Lukas Maisel «Wie ein Mann nichts tat und so die Welt rettete», Rowohlt

Am 26. September 1983 schrammte die Welt einem nuklearen Desaster vorbei. Nur weil Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow, ein sowjetischer Offizier in der Kommandozentrale der Satellitenüberwachung, den scheinbaren Anflug nuklearer Interkontinentalraketen als Fehlalarm interpretierte, verhinderte der Mann den Tod von Millionen.

Alles an dieser Erzählung ist wahr. Was Lukas Maisel an Fiktion beifügt, ist das, was im Innenleben jenes Offiziers geschah, genau das, was uns damals rettete, denn wäre Stanislaw Petrow der eigenständigen Entscheidung nicht fähig gewesen, hätte nichts einen nuklearen Krieg aufhalten können. Nur weil dieser Mann damals in den 17 Minuten zwischen Alarmierung durch ein empfindliches und anfälliges Raketenabwehrsystem und dem Moment der Entwarnung zum eigenen Denken fähig war, durch logisches Entschlüsseln einer falalen Kette von scheinbar gesicherten Informationen Panik relativierte und Vernunft über die Angst siegen liess, blieben sowjetische Nuklearraketen am Boden.

Weil sich das damalige System keine Blösse geben wollte, weil die Sowjets auf jeden Fall ihr Gesicht wahren wollten, das Gesicht der perfekten Abschreckung, wurde Offizier Stanislaw Petrow weder befördert noch bestraft. Man verschwieg den Zwischenfall genauso systematisch wie die Ursachen, die dazu führten; Sonnenreflexionen auf Wolken. Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, in Petrows letzten Jahren in Moskau, erfuhr der ausgemusterte Offizier Ehrungen im In- und Ausland. Nach der Kontaktaufnahme eines deutschen Unternehmers noch zu Lebzeiten Petrows wurde in Oberhausen, dem Heimatort jenes Geschäftsmannes, zum zweiten Todestag des Retters eine Gedenktafel eingeweiht: „Wäre er den Computermeldungen gefolgt, wäre der sofortige atomare Gegenschlag erfolgt und damit der Tod von Millionen Menschen in den USA, in Europa und Russland die Folge gewesen.“

Lukas Maisel «Wei ein Mann nichts tat und so die Welt rettete», Rowohlt, 2025, 128 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-498-00730-0

Lukas Maisel konzentriert sich in seiner Erzählung auf diesen einen Tag, diese 17 Minuten und die drei Tage, die Stanislaw Petrow in der Folge noch in der Kommandozentrale ausharren musste, bis sich die Wogen nach dem Zwischenfall glätteten. Lukas Maisel fokussiert sich auf einen Mann, der in diesen 17 Minuten ganz auf sich gestellt war, der wusste, dass jede Entscheidung, die er fällen würde, existenzielle Folgen nach sich ziehen würde, dass das, was nach der Entwarnung die Schwächen des Systems aufzeigte, nie und nimmer an die Öffentlichkeit dringen durfte, nicht einmal zur Erzählung in seiner Familie. Stanislaw Petrow wurde zum Bauernopfer einer Beinahekatastrophe. 

Lukas Maisel beschreibt die klaustrophobische Situation in jenem Bunker, in dem während ewig lange scheinender Minuten das Schicksal von Millionen in der Schwebe stand, in der jede weitere Reaktion auf die Interpretation eines einzelnen Mannes reduziert war, alles in einem Schrecken ohne Ende hätte ausarten können. Die Geschichte eines Mannes an einem geheimen Ort, einer geheimen Stadt. Die Geschichte eines Mannes, der eigentlich bloss für einen kranken Kollegen eingesprungen war, eine Geschichte, die ohne die klaren Gedanken eines Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow mit Sicherheit ganz anders geendet hätte.

„Wie ein Mann nichts tat und so die Welt rettete“ ist zum einen ein Denkmal für einen Mann, der sich in den Zwängen von Macht und Hierarchie von Vernunft leiten liess, etwas, was in der Gegenwart nicht minder wichtig wäre.  Zum andern ist die Geschichte ein Exempel dafür, das Zurückhaltung, ein Zögern unendliches Leid verhindern kann, erst recht in einer Zeit, in der „Hauruckgehabe“ Politik wird und in der Wirtschaft zur Handlungsmaxime.

Lukas Maisels kleines literarisches Husarenstück liest sich in einem Zug, hoch spannend und mit dem Bewusstsein, wie oft das Glück des Menschen an einem seidenen Faden hängt. Unbedingt lesenswert!

Interview

Der Stoff für ein Buch lag offensichtlich jahrzehntelang da. Erstaunlich, dass die Geschichte im deutschsprachigen Raum nicht schon viel früher literarisch umgesetzt wurde. Was entschied, dass Sie einen so konzentrierten Roman daraus schufen und nicht mit grösserer Geste erzählten, zum Beispiel aus der Sicht des alt gewordenen Stanislaw Petrow?
Ich weiss nicht, ob man sich frei aussuchen kann, wie man einen Stoff erzählt. Beim Schreiben folge ich meinem Instinkt, es fühlte sich einfach richtig an, den Stoff in dieser Kürze zu erzählen, ihn nicht unnötig zu strecken. Ich kann im Nachhinein vermeintlich rationale Gründe suchen, warum ich das so und nicht anders geschrieben habe, aber es bleibt Instinkt. 

Der Mann schleppte das Geheimnis jenes 26. Septembers 1983 bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion als Staatageheimnis mit sich herum. Es ist anzunehmen, dass er nicht einmal seiner Frau von den tatsächlichen Ereignissen erzählen konnte. Die Dramaturgie dieser 17 Minuten in diesem Kommandobunker ist nicht zu überbieten, genauso die Dramaturgie in Stanislaw Petrows Innenleben. Er wusste haargenau, was die Folgen einer falschen Entscheidung sein werden. In all den Kriegen, ob in der Ukraine, im Kongo oder im Sudan. Es ist nur zu hoffen, dass Menschen sich in kollektiv lebensbedrohlichen Situationen nicht instrumentalisieren lassen. Ist das letztlich nicht ein frommer Wunsch?
Natürlich, aber was bleibt uns denn anderes übrig als die Hoffnung? Am Ende wird die Geschichte von den Entscheidungen einzelner Menschen vorangetrieben, die Frage ist, wieviel Macht diese Menschen besitzen. Stanislaw Petrow wollte keine Macht haben, sie fiel ihm zu. Glücklicherweise konnte er klar sehen, sein Blick war nicht von einer Ideologie verzerrt. Er war ein Mann der Wissenschaft und vertraute ihren Methoden, damit war er sicherlich ein schlechter Kommunist.

Sie beschreiben sehr intensiv, was in Stanislaw Petrow passiert, jener Teil der Geschichte, die Fiktion braucht. Ich fiebere mit ihm. Ich spüre, wie sich die Minuten zu Unendlichkeiten ausdehnen. Ich spüre den Kampf, den der Mann in sich austrägt, wie sich alles auf diesen einen Moment einbrennt. Ich fühle seine Verzweiflung, den unsäglichen Druck, den realen Alp. Der Titel ihres Buches meint nicht, dass Stanislaw Petrow nichts tat. Die Weigerung, das Abwarten, der Zweifel, das Nachdenken ist viel mehr als Nichtstun. Was bedeutet die Geschichte von Stanislaw Petrow für sie ganz persönlich?
Wahrscheinlich sprach mich der Stoff an, weil ich mich fragte, ob ich das könnte; abwarten wie Petrow. Ich und die meisten Menschen wollen durch ihre Handlungen möglichst rasch ein Ergebnis herbeiführen, wir halten die Ungewissheit nicht aus. Auch Petrow hält sie fast nicht aus, zum Glück dauert sie nur siebzehn Minuten, die ihm aber wie eine Ewigkeit vorkommen.

Es war nicht das einzige Mal, dass die Welt an einem kriegerischen Nuklearschlag vorbeischrammte. Zwei Jahrzehnte zuvor hätte es während der Kubakrise nicht viel mehr gebraucht, um den Konflikt atomar eskalien zu lassen. Heute wird am russischen Fernsehen ganz offen und hemmungslos mit der Atombombe gedroht, allen voran der TV-Moderator, Scharfmacher und Putin-Propagandist Wladimir Solowjow. Atomsprengköpfe dienen nicht mehr der Abschreckung, sondern der ganz direkten Drohung. Macht ihnen das nicht Angst?
Mein Vater war ein Kind, als die Kubakrise passierte, er war noch zu klein, um das verstandesmässig begreifen zu können, aber die allgegenwärtige Furcht hat er gespürt. Jedenfalls erzählte er, dass damals viele glaubten, der Dritte Weltkrieg stünde bevor. Die stationierten Mittelstreckenraketen waren eine unmissverständliche Drohung, heutzutage ist es schwieriger einzuschätzen. Würde Putin für seine Ziele wirklich Atomwaffen einsetzen? Er ist nicht durchgeknallt, er hat bestimmte Ziele und kalkuliert mit Angst. Ich würde ihm den Besuch des Museums in Hiroshima empfehlen, dort sieht man, durch welche Hölle die Menschen damals gegangen sind.

Nach dem Tod seiner Frau 1997 und dem Auszug seiner Kinder lebte Stanislaw Petrow mit einer Rente von 1000 Rubel. Ein Betrag mit dem man sich in einem schicken Moskauer Café gerade mal 10 Tassen Kaffee hätte leisten können. Ist das das Wesen eines wahren Helden? Dass er das, was er tut nicht der Heldentat wegen tut?
Es würde wohl keine Helden geben, wenn sie nach Anerkennung von aussen streben würden, sie haben innere Motive. Stanislaw Petrow sah sich nicht als Held, er habe einfach seine Arbeit erledigt, betonte er immer wieder. Das ist ja ein Topos, der Held, der einfach nur tut, was er für das Richtige hält.

Lesung im Literaturhaus Thurgau in Gottlieben

Lukas Maisel, geboren 1987 in Zürich, machte eine Lehre zum Drucker, bevor er am Literaturinstitut in Biel studierte. 2020 debütierte er mit seinem Roman «Buch der geträumten Inseln«, für das er einen Werkbeitrag des Kantons Aargau erhielt sowie mit dem Förderpreis des Kantons Solothurn und dem Terra-nova-Preis der Schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet wurde. 2021 las er bei den 45. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt, 2022 erschien seine von der Kritik gefeierte Novelle «Tanners Erde«.

