Thomas Korsgaard «Stadt», Kanon Verlag – ein Keil aus dem Norden (1)

Thomas Korsgaard gilt als eine Art wildes Wunderkind der jungen dänischen Literatur. Was entschieden an seiner autofiktionalen Familientrilogie liegt. Ein Sprung in den zweiten Band: „Stadt“, so der schnörkellose wie passende deutsche Titel.

Nix mit Hygge
Gastrezension von Frank Keil

Ob das eine gute Idee ist, das Wohnzimmer schwarz zu streichen? Wäre nicht ein simples weiß oder vielleicht ein helles blau passender und besser? Selbst an ein zunächst aufdringliches flieder-lila könnte man sich gewöhnen oder an ein ländliches grün. Aber schwarz? Nur schwarz …

Da muss man schon über einen besonderen Humor verfügen.

Oder man hat ernsthafte Probleme, wie Tues Mutter, die mal artig ihre Tabletten nimmt, nachdem sie aufgestanden ist, die Pillen gegen Migräne, später die, um besser zu schlafen zu können oder die anderen, die sie in der Familie ‚die Glückspillen‘ nennen und die sie immer mal wieder absetzt, um bald darauf tagelang im Bett gefangen zu liegen, einerseits. Andererseits waren die zwei Eimer schwarzer Farbe in dem Geschäft in der Stadt nun wirklich günstig.
Und sie fangen an zu malern, Mutter und Sohn, sie legen den Fußboden mit alten Werbeprospekten aus, sollten sie kleckern, müssen sie nichts wegwischen, das ist doch praktisch gedacht, sie streiten sich bald, um Geld geht es nebenher, doch mehr darum, das Tue doch gestört ist, so wie Tue findet, dass seine Mutter gestört sei, draussen an der Fahnenstange hängt statt des obligatorischen rot-weissen Danebrog ein Gartenstuhl aus Plastik.

Wir sind nicht in Kopenhagen (in einem der angesagten, einst proletarisch-kleinbürgerlichen und nun gentrifizierten und damit unbezahlbaren Vierteln oder am Rande der Stadt, wo sie langsam ins Gesichtslose ausläuft). Wir sind auch nicht in Aarhus. Nicht mal in Odense sind wir oder in Aalborg oder in Esbjerg, wo der Hund seit langem begraben ist. Wir sind auf dem Lande, abseits von allem, wir sind in der Provinz, wo sich die Schweineställe aneinanderreihen, wie man weithin riecht, besonders in der Nacht; wo der Regen von der Seite her weht und das tagelang, wo morgens und mittags der Schulbus fährt, und dann war es das. Also hat man ein Auto, irgendeine Blechkiste, die doch anspringt, wenn man ihr gut zu redet, was manchmal Zeit braucht, die man hat. Der Tag zerrinnt einem ohnehin zwischen den Fingern.
Es wird überhaupt viel Auto-gefahren in diesen Romanen, das Auto ist ein eigener Ort, ein Rückzugsparadies: Tues Mutter etwa fährt manchmal scheinbar kopflos durch die Gegend, Kilometer für Kilometer und beruhigt sich dabei oder versucht es wenigstens und schon das zählt; ins Auto flüchtet man, wenn man nicht weiterweiss vor Streit und vor Verzweiflung und vor Hoffnungslosigkeit, und selbstverständlich wird in diesen Autos geraucht. Warum denn auch nicht.

Thomas Korsgaard „Stadt“, Kanon Verlag, 2025, aus dem Dänischen von Justus Carl und Kerstin Schöps, 280 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-98568-141-9

Wer hier aufwächst und wer hier ist, wo Tue mit seinen Eltern lebt und seinem jüngeren Bruder Morten und der noch jüngeren Schwester Nina, auf einem heruntergekommenen Hof, den sich kaum zu bewirtschaften lohnt, der will – weg. Und das möglichst früh und dann möglichst schnell, eher vorgestern, denn übermorgen will er seine ohnehin wenigen Sachen gepackt haben und sein Glück woanders suchen und daher finden, in der nächsten Stadt, wo sonst.
Erst recht, wenn man als junger Kerl merkt, dass Mädchen ganz okay sind, manchmal mehr als das (Tues bester Freund ist eine Freundin, Iben heißt sie, sie kennen sich seit der Schule, und sie werden viel zusammen erleben, weil sie sich aufeinander verlassen können), aber dass es nicht um sie geht, am Ende, lässt sich schließlich nicht mehr ausblenden, um es mal so zu umschreiben. Was Tues robust-brachialer Vater (der die Zeitung Buchstabe für Buchstabe liest, den Zeigefinger auf der Zeile) besser nicht wissen sollte und der doch ahnt, was er nicht wahrhaben will.

Als Thomas Korsgaard mit zarten 21 Lebensjahren mit dem ersten Band seiner Familientrilogie die literarische Bühne seines Heimatlandes Dänemark betrat, ging ein Raunen durch dessen Feuilletons. Das sich nicht legte, als Band zwei erschien und dann Band drei. Die im ersten Schwung verkaufte Auflage: 300.000 Exemplare. Das ist für ein Land mit knapp sechs Millionen Einwohnern keine kleine Nummer; dazu gesellten sich literarische Auszeichnungen. Was besonders gefiel: wie aufrichtig schonungslos und zugleich emphatisch ehrlich Korsgaard ein Familienleben weit abseits der gediegenen, wohlreflektierten (nicht nur) dänischen Mittelschicht schilderte, was einem vielleicht nur als jungem und entsprechend unbefangenen Autoren gelingt; wo also die Fliehkräfte der Relativierungen und der Erklärungen mit ihrem Rechtfertigungsgehalt noch nicht greifen. Stattdessen ist hier nix hyggelig. Hier wird es auch nicht gemütlich. Hier wird es schwer, sich seiner Haut zu erwehren und zugleich seine Herkunft nicht leichtfertig zu verraten (man hat ja keine andere, woher sollte die auch kommen), und mit Gelassenheit kommt man schon gar nicht weit.
Und so führt „Stadt“ (der dänische Titel lautet ‚En dag vil grine af det‘, also ‚Eines Tages werden wir darüber lachen‘) uns in die Zwischenwelt des Helden Tue, der längst kein Kind mehr ist, aber für den der Weg in eine aufbauende Schule, möglicherweise weiterführend zu einem Studium noch Langstrecke bedeutet.

„Stadt“ vorausgegangen ist „Hof“, auch dies ein Deutsch prägnant-verkürzter Titel (im Dänischen heißt es etwas gelassener ‚Hvis der skulle komme et menneske forbi‘, also ‚Falls da ein Mensch vorbekommen sollte‘), wo wir Tue kennenlernen, wo wir eintauchen in seine Welt. Wie es wohl wäre, wenn der Vater morgen sterben würde, was für eine Rede würde sein noch so junger, gerade mal 12jähriger Sohn in der Kirche halten vor den Trauergästen (weisse, langstielige Lilien schmücken den Kirchenraum, der Leichenwagen des Bestatters ist unterwegs liegengeblieben, die Dänische Pannenhilfe hilft eben aus), nur mal ausgedacht, nur mal taggeträumt, in der Kirche eines Ortes namens Nørre Ørum, wo in der Ferne der Fernzug Hamburg – Kopenhagen vorbeifährt, einen „Vorort der Finsternis“, wie Tue es für sich beschreibt, so geht es los, so steigen wir ein und sind froh, von nun an dabeibleiben zu dürfen. Tag nach Tag, Woche für Woche, bis es in die Monate und dann Jahre geht, die spurenreich vorbeiziehen.

Und dieser Sog, er wird nicht aufhören. Was vor allem an der wunderbaren Erzählkunst von Thomas Korsgaard liegt (und an den Übersetzungskünsten seiner ÜbersetzerInnen) über den eigentlichen Stoff hinaus; an seiner Art, die scheinbar alltäglichen Erlebnisse vom Aufwachsen in einer – sagen wir mal – eher nicht so glücklichen Familie mit den grundsätzlichen Fragen von Herkunft, Selbstbestimmung und Identität zu verknüpfen und daraus eine eigene Welt des Großen wie Kleinen zu erschaffen, in die man sich hineinliest wie in einen Rausch. Was noch mal unterstützt wird durch die klare Erzählstruktur: kurze, knappe und aufeinander aufbauende und in sich geschlossene Kapitel reihen sich aneinander zu einem Reigen des familiären Stillstandes und der überraschenden Wendungen. 53 Kapitel sind es bei „Hof“, 67 Kapitel sind es bei „Stadt“.

