Michael Stavarič «Die Schattenfängerin», Luchterhand

Michael Stavarič erfindet sich mit jedem seiner Bücher neu. Er kennt keine Grenzen. Seine Fähigkeit, sich in beinahe kindliche Welten zu versetzen, seinen Blick auf die Welt von allen Konventionen zu befreien, macht Michael Stavaričs Literatur zu einer echten Tiefenerfahrung. Sein Roman „Die Schattenfängerin“ ist bestes Beispiel dafür.

„Die Schattenfängerin“ erzählt aus der Sicht von Stella, einer Jugendlichen, die zur jungen Frau wird, einem jungen Menschen, die den jugendlichen Blick bewahren, ihre ganz eigene Welt bewahren kann, obwohl es ihr das Schicksal nicht leicht macht. Michael Stavarič macht sich zur Stimme dieser jungen Frau, lässt seiner Erzählfreude freien Lauf, entkrampft und losgelöst. Da schreibt einer, der nicht einfach eine Geschichte wiedergeben will, nacherzählen. Michael Stavarič schöpft Neues, evoziert Bilder, die während des Lesens Fragen stellen, wichtige Fragen. „Die Schattenfängerin“ erzählt von Rätseln und lässt sie stehen, von einem rätselhaften Kind, das sich nach dem Tod seines Vaters auf den Weg macht. Das mag märchenhaft klingen, was bei „Die Schattenfängerin“ auch nicht falsch ist. Und doch bleibt der Roman ganz nah an der Welt.

Michael Stavarič «Die Schattenfängerin», Luchterhand, 2025, 288 Seiten, CHF ca. 33.50, ISBN 978-3-630-87674-0

Stella wohnt mit ihrem Vater in einem Haus weg vom Dorf, auf einem Hügel. An ihr Grundstück grenzt nur dasjenige der Nachbarn, die dann nach Stella schauen, wenn ihr Vater wieder einmal weit weg auf Reisen ist, wenn er sich aufmacht, einmal mehr Zeuge einer Sonnenfinsternis zu werden, weit weg. Ein Umstand, den Stella zu akzeptieren gelernt hat, ohne zu verstehen, warum sie ihren Vater auf diesen Reisen nicht begleiten darf. Die Beziehung zwischem ihm und Stella, zwischen Vater und Tochter, ist eine beinah symbiotische. Stella geht nicht zur Schule, wird von ihrem Vater unterrichtet. Er zeigt ihr seine Welt, erklärt der immer hungrigen Stella all die Geheimnisse, die sich im Grossen und Kleinen auftun, wenn man bereit ist, hinzuschauen. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass Stella Pflanzenlexika, Anatomiebücher und juristische Werke wie einen Schatz hortet, Bücher aus der grossen Bibliothek ihres Vaters. Das Haus am Hügel ist das Tor zur Welt.

Doch eines Morgens wacht ihr Vater nicht mehr auf. Stella muss akzeptieren, dass ihr Vater eine Reise angetreten hat, von der er nicht zurückkommt. Stella ist fünfzehn, als es geschieht. Und nur weil Stella es schon immer gewohnt ist, auf eigenen Füssen zu stehen und ihr die Nachbarn auch in dieser Zeit fürs erste an ihrer Seite sind, darf sie bleiben, zwingen sie die Ämter nicht dazu, das Haus des Vaters verlassen zu müssen. Auf sich selbst gestellt, finanziell von ihrem Vater abgesichert, macht sich Stella auf, jenen Teil ihres Lebens zu erkunden, der ihr bisher verschlossen blieb. Der in vielen Kisten auf dem Dachboden ihres Hauses lagert. Hin zu ihrer Mutter, die seit vielen Jahren in einer Klinik vegetiert, von der ihr ihr Vater fast nichts erzählte, die in ihrem Leben kaum eine Rolle spielt. In ein Leben, das sich auch ausserhalb ihrer kleinen Welt abspielen muss. Auf den Friedhof, wo das Grab ihres Vaters ist, wo sie sich mit Kurti, dem Totengräber anfreundet und zur jüngsten Totengräberin des Landes wird. Und auf diese eine, erste, grosse Reise zur nächsten Sonnenfinsternis, jener Reise, zu der ihr Vater sie nie mitnehmen wollte, von der sie ahnt, das mehr zu fangen ist, als der lange Schatten der Sonne.

Es ist die Art des Erzählens, die fasziniert. Michael Stavarič scheint einer der wenigen Erwachsenen zu sein, die in sich den kindlichen Blick bewahren konnten, die unverbaute Sicht auf die Welt. Seine Art des Beschreibens erinnert an den Blick eines Autisten, der alles in sich aufnimmt, nicht filtern will und kann. Es gibt Stellen in diesem Buch, in denen sich Sinneseindrücke förmlich über mich ergiessen. Beschreibungen, die mir bewusst machen, wie gezielt, wie kausalisiert, wie ordnend mein Blick ist.