Erzählung «Ewiger Wanderer» auf der Plattform Gegenzauber

Beitragsbild © Christina Brun

Agnes Siegenthaler «So nah, so hell», Zytglogge

Man kennt sie, jene, die in verlassene Häuser steigen, mit Taschenlampe und Rucksack, Fotos von Lost Places machen, Spuren suchen nach verlorenem, vergessenem Leben. In einem kleinen Haus, kurz vor der Räumung, treffen zwei junge Menschen aufeinander, Letta, die ungefragt eingestiegen ist und Paul, der im Haus seiner Grossmutter Ordnung machen will.

Wer ein Leben lang ein Haus bewohnt, hinterlässt einen kleinen Kosmos voller Spuren, Signale, Markierungen, dinggewordener Erinnerungen. Ich erinnere mich gut an die Besichtigung jenes Hauses, in dem wir zehn gute Jahre mit unserer Familie verbringen konnten. Die Frau, die mit ihrem Hund Jahrzehnte in dem Haus wohnte, am Schluss nur noch im Untergeschoss, musste wegen eines Unfalls ins Pflegeheim. Als man uns das Haus zeigte, sah man auf dem kleinen Tisch im Wohnzimmer noch einen Notizzettel und in der Küche auf der Anrichte eine Schale mit Früchten.

Agnes Siegenthaler «So nah, so hell», Zytglogge, 2025, 160 Seiten, CHF ca. 28.00, ISBN 978-3-7296-5182-1

Lore führte vor ihrem Tod ein ruhiges und zurückgezogenes Leben. Nicht einmal ihre nächsten Nachbarn wussten etwas von der stillen Frau. Agnes Siegenthaler verrät nur Verschlüsseltes aus dem Leben der stillen Frau. Das wird auch sichtbar im Aufbau des eigenwilligen Romans. Wenn Agnes Siegenthaler von Lore erzählt, dann sprechen die Dinge im Haus von der Frau und den Menschen, die mit Lore Zeit in diesem Haus teilten. Textpassagen, die sich eindeutig vom Erzählstrang nach ihrem Tod absetzen, lyrische Prosa, gesetzt wie Gedichte. Für mich als Leser sind es Atempausen, Einladungen, meinen Lesefluss zu verlangsamen, dem Text Zeit zu lassen, auf die Stimmen der Dinge einzugehen, auf das Hasenauge, die Porzellanfigur, den Hygrometer, die Kaffeetasse, den Elefanten aus Glas. Agnes Siegenthaler gibt den stumm gewordenen Dingen in Lores Haus ihre Stimme zurück, den eingelagerten Erinnerungen, die sich sonst spurlos verflüchtigen. Jeder, der schon einmal die Pflicht hatte, ein Haus Räumen zu müssen, weiss, wie wertlos mit einem Mal Dinge geworden sind, die in einem anderen Leben unentbehrlichen Wert besassen.

Paul ist Lores Enkel. Als er das Haus seiner Grossmutter aufschliesst, merkt er, dass Spuren zu finden sind, die nicht von seiner Groossmutter stammen. Und irgendwann findet er im grossen Bett der Grossmutter eine junge Frau liegen, jemanden, den er nicht kennt, von dem er aber spürt, das keine schlechten Absichten der Grund dafür sind, dass sich jemand unerlaubt Zutritt in das Haus seiner Grossmutter verschaffte. Letta wacht auf. Vielleicht wacht sie aber nicht nur aus dem Schlaf auf, sondern auch aus deinem Rauschzustand, der sich jedes Mal einstellt, wenn Letta in ein nicht mehr bewohntes Haus einsteigt.

Letta ist keine Einbrecherin. Sie ist nicht an dem interessiert, was Einbrecher interessieren würden. Sie hat sich in ihrer Passion ein eigentliches Protokoll zurechtgelegt, das sie genau befolgt. Sie sucht nach einem Andenken. Aber nach einem Andecken, das nicht sie aussucht, sondern von dem sie ausgesucht wird. Ein Taschentuch mit gehäkeltem Rand und den eingestickten Worten „Mensch nütze den Tag, denn er ist kurz“, eine zerkratzte Schallplatte von Miles Davis, ein einzelner Kinderschuh mit vergilbten Maikäfern als Muster. Letta sucht nach dem Andenken in diesem Haus, sucht viel länger als erwartet, erst recht mit Verzögerung, weil da dieser Mann auftaucht und erklärt, er wäre der Enkel. Letta und Paul sind Suchende; Letta nach dem Andenken, Paul mit der Aufgabe, die Asche an Lores liebstem Ort zu verstreuen.

Das verlassene Haus kurz vor seiner Räumung wird zum Schauplatz vieler Begegnungen. Vordergründig zwischen Letta und Paul, unterschwellig zwischen Lore über all die Dinge mit den Menschen, die einst in diesem Haus ein Stück ihres Lebens verbrachten, mit Lore Leben teilten.

„So nah, so hell“ ist ein zartes Debüt von grosser poetischer Kraft. Ein Buch, das viel Aufmerksamkeit verdient, geschrieben von einer Autorin, die mit diesem Roman einen vielversprechenden Weg begonnen hat. Wir werden noch mehr lesen!

Interview:

Ich las Dein Debüt mit grossem Interesse, mit ungetrübter Freude. Nur schon, weil Du eine mutige Form gewählt hast, Lyrisches mit Prosa mischst, deinem Erzählen ganz verschiedene Stimmen und Tonlagen gibst. War von Beginn weg klar, dass Du mehr als nur eine Art des Erzählens für Dein Debüt wähltest? Wieviel Mut brauchte es?

Die unterschiedlichen literarischen Formen sind zusammen mit den verschiedenen Erzählperspektiven entstanden. Es war klar für mich, dass diese nicht einfach in derselben Weise erzählen können. So haben die Gegenstände eine Art Chorfunktion für mich, wie sie gemeinsam und doch sehr individuell von etwas erzählen, was direkt nicht mehr erfahrbar wäre. Ihre Sprache gleicht der verknappten Form von Lyrics in Liedern und hat auch etwas Künstliches. Die Felsteile ihrerseits erlauben es sich, über Jahrtausende auszuholen und doch kurze Momente hervorzuheben. Wenn über Letta oder Paul erzählt wird, sind wir relativ nah an ihnen dran und folgen ihren Bewegungen und Gedanken. Es ist eine alltäglichere und menschlichere Sprache. Es hat nicht unbedingt Mut gebraucht, den Text auf diese Weise zu schreiben, es war vielmehr schön und hat Spass gemacht, zu entdecken, wie es gelingt, eine Geschichte aus unterstimmlichen literarischen Formen heraus zu erzählen. Danach waren es eher Ausdauer und Standhaftigkeit, die nötig waren, um die unterschiedlichen Formen und Perspektiven, zu verteidigen, nicht davon abzukommen und einen Verlag zu finden, der bereit war, dieses Textgewebe herauszubringen.

In alten Kurzbiographien über Dich heisst es „Für ihre Texte sucht sie nach Zeugenschaft in verlassenen Häusern und bei herumirrenden Steinblöcken. Sie interessiert sich für unwahrscheinliche Perspektiven und für das übersehene Offensichtliche.“ Mit diesen beiden Sätzen könnte man auch Letta, die Protagonistin in deinem Roman beschreiben. Keine alltägliche Leidenschaft. Irgendwie doch knapp an den Rändern zur Illegalität. Auch ein Outing?

Ich glaube, ich habe in dieser Kurzbiografie eine Methode offengelegt, die ich brauchte, um ins Schreiben zu kommen. Für diesen Text bin ich von konkreten Orten ausgegangen, die dann im Laufe des Erzählens zu fiktionalen Orten wurden. In dieser Kurzbiografie übertreibe ich ein wenig. Tatsächlich war ich in nicht mehr als einem verlassenen Haus unterwegs und das im Rahmen der Legalität. Aber zugegeben, das klingt auch etwas nach Letta. Möglicherweise ist aus dieser Methode ihre Figur entstanden. Sie ist da aber deutlich abenteuerlicher und eigenwilliger unterwegs, als ich es war. 

Ich musste in meinem Leben schon mehrfach helfen, eine Wohnung oder ein Haus zu räumen. Ein ganz eigenes, spezielles Erlebnis. Da wandert in eine Entsorgungsmulde, was zuvor ein Leben lang wie ein Schatz gehütet wurde. Man nimmt Dinge in die Hand, die ihren Wert mit einem Mal verloren, ihre Geschichte eingebüsst haben. Letta sucht nach einem Andenken, einem kleinen Denkmal, das auch im Unscheinbaren steckt. Ist Letta eine Anwältin jener, die ins Vergessen zu rutschen drohen?

Was du in der Frage beschreibst, war auf eine gewisse Weise eine Erzählabsicht von mir: über ein Leben zu schreiben, das scheinbar ungesehen vergangen ist und darüber, wie die Dinge, die für diese Person Schätze waren, mit ihrem Tod zu Müll werden. In dem Roman übernehmen diese Anwaltschaft gegen das Vergessen aber eher die Stimmen der verschiedenen Gegenstände. Durch sie wird nochmals ein Licht auf ein zurückgezogenes Leben geworfen, welches sich zunehmend ohne menschliche Beziehungen abspielte.
Ich glaube, Letta verfolgt da egoistischere Motive, sie sucht nach Dingen, die eigentlich mit ihr zu tun haben, sie sucht sich eine Art selbst gewählte Hinterlassenschaft zusammen. Es sind eher die Umstände, die sie dazu bringen, näher an Lore heranzugehen, über sie nachzudenken.

Paul ist mit der Urne seiner Grossmutter in diesem Haus. Er nimmt zum einen Abschied von seiner Grossmutter, zum andern ist er da mit der Aufforderung seiner Grossmutter, ihre Asche an ihren Lieblingsort zu bringen. Paul muss im Haus mit seiner Grossmutter Zwiesprache halten, um herausfinden, wo dieser „Lieblingsort“ sein könnte. Dein Roman ist neben diesem Kammerspiel zwischen Letta, Paul und Lore auch ein Buch über den Abschied. Wie wichtig ist dir dieses Thema?