Noch ein Kapitel lesen, denkt man sich, es ist ja nicht so lang; zwei, drei Seiten, auch mal fünf, sehr selten mehr. Und dann noch das nächste und das nächste Kapitel lesen, ach, das übernächste passt auch noch, man will ja auch ganz klassisch wissen, wie es weitergeht, was nun passiert, hat Tues Mutter wirklich einen Liebhaber oder was ist das für ein Mann, mit dem sie da ständig chattet und wird sie deswegen die Familie verlassen, was so unvorstellbar ist wie möglich, eine Rettung oder eine Katastrophe oder beides zugleich, und schon hat man die nächste Seite umgeschlagen, und fängt das nächste Kapitel an zu lesen.

Der dritte Band „Paradies“ ist in deutscher Übersetzung für das Jahr 2026 angekündigt. Und dann werden wir erfahren, wie es Tue in Kopenhagen ergehen wird, dort im Westen, im Stadtteil Valby, wo die Busse den ganzen Tag über fahren, auch am Abend, bis in die Nacht, man muss sich nur an eine Haltestelle stellen und dann kommt einer vorbei und nimmt einen mit.

Thomas Korsgaard «Hof»,Kanon Verlag, Berlin, 2024, ebenfalls von Justus Carl und Kerstin Schöps aus dem Dänischen übersetzt

Thomas Korsgaard, geb. 1995, schrieb seinen Debütroman «Hof» mit gerade mal 21 Jahren. Band 2 und 3 der Trilogie folgten wenige Jahre später. Seine Romane haben sich in Dänemark mehr als 300.000 Mal verkauft. Für seinen letzten Roman wurde Thomas Korsgaard mit dem Literaturpreis Goldene Lorbeer ausgezeichnet und ist damit der jüngste Preisträger aller Zeiten. Bei Kanon erscheinen Band 2 »Stadt« im Frühjahr 25 und Band 3 »Paradies« im Herbst 26.

Beitragsbild © Lis Kasper Bang

Paola Lopez «Die Summe unserer Teile», Tropen

Wir sind mehr als die Summe unserer Teile, müsste man der Autorin entgegenhalten, wenn der Titel nicht Programm und Provokation gleichzeitig wäre. Paola Lopez Debüt ist eine Familiensaga, die Geschichte dreier Generationen aus der Sicht ihrer Frauen. Ein Roman darüber, dass unser Leben immer auch auf ganz vielen Leerstellen gebaut ist. Eine Tatsache, die mit einem Mal alles aus scheinbarem Gleichgewicht bringen kann.

Grossmutter Lyudmiła war in Beirut angesehene Chemikerin, ihre Tochter Diara ist Kinderärztin in München und die Enkelin Lucy, Informatikstudentin in Berlin. Ihre Geschichten, die Geschichten ihrer Familie werden aus der Sicht dieser drei Frauen erzählt, starker Frauen, die alle in ihrem Leben, ihren Ansprüchen einer ordentlichen Portion Kompromislosigkeit „unterworfen“ sind.

Dreh- und Angelpunkt des Romans ist der Sommer 2014. Lucy hofft auf einen angenehmen Sommer und dass sie es endlich schafft, zusammen mit Phil, ihrer WG-Mitbewohnerin ihr Computerspiel fertigzustellen. Aber als sie nach Hause kommt, steht da ein schwarzer Steinway-Konzertflügel in ihrem Zimmer, ein glänzendes Ungetüm, das alles zu verdrängen scheint, zugeschickt von ihrer Mutter, mit der sie seit drei Jahren keinen Kontakt mehr hat. Mit einem Mal zwingt dieses Ungetüm Lucy, sich mit ihrer Familie auseinanderzusetzen, all dem Unausgesprochenen, den Geheimnissen, von denen sie Ahnungen mit sich herumträgt, die aber nie zu Gewissheiten wurden. So sehr der Konzertflügel das schwarze Loch in ihrer Familie symbolisiert, so sehr treibt dieser Flügel Lucy auf eine Reise, eine Reise in die Vergangenheit, eine Reise ins polnische Sopot, wohin ihre Grossmutter einst als zwölfjähriges Mädchen „abhaute“.

Ihr ganzes Leben hat sie in einem Raum verbracht, den zu kennen sie geglaubt hat. Und jetzt entdeckt sie eine geheime Tür, die die ganze Zeit über da gewesen ist.

Paola Lopez «Die Summe unserer Teile», Tropen, 2025, 256 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-608-50272-5

Grossmutter Lyudmiła stammt aus Polen und wollte nichts anderes werden als Chemikerin. Marie Curie war ihr grosses Vorbild. Nichts und niemand sollte diesem Ziel im Weg stehen. Der Krieg vertreibt sie aus ihrer Heimat. Lyudmiła wird in Beirut zu einer gefragten Wissenschaftlerin, heiratet einen Kollegen und ist wegen einer Schwangerschaft gezwungen, ihrem Mann nach Deutschland nachzureisen. Daria, ihre Tochter, wächst auf mit dem Gefühl, stets nur Nebensache zu sein, wird von einer Nanny grossgezogen und lässt die Beziehung zu ihrer Mutter erkalten. Als sie mit Lucy schwanger ist, schwört sie sich nicht nur selbst, dass sie ihre Tochter nicht in fremde Obhut geben werde. Ein Entschluss, den sie vor der dominanten Mutter immer und immer wieder verteidigen muss.

Lyudmiła wuchs in Polen auf, studierte in den USA und forschte in Beirut. Ihre Tochter eröffnet in München eine Gemeinschaftspraxis. Lucy, die Abkürzung von Lyudmiła, sagt von sich selbst, sie sei halb Deutsche, ein Viertel Libanesin, ein Viertel Polin. Alle drei Frauen erzählen ein Stück Leben, das von Unruhe geprägt ist, von der Unfähigkeit, die Geschichte der Familie von Generation zu Generation weiterzugeben, im Schweigen stecken zu bleiben, keine Sprache für die ganz eigene Vergangenheit zu finden – und sie nie teilen zu können.

Lucy lernt auf ihrem Tripp nach Sopot im Zug Władek kennen, einen jungen Mann der tagsüber sein Geld als Schaffner verdient und nachts Platten auflegt und Musik produziert. Lucy ist fasziniert und lässt sich nur zu gerne von dem jungen Mann aus der Reserve locken. Er ist der, der die Fragen stellt, die sie sich nicht einmal selbser zu stellen traut. Sie ruft dann doch ihre Mutter an. Und mit einem Mal ist Diara in der Stadt, dort, wo Lucy sie niemals erwartet hätte. Und es beginnt das, was Krusten aufreisst und Lucy ihre Familie zurückgibt.

Eine umfassende Grammatik der Familie bekommt man nicht geliefert. Man muss selber danach suchen und die unvollständigen Brocken, die man findet, zu einem Gesamtbild zusammenkratzen.

„Die Summe unserer Teile“ ist Familien- und Mutter-Tochtergeschichte. Geschickt verwoben drei vehemente Frauengeschichten, die sich auszuschliessen drohen, denen die Stimme zu versagen droht, wenn es um das geht, was die Ungleichung Familie ausmacht. Ein Buch darüber, dass der Versuch einer Gleichung nur aufgehen kann, wenn alle Variablen sichtbar sind. Ein Buch darüber, dass das Wohin erst sichtbar wird, wenn das Woher sich zeigt. Ein Roman, in dem sich Gegenwart und Vergangenheit auf raffinerte Weise ineinanderschieben.

Paola Lopez, geboren 1988 in Wien, ist Mathematikerin und promoviert interdisziplinär über Künstliche Intelligenz. Derzeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bremen und schreibt für den Merkur eine Kolumne zu KI. Für die Arbeit an ihrem Debütroman «Die Summe unserer Teile» wurde sie mit dem Theodor Körner Preis 2023 gefördert. Paola Lopez lebt in Berlin.

