziell geschulten Auge. Das beweisen nicht nur ihr Roman, sondern auch ihre Fotos und die feinen Pointen in ihren Bühnenprogrammen. Ist es die Aufgabe des Künstlers und Konsumenten ein Auge zu sein?
Ich bin überzeugt davon, dass Kunst immer sehr viel mit Beobachten zu tun hat. Hinschauen, hinschauen, immer wieder hinschauen. Ob das meine Aufgabe ist? Keine Ahnung. Ich bin neugierig. Und ich staune gern. Und spinne an diesen Beobachtungen weiter …

Vielen Dank für das Interview!

Jess Jochimsen, 1970 in München geboren, studierte Germanistik, Politikwissenschaft und Philosophie und lebt als Autor und Kabarettist in Freiburg. Seit 1992 tritt er auf allen bekannten deutschsprachigen Bühnen auf. Seit 2006 ist er Gastgeber der ›SWR-Poetennächte‹. In seiner Freizeit fotografiert er traurige Dinge, um diese dann als Dias vorzuführen oder Bücher damit zu bebildern. Bei dtv erschien 2000 sein Debüt ›Das Dosenmilch-Trauma‹. Es folgten ›Flaschendrehen‹ (Erzählungen), ›DanebenLeben‹ (Bildband), ›Was sollen die Leute denken‹ (Monolog), ›Krieg ich schulfrei, wenn du stirbst?‹ (Erzählungen), ›Liebespaare bitte hier küssen‹ (Bildband) sowie der Roman ›Bellboy‹, der Christian Lerch zu seinem Kinofilm ›Was weg is´, is› weg‹ inspirierte. Seine CDs erscheinen bei WortArt.

Titelfoto © jess jochimsen

Annette Mingels «Was alles war», Knaus

Susa weiss seit ihrer Kindheit, dass sie adoptiert wurde. Ein Problem wurde daraus nie, höchstens eine abenteuerliche Vorstellung darüber, was dies alles bedeuten könnte. Bis ein Brief von ihrer leiblichen Mutter eintrifft, sie werde da sein, ob es ihr passe. Mit einem Mal öffnet sich für Susa eine Tür, von der sie nicht weiss, was sich dahinter verbirgt.

Susa ist Wissenschafterin, beobachtet das Leben unter der Erde, Würmer. Sie lernt Henryk kennen mit seinen zwei Töchtern Rena und Paula. Rena und Paula haben ihre Mutter durch Krebs verloren. Während sich Susa langsam in Henryks Familie begibt und nicht nur von ihm Liebe geschenkt bekommt, trifft sie zum ersten Mal ihre leibliche Mutter Viola. Susa erfährt, dass sie eine Halbschwester und zwei Halbbrüder hat, sogar einen leiblichen Vater, der noch leben dürfte, seinen Namen und von einem Brief, ein altes Stück Papier, damals ein Versuch jenes Mannes, Violas Liebe zurückzugewinnen. Aber Susa hat ihre Familie; einen Vater, eine Mutter und eine Schwester. Eine Familie, in der sie sich ein Leben lang geborgen und aufgehoben, verstanden und geliebt wusste. Nichts müsste dazukommen, schon gar nicht ersetzt werden.

Was alles war von Annette Mingels

Susa spürt den Sog dieser einen offenen Tür, die Lust nachzusehen, was diese Tür verbirgt, was Susa gewinnen könnte. Zum einen Antworten auf viele Fragen, die sich jedes adopierte Kind auch als Erwachsener stellt. Zum andern, weil es Familie ist. Familie, dieses komplexe Etwas, das einem genauso auffangen wie an den Abgrund drängen kann. Annette Mingels lotet aus, was Familie ist, was sie ausmacht. Die Autorin zeigt, was Familie auslösen und anrichten kann. Wie viel Sehnsucht in diesem Gefüge steckt, selbst dann, wenn man sich in seinem «Zuhause» aufgehoben fühlt. Die Situation spitzt sich zu, als Susa, nun mit Henryk (und seinen beiden Töchtern) verheiratet, ein Kind bekommt. Als zur angeheirateten und einer Familie «hinter der Tür» eine eigene Familie dazukommt. All diese Familien, miteinander verzahnt, beginnen untereinander zu wirken. Susa kämpft sich durch diesen verwirrenden Alltag, der durch ihre egozentrische, leibliche Mutter, nicht leichter wird. Schon gar nicht, als ihr Stiefvater, jener Mann, der für sie immer ganz Vater war, zu sterben beginnt.