Hier geht es um den Abschied von einem Menschen, der zurückgezogen lebte und eigentlich von den Menschen, die dableiben auch nicht vermisst wird. Solche Geschichten gibt es ja sehr viele. Und Paul nimmt sicherlich Abschied von Lore, aber auch von einem Teil seiner selbst. Vielleicht geht es um diesen selbstbezogenen Anteil von Abschied. Aber auch andere Lesarten sind möglich, zum Beispiel Abschied zu nehmen, von einem Leben, welches man vielleicht gerne geführt hätte, Abschied nehmen von Bildern, die wir uns von Menschen machen.

Bist Du ein Mensch, der Dinge sammelt? Wie sehen Deine Regale aus? Ist Schreiben eine Form des Festhaltens, den Dingen ihre Stimme zu geben?

Ich glaube nicht, dass ich den Dingen eine Stimme geben wollte, ich wollte eine Form finden, in der ich Lores Geschichte erzählen kann. Es ging um ein Erschrecken darüber, dass ein Menschenleben vergeht und die materiellen Dinge einfach weiterbestehen, dableiben, und würden sie nicht entsorgt, könnten sie unerträglich lange da sein. Es ging um die Imagination darüber, was in diesen Räumen passiert sein könnte; und gesehen haben es halt bloss die künstlichen Augen dieser Gegenstände. Daher benutze ich die Dinge eher, als dass ich ihnen eine Stimme gebe. Um mit ihrer Hilfe die Geschichte von Lore zu erzählen. 

Selbst bin ich keine grosse Sammlerin, so ganz traue ich den Dingen wohl nicht über den Weg.  

Agnes Siegenthaler, geboren 1988 in Bern, hat am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und davor Soziale Arbeit studiert. Sie schreibt Prosa und Lyrik und arbeitet aktuell an ihrem zweiten Roman. Neben dem Schreiben ist sie als Soziokulturelle Animatorin in einer interkulturellen Bibliothek tätig. Aufgewachsen im Emmental, lebt und arbeitet die Autorin rund um die Städte Bern und Fribourg. «So nah, so hell» ist Agnes Siegenthalers Debüt.

Agnes Siegenthaler «Meret 2» & «Café Krokodil» auf der Plattform Gegenzauber

Beitragsbild © Karen Moser & Elias Bannwart

Tommie Goerz «Im Schnee», Piper

Auf seiner Homepace nennt sich Tommie Goerz „fränkischer Krimiautor“, was bis zu seiner Veröffentlichung von „Im Tal“ 2023 auch stimmte. Aber mit diesem ersten, von der Presse „literarisch“ bezeichneten Roman und dem eben erschienen „Im Schnee“ gehört der kreative Tausendsassa mit einem Mal zu einer schreibenden Elite, einem Meister der Stimmungen und Figurenzeichnung.

Tommie Goerz heisst eigentlich Marius Kliesch, legte sich das Pseudonym zu, weil ein Krimiautor mit einer ernsthaften Professur unvereinbar schien. 15 Jahre nach seiner ersten Veröffentlichung, nach 18 Krimis, nun zwei ganz unspektakuläre Romane über das einfache, zurückgezogene Leben. „Im Tal“ spielt zu Beginn des letzten Jahrhunderts, „Im Schnee“ in allernächster Vergangenheit.

Max steht am Fenster und schaut in den Winter. Er lebt allein, schon sein ganzes Leben in diesem Haus, seinem Elternhaus, in diesem Dorf, dass er kaum je verlassen hatte. Er sieht auf seine Apfelbäume, draussen im Garten, den Martini, den Rheinischen Krummstil – und Schorsch, seinen einzigen wirklichen Kumpel, der im letzten Herbst wie jedes Jahr noch von den Äpfeln geholt hatte. Jetzt ist Schorsch tot, liegt in seinem Haus. Im Dorf hört man die Totenglocke, Gunda läutet nur noch, wenn der Tod sie dazu ordert. 

Glück ist, wenn alles vorbei ist.

Max trauert still. Der Tod ist zu einem ständigen Begleiter geworden. Auch weil das Dorf schon lange zu sterben begonnen hat; kein Laden, kein Bäcker, kein Metzger mehr. Irgendwann schleifte man gar das Schulhaus in einer Nacht- und Nebelaktion, weil sich das Gerücht im Dorf festgehakt hatte, es würden Flüchtlinge in dem leeren Haus einquartiert werden. Auch am kleinen Bahnhof hält nur nach im Morgen und am Abend ein Zug. So wie das Dorf sterben auch die Höfe. Was früher noch ganze Familien ernährte, schrumpfte über die Zeit. Man verschuldete sich, stellte um, stellte ein, zog weg oder verkümmerte. Max ist geblieben. So wie Schorsch.

Thommie Goerz "Im Schnee", Piper, 2025, 176 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-492-07348-6
Tommie Goerz «Im Schnee», Piper, 2025, 176 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-492-07348-6

Max macht sich auf zum Haus von Schorsch, der dort aufgebahrt liegt, bis zur Beerdigung, die dann stattfinden muss, wenn der Pfarrer Zeit hat. Man trifft einander zur Wache, sitzt dort und erzählt, isst und trinkt und erinnert sich. Man erzählt sich Geschichten und denkt an all das, was man nicht erzählen kann, nicht zu erzählen traut. Geschichten, die eigentlich nur die Deckel all jener Geschichten sind, die man sich nicht erzählt, von denen aber alle wissen. Schon gar nicht über Liebeszeug. Zumindest die Einheimischen, die Hiesigen, nicht die Neubürger aus der Siedlung. Und schon gar nicht jene, die es immer wieder einmal im Dorf versuchten, aber eigentlich hier nichts verloren hatten. Max bringt zwei Äpfel mit, einen Martini und einen Rheinischen Krummstil.

Max bleibt die ganze Nacht, nicht weil er es dem Schorsch schuldig wäre, sondern weil es nur mit dem Schorsch jene Momente der Zweisamkeit gab, die es nur mit Schorsch gab, weil mit Schorsch auch ein Stück seines Lebens zu Grabe getragen wird, Geschichten, Erinnerungen und jenes immer dünner werdende Gefühl der Vertrautheit; nie wieder Tee trinken im Garten, nie wieder in der Werkstatt oder auf der Chaislongue, den Vögeln oder dem Knacken des Ofens lauschen.

Was bleibt, ist die Einsamkeit, ein Geist, der sich mit dem Sterben im Dorf wie ein Myzel ausbreitet, der einen immer dicker werdenden Teppich aus Schweigen über die Verbliebenen und dieses Dorf legt. Ein Dorf, in dem man Tiere und Motoren wesentlich mehr Zuwendung schenkte, weil es sein musste. Und doch ist und war das Dorf der einzige Ort, an dem Max sich sein Leben hätte vorstellen können.

„Im Schnee“ ist ein Roman von uriger Kraft, holzschnittartig geschrieben, ein Roman über die Bruchstelle zwischen den Zeiten, zwischen Vergangenheit und Zukunft. Tommie Goerz hat das Zeug für ganz grosse Klasse!

Interview

„Im Schnee“ ist ein Buch über aussterbende Welten, eine fest in Rituale und Traditionen eingegrenzte Welt, von der man auf dem Land, in Dörfern noch immer etwas spürt, einer Welt, die man aber in urbaner Umgebung vergessen hat. „Im Schnee“ ist kein romantisierender Blick auf diese Welt. Und trotzdem stirbt die Welt von Max. In Ihrem Roman tauchen Binnengeschichten auf, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen – und trotzdem spürt man so viel Verbundenheit, so viel Respekt. Ist genau das die Spanne zwischen Krimi und Anti-Heimatroman?
In »Im Schnee« versuche ich mich einer Welt zu nähern, die uns gerade zwischen den Fingern zerrinnt, ja schon fast ausgestorben ist und deren immanente Regeln und Selbstverständlichkeiten uns oft gar nicht mehr begreiflich sind. Aber wenn die letzten Alten aus den Dörfern einmal gestorben sind, ist diese Welt unwiederbringlich weg. In diesem Kosmos, vor dem ich sehr grosse Achtung empfinde, habe ich versucht, den Roman anzusiedeln. Vielleicht kann man es so sagen: Die Geschichten der Alten sind manchmal spannend wie ein Krimi – und gleichzeitig sind es Heimatgeschichten. Aber so ist eben Heimat: sie duftet verlockend süss – und stinkt gleichzeitig erbärmlich.

Aquarell des Schriftstellers

Sie sind seit einigen Jahren in Rente. Warum jetzt Bücher wie „Im Tal“ und „Im Schnee“? Brauchte es den weisen Blick des Alters, um so schreiben zu können? Oder lenkt der Blick auf ein Verbrechen zu sehr ab von dem, wovon man auch noch erzählen will? Eine Abkehr vom Krimi?
Gar keine Frage: Für ein Buch wie »Im Schnee« braucht es einen Erzähler mit einem gewissen Alter, und das habe ich nun mal. Und ja, »Im Schnee« ist in gewissem Sinn eine Abkehr vom Krimi, aber aus einem für mich letztlich ganz profanen Grund: Nach dem Gewinn des Glauser mit »Meier« war ich in der Jury für den nächsten Glauser – und da mussten wir über 450 Krimis sichten. Seitdem bin ich absolut Krimi-übersättigt. Geschichten aber habe ich noch genug im Kopf – und wer weiss, vielleicht kommt auch nochmal ein Krimi.