Beitragsbild © Schore Mehrdju 

Isabelle Flükiger «Gloria. Mohammed. Eine Erzählung von der dunklen Seite des Glücks», Rotpunkt

Gloria kommt aus Kamerun, Mohammed aus Marokko. Beide leben als Sans-Papiers in der Schweiz, sie als Nanny, er auf dem Bau. So wie Tausende in der Schweiz über Jahrzehnte illegal arbeiten, meist ohne Sozialversicherungen, in einer Schattenwelt. Isabelle Flükiger bricht in ihrer literarischen Reportage eine Lanze, wird zu einem Sprachrohr derer, die sich aus lauter Angst nicht trauen.

Isabelle Flükiger ist schockiert, als sie erfährt, dass eine ihrer Freundinnen eine „Sans-Papiers“ beschäftigt, die sich um ihre beiden Kinder kümmert. Die Schriftstellerin lernt die Frau aus Kamerun kennen, die damals seit 15 Jahren ohne gültige Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz lebte und arbeitete. 15 Jahre weit weg von einer Heimat, die ihr und ihrer Familie keine Überlebenschance ermöglicht, 15 Jahre weg von ihren Kindern, die bei ihrer Schwester aufwachsen, deren Leben sie aus der Schweiz finanziert. Hier Familien, die sich eine Nanny leisten können, um sich den Traum einer Familie zu verwirklichen. Dort eine Familie, die hinnehmen muss, dass sie fast ohne Perspektiven schutzlos in einer dunklen Nische der Gesellschaft diesem einen Traum anderer dienen muss.

Im Laufe ihrer Recherchen, auch der Auseinandersetzung mit Beamten, Ämtern, Paragraphen und Gesetzen, lernt Isabelle Flükiger auch Mohammed kennen. Mohammed ist 26, aus Marokko, und lebt bei ihrem ersten Zusammentreffen seit fünf Jahren in der Schweiz, arbeitet manchmal 14 Stungen pro Tag für 1000 Franken im Monat, bezahlt die Hälfte dafür für ein Bett in einer kläglichen Absteige und lebt in der permanenten Angst davor, im Gefängnis zu landen oder abgeschoben zu werden. Wehe ihnen, wenn ihnen etwas bei der Arbeit zustösst, wenn Unfall oder Krankheit das Funktionieren abbricht. Mohammed ist ein abgewiesener Asylbewerber. Einer, dem man ein weisses Stück Papier zusandte mit der Aufforderung, das Land zu verlassen, ohne gültige Ausweise, ohne Zukunft. Damals, als er seine Heimat verliess, stürzte sich seine ganze Familie in den Ruin, damit er sein Glück finden sollte, und mit ihm die ganze Familie.

Isabelle Flükiger «Gloria.Mohammed. Eine Erzählung von der dunklen Seite des Glücks», Rotpunkt, 2025, aus dem Französischen von Ruth Gantert, 168 Seiten, CHF ca. 28.00, ISBN 978-3-03973-053-7

Gloria ist gut in dem, was ihr aufgetragen wird. Kinder mögen sie. Sie selbst lebt in dem, was andere Freizeit nennen, in einer kleinen Wohnung in einem Quartier in einer Stadt, die sie nicht mag. Dient Erwachsenen, die ihr permanent unter die Nase binden, wie froh und dankbar sie sein muss, dass sie als Illegale eine so gut bezahlte Arbeit bekommt. Gloria sammelt in einem Ordner all die Korrespondenz, die als Kampfspur für ihre Rechte hinter ihr liegt. Rechte, die ihr nicht zuletzt von einem heuchlerischen System verweigert werden, einem System, das auf diese Arbeit angewiesen ist, eine Gesellschaft, die sich gnadenlos an diesen Arbeitskräften bedient und dabei auch noch glaubt, etwas Gutes zu tun. 

Ein Leben in der Schweiz, das jene, die weit unter dem Existenzminimum vegetieren müssen noch weiter in die Illigalität drängt. So wie Mohammed, den die Polizei auf einer Baustelle nach Kontrollen erwischt und mit auf den Posten nimmt. Die drei Mobiltelefone bei ihm findet und feststellt, dass eines davon gestohlen wurde. Mohammed, ausgebeutet von seinen Arbeitgebern, ausgebeutet von jenen, die ihm ein Bett vermieten, enttäuscht von einer erhofften Liebe, ausgerechnet die Tochter seines Chefs, von der Polizei gezwungen einen Kameraden zu verraten, um der Gefängniszelle zu entgehen, fürchtet sich vor jeder Spur, die er hinterlässt. Immer noch ein Widerhaken mehr, der in nicht aus seinem Schlamassel freilässt.

Was Isabelle Flükiger in eindrücklicher Weise gelingt, ist die Mischung aus empathischer Schilderung zweier Schicksale, ohne dabei allzu sehr in Emotionen zu rühren, und der schonungslosen Auflistung all jener Spielweisen bürokratischer und politischer Kräfte, die alles daran setzen, dass jenen gegeben wird, die bereits haben und all die goldenen Brunnen, die die Konten füllen munter weiter fliessen. Von einer Baubranche, die ihren Gewinn auf dem Rücken derer maximiert, die sich nicht zur Wehr setzen können und gezwungen sind, zu nehmen, was ihnen geboten wird. Von wohlhabenden Menschen, die sich mit ungeheuerlicher Arroganz und Gedankenlosigkeit am Glück anderer bedienen, um das eigene aufrecht zu halten. „Gloria.Mohammed. Eine Erzählung von der dunklen Seite des Glücks“ ist maximal ehrlich und macht tief betroffen.

Isabelle Flükiger wurde 1979 im westschweizerischen Freiburg geboren. Nach ihrem Studium der Politik- und Literaturwissenschaft und einem längeren Berlin-Aufenthalt lebt sie heute in Bern. Von ihren in der Romandie vielfach ausgezeichneten fünf Romanen liegt auf Deutsch Bestseller vor (Rotpunktverlag, 2013), dessen „Pfiffigkeit und Scharfsinn“ (NZZ) von der Presse einhellig gelobt wurde.

Ruth Gantert, 1967 in Zürich geboren, studierte Romanistik in Zürich, Paris und Pisa. Sie war Dozentin für französische Literatur an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen und arbeitet heute als Literaturvermittlerin, Übersetzerin und Redaktionsleiterin des dreisprachigen Jahrbuchs der Schweizer Literaturen Viceversa. Sie lebt in Zürich.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © zVg.