In einem Interview erzählte Annette Mingels, dass vieles von «Was alles war» aus ihrem eigenen Leben stammt. So der Umstand, dass auch sie ganz jung adoptiert wurde und dass sie mit diesem Buch ihre Familienerfahrungen und den Tod des Stiefvaters mit hineinnimmt. Das spüre ich in dem Roman, der an der Nähe zu den Protagonisten fast zu zerschellen droht. Der Roman nimmt ungeheuer viel mit. Einzelne Handlungsstränge, die im Roman nur «Nebenschauplätze» sind, hätten genügt, um Stoff für einen Roman selbst zu sein. So ist es auch die Geschichte von Susa und Henryk. Beide berufstätig, jeder darum bemüht, sich nicht aufzugeben. «Was alles war» ist auch ein «Entdeckerroman». Susa macht sich auf in ein unbekanntes Land, z. B. zu ihrem Bruder Samuel, den sie trifft und zu dem sie sich, obwohl sie ihn nicht kennt, geschwisterlich hingezogen fühlt. Eine Reise, die sie letztlich bis nach Amerika führt.

Ein Buch über Annäherung und Konfrontation. Annäherung an neue Konstellationen, an fremdes Leben, mit dem man sich trotzdem unerklärlich verbunden fühlt. Annäherung an sich selbst und diesen unstillbaren Hunger nach Familie. Konfrontation mit einer unbekannten Mutter, einem bunten Vogel, einer unbekannten Familie, ihrer Vergangenheit und möglichen Zukunft. Konfrontation mit neuem Leben und mit dem Tod – und letztlich mit sich selbst. Ob man (be)stehen bleibt oder ob all der Realitäten einbricht.

Annette Mingels macht es mir nicht leicht. Ihr Schreiben ist weit weg vom chronologischen Protokollieren einer Fahrt ins Unbekannte, auch wenn ein Teil des Buches wie ein Tagebuch geschrieben ist. Annette Mingels belohnt mich mit Tiefe, Witz und Humor.

Annette Mingels liest aus ihrem Roman «Was alles war» am 22. September im Bodman-Haus, dem kleinen, feinen Literaturhaus in Gottlieben am Seerhein, unweit von Konstanz. Ich bin gespannt, ob sich auch männliche Leser trauen. Familie ist keine Frauensache!

Geboren 1971 in Köln. Studium der Germanistik, Linguistik und Soziologie in Frankfurt, Köln, Bern und Fribourg. Promotion in Germanistik. Von 1997 bis 2009 lebte Annette Mingels in der Schweiz, danach für zwei Jahre in Montclair (USA). Seit 2011 lebt sie mit ihrem Mann und den drei Kindern in Hamburg.

Webseite der Autorin

Titelfoto: Sandra Kottonau

 

Linda Boström Knausgård «Willkommen in Amerika», Schöffling & Co.

Die elfjährige Ellen spricht nicht mehr. Ihr Vater ist tot. Und weil es jene Momente gab, in denen sich Ellen den Tod ihres Vaters wünschte, schweigt sie. Sie hatte begonnen, dafür zu Gott zu beten. Jetzt schweigt sie, um der Gewalt des Schicksals Widerstand zu leisten. Linda Boström Knausgårds schmaler Roman über die grossen Katastrophen einer Kindheit ist poetisch, dicht und unsäglich einfühlsam.

Eine Welt, die mit elf noch von Liebe und Ordnung getragen sein sollte, ist für das Mädchen Ellen zerbrochen. Und weil sie sich selbst dafür verantwortlich macht, ist der Teufelkreis, in den sie sich stetig eingräbt, eine tiefe Grube, in der sie sich zu verlieren droht.