Max lebt schon lange allein, fast nur in seiner einfach eingerichteten Küche. Er fährt nicht einmal in den nächst grösseren Ort, sondern wartet geduldig, bis ihm einer seiner immer weniger werdenden Nachbarn vom nahen Ort bringt, was er zum Leben braucht. Er schaut und sinniert, legt immer wieder einmal ein Scheit nach in seinen Ofen, liest keine Zeitung, schaut und hört keine Nachrichten. Was er durchs Fenster sieht, in der einzigen noch ab und an offenen Gaststube hört oder durch die Totenglocke vernimmt, reicht ihm. Eine Genügsamkeit, die weit weg von der meinigen ist. Steckt da auch eine Portion Sehnsucht?
Wer sehnt sich nicht nach Ruhe – doch was machen wir? Knallen uns jede Minute zu mit irgendwelchen »Aktivitäten«. So wird das aber nichts mit der Ruhe. Dabei kann man die so leicht haben – wenn man sich einfach einmal hinsetzt und nichts tut. Der Sonne zuschaut und den Schatten beim Wandern. Kann keiner. Weil kaum einer mehr bei sich zuhause ist. Stille erträgt keiner mehr, Zeit erst recht nicht. Genügsamkeit aber beginnt beispielsweise schon in dem Moment, in dem man begreift, dass es nicht eine einzige Anschaffung gibt, die glücklich macht. Das erzählt uns nur die Werbung. Zeit und Ruhe zu haben, kann also eigentlich unheimlich einfach sein. Was man dann mit der Zeit macht? Ich nutze sie zum Schreiben, das kostet nicht einmal etwas. Manchmal guck ich dabei stundenlang aus dem Fenster … vielfach auch völlig umsonst. Macht aber nichts, ich kann das gut ertragen.

Man ist in diesem Dorf gewandter im Umgang mit Tieren und Maschinen, als mit Menschen, selbst mit seinen Nächsten. Obwohl die Kirche einst zentrale Kraft in einem solchen Dorf war, ist Nächstenliebe keine Selbstverständlichkeit, oder wird zumindest ganz anders interpretiert. Obwohl alle nur ein einziges Leben zur Verfügung haben, tun wir alles, um es uns möglichst schwer zu machen. Ist Schreiben ein Verdauungsvorgang?
Ich würde es eher so sagen: Schreiben ist ein Findungsvorgang, ein Verstehensvorgang, ein Ein-, Mitfühl- und Durchdringungsvorgang, alles in Einem. Doch zur Frage. Klar, man mutet sich in »meinem« Dorf – aber das ist nicht selten so, wo man auf engstem Raum zusammenlebt und aufeinander angewiesen ist – einiges zu. Einem Aussenstehenden mag das wie mangelnde Nächstenliebe erscheinen, doch ist es schlicht ein Modus vivendi, das Leben ist hart. Mit seinen Nachbarn oder Nächsten muss man klarkommen, man kann ja nicht einfach weg. Das aber kann nur gelingen, indem man vieles hinnimmt, so sein lässt, wie es ist, und über vieles schlicht schweigt. Das gewährt das Funktionieren des Zusammenlebens. Irgendwie weiss jeder alles, aber offiziell weiss keiner etwas. Das macht das Leben erst lebensmöglich. Es hilft. Ich vermute ja, dass das in der Stadt kaum anders ist, als es in der Enge eines Dorfes war, nur erscheint es uns auf dem Dorf vielleicht offensichtlicher, weil die Welt scheinbar übersichtlicher ist. In der Stadt rettet uns die Anonymität.

Arbeitszimmer

Ziemlich am Anfang und fast am Ende ihres Romans taucht ein junger Mann auf. Ein Wanderer. Max lässt ihn in seine Küche, gibt ihm etwas zu essen, sie kommen zaghaft ins Gespräch. Ein Wanderer aus einer anderen Welt, einer Welt, die mit der Welt von Max nur wenig gemein hat. Eine Begegnung, die auch mit den BewohnerInnen der Neubausiedlung im Dorf zu einer Begegnung der „anderen Art“ wird. Sie wohnen auch in einem Dorf. Begegnet man ihrem neuen Roman nicht mit Argwohn oder Skepsis, weil sie so gar nichts Landleben-Verherrlichendes präsentieren?
Das Land ist keine Idylle, das wissen die auf dem Land am allerbesten. Das Landleben war nie ein Ponyhof und wer diesem verklärenden Unsinn aufsitzt, macht es sich halt lieber in seiner Illusion gemütlich als in der Realität. Jeder wie er will, nur: Süssliche Geschichten werden Sie aus meiner Feder nie lesen. Max› Begegnung mit dem jungen Mann thematisiert, wie weit sich beide Welten schon voneinander entfernt haben. Inzwischen liegt die eine im Sterben und wird in absehbarer Zukunft endgültig aus der Zeit gefallen sein, und die andere steht vor ihr mit Staunen, ja fast schon Verständnislosigkeit und findet sie vielleicht skurril. Was bleibt, sind ein paar letzte Bilder. Vielleicht atmosphärisch stark, aber sind sie auch dokumentarisch? Oder doch wieder nur verklärend? 

Tommie Goerz (1954) ist gebürtiger Erlanger. Über Jahre machte er sich als mehrfach ausgezeichneter Krimiautor einen Namen. Auch sein literarisches Debüt „Im Tal“ (2023) wurde von Publikum und Kritik begeistert aufgenommen. Goerz war Langzeitstudent, Hüttenwirt, Automatenwart und Schallplattenvertreter, Lehrbeauftragter, Almknecht, erfolgreicher Werber und mehr. Bis heute wohnt er in Erlangen.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Gaby Gerster

Das 16. Wortlaut Literaturfestival in St. Gallen vom 28. bis 30. März 2025

Wortlaut ist das literarische Frühjahrsereignis der Ostschweiz. 2025 wird es zum 16. Mal durchgeführt und findet vom 28. bis 30. März 2025 statt. Sämtliche Veranstaltungsorte wie Lokremise, Bibliothek Hauptpost und Grabenhalle sind fussläufig erreichbar und liegen bahnhofsnah. Ziel des Literaturfestivals ist es, die vielfältige Welt der Literatur einem breiten Publikum bekanntzumachen.

Wir alle schlagen uns herum mit Schreckensbildern, Katastrophenszenarien oder Zukunftsängsten. Übernimmt am Ende nicht ohnehin die Künstliche Intelligenz die Weltherrschaft? Es ist schwierig, in diesen Zeiten zu hoffen, wenn wir um unsere Demokratie und unsere Erde bangen müssen. Aber es soll nicht düster bleiben, im Gegenteil: Wir sind davon überzeugt, dass es sich lohnt zu «hoffen», auch wenn derzeit viele von uns «bangen». Und wo, wenn nicht in der Literatur, können wir diese Hoffnung finden?

Mit viel Freude laden wir Autor*innen nach St.Gallen ein, die sich auf unterschiedliche Art und Weise mit dem Hoffen und Bangen auseinandersetzen. Wie gelingt es uns, als Gesellschaft wieder zusammenzurücken? Nur über gutes Streiten, davon ist die Philosophin Svenja Flasspöhler überzeugt. Gemeinsam mit Barbara Bleisch und der Band Hekto Super eröffnet sie das Wortlaut 2025.

Neben ganz wunderbaren Autor*innen, die am Samstag und Sonntag aus ihren Büchern lesen, setzen wir den Schwerpunkt genau darauf: auf Gespräche und den Austausch. Peter Stamm bekommt von uns die Carte blanche. Verleger*innen diskutieren über die Zukunft des Buches. Zwei Autorinnen aus zwei Generationen geben im Rahmen eines Werkstattgesprächs Einblicke in ihr Schaffen. Eine Uni-Seminargruppe und eine Gymnasialklasse bestreiten jeweils eine Veranstaltung mit Autor*innen, die sie selber eingeladen haben.

Mit Buslesungen und einem literarischen Stadtspaziergang wollen wir Ihnen eine Reise ermöglichen, die ausnahmsweise nicht nur im Geiste stattfindet.

Gemeinsam werden wir an diesem Wochenende gute Gründe finden, warum es trotz allem Anlass zur Hoffnung gibt.

Wortlaut ist zurück. Wir freuen uns auf Sie, liebes Publikum!

Infos zum Wortlaut

Samantha Harvey «Umlaufbahnen», dtv

Ein Tag im All, eigentlich 16 Tage in 24 irdischen Stunden. Sechs Besatzungsmitglieder aus fünf Nationen, eingeschlossen in ein Kapselsystem, in einen durchgetakteten Alltag, der aber doch nie ganz losgelöst ist von der Mutter Erde. Samantha Harveys Roman ist ein Meisterwerk menschlicher Extreme.

In 400 Kilometern Höhe kreist die ISS im 90-Minuten-Takt seit bald 10000 Tagen um die Erde. Bis 2020 wurde die Raumstation immer und immer wieder erweitert, trotzdem ist ihre Existenz endlich. Irgendwann in den kommenden Jahren wird man das mittlerweile auf über 100 Meter grosse Gebilde aus verschiedensten Modulen und Solarsegeln kontrolliert zum Absturz bringen. Fast alles wird in der Atmosphäre verglühen, alles, was Astronauten und Kosmonauten nicht zur Erde zurückbringen.

An der Hand der britischen Schriftstellerin und Dichterin Samantha Harvey begleite ich sechs Besatzungsmitglieder einen Tag lang auf ihrer Reise durch den Orbit. „Umlaufbahnen“ ist weder Science-fiction noch Weltraumthriller. Dieses Buch, das zwischen fast beschaulichen Innen- und Aussenwelten, der Sicht auf die Erde, jene durch wachsende Demut auf das eigene Sein, den lyrisch anmutenden Beschreibungen und den essayistischen Passagen mäandert, ist ein erstaunlich poetischer Blick auf die menschliche Existenz und was diese aus dem zarten Gleichgewicht auf der schmalen Schicht irdischen Lebens anrichtet. Samantha Harvey Beschreibungen sind behutsam, zärtlich, getragen von grossem Respekt und unzähmbarer Freude an der Sprache. Was der Schriftstellerin in diesem Buch gelingt, macht sie zur erzählenden Dichterin, die es nicht nötig hat, mich mit Spannungsbogen, Plot oder gekünstelter Dramaturgie zu ködern. „Umlaufbahnen“ ist so unspektakulär wie das Leben, dieser eine Tag zweier Frauen und vier Männer. 