Helmut Blepp «Variationen über März», Plattform Gegenzauber

Variationen über März Ich habe mich selbst im Baum gekreuzigt. Danach bin ich zur Menschheit hinabgestiegen, um eine zu rauchen. Jede Passion braucht ihre Pausen. Ich widerstehe Erniedrigungsgewohnheiten, indem ich nicht widerstehe. Das verwirrt meine Feinde. Wird ein Doktor krank, dann geht er zum Professor. Wird ein Priester krank, dann geht er zum lieben Gott. Werde ich krank, dann habe ich nichts zu lachen. In der Mittagspause stehen wir gerne in der Sonne und rauchen. Wir machen Wölkchen mit unseren Zigaretten, und nachmittags regnet es dann. Die Kartoffelfeuer im Herbst habe ich geliebt. Sie waren voller Geschichten, und ich konnte mir heimlich wünschen, wer brennen sollte. Ich habe natürlich nichts wahr gewünscht. Mein Freund ist außerhalb der Klinik krank. Da hat er viel mehr Möglichkeiten, verrückt zu sein. Sonntags ist frei, deshalb eignet sich der Sonntag zum In-der-Wiese-Liegen. Wir sind gebadet und gekämmt und kichern, wenn dicke Mädchen vorübergehen. Sie verraten nicht, wohin sie gehen, aber sie geben Antwort. Wenn ich eine Zeit lang ganz stark über etwas nachdenke, werde ich meistens traurig wegen all der Dinge, über die ich jetzt nicht habe nachdenken können, obwohl sie es verdient hätten. Woran arbeiten Sie gerade? Kenne ich – Irrtümer? Nein, keine Irrtümer, nur Folgerichtigkeiten: Wenn ich beim Essen das dicke Küchenmädchen beobachte, werde ich folgerichtig hart. Beobachtet sie mich, kriege ich folgerichtig Angst. Wenn ich als Kind Fragen beschwieg, wurde ich folgerichtig geschlagen, wenn ich sie beantwortete, auch. Seither halte ich mich vage. Es gibt Gewächse, die in mir im Gewächshaus wachsen. Gehe ich nach draußen, um zu rauchen, wachsen sie nur noch in mir. Im Schlafsaal verdorren sie. Ich denke, also spinn ich – auch so eine Falle, in die man tappt, um zu gefallen. Mit dem Stationsarzt rede ich nur noch ungern. Er hat Mundgeruch. Dafür kann er nichts. Aber seine Hände verschränkt er immer über seinem Bauch. In dem Moment, in dem er sie hebt, könnte etwas aus seinem Kittel hervorquellen. Wenn ich mir vorstelle, mir nichts vorzustellen, ist das eine schöne Vorstellung. Mein Vater hatte strenge Augenbrauen und bedrohliche Falten um den Mund. Auch wenn er nichts sagte, habe ich ihm sicherheitshalber gehorcht. Mein erster Aufenthalt in diesem Haus war unerfreulich. Ich musste mein Fenster nicht schließen, weil es in den Rahmen genagelt war. Ich musste meine Tür nicht absperren, weil einer da draußen den Schlüssel hatte. Ich aß nur, was mir gereicht wurde von der Dicken mit dem Holzlöffel. Ich machte Pipi in die Flasche und Groß auf die Pfanne. Ich konnte mich nicht mal kratzen, weil sie mich angebunden hatten. Ich durfte nicht mehr schlagen. Ich durfte nicht mehr treten. Aber ich durfte nach oben schauen, wo das Windrad meine Luft austauschte. Es machte ein Geräusch den ganzen Sommer lang. Das redete mit mir. Sonst niemand. Beim Busfahren habe ich mich immer verliebt, jeden Morgen und jeden Nachmittag. Ich schaute dann die Frauen an, die zustiegen, und wenn sie wieder ausstiegen, dachte ich daran, wie es wohl gewesen wäre, mit ihnen eine Familie zu gründen. Mütter werden stets überschätzt, weil sie alles dafür tun, überschätzt zu werden. Meine Mutter hat alles für mich getan, sagte sie immer. Zum Dank habe ich mehr für meine Mutter getan, als sie aushalten konnte. Da habe ich sie überschätzt. Sie kommt nur noch selten. In der Fabrik mit all den Fließbändern und Arbeitern waren die Maschinen und die Menschen kaum voneinander zu trennen. Sobald ich arbeiten wollte, liefen alle weg. Ich hatte Mühe, die Pausen einzuhalten. Der Kündigungsgrund war wohl beiderseitiges Unbehagen. Polizisten sind gut. Sie bringen wieder in Ordnung, was die Verrückten verbrochen haben. Manchmal brauchen sie einen Knüppel dazu. Pfleger haben keine Knüppel, aber sie sind gefährlicher. Sie sind auch da, wenn man schläft und üble Streiche träumt. Erinnerungen erheitern, wenn man sich vorstellt, es seien die Erinnerungen eines anderen. Ich stelle mir vor, dass ein depressiver Mitpatient, der mich nicht leiden kann, sich daran erinnert, dass ich wegen übermütigen Verhaltens fixiert worden bin. Das ist sehr erheiternd, denn mein depressiver Mitpatient weiß ja nicht, was ich für ihn erinnere. Ich habe mit dem Gärtner über einen Wechsel in die Schreinerei gesprochen. Wenn ich eine Säge handhaben kann, ohne mich oder andere damit zu verletzen, werde ich vielleicht als geheilt entlassen. Der Gärtner ist da skeptisch. Er kennt sich halt nur mit Pflanzen aus. Das Lachen ist gut, wenn man Mitlacher an seiner Seite hat. Begeht man das Lachen allein, so ist es mutig. Die Ärzte haben die Macht, mit mir zu machen, was sie wollen. Ich kann machen was ich will, ich bleibe immer machtlos. Das dicke Küchenmädchen lässt sich küssen, aber nicht von mir, obwohl ich drei Zigaretten spendiert habe. Vielleicht helfen Süßigkeiten besser. Es gibt schwere Arbeiten im Gewächshaus und schwierige. Meine Arme eignen sich nur für die Schwierigen. Ich beobachte das Wachsen der Sämlinge. Die Insassen gehen vorsichtig miteinander um. Sie wissen ja, dass sie krank sind, weil sie es jeden Tag gesagt kriegen. Manchmal fallen ruppige Worte. Manchmal wird es zotig, auch bei mir. Aber das kommt, weil ich Soldat gewesen bin. Die reden so. Aufpassen muss man bei Freundlichkeit, die ist immer ärztlich verschrieben. Der Vater war oft sehr böse. Da kam ich ihm gerade recht. So hatte er jemanden, den er für seine Bosheit bestrafen konnte. In der Speisekammer war es ganz dunkel. Ich malte mir Lichter aus, bis er mich zum Essen holte. Wir saßen alle vor der Suppe und dankten dem Herrgott. Man sollte das Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel aus dem Gemeinschaftsraum entfernen. Wenn ein Patient verliert, ärgert er sich und meint, er sei krank. Das kann nicht zur Gesundung beitragen. Der Mensch muss ja arbeiten, weil er sonst verrückt wird. Aber warum müssen wir dann in der Klinik arbeiten? Als Oberschüler hatte ich keine Freundin, aber ich trug Präservative bei mir, bis Mutter sie beim Waschen entdeckte und Vater sie mir verbot. So sollte eine Freundin verhütet werden. Ich gehe zu den Terra-pie-Stunden wegen der Bodenhaftung, die man mir verschrieben hat. Der Sitzungsleiter fragt uns höflich, wie es uns denn heute geht, aber rauchen dürfen wir nicht. Für die Schule trug ich einen Mittelscheitel, damit mein Hirn den unnützen Lehrstoff besser von dem wichtigen trennen konnte. Wenn ich nachmittags nach Hause, ging, trug ich den Kopf schief. Die alten Professoren unterscheiden sich von den jungen Ärzten durch die dickeren Brillengläser. Die riesengroßen Augen dahinter gehen mir bis auf den Grund meines Aufenthalts. Meine Lebensläufe ändern sich situationsbezogen. Wer falsche Spuren legt, ist schwerer zu fassen. Die Liebe ist groß, aber die Leute sind so klein. Wie soll das zusammenfinden?

Helmut Blepp, geboren 1959 in Mannheim, lebt in Lampertheim/Hessen. Studium der Germanistik und der politischen Wissenschaften, selbstständig als Trainer und Berater in Arbeitsrechtsfragen. Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften, in Anthologien und WordArt-Ausstellungen. Vier Lyrikbände bei Eric van der Wal und Edition Desire & Gegenrealismus.

Beitragsbild © privat

Indiziert bei akuter Schwedensehnsucht: Eva Brunner «Zweitwald», Weissmann Verlag

Gerade im Sommer ergreift mich, wie tausende andere im deutschsprachigen Raum, das «Bullerbüsyndrom», eine plötzliche, süße Sehnsucht nach Schweden, die mehr über uns Betroffene aussagt, als über das real existierende Land. Berthold Franke prägte in seiner Zeit als Chef des Goethe-Instituts Stockholm den Begriff.

© Pfeffer Produktionen/Torben Nuding

Gastbeitrag von Christine Zureich

Was bei „Bullerbysyndromet“ (BBS) hilft? Eine Reise und, ja, Bibliotherapie. Ich möchte Astrid Lindgren, die Hauptverursacherin des Syndroms empfehlen, „Ferien auf Saltkrokan“, das für Kinder geschriebene Buch verträgt sich mit dem Erwachsensein besser als „Wir Kinder aus Bullerbü“. Dann Tucholsky, natürlich: „Schloss Gripsholm“, die fast sommerleichte Liebesgeschichte um Peter und Lydia (und Billi). Neu in meiner Reiseapotheke gegen BBS dieses Jahr: Eva Brunners „Zweitwald“. Die zweite Gedichtsammlung der Lyrikerin ist im Frühjahr 2025 im Weissmann Verlag, Köln, erschienen.