Während ihr grosser Bruder den Tod des Vaters wie eine Selbstverständlichkeit aufgenommen zu haben scheint, hüllt Ellen sich immer zwanghafter ins Schweigen, zerfressen von Schuldgefühlen. Die Mutter hatte ein erfolgreiches Leben als Schauspielerin und Lehrerin begonnen. Das Leben des Vaters dagegen brennt mit seinen Träumen nieder, unaufhaltsam, obwohl es einst als Ingenieur so vielversprechend begonnen hatte. Aber nachdem die junge Familie aus dem Norden in die Hauptstadt zog, weil sich dort der Erfolg der Mutter beim Theater abzeichnete, der Vater aber sein bisheriges Leben aufgeben musste, begann der stetige Niedergang des Vaters. Irgandwann wurden die Steitereien derart heftig, so zerstörerisch, dass es zur Scheidung kam. Eine, die es für den Vater nicht gab. Und weil Ellen ihre Mutter vor den Gewaltausbrüchen des Vaters nicht schützen konnte, begann Ellen Gott um finale Hilfe, um den Tod ihres Vaters zu bitten. Eine Bitte, die Tatsache wurde.

«Willkommen in Amerika» ist ein Roman über die Verbliebenen. Ein Mädchen, das sich im Schweigen versteckt. Eine Mutter, die unter Tränen erklärt, man sei doch immer eine «helle Familie» gewesen. Ein Bruder, der sich in seinem Zimmer wie Ellen in ihrem Schweigen verbarrikadiert. Einst war alles ganz anders, die Familie tatsächlich hell. Doch die Gegenwart schob sich wie eine dunkle, nicht enden wollende Gewitterfront über das Geviert. Und nachdem die Blitze eingeschlagen hatten, der Vater als Toter in einer Wohnung weit weg liegen blieb, sich die Katastrophen aneinandergereiht hatten, blieben Versehrte zurück. Der ältere Bruder, Verbündeter und Fremder zugleich, etwas wie die Verbindung zu einer verlorenen Wirklichkeit und trotzdem jemand, der ihr den Zutritt zu verwehren schien. Kein Knabe mehr, aber auch kein Mann. Jemand, der genauso wie sie mit dem Verlust des Vaters schon lange vor seinem Tod zu kämpfen hatte. Eine Mutter, die in den Trümmern ihrer Familie zu verzweifeln droht. Sie nimmt das Schweigen ihrer Tochter ebenso als Strafe, Pein, wie als Selbstverständlichkeit hin. Ein Mädchen, dass sich mit ihrem Schweigen vom Geschehen distanziert und wegschliesst, um dann doppelt zu leiden, am Schmerz und an der Ausgeschlossenheit. Typisch Adoleszenz; Leiden als intesive Form des Lebens.

Linda Boström Knausgårds Roman ist die Beschreibung eines unausweichlichen Zustands. Von Gefühlen, an die sich jede Leserin und jeder Leser erinnern kann. Linda Boström Knausgård schreibt rückblendend über genau jene Wende- und Scheitelpunkte im Leben, die darüber entscheiden, wie man sich im Leben als Erwachsener bewegt, wie sehr man zum Knecht seiner selbst wird. Linda Boström Knausgårds Sprache ist schlicht und dicht, kraftvoll und markig. Wieder so ein Buch, das man mit einem Bleistift hinter dem Ohr liest. Linda Boström Knausgård taucht nicht ab, aber ein. Wie undurchsichtig das Leben Erwachsener ist aus der Sicht einer Elfjährigen! Wie katastrophal, wenn sich eine Elfjährige in der Konfrontation mit dem Leben der Erwachsenen alleingelassen, sich selbst überlassen fühlt. Der Roman «Willkommen in Amerika» ist ein Augen- und Ohrenöffner!

Und für all jene wie mich, die den Hype um die Bücher ihres Mannes nur schwer nachvollziehen können, ein echter Grund Knausgård zu lesen!

Linda Boström Knausgård, geboren 1972 als Tochter einer Schauspielerin, ist Autorin von Gedichten, Erzählungen und Romanen und lebt in Schweden. Mit dem norwegischen Autor Karl Ove Knausgård hat sie vier Kinder. Für ihr Werk, das in mehrere Sprachen übersetzt ist, erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen. «Willkommen in Amerika» wurde von der schwedischen Kritik begeistert aufgenommen und war u. a. für den renommierten Augustpriset nominiert.

Verena Reichel, die Übersetzerin, ist zweisprachig in Stockholm und Süddeutschland aufgewachsen und lebt in München. Sie hat Romane, Lyrik und Theaterstücke übersetzt, u. a. von Ingmar Bergman, Katarina Frostenson, Lars Gustafsson und Henning Mankell. Für ihre Übersetzungen erhielt sie zahlreiche Preise, darunter den Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreis, den Johann-Heinrich-Voß-Preis und den Preis der Schwedischen Akademie.