Samantha Harvey «Umlaufbahnen», dtv, 2024, aus dem Englischen von Julia Wolf, 224 Seiten CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-423-28423-3

Diese sechs Menschen sind nichts anderes, als sechs fremdgesteuerte „Versuchskaninchen“, die mittels Selbstversuchen und Messdaten am eigenen Organismus, mit Versuchen an mitgebrachten Pflanzen und Tieren, technischen Versuchsreihen und Beobachtungen, nicht zuletzt der meteorologischen, gefangen sind in einem Hamsterrad. Von früh bis spät durchorganisiert in einem Erdentag, der auf der ISS 16 Sonnenauf- und Untergänge lang dauert.
Zwei russische Kosmonauten, ein Italiener, ein Amerikaner, eine Japanerin und eine Engländerin in einem Kapselgeflecht weit weg von Mutter Erde. Ein Begriff, der in der sonst so lebensfeindlichen Umgebung des Weltalls seine ganz eigene Bedeutung bekommt. Spiegelbild der Mäusekolonien, die man auf der Station zu Versuchs- und Beobachtungszwecken mitführt. Sechs Individuen, die alle mit minimal persönlichem Equipment zurückgeworfen sind auf das, was sie mit sich tragen: Erinnerungen, Sehnsucht nach den Nächsten, der Trauer um den Tod der Mutter, die Sorge um all das, was der von der Station aus wunderschöne Riesentornado auf der Erde anrichten wird. 

Was sich in der Raumstation, eingebunden in tagtägliche Routine abspielt, ist trotz Russen und Amerikaner, gelebte Kooperation. In diesem eng begrenzten Raum gibt es innerhalb der Titanhülle keine Grenzen. Auch dann nicht, wenn Bodenstationen erklären, dass die russische Toilette nur von russischen Kosmonauten und die amerikanische nur von der restlichen Besatzung aufgesucht werden darf. Dort oben ist man Mensch. Aber selbst der Blick auf das Erdenrund lässt ausser jener zwischen Wasser und Land keine Grenzen erkennen. Während auf dem Planeten für Grenzen getötet und gestorben wird, atmen die sechs Besatzungsmitglieder alle die selbe immer und immer wieder aufbereitete Luft und trinken den zu Wasser aufbereiteten Urin aller Besatzungmitglieder.

An diesem Ort, an dem Beziehungen der Sache dienen müssen, alles einem Zweck unterworfen ist, nichts an die Natur erinnert und man für Monate freiwillig gefangen ist in einem Kokon aus Technik, Kunststoff und Metall, in einer Station, deren älteste Modulteile bereits Risse aufweisen, wird die Sehnsucht nach Kleinigkeiten unsäglich gross. Genauso wie die Enttäuschung darüber, dass es die Spezies Mensch nicht schafft, diesem einmaligen Geschenk des Lebens die gebührende Sorge zu tragen. Nichtigkeiten werden zu Sehnsüchten; Pflaumen, schmerzende Füsse, wütend eine Türe zuschlagen, Spiegeleier, die Notwendigkeit eines dicken Wintermantels. Dort oben zählt nur Funktion.

Was Samantha Harvey literarisch schafft, ohne einen einzigen Besuch in einer solchen Kapsel, mit blosser Imagination und sorgfältiger Recherche, ist ausserordentlich. Was sie daraus macht ebenso. Jene Ehrfurcht, die Weltraumfahrende immer wieder beim Anblick unserer Erde erfasst, springt über. Was Samantha Harvey schreibt, hat durchaus eine mahnende Komponente, obwohl sie nicht moralisiert. Aber was wohl das Verblüffendste an diesem Roman ist, dass ich als Leser ihre Freude an der Sprache spüre, ihre verschriftlichte Leidenschaft, die sie so beschreibt: Dieses Gefühl, dass mir der Atem stockt und ich schwebe, das wollte ich zu Papier bringen. Es war pure Freude, diesen Roman zu schreiben, reiner Eskapismus. Ich wollte nicht, dass er endet.

Was für ein Glück für uns Leserinnen und Leser!

«Die Schönheit von sechzehn Sonnenaufgängen und sechzehn Sonnenuntergängen ist die treibende Kraft in diesem Roman von Samantha Harvey. Er handelt von uns allen und niemandem, während sechs Astronautinnen und Astronauten in der Internationalen Raumstation die Erde umkreisen und die Veränderungen des Wetters über vergängliche Grenzen und Zeitzonen hinweg beobachten. In ihrer lyrischen und luziden Prosa lässt Harvey unsere Welt fremd und neu erscheinen.» Edmund de Waal, Vorsitzender der Booker Prize-Jury

Samantha Harvey, 1975 geboren, ist eine britische Schriftstellerin von mehreren Romanen und einem Memoir. Ihr literarisches Werk erhielt hymnische Besprechungen und wurde für viele renommierte Preise nominiert, u.a. dem Man Booker Prize und dem Women’s Prize for Fiction. Sie lebt in Bath und unterrichtet dort Kreatives Schreiben. «Umlaufbahnen», ihr fünfter Roman, wurde für mehrere Preise nominiert und mit dem Booker Prize 2024 ausgezeichnet.

Julia Wolf, 1980 geboren, ist Schriftstellerin und Übersetzerin. Für ihre Romane erhielt sie u.a. den 3sat-Preis, den Licher Literaturpreis und war für den Deutschen Buchpreis nominiert. Zu ihren übersetzen Autoren gehören neben Samantha Harvey auch Szilvia Molnar und Joy Williams.

Beitragsbild © Rick Hewes

Franziska Beyer-Lallauret „Glücksrand“, Plattform Gegenzauber

Verspätung

Ich hab mich verirrt
Wimperntusche vergessen
Auf der Treppe
Das Fenster ließ sich nicht
Schließen der Vorhang
Klemmte als Segel
Tuch im Rahmen ich musste
Auf einen Stuhl steigen 
Um die Flatter zu machen
Kann viel erzählen
Von munteren Monden
Verschütt gegangenen
Verben verloren
Geglaubten Schlüsseln
Kann auch behaupten
Ich spiele bloß mit
Der Zeit wenn der Abend
Lang genug wird

 

Innen

Ohne Sonne werfen  
Wir weniger Schatten
Aufeinander dann
Wird es wärmer 
Ich kann dich erkennen
Du bist leichter 
Als Wind du drehst 
Mir am Glücksrand

 

Auftritt

Unter der Brücke
Weht es mich durch
In unvermutete Richtungen
Ich soll mich erinnern
An große Sprünge Gedächtnis
Lücken übertreten dabei
Komme ich eigentlich aus
Dem Eishaus habe dort Zucker 
Statt Wasser getrunken und
Aufgepasst dass der Überschuss 
Zeit nicht aufs Kleid tropft
Du siehst aus als wolltest du
Mir als erster begegnen
Nur einmal in diesem Leben 
Auf meinen Ostmund
Setze ich einen Rotstift an
Den du für voll nehmen sollst
Du hörst ihn glitzern
Während ich rede

 

Glasfasern

In deinen Armen
Schleppst du eine Reißprobe
Durch die Idylle
Sehnen sind am Zerspringen 
Wir sollten eigentlich
Nicht davon sprechen
Was du am Sonntag machst
Dass Wandern
Kein Sport ist
Dass wir uns beide 
Zu schwer sind du solltest
Eigentlich gar nicht
Mit mir über Sehnen sprechen

 

Unberührbar

Kopierer geben den Geist auf
Was wir schreiben lässt sich kaum
Drucken nichts Schwarzes will halten
Auf einem Weiß das unter ihm bricht
Die Geduld des gesamten Papiers
Hängt nur noch an einem Faden
Keine Silbe hat deine Augen

 

Knapp über Null

Zu kühl für die Jahreszeit 
Sagen sie warten mit Gurkensetzlingen
Der Eisheiligen wegen
Du gießt Wasser ins Glas es könnte sich
Glatt eine Schicht drauf bilden
Ich werde eine Clematis pflanzen sag ich
Streif deinen Kosmos du siehst
Mich an von der Seite als würde sich was
Lichtes bestätigen das du
Schon lange über mich weißt und nie
Ganz glauben konntest

(bisher unveröffentlichte Gedichte)

 

Franziska Beyer-Lallauret, geboren 1977 in Mittweida, wuchs im sächsischen Muldental auf und studierte in Leipzig Germanistik und Französisch. Nach längerem Aufenthalt in der Bretagne lebt sie heute mit ihrer Familie als Deutschlehrerin und Autorin in Avrillé bei Angers an der Loire
Sie schreibt sowohl auf deutsch als auch auf französisch, bzw. überträgt ihre deutschen Texte wie bei ihren beiden letzten Gedichtbänden («Falterfragmente / Poussière de papillon» und «Lauschgoldfisch / Brise Âme», beide dr. ziethen verlag Oschersleben 2022 und 2025) eigenständig ins Französische.
Auszeichnungen: Ulrich-Grasnick-Lyrikpreis 2021 (1. Preis), Shortlist des Bonner Literaturpreises 2021, Finalistin beim Lyrikpreis Meran 2022.
Mitglied der internationalen Lyrikgesellschaft Leipzig e.V., des Friedrich-Bödecker-Kreises und des PEN Deutschland.

Webseite der Autorin

Colum McCann «Twist», Rowohlt

Missionschef Conway an Bord eines Reparaturschiffes für Kabelbrüche neben Anthony Fennell, der sich für eine Reportage auf diesem Schiff dem unnahbaren Missionsleiter und seiner Aufgabe annähern will. Ein Roman wie «Moby Dick». Ein Kampf zwischen einem Ahab und einer Macht, die den stillen Kämpfer in die Tiefen der Gegenwart zieht.

Man kann „Twist“ als spannenden Thriller lesen. Oder als abgeklärte Schelte gegen eine Gegenwart, die sich zumüllen lässt, sowohl mit handfestem Müll, wie mit Informationsmüll. Oder als Anklage an eine Welt, die mit jedem Tag verwundbarer wird und blind auf den letzten Abgrund zurast. Oder über einen Mann, der mit journalistischem Eifer zu verstehen versucht. „Twist“ ist aber vor allem eine unerhört gut erzählte Geschichte mit einem Twist, einer nicht vorhersehbaren Wendung, die alles zuvor in Frage stellt. 

Wir haben keine Ahnung, auf welches Chaos wir da zusteuern.