Ob Eva Brunner je am „Bullerbysyndrom“ litt, weiß ich nicht. Ein rosiger Blick auf das Land würde sich längst geklärt haben: Brunner emigrierte vor einigen Jahren schon mit ihrer Familie aus Berlin nach Uppsala. Der vorliegende Band nun gibt in 11 Kapiteln plus Glossar ein poetisches Protokoll wieder dieses Ankommens (und Ringens) des lyrischen Ichs um das Zweitland, die Zweitsprache, den Zweitwald.

Der Titel jedenfalls lässt Sehnsucht nach mystischer Landschaft anklingen, Trollwald wie versprochen Moos, und im selben Atemzug zugleich ein wenig die Entzauberung, die mit der Reibung an der Realität und Gewöhnung einhergeht: Zweitwagen und Second Hand, auch dieser Aspekt schwingt mit. Und ja, da wird aus anfänglicher Auswanderer-Euphorie ein etwas temperierteres Gefühl: lågom heißt genau richtig / lågom klingt leise / sind Beherrschung und Ruhe zwanghaft?/ (…) / oder kann man in dieser Natur nicht anders? / (…) / något wird von der vorbeiziehenden Landschaft betäubt.
Das lyrische Ich notiert kulturell verankerte Unterschiede in der Selbst- und staatlichen Fürsorge: bloß nicht zu viel Stress und koppla av / genug (…) aber bitte keine Nüsse mit in Schulen nehmen ej / nötter

Zugleich wird verwiesen auf gewisse blinde Flecken der neuen Heimat hinsichtlich des eigenen sozialstaatlichen „Musterschülertums“:

das beste Land der Welt / ist konfliktscheu blendet aus / Jahrzehnte der Zwangssterilisation / der Unterdrückung der Samen / (…) / die eignen Raubzüge / kaum erwähnt man ist modern/auf Bergen bester Empfang / friedliche stugas auf Inseln / Unrecht kommt von Außen / ist nur im Krimi groß

Eva Brunner «Zweitwald», Weissmann Verlag, 2024, 72 Seiten, CHF ca. 20.90, ISBN 978-3-949168-18-5

Aber auch die eigenen Haltungen und Ideale hinterfragt das lyrische Ich : wir sitzen im Raum der invandrare / (…) / was haben wir vorher gelernt und gesehen?/wer hatte die Wahl wer nicht? / erste Grüppchenbildung / (…)/ heute steure ich gegen entdecke/morgen ergebe ich mich
Neben den Herausforderungen aus dem invandrar-sein hat sich das lyrische Ich mit dem ganz gewöhnlichen Familienleben als permanente forbifahrt am Ideal herumzuschlagen: Kinder, die nicht die Liebe zu Ronja Räubertochter teilen, sondern Harry Potter vorziehen. Kinder die nur im Zoo nicht nölen. Kinder, mit denen es die neue Sprache zu lernen geht, zusammen mit einer weiteren Fremdsprache im Vokabellisten Ping-Pong. Ich versuche, die Sprache glatt zu streichen / hänge doch: Eva Brunner glättet einzelne schwedische Wörter in die Verse ein, so fein arbeitet sie da, dass aus Kontext und klanglicher Ähnlichkeit mit dem Deutschen – die Mannschaften sind verwandt – keine Übersetzung benötig wird, und wo doch, wird hinten im Glossar alles aufgelöst. Das ist klanglich schön und manchmal auch lustig, setzt einen leisen, effektiven Kontrapunkt gegen die stellenweise fast bullerbüenen Bilder, (die wir doch so sehr lieben und brauchen):

IV.
manche använder Saunamützen mit kaltem Wasser
all die Boote und Blumen mit Kopf und kropp
Himmel so tief wie das Meer blunda blau
wir sind süchtig nach Safran och semlor
kleine Bewegungen nobel lucia
Lass dein Haar herunter

Eva Brunner, 1980, seit Juli 2024 freie Autorin und Übersetzerin. 2015 Promotion in Amerikanistk, 2007 M.A. in Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Psychologie und Publizistik/Kommunikationswissenschaft. Seit 2018 lebt Eva Brunner in Uppsala/Schweden und ist dort Mitglied der Uppsala Autor:innengesellschaft, die ihr auch einen Schreibplatz im Literaturhaus stellt. Ihr Lyrikdebüt »Achtung, die Naht«, parasitenperesse, erschien 2019. 

© Leif Santoso Knobbe

Nicht Alleinsein, sondern allein Sein… über «Samota» von Volha Hapeyeva, Droschl (23)

Empathie ist wirklich eine komplizierte Charaktereigenschaft. Man kann immer Argumente dafür und dagegen finden und auf dieser feinen weissen Linie stehen bleiben, die das eine vom anderen trennt.

Lieber Gallus

Die weissrussische Autorin Volha Hapeyeva war für mich ein Glanzlicht an den diesjährigen Solothurner Literaturtagen. Ihr neuestes Buch «Samota» ist ein faszinierendes Werk über Einsamkeit, Alleinsein und Empathie. Für mich ein Buch voller Liebe zur Schöpfung und ein Hoffnungsschimmer in einer Welt voller Kriege und Umweltproblemen. Geschrieben in einer lyrischen Sprache, bei der wissenschaftliches auf magisches Denken trifft, Orte und Zeiten in der Schwebe gehalten werden.

Ich begegne zwei Frauen und drei Männern als Hauptfiguren in einer Welt von Tieren, Menschen und Vulkanen. Neben dem eigenen Überleben geht es ums Überleben von Werten, für eine Welt, in der Empathie eine wichtige Rolle spielt.

Nur wenige Menschen wissen, wie man sich an dem freut, was einen umgibt, was man bereits hat. Wobei die grössere Freude nicht davon kommt, was du hast, sondern vom Sein.

Das Frühstück im Hotel als Miniaturbild der Gesellschaft, der Besuch in der Apotheke als Auseinandersetzung mit Kranksein oder die gefährliche Befreiung eines zur Verarbeitung gefangenen Wolfswelpen als Ausdruck von Empathie; ich werde zum Nachdenken über unsere Gesellschaft, unsere Beziehung zur Umwelt und unsere Werte angeregt. Dies in einer poetischen Sprache und mit Tiefgang. Es geht um unsere Existenz auf der Erde.

Traurigkeit samt Melancholie, Stille und Heiterkeit, das Gefühl der Zugehörigkeit zum Universum, zu den Bäumen, den Vögeln, Insekten und Kräutern, das Aufgehen im Abendlicht, sodass man nichts und niemanden mehr braucht, erfüllte Existenz. Nicht Alleinsein, sondern allein Sein. Nicht einsam sein, sondern eins sein. Allsein.

Wie haben die Begegnung mit der Autorin und dieses Buch auf dich gewirkt?

Herzlich

Bär

***

Lieber Bär

Er hat lange gedauert. Es ist schon einige Monate her seit den Solothurner Literaturtagen. «Samota», das Buch von Volha Hapeyeva, lag lange auf meinem Schreibtisch. Hättest Du nicht derart begeistert auf dieses Buch reagiert, hätte ich es vielleicht irgendwann ungelesen ins Regal geschoben. Nun habe ich es doch gelesen. Ganz langsam und in kleinen Häppchen, ganz gegen meine sonstigen Lesegewohnheiten.

Der Roman «Samota» trägt eine Art Untertitel: «Die Einsamkeit wohnte im Zimmer gegenüber». Ein programmatischer Untertitel. Volha Hapeyeva lebt seit den Unruhen in ihrer belarussischen Heimat «unterwegs», «im Zimmer gegenüber». «Samota» ist ein Roman über Einsamkeit, geschrieben während Corona, eingesperrt in ein Zimmer als Stadtschreiberin in Graz. Aber «Samota» ist kein Corona-Buch, sondern ein Buch über eine grosse Sehnsucht.