Titelfoto: Sandra Kottonau

In eigener Sache: Der 14. September ist der letzte Tag, an dem man auf buchblog-award.de abstimmen kann, damit literaturblatt.ch vielleicht den Sprung auf die Shortlist schafft. Ich danke all jenen, die für literaturblatt.ch gestimmt haben. Ich verneige mich.

Letzte Gelegenheit zum Abstimmen! 1. Buchblog Award

Liebe Bücherfreunde,

vielen Dank für all die positiven Stimmen und Rückmeldungen zu meiner Bewerbung für diesen 1. Buchblog Award. Auch wenn in der ersten Runde bloss die Klicks zählen und damit die Vernetzung eines Bloggers, waren es die Zusprüche und Komplimente, die mir Schub verleihen. Und doch gab und gibt es gute Gründe, an dieser «Ausscheidung» teilzunehmen:

  1. Nie war das Stöbern in fremden Blogs einfacher als hier. Nie konnte man besser in die Vielfalt dieser Welt hineinschauen. Nie war mein Staunen grösser darüber, wie vielfältig diese Landschaft ist.
  2. Ich glaube, dass sich Verleger und Autoren (Natürlich gilt die Bezeichnung immer auch für die weibliche Form!) erst jetzt wirklich bewusst geworden sind, wie wichtig Literaturblogger in einer digitalen Welt, in der man seine Infos unmittelbar aus dem Netz holt, werden können. Trotzdem scheint mir die Rolle eines Bochbloggers noch zu wenig klar zu sein. Buchblogger sind keine Rezensenten. Ich werde für mein Lesen und Schreiben nicht bezahlt. Will das auch nicht, weil ich es köstlich finde, unabhängig zu sein. Aber wenn mir ein Buch nach 50 Seiten nicht sein Gesicht zeigt, wenn es mich nicht einlässt, mich nicht umgarnt und umarmt, dann lass ich es liegen. Warum sollte ich mich mit Lektüre quälen. Ich bin ein Schatzsucher, der weiss, dass das, was er für glänzend schön hält, eine subjektive Beurteilung ist.
  3. Gleichzeitig wird bei einem Streifzug durch die Buchbloggerwelt auch klar, wie viel Luft es nach oben hat, wie viel Potenzial in dieser Nische liegt. Da nehme ich auch meinen eigenen Blog nicht davon aus: zu viele vermeidbare Fehler, zu viele ehrgeizige Ziele, die bei realistischer Betrachtung unerreichbar sind, kein Geld, um in Lektorat oder eine kleine Redaktion zu investieren, keine Möglichkeiten, Kulturbeiträge zu bekommen, weil die Nische noch zu jung ist…
  4. Buchblogs untereinander vernetzen sich kaum. Auch wenn das Gegenteil behauptet wird. Niemand will, dass andere von der eigenen Arbeit profitieren. Man hütet seine Schätze.
  5. Es ist der erste Award dieser Art, so weit ich weiss. Und wenn die guten Erfahrungen überwiegen, wird sich dieser Award entwickeln und bei anderer Gelegenheit, vielleicht auch bei Festivals, Nachahmer oder Ähnliches provozieren. Das ist gut so. Nicht nur die Lesegewohnheiten, die Literatur verändert sich. Auch die Art der Vermittlung. Und Blogger sind Kulturvermittler verschiedenster Qualität und Färbung.

Paulus Hochgatterer «Der Tag, an dem mein Grossvater ein Held war», Deuticke

Oktober 1944, irgendwo in Niederösterreich auf einem Bauernhof. Die Wellen des Krieges bewegen sich unaufhaltsam ihrem schrecklichen Ende zu. In den Augen mancher die Ruhe vor dem endgültigen Gegenschlag zum Endsieg. Wellen, die die Bauernfamilie nur insofern kümmern, dass Leo, der einzige Sohn, seit Monaten kein Lebenszeichen mehr von der Front gibt.