Anthony Fennell ist ein müde gewordener Journalist. Nicht nur müde in seinem Schreiben, auch müde in seinem Leben. Einem Leben, das aus dem Trott gekommen ist, von dem Fennell genau weiss, dass es einen Twist braucht, nicht zuletzt einen Sturm, um wieder auf Kurs zu kommen. Im Auftrag der Financial Times überredet er den Missionsleiter eines Reparaturschiffs für Kabelbrüche bei einer kommenden Mission mitfahren zu dürfen, nicht zuletzt darum, weil durch solche Kabelbrüche auf dem Grund des Ozeans immer und immer wieder ganze Landstriche vom digitalen Informationsnetz abgeschnitten werden und dadurch nicht nur grosse Verunsicherungen ausgelöst werden, sondern internationale Sicherheit und ein weltumfassendes Wirtschaftssystem horrenden Schaden erleiden. Solche Reparaturschiffe lauern wie die Feuerwehr auf den Alarm, um im Notfall jene Orte in den Weiten der Ozeane aufzuspüren, an denen das hochsensible Nervensystem der Welt unterbrochen ist. Von Metalldrähten und in Kunststoff eingeschweisste Glasfaserkabel, durch die alles fliesst, was an der Erdoberfläche unentbehrlich erscheint. Es sind nicht die Satellitenverbindungen, die die Informationsflüsse am Laufen halten, sondern ein viel kostengünstigeres Kabelsystem, nicht nur an Land, sondern auch durch die Tiefen des Ozeans, aber genauso verletzlich.

Ich fühle mich manchmal, als würde ich im Schneckentempo zu einem Grossbrand fahren.

Colum McCann «Twist», Rowohlt, 2025, aus dem Englischen von Thomas Überhoff, 416 Seiten, CHF ca. 39.90, ISBN 978-3-498-00385-2

Für Fennell kommt die Reportage zum genau richtigen Zeitpunkt. Sein Leben droht auseinanderzufallen, nicht zuletzt durch seinen Alkoholkonsum. Eine zeitlich ungewisse Reise mit einem Schiff, auf dem er der einzige sein wird, der als Teil der Crew nicht funktionieren muss. Eine geführte Flucht vor dem, was er geworden ist. Eine Mission, bei der es nicht zuletzt um Zeit geht, darum, möglichst schnell die Nadel im Heuhaufen zu finden, die losen Enden wieder zusammenzufügen, den Twist in Ordnung zu bringen, die unterbrochene Informationsflüsse auslösen. Fennell wird Zeuge des Chaoses, das ein solcher Kabelriss auslöst.

Wir flicken die Enden, damit sich die Menschen weiter zugrunde richten können.

Conway lässt sich von Fennell nur ungern in die Karten schauen. Und Fennell ist sich nicht sicher, ob das, was ihm Conway an Fassade zeigt, dem entspricht, was er mit sich trägt. Während der Fahrt auf dem Ozean teilt man der Crew mit, dass auf die Lebenspartnerin von Conway ein Säureanschlag verübt wurde. Zanele ist Schauspielerin und Mutter zweier Kinder. Während Fennell immer klarer wird, dass Conway mehr als ein Geheimnis mit sich herumträgt, kappt Conway Fennells private Netzverbindungen. Und als Conway bei der letzten Aktion der Georges Lecointe völlig unerwartet spurlos vom Schiff verschwindet, man von einem Unglück ausgeht, verstrickt sich Fennell immer mehr in seinen Recherchen um einen Mann, der vordergründig vorgibt, ein Retter zu sein, einer der das zusammenflickt, was die Welt aus den Fugen zu reissen droht.

Colum McCann spinnt ein feines Netz um zwei in ihren Tiefen verletzte Männer, um eine Gesellschaft, die sich im Netz aus Informationen über die eigentlichen Probleme dieser Erde hinwegtäuscht, um eine Erde, die aus dem Gleichgewicht gekommen ist, einen Planeten, bei dem der Dreck bis in die entferntesten, dunkelsten Ecken vorgedrungen ist. Colum McCann gelingt es mit seiner äusserst suptilen Erzählstrategie, mich als Leser zu verunsichern, den Spiegel vorzuhalten. Unter all den Oberflächen ticken Bomben.

Was ich lese, ist ein Bericht. Conway ist tot. Ein Tauchgang in Abgründe.

Colum McCann mit Moderatorin Jennifer Khakshouri und Vorleser Thomas Sarbacher an der Lesung des Literaturhauses Zürich vom 11. März 2025

Colum McCann wurde 1965 in Dublin geboren. Er arbeitete als Journalist, Farmarbeiter und Lehrer und unternahm lange Reisen durch Asien, Europa und Amerika. Für seine Romane und Erzählungen erhielt McCann zahlreiche Literaturpreise, unter anderem den Hennessy Award und den Rooney Prize for Irish Literature. Zum internationalen Bestsellerautor wurde er mit den Romanen «Der Tänzer und Zoli». Für den Roman «Die grosse Welt» erhielt er 2009 den National Book Award. Er ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in New York.

Thomas Überhoff studierte Anglistik, Amerikanistik und Germanistik und arbeitete lange als Lektor und Programmleiter Belletristik beim Rowohlt Verlag. Er übersetzte unter anderem Sheila Heti, Nell Zink, Jack Kerouac und Denis Johnson.

Webseite des Autors

Beitragsbild © P. Matsas/Opale/Leemage/laif 

Julia Schoch «Wild nach einem wilden Traum», dtv – Wortlaut Literaturfestival St. Gallen

Unter dem Titel „Biographie einer Frau“ ist „Wild nach einem wilden Traum“ der letzte Band einer Trilogie. Nach „Das Liebespaar des Jahrhunderts“ über Liebe und Herkunft und «Das Vorkommnis“ über Partnerschaft und Ehe ist der dritte Teil ein Roman über die Leidenschaft, über die Liebe – vor allem über jene zum Schreiben.

Sie wird ganz überraschend, anstelle eines verhinderten Kollegen, für ein paar Wochen in eine Künstlerkolonie im Norden der USA, zwei Stunden mit dem Auto von New York, eingeladen. Fast ein Dutzend KünstlerInnen, die meisten Schriftsteller. Am ersten Abend sitzt man im geräumigen Aufenthaltsraum im Haupthaus in grosser Runde, stellt sich vor und erzählt von der Arbeit, an der man in den Tagen an diesem stillen Ort weitermachen will. In der Runde sitzt A., ein spanischer Schriftsteller, der sich aber ganz dezidiert als Catalane zu erkennen gibt, obwohl er spanisch schreibt. Ein Mann, der sie vom ersten Moment weg fasziniert und einnimmt. Obwohl sie von sich selbst behaupten würde, sie sei glücklich verheiratet, auch wenn die Schriftstellerei, das Schreiben für ihren Mann immer mehr zu einer Konkurrenz wurde.

Immer habe ich nach Worten gesucht, nach dem einen, dem richtigen. Vielleicht beginnt man deshalb zu schreiben.

Zwischen A. und ihr entwickelt sich eine Leidenschaft, ein Kippzustand zwischen den beiden Zuständen, der Hingabe an das Schreiben und jene an diesen Mann. Zwei Zustände, die sich gegenseitig beflügeln, Bilder aus der Vergangenheit provozieren, die sie vergessen glaubte. Vor allem dieses eine, als sie als Mädchen in den Streifzügen im Wald rund um die Kaserne, in der junge Rekruten stationiert waren, einen jungen Soldaten trifft, der auf einem Baumstamm sitzt und zuerst erklärt, er sammle Pilze. Das, was für mich auf den ersten Blick nach einer heiklen Begegnung aussieht, wird sowohl für den jungen Mann wie für das Mädchen eine Aneinanderreihung wichtiger Momente. Dort treffen sie sich immer wieder. Dort entsteht ein Raum, der sich von den anderen Räumen unterscheidet. So wie die Räume des Schreibens in ihrem späteren Leben auch. Zwischen den beiden wächst ein Etwas zwischen Leidenschaft und Freundschaft, eine Insel.

Julia Schoch «Wild nach einem wilden Traum», dtv, 176 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-423-28425-7

Sie, die mit keiner Vorstellung in diese Künstlerkolonie kam, worüber sie schreiben könnte, erinnert sich an den Soldaten zurück. Ihm erzählte sie von ihrem Traum, dereinst Schriftstellerin zu werden. Und er, der junge Mann, war es, der ihr sagte: Du schaffst es, bestiummt. Man muss wild danach sein. Wild nach einem wilden Traum. Ein Satz, den er zweimal wiederholte. Ein Satz, den die Frau mantramässig in ihrem Leben immer wieder zu sich selber sagte. Ein Satz, der seine Wirkung bis in die Tage in jener Kolonie entfaltet, in ihrer Leidenschaft für den Catalanen. 

Aber auch die Begegnung mit dem Catalanen ist Erinnerung. Sie schreibt sich in jene Momente, weil ihr bewusst wird, wie sehr sich alles auf ihr Schreiben auswirkte, die scheinbar einzige Entscheidung in ihrem Leben, die sie wirklich gefällt hatte. In einem Leben, in dem sie einfach immer weitergegangen war, weit weg von der Vorstellung, man stehe irgendwann an einer Gabelung oder Kreuzung und entscheide sich ganz bewusst und nach langer Überlegung für eine Richtung, für eine Richtungsänderung. Sie erinnert sich ihrer Kindheit, ihrer Herkunft. Warum die Liebe zu ihrem Mann stumpf und blass geworden ist. Warum die Hinwendung zum Schreiben, die Sehnsucht Schriftstellerin zu sein, Heimat geworden ist und die Leidenschaft zu einem Mann bloss Aufenthalt.

Jedes Menschenleben ist angefüllt mit Geschehnissen, die in den Falten des Gedächtnisses lagern. Und in jedes einzelne Geschehnis hineingehalten sind noch weitere.