Ein wundersames Stück Literatur!

„Romane, wie sie Michael Stavarič schreibt, schreibt gegenwärtig sonst niemand.“ Frankfurter Rundschau

Interview

Der Buchmarkt ist voll mit Literatur, die sich mit Müttern und Vätern abmüht, Abrechnungen, Prozesse, Befreiungen, Konfrontationen… Dein Buch ist eine gegenseitige Liebeserklärung zwischen Tochter und Vater, auch wenn Schatten im Leben des Vaters geblieben sind. Gleichzeitig ist es ein Statement dafür, den eigenen Weg, den eigenen Blick zu finden, ohne Rücksicht auf Konventionen. Ein grosses Stück Michael Stavarič!?
Besser vielleicht: Ein weiteres Stück von Michael Stavarič auf seinem literarischen Weg. Selbstverständlich ist die Literatur voller Beziehungen und Befindlichkeiten, schließlich ist das der Faktor „Mensch“. Autor*innen schreiben über Dinge, von denen sie hoffen, dass sie bei Lesenden nicht auf taube Ohren stoßen; Vater-Tochter-Mutter-Sohn –  es ist ein absolutes Grundmotiv in nahezu jedem Buch. Ich habe in der „Schattenfängerin“ versucht, ein positives Bild einer Beziehung zu zeigen (was eigentlich so gar nicht meiner literarischen Tradition entspricht), vor allem auch deshalb, weil ich dieses Buch nicht nur für Erwachsene, sondern auch Jugendliche schrieb. Zumindest schwebte mir vor, dass es auch Jugendliche lesen können sollten – und dementsprechend habe ich meine übliche Konzeption etwas geändert. Ich dachte auch, in diesen Zeiten brauchen wir alle eine positive Heldin. Und einen ungewöhnlichen Twist.

Dein Roman spielt in der Gegenwart, auch wenn die Welt von Stella entrückt scheint. Stella wächst auf in einer Welt, in der Neugier den Puls ausmacht. Stella betäubt sich nicht, ihr Vater lässt sich und seine Tochter nicht betäuben – das Gegenteil von dem, was in vielen Familien geschieht. Alles an deinem Schreiben ist ein Statement für die Neugier, kindliche, unregulierte Neugier. Schreiben als Spur deiner eigenen Neugier?
Weltoffenheit entgegen allen Widerständen, so könnte ich es für mich zusammenfassen. Die Neugier ist dabei ein unerlässlicher Motivationsfaktor, sich auf die Welt einzulassen, sich in ihr zu orientieren, die hellen und dunklen Momente zu erkennen. Und sich vielleicht selbst aktiv entscheiden, auf welcher Seite man stehen mag. Außerdem ist die Welt nicht einfach nur unsere Erde, hierzu zähle ich auch das Sonnensystem, ja den ganzen Kosmos. Und die Sonne ist nicht zuletzt auch der Angelpunkt in diesem Roman. Ich erkenne für mich immer mehr, dass es beim eigenen Schreiben auch darum geht, die Lücken zu füllen, die man selbst aufweist. Das Schreiben macht mich kompletter, wissbegieriger und neugieriger. Vermutlich eine Erfahrung, die ich auch an meine Protagonisten weitergeben möchte.

Und doch ist Stellas Familie alles andere als ein harmonisches Gefüge. Stellas Vater taucht für seine Reisen immer wieder einmal für Wochen ab und Stellas Mutter vergetiert in einer Klinik, von ihrem Mann aufgegeben, von der Medizin parkiert. Viele Schatten in deiner Geschichte. Schatten, denen Stella zu begegnen versucht. Du räumst nicht auf in deinem Roman. „Aufräumen“ scheint ein weit verbreitetes Erzählprinzip zu sein. Ein Konterroman?
In einem Leben (egal wer es lebt) geht es nun mal nicht ohne Zäsuren, Tragödien, Bewährungsproben etc. ab; Identitätsstiftung ist anders nicht zu haben, denn nur so können Persönlichkeiten entstehen. Oder ich bleibe in diesem Fall lieber dabei: Heldinnen. Ich verstehe ein „Nicht-Aufräumen“ als erzählerische Qualität, es scheint mir näher am Leben zu sein. Vieles lässt sich auch gar nicht schlüssig begründen, analysieren und zu Ende erzählen (und erklären!). Insofern ist es wohl ein Konterroman, weil die übliche Haltung wohl wäre: Ich erzähle alles zu Ende – und auch gleich mit, was der/die Leserin davon zu halten hat. Das machen viele Romane unserer Zeit. Aber ihnen fehlt dann (aus meiner Sicht) der Zauber …