Bis ein Mädchen auf dem Hof erscheint, verwirrt und verstört, Nelli. Die Dreizehnjährige soll auf dem Hof in Pflege genommen werden. Was auf dem Hof in den letzten Kapiteln des Krieges passiert, davon erzählt Nelli, die nicht weiss, ob sie wirklich so heisst. Sie erzählt, wie die Dramatik des zu Ende gehenden Krieges über den Hof hineinbricht. Ein Gefüge, dass sich nicht um Politik, Rassenfrage, Feigheit vor dem Feind oder Entartung kümmerte. Das Mädchen bekommt von Lorenz, dem Bruder des Bauern, einem «spinnerten Bauernknecht», der sich mehr für Bücher als für die Scholle und das Wetter interessiert, ein braunes Heft. Das Mädchen macht für jeden Tag einen Strich ins Heft und schreibt dort ihre Wahrheit, ihre Gegenwart, denn von ihrer Vergangenheit ist ihr nichts geblieben. Und weil der alte Lorenz sie immer mehr ins Vertrauen zieht und ihr jene drei Dinge zeigt, von denen Lorenz wissen muss, dass sie nicht verloren gehen, nennt Nelli ihn «Grossvater».
Dann, als schon einhundertsechsundvierzig Striche im Heft stehen, taucht auf dem Hof Michail auf, ein russischer Kriegsgefangener, der über Jahre Zwangsarbeiter war und in den Wirren des Endkampfes ausgehungert und müde auf dem Hof strandet, nichts bei sich, ausser einer eingerollten Leinwand, die er wie seinen Augapfel hütet, einem eingerollten Etwas, das sein Geheimnis bleiben soll. Michail ist eine willkommene Arbeitskraft auf dem Hof, auch wenn ihm niemand, ausser das Mädchen Nelli traut.
Um die Dramatik des Geschehens auf die Spitze zu treiben erscheinen am Tag vor Karfreitag drei Wehrmachtssoldaten auf dem Hof, von ihrer Truppe abgetrennt, quartieren sich in die Betten der Familie und verlangen von den katholischen Bauersleuten ausgerechnet am Karfreitag, ein Schwein aus ihrem Stall zu schlachten. Man wolle Braten und Knödel, und zwar gleich. Und als die Soldaten Michail den Prozess zu machen beginnen, schlägt der Krieg auch auf dem Hof ein.

Was Paulus Hochgatterer, den ich bislang nur von seinem hochgelobten Krimi «Die Süsse des Lebens» kannte, in einer eindrücklichen konstruieren Erzählung aufbaut, ist grosse Bühne im Kleinen. In eine Bauernfamilie mit lauter Mädchen im latenten Schmerz eines vermissten Bruders bricht der Krieg ein; ein Russe, ein in Feindesland Geflohener, ein malender Fatalist – und zwei müde Soldaten mit einem Leutnant, der selbst nach Ostern 1945 noch immer an den Endsieg glaubt, glauben muss. Und ein stilles, beobachtendes Mädchen, das durch den Krieg und seinen Schrecken die Vergangenheit und mit ihr ihre Familie verlor. Unspektakulär und mit virtuoser Eindringlichkeit zeichnet Paulus Hochgatterer den Krieg im Kleinen, aus der Sicht eines Mädchens, das die Welt zu verstehen versucht. Dass Paulus Hochgatterer Kinderpsychologe ist, erklärt das Wissen um die Innenwelten verletzter Kinder, sein Talent aber ist die Tiefe dieser Perspektive. Paulus Hochgatterer erzählt ohne Erklärung, ohne Deutung, gibt der Szenerie etwas Naives, ohne ihr den Ernst und die Dramatik zu nehmen. Auch wenn es bloss 110 Seiten Lesevergnügen sind, steckt in der Erzählung «Der Tag, an dem mein Grossvater ein Held war» alles, was das Leben zu finaler Dramatik peitscht.

Paulus Hochgatterer, geboren 1961 in Amstetten/Niederösterreich, lebt als Schriftsteller und Kinderpsychiater in Wien. Er erhielt diverse Preise und Auszeichnungen, zuletzt den Österreichischen Kunstpreis 2010. Bei Deuticke erschienen bisher: «Über die Chirurgie» (Roman, 1993, Neuauflage 2005), «Die Nystensche Regel» (Erzählungen, 1995), «Wildwasser» (Erzählung, 1997), «Caretta caretta» (Roman, 1999), «Über Raben» (Roman, 2002), «Eine kurze Geschichte vom Fliegenfischen» (Erzählung, 2003), «Die Süße des Lebens» (Roman, 2006), «Das Matratzenhaus» (Roman, 2010) und «Katzen, Körper, Krieg der Knöpfe. Eine Poetik der Kindheit» (2012).