Julia Schochs Romane entlarven die Gegenwart, spiegeln ein Lebensgefühl der permanenten Suche, diesen Drang, sich zu bewegen, sich mitreissen zu lassen. Rasch fertig werden, um Zeit für das Eigentliche zu haben: den Wahn der Liebe. So gar nicht das, was man mit dem Modewort „Achtsamkeit“ zu verkaufen versucht. „Wild nach einem wilden Traum“ ist ein gnadenlos ehrliches Buch. Nicht zuletzt ein Buch über das Schreiben, über Julia Schochs Schreiben. Darüber, wie sehr sich Begegnungen auf das eigene Tun auswirken, oft tief verborgen im Unterbewusstsein. Und vielleicht ist es eben diese Fähigkeit einer Schriftstellerin, dass sie sich dessen bewusst ist, dass sie in den Sedimenten ihres Lebens nach jenen Einschliessungen sucht, die bis in die Gegenwart wirken. So wie jener eine Moment, als der junge Mann, jener Rekrut, den sie immer wieder im Wald traf und treffen wollte, sie küsste. Nicht auf den Mund, aber an ihrem Handgelenk. Eine Erinnerung, die zur Erzählung werden musste.

Julia Schochs Schreiben, ihr Erzählen, unterscheidet sich grundlegend von den meisten anderen Romanen der Gegenwart; Julia Schoch erzählt weniger eine Geschichte, als Lebenszustände, Marksteine, Innenwelten. Und das in einer Offenheit, die mich tief bewegt.

Was ich in der Trilogie erzähle? Dass wir unterschiedliche Rollen im Leben haben und nie genau wissen, was wir für andere sind. In den drei Büchern möchte ich Gerechtigkeit walten lassen. Ein Wunschtraum, vielleicht. Aber ein schöner. Julia Schoch

Julia Schoch, 1974 in Bad Saarow geboren, aufgewachsen in Eggesin in Mecklenburg, gilt als Virtuosin des Erinnerungserzählens (FAZ). Zuletzt veröffentlichte sie die Romane «Das Vorkommnis» und «Das Liebespaar des Jahrhunderts» als die ersten beiden Bände ihrer Trilogie «Biographie einer Frau». 2022 wurde ihr die Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung verliehen, 2023 der Schubart-Literaturpreis der Stadt Aalen, 2024 der Mainzer Stadtschreiber-Literaturpreis. Sie lebt in Potsdam.

Webseite des Autorin

Beitragsbild © Jürgen Bauer

Svenja Flasspöhler «Streiten», Hanser – Wortlaut Literaturfestival St. Gallen

Streit ist nicht schlecht. Streit braucht es, auch den in der Liebe, in der Ehe. Und mit Sicherheit in der Gesellschaft und in der Politik. Aber dass zwischen Gegnern und Feinden ein grosser Unterschied besteht, dass Streit unter Feinden selbst dann zum Krieg wird, wenn man ihn vordergründig nur mit Worten austrägt – davon schreibt die Philosophin Svenja Flasspöhler leidenschaftlich und sehr persönlich.

Streitet man in Diktaturen? Wird im Kreml gestritten? Wohl kaum. Lager und Gefängnisse füllen sich schnell mit jenen, die sich dem Disput stellen. Navalny wird man so schnell nicht vergessen. Streitet man mit Trump? Stellt sich ihm in seinem engsten Kreis jemand entgegen? Traut sich dort jemand? Oder werden alle, die nur Anzeichen einer Widerrede zeigen, wegspediert, versenkt und geächtet? Wahrscheinlich ist es ein Gradmesser einer funktionierenden Demokratie, ob man den Streit aushält. Aber wo hört Streit auf? Wo beginnt verbale Vernichtungsstrategie? Die Gräben in der Politik zwischen links und rechts, zwischen konservativ und progressiv, zwischen den politischen Polen werden immer gehässiger. ExponentInnen sind immer weniger in der Lage, sich wirklich um die Probleme der Menschen zu kümmern, als um den strategischen Schlagabtausch der Streitenden, die sich stets profilieren müssen, um bei ihren Wählerinnen und Wählern nicht in Ungnade zu fallen.

Ein Streit ist nie harmlos. Der Abgrund der Vernichtung ist immer da.

Die Coronajahre haben mehr als deutlich gezeigt, dass wir die Fähigkeit der respektvollen Auseinandersetzung zu verlieren drohen. Wie schnell wird man abgestempelt und diffamiert, ins Offside gedrängt, in eine Ecke, aus der man, einmal in einen medialen Shitstorm geraten, nicht mehr oder nur mehr schwer herausfindet. Gräben ziehen sich zwischen Freundschaften, bis in Familien. Man schweigt lieber, als sich zu streiten. Sind wir zu zimperlich geworden oder leiden wir an Harmoniesucht, die angesichts der allseitigen Bedrohungen verständlich wird?

Damit ein Streit nicht eskaliert und die Parteien unwiederbringlich auseinandertreibt, müssem die Bindungskräfte grösser sein als der Vernichtungsdrang.

Svenja Flaßpöhler «Streiten», Hanser, 2024, 128 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-446-28004-5

In patriarchalen Strukturen, in Ehen nach alten Mustern, galt der Streit als Schieflage. Unterwerfung schloss Widerrede aus. Anpassung war das Mass jeder funktionierenden „Partnerschaft“ zwischen Chef und Untergebenen. Nicht unähnlich einer Diktatur. Man scheut(e) den Streit. Er ist Gift. Das mag heute in vielen echten Partnerschaften ganz anders sein. Man spricht von Streitkultur. Aber dass es für solche Auseinandersetzungen Raum bräuchte, nicht zuletzt Regeln, die von Streitenden akzeptiert werden, davon ist zumindest in der Politik wenig zu spüren. Wenn es in der Schweiz immer mehr Gemeindeführungsgremien gibt, die im ausufernden Grabenkrieg handlungsunfähig werden, ist das symptomatisch und bedenklich genug.

In der Feindschaft wird dem Anderen das Existenzrecht abgesprochen.

Im Sport akzeptieren wir Regeln, SchiedsrichterInnen, weil Gegner in aller Regel keine Feinde sind. Unterlegene geben sich am Schluss die Hand, Schwinger putzen sich gegenseitig das Sägemehl von den Schultern, man gratuliert dem Sieger. Im Sport scheint zu funktionieren, was in der Politik immer schwieriger wird, in totalitären, diktatorischen Stukturen unmöglich. Gegner werden zu Feinden, die nicht nur zu besiegen sind, sondern zu vernichten. Das Vokabular solcher Brandreden ist unmissverständlich und orieniert sich schamlos am Vorbild ehemaliger Verbrecher an der Menschlichkeit.

Es steht Wille gegen Wille wie in einem Krieg, mit dem Unterschied, dass eine Niederlage akzepiert werden kann.

Svenja Flasspöhlers Buch „Streiten“ ist ein leidenschaftliches Plädoyer für eine Fähigkeit, die mehr und mehr an die Ränder gedrängt wird, sei es in Parlamenten, in Wahlkämpfen oder in Talkshows, bei denen es nicht mehr um Argumente geht, sondern darum, die Gegner zu vernichten. Krieg. Svenja Flasspöhler hat in ihrem Leben genug Erfahrungen gesammelt. Sei es im öffentlich rechtlichen Rundfunk, in Talkshows, an Buchmessen, selbst in Gesprächen mit Menschen, von denen sie glaubte, sie wären ihr gut gesinnt, bis hin in eine Kindheit, als Tochter sich streitender Eltern und drohender Eskalationen. „Steiten“ ist der Versuch einer Einordnung, einer Besinnung.


Philip Kovce im Gespräch mit Svenja Flasspöhler am Montag, 18. November 2024 im Unternehmen Mitte in Basel

Svenja Flasspöhler ist promovierte Philosophin und Chefredakteurin des Philosophie Magazins sowie Gründerin und Co-Geschäftsführerin des neuen Berliner Philosophie-Festivals Philo.live!. Zuletzt erschienen von ihr u. a. «Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren» und «Die potente Frau. Für eine neue Weiblichkeit». Für «Mein Wille geschehe. Sterben in Zeiten der Freitodhilfe» erhielt sie den Arthur-Koestler-Preis. Svenja Flasspöhler lebt mit ihrer Familie in Berlin.

Wegseite der Autorin

Beitragsbild © Johanna Ruebel

Johanna Hansen «Brief an David Oates», Plattform Gegenzauber

April 2016

 Lieber David,

wir sind manchmal doch weiter voneinander entfernt als ich gerne glauben möchte.
Sie w i s s e n, weshalb Sie schreiben, wenn Sie sagen: „Wir sind kleine Gefäße, die an einem Ozean nippen. Mein Bestreben als Autor ist es, diesem wilden Exzess Ehre zu erweisen.“
Was für ein Vorhaben! Ich beneide Sie darum.
Dagegen komme ich mir vor, als säße ich nackt – wie Victorine Meurent auf Edouard Manets Bild Frühstück im Freien  zwischen lauter sorgfältig gekleideten Damen und Herren, die einen kulturellen Dialog führen, der nicht (wie bei Manet) unter Gleichrangigen, sondern über meinen Kopf hinweg stattfindet. 
„Chi-Ball“, „Chakra“, „kosmische Verlängerungsschnur“?
Sie zweifeln daran, David, aber Sie haben in bestimmten Lebenssituationen Erfahrungen damit gemacht. Respekt! Da kann ich nicht mitreden.
„Wörter sind dünn“, sagen Sie. Aber warum kommt mir so vor, als gehorchten sie Ihnen aufs Wort? Mir steht diese Sicherheit nicht zur Verfügung. 
Ich träume nachts oft, vor einem Schrankkoffer zu stehen, ohne darin etwas zu finden, was mich kleidet. Dann schau ich an mir herunter und erschrecke vor meiner Nacktheit.
Wenn ich aufwache oder durch ein Museum gehe oder durch die diversen Kanäle zappe, die uns umwerben, begegne ich diesem Moment des Erschreckens überall wieder. Meine Lage ist die, nackt zu sein, denke ich manchmal. Nackt begegne ich mir auf vielen Bildern. Und in vielen Sätzen. Dort ist auch häufig von Dingen die Rede, die ich nicht verstehe. Was ist richtig und was falsch? Wer bestimmt den Dresscode? Ich habe keine Antwort darauf und gehöre selten „dazu“. Bei meiner Suche nach einem Gegenüber ist es wohl meine Aufgabe, austariert zu werden von einem mich musternden Blick. Oder es gibt erst gar keinen Blickkontakt.
Dafür fehlen mir die Worte. Sie gehorchen mir einfach nicht. 