Volha Hapeyeva «Samota. Die Einsamkeit wohnte im Zimmer gegenüber», Droschl, 2024, aus dem Belarusischen übersetzt von Tina Wünschmann und Matthias Göritz, 192 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-99059-151-2

Maya, Vulkanforscherin, nimmt an einem Kongress über Vulkanologie irgendwo in der japanischen Provinz teil. Die Kleinstadt liegt an einem grossen Wald, der von Wölfen bewohnt wird. Sie besucht die städtische Bibliothek auf der Suche nach einem Buch, das sie wohl findet, bei dem aber genau jene Seiten fehlen, die ihr für ihre Forschung wichtig erscheinen. Sie liebt die Bibliothek. Sie traut den Büchern mehr als den Menschen.
Im gleichen Hotel, in dem Maya wohnt, findet auch ein Kongress von Tierpräparatoren statt, die ihre Arbeit als Konsequenz einer Schöpfung sehen, in der der Mensch die Krone bedeutet und über alle anderen Lebewesen nach Belieben verfügen kann. 

Helga-Maria, eine Tiertherapeutin und Mayas Freundin, behandelt Angststörungen von Hunden und wartet auf Liebesbriefe von Sebastian, der in einer Pension zusammen mit ganz eigenartigen Menschen wohnt. Allen voran ein Jäger, der sich zur Aufgabe gemacht hat, sämtliche Wölfe des Waldes zur Strecke zu bringen.

Manchmal denke ich, das beste Mittel gegen Konflikte und Kriege wäre die Entwicklung eines Empathieserums.

Ein geheimnisvolles Buch mit Ebenen, auf die man nur tastend vorzudringen vermag. Ein Roman voller Anspielungen, Bildern und Szenerien, die sich in ihrer Chronologie, in Zeitebenen übereinanderschieben. Ein Buch einer Lyrikerin, die in Prosa nachzuforschen versucht, was eine Haltung ohne Empathie anrichten kann. Ich hatte während der Lektüre dauernd das Gefühl, Anspielungen auf ihre eigene Lebenssituation zu lesen, mal verschlüsselt, mal offen, mal verpackt in ein Bild. «Samota» ist kein politischer Roman, aber ein Roman, der erzählt, was das «Herausgerissensein» bewirkt. Dass wir in einer Zeit schwindender Empathie leben. Wie schnell Allein-sein zu Einsamkeit werden kann. Ein metaphysischer Roman, bei dem unterschwellig Dinge miterzählt werden, von denen ich nur eine Ahnung habe, die sich im Laufe des Buches entschlüsseln, lange unerklärlich bleiben. Was passiert mit empfindsamen Menschen, die in einer Welt der schwindenden Empathie sich immer mehr weggesperrt fühlen?

© Nina Tetri

Volha Hapeyeva, geboren in Minsk, Belarus (1982), ist Lyrikerin, Autorin, Übersetzerin, Künstlerin und promovierte Linguistin. Für ihr Werk erhielt sie zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u.a. den English PEN Translates Award für das Buch «In My Garden of Mutants» (2021), den Wortmeldungen-Literaturpreis 2022, Rotahorn-Preis 2021 und den manuskripte-Preis 2025. Ihre Gedichte wurden in mehr als 15 Sprachen übertragen. Ihr Debütroman «Camel Travel» erschien 2021. Seit 2020 schreibt Volha Hapeyeva auch auf Deutsch und wohnt als Nomadin in Österreich und Deutschland.

Tina Wünschmann wurde 1980 in Freital geboren. Sie studierte Slavistik, Politik- und Kommunikationswissenschaften an der Technischen Universität Dresden.

Matthias Göritz, geb. 1969, ist ein vielfach ausgezeichneter Lyriker, Theaterautor, Übersetzer und Romancier. Er veröffentlichte auch Gedichtbände und Romane.

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Yuko Kuhn «Onigiri», Hanser Berlin

Was bedeutet Heimat, Zuhause, wenn man zwei Kulturen in sich trägt? Was passiert, wenn sich diese zwei Kulturen streiten, obwohl man ein ganzes Leben beiden Seiten gerecht zu werden versucht? Was ist, wenn die Mutter mehr und mehr von Demenz zerfressen wird und unwiederbringlich zu schwinden beginnt, was bei allem Kampf Familie bedeutet. „Onigiri“ ist ein fein gesponnener Familienroman, ein berührendes Debüt.

Im Vorsatz des Buches steht Für meine Mutter. Akis Mutter wanderte einst nach Deutschland aus, in einer Zeit, in der es unüblich war, dass Japanerinnen ihr Glück in Deuschland suchen. Sie lernt einen Mann kennen, heiratet und bekommt zwei Kinder. Die Tochter, Aki, erzählt die Geschichte. Nicht nur die Geschichte ihrer Mutter, sondern die Geschichte zweier Familien, zweier Kulturen, die in ihrer Familie das Zusammenleben zu einem Schmelztiegel werden lassen.

Es ist mir unbegreiflich, wie meine Mutter es als junge Frau geschafft hat, hier in Deutschlad Fuss zu fassen. Sie hatte nur zwei Koffer, ein bisschen Geld und ihre Stimme.

Yasuko, Akis Grossmutter, ist in Japan uralt gestorben. Aki war immer wieder einmal in Japan, erfuhr ihre Grossmutter als Fixstern einer ganzen Familie. Yasuko bekam trotz ihrer Gebrechen noch mit, das Aki beim letzten Besuch ihre Urenkelin in den Armen trug, eine alte Frau, bis zum letzten Atemzug wach. Ganz im Gegenzeit zu ihrer Mutter, die mehr und mehr in ihrer Demenz abtaucht, für den letzten Teil ihres Lebens in einem Wohnstift lebt und die meiste Zeit des Tages ruhend, mit den Händen vor ihrem Gesicht, verbringt. Das Leben einer Katze sagt Felix, ihr Mann. Eine Frau, die trotz grösster Anstrengungen dem Leben in Deutschland immer fremd blieb, die ganz offen immer und immer wieder latente und direkte Fremdenfeindlichkeit erfahren musste, die sich mit ausbreitender Demenz mehr und mehr in ihrer Einsamkeit verliert, einer Einsamkeit, die ihre Tochter auch mit Zuwendung und Liebe nicht heilen kann.

Yuko Kuhn «Onigiri», Hanser Berlin, 2025, 208 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-446-28311-4

Aki kauft zwei Flugtikets nach Japan, eines für sich, eines für ihre Mutter. Will ein letztes Mal zusammen mit ihrer Mutter das Land ihrer Herkunft, ihre Heimat besuchen. Nicht zuletzt in der Hoffnung, die Verlorenheit ihrer Mutter für ein paar Augenblicke aufzuhellen, ihr die Chance zu geben, sich zu erinnern. Für Aki keine leichte Reise, denn ihr Japanisch ist das, was übrig geblieben ist, das Japanisch, das zwischen ihr und ihrer Mutter gesprochen wurde, eine Zweitsprache. Japan, ein Land, das die Heimat ihrer Mutter und für Aki in Vielem fremd geblieben ist. Eine Reise, von der Aki genau weiss, dass es die letzte zusammen mit ihrer Mutter sein wird, denn diese muss jeden Tag immer und immer wieder daran erinnert werden, dass sie ihre Tochter und dies das Land ihrer Herkunft ist. Eine Reise, bei der Aki feststellen muss, dass ihre Mutter keine Chance mehr hat, wirklich anzukommen. Eine Reise, die auch eine Reise in die Vergangenheit wird. Eine Reise zu einer Frau, die ihr als Mutter schon lange fremd geworden war.

Ich frage mich, warum meine Mutter so geworden ist, wie sie ist, ob ihr Unglück schon in ihr war, bevor sie nach Deutschland gekommen ist.

Auf der anderen Seite die Eltern ihres Vaters, Gesine und Ludwig, die in einem grossen Haus mit Personal leben, einem Haus, dass alles repräsentiert, was deutscher Wohl- und Anstand zeigen kann, die nie mit Überzeugung akzeptierten, dass ihr Sohn eine Japanerin zur Frau genommen hatte. Akis Mutter hatte an allen Fronten zu kämpfen, obwohl sie eine weltoffene, zugewandte Person war, der man aber immer wieder Grenzen zeigte. Eine Frau, der Musik alles bedeutete, die schon in Japan als junge Frau mit ihrer Singstimme in einem Chor die halbe Welt bereisen konnte. Und Akis Vater, der es nicht schafft, das zu werden, was die Eltern von ihm erhofften, der die Ehe scheitern lässt und sich mehr und mehr in sein Schneckenheus zurückzog.

„Onigiri“ ist unzweifelhaft ein sehr autobiographisches Buch, erst recht, weil es in der Ich-Perspektive erzählt und einem die verschiedenen Zustänge des Gespalten-Seins auf ganz eindringliche Weise nahekommen, ohne dass die Autorin unangebracht in Emotionen rührt. „Onigiri“ sind dreieckige „Reisbällchen“, von Hand geformt. Sie sehen aus wie kleine weisse Häuschen. Vielleicht ist dieses Buch der Versuch der Autorin, sich selbst und ihrer Mutter ein Stück Zuhause zurückzugeben. Eine literarische Liebeserklärung, die sanfte Suche nach einem verlorenen Stück Paradies.

Yuko Kuhn wurde 1983 in München geboren. Sie studierte Kulturwirtschaft in Passau und Aix-en-Provence. 2019 fand sie über ihre Tätigkeit an der HFF / Hochschule für Fernsehen und Film München zum Schreiben. Mit ihrem Mann und ihren drei Kindern lebt sie in München.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Peter Andreas Hassiepen

Yasmina Reza «Die Rückseite des Lebens», Hanser

Yasmina Reza ist eine der bedeutendsten französischen Autorinnen der Gegenwart, spätestens seit ihren Theaterstücken „Kunst“ oder „Gott des Gemetzels“. Rezas Kunst ist mit Sicherheit die Dramaturgie. Aber in ihrem neuesten Buch mit dem Titel „Die Rückseite des Lebens“ kann man sich ganz und gar in die Sprache der Schriftstellerin verlieben, die klare Gestalt ihrer Sätze.

„Die Rückseite des Lebens“ ist keine Sammlung von Erzählungen. Es sind auch keine Betrachtungen. In den über fünfzig mehrheitlich sehr kurzen Texten mäandert Yasmina Reza zwischen Tagebucheinträgen einer Beobachterin und literarischen Kurzreportagen. Über längere Zeit besuchte die Schriftstellerin immer wieder Gerichtsprozesse, solche von Promenenten wie jenen gegen den ehemaligen französischen Präsidenten Sarkosy, aber auch solche, bei denen jene Verbrechen verhandelt werden, die es nie wegen der Personen, aber sehr wohl wegen der Art des Verbrechens in den Fokus der Öffentlichkeit schaffen. „Die Rückseite des Lebens“ ist aber nicht einfach eine Sammlung menschlicher Abgründe. Immer wieder sind ganz kleine Beobachtungen eingefügt, Momente der Freude, Begegnungen mit Bekannten und Freunden. Normalitäten, die im Kontrast mit den Ungeheuerlichkeiten, die vor Gericht verhandelt werden, in ein ganz eigenes Licht getaucht sind.

Was die Autorin an all diesen Gerichtsfällen, diesen Schicksalen, der Nähe zum Bösen interessiert, mag unterschiedliche Gründe haben. Die Sehnsucht der meisten Menschen nach Harmonie, Sonnenuntergängen, Kitsch und romantischen Gefühlen steht in krassem Widerspruch zu einer Autorin, die sich genau dorthin begibt, wo die Staatsgewalt mit den Mitteln der Justiz dem entgegentritt, was sich auf der Rückseite des Lebens zu befinden scheint. Aber was die Rückseite ausmacht, ist eine Frage des Standpunkts, der Perspektive. Dort, in den Gerichten, vor den Richtern, werden Leben ausgerollt, die kippten, die zur Gefahr für Leib und Leben wurden. Leben, die durch Fehlentscheidungen aus der Bahn liefen, aber auch Leben, die gar nie eine Chance hatten, auf die „Vorderseite“, die Sonnenseite des Lebens zu treten.

Yasmina Reza «Die Rückseite des Lebens», Hanser, 2025, aus dem Französischen von Claudia Hamm, 200 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-446-28275-9

Vielleicht sind diese literarischen Kurzreportagen, die sich nur skizzenhaft um Vollständigkeit bemühen, einen Eindruck, nie genug Zeit, um wirklich in die Untiefen menschlicher Existenzen abzutauchen, genau jene Welt, aus der Yasmina Reza sonst ihre Romane, Theaterstücke und Drehbücher schreibt. Diese Spanne zwischen scheinbarer Normalität, dem kleinen Glück bis hin zu blutgetränkten Abgründen. Als wäre dieses Buch eine literarische Bilder-, Fotoausstellung. Wer die Texte liest und sich auf das Gelesene einlässt, macht sich unweigerlich die Geschichten, die inneren Bilder selbst.

Wenn Yasmina Reza im Gerichtssaal sitzt, ist das, was sie schreibt weder Erklärungsversuch noch Sozialstudie. Yasmina Reza zeichnet literarische Miniaturen. Was den besonderen Reiz dieser Kontraste ausmacht; Reza schildert mit vollendeter Sprache das Kleine, Traurige, Abgründige, Schmerzhafte. All das, was ich als Betrachter unweigerlich mit dem Maximum an Emotionen verbinde. Nicht das Yasmina Reza ohne Empathie schreiben würde, ganz im Gegenteil. Aber sie entzieht sich jedem Urteil, jeder Erklärung. Alles, was sie schreibt, bleibt in der Sprache, in der gekonnten Schilderung all dieser Szenen, jenen im Gericht und jenen, die den Ursprung der Verhandlungen ausmachen.

Fragen wie; Was bringt ein Leben zum Kippen? Wann ist ein Leben verloren? Warum können wir nicht aufhalten, was unweigerlich auf den Abgrund zusteuert? Warum vergiftet eine Mutter ihre Kinder mit Insulin? Warum wird die Tochter von Einwanderern zur rasenden Rassistin?, interessieren die Autorin ganz offensichtlich. Aber Yasmina Reza überlässt mich beim Lesen mit den Antworten mir selbst – mit Absicht.

Manchmal sind es auch rührende Miniaturen. Wenn sie vom letzten Besuch beim grossen Schriftsteller Imre Kertész und seiner Frau erzählt, kurz vor seinem Tod. Begegnungen, die von der Verbundenheit zweier Herzen erzählen. Oder vom Schauspieler Bruno Ganz, mit dem sie öfters zusammenarbeitete, der in seinen letzten Jahren in Venedig lebte, den sie manchmal «zufällig» in den Gassen der Lagunenstadt traf. „Geschichten“ wie Tagebuchblätter, getragen von Liebe, Respekt und der Sehnsucht nach Nähe.

Yasmina Reza, 1959 geboren, ist Schriftstellerin, Regisseurin und Schauspielerin und die meistgespielte zeitgenössische Theaterautorin Für ihr Werk wurde sie zuletzt mit dem Jonathan-Swift-Preis 2020, dem Premio Malaparte 2021, dem Prix de l’Académie de Berlin 2022 und dem Prix Mondial Cino del Duca 2024 ausgezeichnet. Das Theaterstück «Der Gott des Gemetzels» wurde 2011 sehr erfolgreich von Roman Polanski verfilmt, hochkarätig besetzt mit Jodie Foster, Kate Winslet, Christoph Waltz und John C. Reilly.

Claudia Hamm ist Autorin, Theatermacherin und Übersetzerin von u.a. Emmanuel Carrère, Édouard Levé, Mathias Énard, Nathalie Quintane, Joseph Ponthus und Joseph Andras. Sie ist Herausgeberin des Akzente-Doppelhefts Automatensprache (Hanser, 2024).

Beitragsbild © Carole Bellaiche

Uketsu «HEN NA E. Seltsame Bilder», Lübbe

Uketsu ist ein japanisches Phänomen, dass selbst die westlichen Kritiker*innen zu ungewohnt fettem Lob hinreissen lässt. Eine Kult- und Kunstfigur, die hinter ihrer Anonymität auf ihrem YouTube-Kanal und jetzt auch zwischen Buchdeckeln die Kassen klingeln lässt. Ein zweifelhaftes Abenteuer.