Wie gerne würde ich hin und wieder Mondschein-Romantik vermitteln. Sie sagen, Sie hofften dies nicht zu tun. Warum nicht? Steht Mondschein nicht jedem Dichter, der den Eigengeruch der Nacht aus der Lichtverschmutzung bergen will? Da ist sie wieder: die Sehnsucht. Auch nach Mondschein-Romantik.
Ich male mir immer noch das Paradies Schlaraffenland Arkadien aus. Kann einfach nicht die Finger davonlassen. Vielleicht bin ich ernsthaft krank und habe wieder zu viele Äpfel gegessen. Vielleicht lebte ich gesünder, wenn ich das Angebot des freundlichen Clubs akzeptierte, der mich bei sich aufnehmen möchte. Das Problem ist nur, dass ich nichts anzuziehen habe, um mich dort vorzustellen.

Gerade komme ich aus Paris zurück, wo ich erneut zwei Monate verbrachte. Wie schon vor zwei Jahren, als Sie und ich uns zufällig dort über den Weg liefen. Dieses Mal liefen mir ständig Soldaten in kugelsicheren Westen über den Weg, Maschinengewehre im Anschlag.
Der Ausnahmezustand war überall sichtbar. Ich grüßte die Soldaten, die vor unserem Haus standen, und sie grüßten zurück. Aus welchem Land kommen Sie, fragten sie nach einer Weile des Grüßens erstaunt, denn sie waren es nicht gewohnt, gegrüßt zu werden.

Aus Deutschland, antwortete ich. Sie lächelten. Deutschland nimmt so viele Flüchtlinge auf. Verwandte von uns. Freunde, sagten sie. 
Traten höflich auf dem schmalen Gehweg zur Seite, wenn sie mich sahen. Da glaubte ich einen Moment lang, im Paradies angekommen zu sein. Wertgeschätzt zu werden, weil das Land, in dem ich lebe, etwas gelernt hat aus seiner Vergangenheit. Wären da nur nicht die ständig wiederkehrenden Anschläge auf Asylantenheime. Im Feuerlegen kennt mein Heimatland sich gut aus.

In Paris lief ich mir die Füße wund. Die Stadt überwältigte mich ohne Angabe von Gründen. Der Ausnahmezustand ließ sie außerdem ganz anders aussehen als beim letzten Aufenthalt. Kontrollen am Gare du Nord. In den Kaufhäusern. Absperrbänder. Terrorwarnung. Keine endlosen Touristenschlangen vor den zentralen Sehenswürdigkeiten. Abgeriegelte öffentliche Grünflächen, wo ich vor zwei Jahren noch flanierte. Was ich wiedererkannte, war architektonische Grandiosität neben Verfall. Eleganz neben Obdachlosigkeit. Stinkende Abfälle neben üppig blühenden Kamelien in struppigen Hinterhöfen. Schon nach wenigen Ausflügen musste ich mich ins Atelier zurückziehen. Meine Füße streikten. 
Ich streifte mir Schwimmflossen über und tauchte ab. Las in Jean-Pierre Abrahams Buch „Der Leuchtturm“ über das Leben und die Einsamkeit weit draußen im Atlantik. 

„Ohne mir dessen bewusst zu sein, bin ich in die stumpfen Seelen alter Seemänner vorgedrungen…Ich wüsste zu gerne, ob sie auf hoher See jenen Moment erlebt haben, da die Haut dünn, endgültig lichtdurchlässig wird.“

Gedankenträgerin, Tusche auf Papier 2019

Jean-Pierre Abraham öffnet mit einer weit ausholenden Handbewegung das Fenster zur Stille. Sie wird zum Leuchtturm vor der Küste der Bretagne. 
Nach der Lektüre gab ich jeden Plan auf, etwas Bestimmtes fertigstellen zu wollen. 
Wochenlang studierte ich das Moos auf dem Haufen rostiger Fahrräder vor meinem Fenster. Hatte Besuch von einer einzelnen Taube, die immer auf exakt derselben Stelle des gegenüberliegenden Daches ihr Revier in Besitz nahm. Hörte aus dem Tanzstudio nebenan Übungen in Schreitherapie.
In der Waschküche lernte ich ein junges finnisches Genie kennen. Ein Komponist, der seine Mütze tief über die Augen gezogen hatte, gab mir den Link zu seiner ersten Symphonie. 
Am Ende des Waschprogramms murmelte er entschuldigend so etwas wie „zeitgenössische Musik findet wenig Zustimmung“ und verschwand nahezu völlig unter seiner Mütze. 
Direkt neben meinem Atelier lag ein russisches Studio. Dort malte Olga Tänzerinnen in Pastelltönen. Da uns eine gemeinsame Sprache fehlte, verständigten wir uns mittels gefüllter russischer Eier und Baguette. Olga beschrieb mir ihre Bilder, indem sie fliegende Bewegungen mit den Armen machte und die Hand aufs Herz legte. Sich die Augen rieb, als müsse sie weinen, wenn sie von Abreise zu sprechen schien und auf ihr Gepäck zeigte.

Ich tauchte noch tiefer in meine Skizzenbücher und hatte das Gefühl, die Seine in meinen Ohren rauschen zu hören. Wahrscheinlich war ich längst auf den Grund des Flusses gesunken, über mir nichts als bleigraues Wasser, durch das sich Ausflugsboote schraubten. An Deck spiegelte sich der Himmel in chinesischen Selfies. Jemand hatte mit weißer Farbe einzelne Worte auf die Trottoirs der Brücken zur Île Saint- Louis und Île de la Cité gestempelt: Ich bin, stand dort oder: Vernunft. Traum. 

Vier Worte reichen, um Philosophie auf die Straße zu bringen! Das begeisterte mich. Vier Worte, die wirksamer sind als jede Vorschrift im deutschen Straßenverkehr. Die Franzosen bauen auf ihren Descartes wie auf solide Brückenpfeiler, die bis in die Moderne reichen.  Hier trägt kaum jemand einen Fahrradhelm, fährt niemand auf dem Gehweg, auch wenn es keine Fahrradwege gibt.
Rote Ampeln und Fahrspuren dienen lediglich als grobe Orientierung. Trotzdem funktioniert der Verkehr.  Selbst Kinder überqueren die Straße bei Rot und niemand regt sich darüber auf. Ich nahm den Bus zum Jardin des Plantes, um mich von der Frage abzulenken, weshalb so ein Verhalten bei uns undenkbar wäre.
Erschöpft vom Stadtlärm ließ ich mich auf eine Parkbank fallen.

Asseyez-vous, je vous en prie et parlez moi d`amour (Setzen Sie sich und erzählen Sie mir von der Liebe)

las ich auf einem kleinen Metalltäfelchen, das an unauffälliger Stelle auf der Sitzfläche der Bank angebracht worden war. Was für eine Begrüßung! 
Leichtfüßig sprang ich auf und verliebte mich sofort in weitere Parkbänke, wo spendable Pariser für ihren finanziellen Beitrag zum Erhalt des Gartens eigene Gedanken oder bemerkenswerte Zitate hinterlassen dürfen.
Mancher Besucher nickte mir amüsiert zu, weil ich vor den Bänken kniete, um die herzstärkenden Mittel auf den kleinen Täfelchen abzuschreiben.
Es sind zu viele, um sie hier alle wiederzugeben. Am besten kommen Sie selbst noch einmal nach Paris und testen die Wirkung, wenn Sie im Botanischen Garten von Bank zu Bank schlendern wie durch ein durch Fantasie geschütztes Areal. Hier ist vieles möglich, was außerhalb der Mauern, die den Park umschließen, schon wegen des Ausnahmezustands schwer vorstellbar ist.

Nous arrivons toujours à l`endroit où nous sommes attendus. (Wir kommen immer da an, wo wir erwartet werden)

Fast hätte ich den riesigen versteinerten Wirbelknochen übersehen, der wie ein Meteorit aus dem All in ein Blumenbeet gestürzt zu sein schien und als eine Art Mahnmal daran erinnert, dass Mensch und Natur irgendwann eine Einheit bildeten.  Gehörte der Wirbelknochen einst einem Pottwal? Ich weiß es nicht, aber zusammen mit Pfingstrosenduft, Buchsbaumornamenten und Orangerien ergab sich ein Szenario, das mir den Kopf verdrehte. Das Paradies schien kurzfristig um die Ecke zu liegen. Fast greifbar nah.
Mag sein, dass dieses Drehen des Kopfes die nötige Haltung ist, um den Glückszustand wahrzunehmen, den ich so oft vermisse. Wer stets absprungbereit lebt und das Aroma von frisch gepflückten Zitronen fast vergessen hat, wird schnell mutlos. 
Ich nahm mir vor, auf dem Rückweg eine Tarte Pommes et Compote zu kaufen.
Diese unvergleichliche Köstlichkeit müssen Sie unbedingt probieren. Auf einen knusprigen Mürbeteigboden wird zentimeterdick Apfelmus gelöffelt und mit hauchdünn geschnittenen leicht karamellisierten Apfelscheiben belegt. Ich schicke Ihnen das Rezept gern zu. Ein Biss davon genügt, und Sie sind…..Sie wissen schon wo.

à bientôt

Johanna 

«Schreiben ist eine Art von Luftwiderstand», von Johanna Hansen illustriert

(Aus einem deutsch-amerikanischen Schriftwechsel, den Johanna Hansen mit dem Schriftsteller David Oates aus Portland/Oregon über zwei Jahre lang führte. Das Buch erschien im Wortschau Verlag mit dem Titel «Schreiben ist eine Art von Luftwiderstand».)

Johanna Hansen, Schriftstellerin, Malerin, Herausgeberin, Studium der Germanistik und Philosophie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelm-Universität Bonn. Lebt in Düsseldorf. Zunächst Sprachlehrerin und Journalistin. 1991 Beginn der künstlerischen Tätigkeit. Seit 1993 zahlreiche Ausstellungen. Seit 2008 literarische Veröffentlichungen als Einzelpublikation, in Literaturzeitschriften, Anthologien und auf Literaturplattformen. Seit 2013 zusammen mit Wolfgang Allinger Herausgeberin der Literaturzeitschrift wortschau. Mehrfache Auszeichnungen. Zuletzt Lyrikpreis Feldkirch 2024.

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Beitragsbild © Elena Hill