In einem der Literaturkreise, in dem ich mit anderen über Bücher diskutiere, wurde via Textnachricht dieses Buch vorgeschlagen. Und weil eine Prämisse dieses Lesekreises ist, dass wir ausschliesslich Bücher lesen, die niemand aus dem Lesekreis bereits kennt, wurde der Vorschlag angenommen. Schlechte Karten bei mir hatte das Buch schon bevor ich zu lesen begann; zum einen die vielen Illustrationen, die mich nicht ansprachen und mein Misstrauen gegenüber dem Genre Krimi. Ich begann zu lesen, legte das Buch aber schnell weg, schrieb meiner Runde, ob das ihr Ernst sei. Eine meiner Lesekreiskolleginnen schrieb ganz begeistert, sie habe das Buch in einem Zug gelesen und sei fasziniert. Und als ich las, dass das Buch auch im Literaturclub im Schweizer Fernsehen besprochen werden würde, zweifelte ich an meinem frühzeitigen Urteil über das Buch. Hatte ich vorschnell reagiert?

Noch am gleichen Abend sah ich mir im Netz den Literaturclub an. Laura de Weck, Lukas Bärfuss, Gerhard Pfister und Podcasterin Samira El Ouassil schienen mehr oder weniger alle begeistert von der Machart, der Spannung und der Rätselhaftigkeit dieses Romans. Noch ein Indiz dafür, dass ich den Roman falsch gelesen hatte? Passiert mir das doch öfters, manchmal in die eine, manchmal in die andere Richtung. Bücher, die ich uninteressant finde, begeistern andere. Bücher, über die ich ins Schwärmen gerate, finden andere einfach nur uninteressant.

Also las ich den Kriminalroman doch. 

Uketsu «HEN NA E. Seltsame Bilder», Lübbe, aus dem Japanischen von Heike Patzschke, 2025, 272 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-7577-0116-1

Zwei Studenten, die sich gerne auf geheimnisvollen Pfaden im Netz bewegen, rätseln über einen Blog, in dem ein Mann erst über die Schwangerschaft seiner Frau, die rätselhaften Zeichnungen, die sie in dieser Zeit machte und ihren Tod während der Geburt berichtete, um dann Monate später urplötzlich mit den Einträgen zu enden. Über die Zeichnung eines neunjährigen Mädchens, das ihre Mutter erschlagen hatte. Über den rätselhaften Tod eines Kunstlehreres, dessen letzte Zeichnung auf dem Weg zu einem Berg ein Hinweis sein sollte. Was sich bei der Lektüre wie unabhängige Erzählstränge liest, entwickelt sich mehr und mehr zu einem Ganzen, das mehr und mehr Fragen aufwirft und zusammen mit den Zeichnungen zu einem Weg durch ein Labyrinth der Grausamkeiten wird. Im Zentrum steht das Leben einer Frau, die schon früh erleben musste, dass Mutterliebe alles andere als eine Selbstverständlichkeit ist, dass die Sehnsucht nach Geborgenheit und Schutz paranoide Züge annehmen kann. Uketsu führt einem in einem Mix aus Text und Zeichnungen durch die Abgründe menschlichen Seins. Das mag den einen gefallen – mir hier nicht.

Der Roman liest sich wie ein Kreuzworträtsel, bei dem einem die Lösungen permanent zugeflüstert werden. Da schreibt und konstruiert jemand, der mir mit erhobenem Zeigefinger beweisen will, wie abgrundtief der Mensch fallen kann, dass hinter jeder Fassade das Grauen lauert, dass das menschliche Sein und alles, was im entferntesten als Signal bezeichnet werden kann, verschlüsselte Geheimnisse sind. So wie jede Zeichnung, wenn man sie nur richtig lesen kann. Da schürt eine Autorin hinter ihrer weissen Maske die Angst all jener, die sich bestätigt wissen wollen, dass der Mensch im Grunde schlecht und zu allem fähig ist, dass unter der Oberfläche der Normalität das Abnorme modert.
Und wie in fast allen Kriminalgeschichten, die sich nur im Schrecken tummeln, ist am Ende des Romans alles aufgeräumt, jeder Strang zu Ende erzählt. «HEN NA E. Seltsame Bilder» ist Lesefutter, keine Feinkost und in der Aufmachung so ähnlich wie «Gregs Tagebücher» für Kinder.

Uketsu begann als Autor für die Website Omokoro zu schreiben und stellt jetzt Horror- und Krimi-Videos sowie Originalmusik auf YouTube ein. Er trägt eine weiße Maske und einen schwarzen Ganzkörperanzug, sodass seine Identität ein Rätsel bleibt. Viele seiner Videos beginnen auf die gleiche Weise: Seine Figur erhält eine E-Mail über einen geheimnisvollen Ort, ein Bild oder einen Gegenstand, und er ruft seinen Freund Kurihara an, bevor er sich im Internet auf die Suche nach Karten, Liedern und illustrierten Hinweisen begibt, aus denen sich dann die verschiedenen Geschichten entwickeln. Die Bücher von Uketsu haben das Krimi-Genre in Japan entscheidend verändert.

Heike Patzschke, geboren 1959, arbeitet seit 1994 als freiberufliche Dolmetscherin und Übersetzerin für Japanisch. Sie dolmetschte bisher für den Nobelpreisträger Kenzaburo Oe, für Haruki Murakami und Saiichi Maruya und übersetzte unter anderem Werke von Mori Ogai, Ryotaro Shiba und Mizuko Masuda.

Beitragsbild © Uketsu

Eva Strautmann «Hinüber», Plattform Gegenzauber

Blick hinüber
in mattes Weiss,
Eierschalen, die brüten?
Davor funkelnde Stachel,
weitläufig vernetzt bis hinein in jede Membran verlorengegangener Körper.
Totgestellt, am Schwanken über unebenes Weiss.
Darunter schneeweiches Gestrüpp,
voller zarter kleiner Ästchen,
die hinausragen.
Nein, kleine Baumstümpfe wie Finger aus der Erde am Stechen,
lauthals `Du bist Schuld`.
Dahinter auf dem Transit direkt ins Fegefeuer?
Nein, lieber auf rot-blauem Teppich ins reichste Land der Welt.
Vergessen werden im Funkeln brauner Scham,
dann lieber Rennen, Wegrennen?
Abwarten, bis der Schrei aus alter Wagnis von oben hallt und dumpf aufstößt in leerem Gras,
versunken unter altem Wasser, 
am Baden in zu vielen Seen,
stülpt sich die Stimme `Du bist Schuld`,
springt im Galopp auf in den Himmel,
unsichtbar geworden.
Der Hall, das Summen, das Vergangene?
Hinter den kohleschwarzen Vorhängen ganz weit hinten am Horizont, 
da kommt sie her, die Stimme.
In die Schächte hineinspazieren an einem hellen Sonntagmorgen,
in den Kabinen verschwinden, `Bitte Ihren Ausweis`,
sich gegenseitig in die Augen greifen, dann vorbei an allen Kalaschnikows
im Tränentunnel,
hinaus blickend auf leere Straßen,
graues Gefieder.
Alles längst vorbei,
gewesen,
nur jetzt gerade hier, gleich ist alles wieder vorbei.
Weg.
Bis es trümmert von oben, von unten, von hinten, von vorne,
bis es trümmert.
Alles zertrümmert.

Abtraction Coloured, Öl auf Leinwand, 2025

 

Eva Strautmann lebte nach dem Abitur in Grossbritannien. Sie ist Autorin, Künstlerin und Dozentin. Während des Studiums der Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin war sie zunächst als Tutorin und anschliessend als künstlerische Mitarbeiterin an der Hochschule der Künste Berlin tätig. Nach ihrer Tätigkeit als Regieassistentin am Berliner Ensemble folgte ein Umzug nach Frankfurt am Main. Im September 2005 hatte sie eine grosse Einzelausstellung in der Heussenstamm – Galerie am Römer in Frankfurt am Main unter dem Titel „Im Schreiben gehen – Im Malen schauen», bei der sie Bilder und Prosa-Texte kombinierte.

Webseite der Künstlerin

Beitragsbild © privat