Manchmal erinnert mich das Personal in deinem Roman an ein Theaterstück; Ein Kind an der Grenze zwischen Kindheit und Erwachsensein, eine Peter-Pan-Figur, der Totengräber Kurti, der Bürgermeister, der besorgte und mahnende Pfarrer… Wie hast du dich durch deine Ideen geschrieben? War da ein Plan oder sind die Personen während des Schreibens aufgetaucht? 
Da hast du absolut recht. Theaterstück/Filmdrehbuch, etwas dazwischen. Ich habe es wirklich auch selbst so aufgefasst, insofern war ich die ganze Zeit über damit beschäftigt (beim Schreiben), Stella mit einer imaginären Kamera zu folgen. Oder wie ein Dramaturg/Regisseur die Handlung mit „Zurufen“ zu steuern. Alle prägenden Figuren in ihrer Kindheit sind Männer, insofern waren diese von Anfang an bewusst so konzipiert. Stella versucht sich nicht zuletzt auch im Umgang mit dem männlichen Prinzip.

Du hat deine Lust auf Fussnoten ausgelebt. Darin finden sich immer wieder Listen, Aufzählungen, Assoziationen. Texte, die mich mit einem Sternchen aus dem Lesefluss ziehen, die das Buch zwinkern lassen, die etwas von Stellas Lebensfreude, ihrem Blick auf die Welt zeigen. Wie kam es zu diesen literarischen Kringeln?
Du weißt ja, meine Romane sind oft von formalen Fragen geprägt, um nicht wieder mal zu sagen, Form vor Inhalt. In der Schattenfängerin habe ich mich aufs Erzählen konzentriert, wobei das Buch ja für jüngeres Publikum lesbar bleiben musste. Die Fußnoten sind gewissermaßen ein „formales Augenzwinkern“, wo ich diesen Hang zum Experimentellen kurz ausleben durfte. Minimal, aber doch. Schließlich würde wohl niemand in einem solchen Buch Fußnoten erwarten? 

Michael Stavarič wurde 1972 in Brno (Tschechoslowakei) geboren. Er lebt als freier Schriftsteller, Übersetzer und Dozent in Wien. Studierte an der Universität Wien Bohemistik und Publizistik/Kommunikationswissenschaften. Über 10 Jahre lang tätig an der Sportuniversität Wien – als Lehrbeauftragter fürs Inline-Skating. Zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen, darunter: Adelbert-Chamisso-Preis und Österreichischer Staatspreis für Kinder- und Jugendliteratur. Zuletzt erschien bei Luchterhand der Roman «Das Phantom».

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Beitragsbild © Yves Noir

Theres Essmann «Schwarzer Schwan», Dörlemann

In ihrem 2020 erstmals erschienen Roman, damals unter dem Titel „Frederico Temperini“, jetzt neu bei Dörlemann unter „Schwarzer Schwan“, erzählt Theres Essmann von der ungewöhnlichen Begegnung zweier Männer, einer werdenden Freundschaft, einem sterbenden Stern und davon, was vom Leben übrig bleibt, wenn man alles auf eine Karte setzt.

In Geschichte, Sport und Kultur gibt es Namen, die sich unlöschbar ins kollektive Gedächtnis eingebrannt haben. Selbst dann, wenn man sich in der jeweiligen Sparte nicht auskennt. Man kennt den Namen Kennedy, auch wenn man mit Politik nichts am Hut hat. Man erinnert sich an Pelé, ein Fussballer doch, der irgendwann für Brasilien spielte oder an Picasso, dessen Bilder astronomische Summen generieren. Oder Paganini. Nicht nur MusikliebhaberInnen ist Niccolò Paganini ein Begriff. Paganani, den man in seinen Glanzzeiten den „Teufelsgeiger“ nannte, lebte und spielte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Geige wie kein anderer. Eine Kombination von Spieltechnik, Selbstinzenierung und wilder Leidenschaft. Ein Virtuose, der mit seinem Geigenspiel ganze Konzertsäle in Ekstase versetzte. Aber auch ein Mann der tiefen Widersprüche, ein Mann, der bis weit über seinen Tod missverstanden blieb und bis heute Rätsel aufgibt.

Theres Essmann «Schwarzer Schwan», Dörlemann, 2025, Titel der deutschen Erstausgabe: «Federico Temperini», 144 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-03820-171-7

Jürgen Krause ist Taxifahrer in Köln. Ein Mann, der sich mit seinem Leben zu arrangieren versucht, einer Familie, die in die Brüche ging, einem Sohn, der ihn an seiner Vaterrolle zweifeln lässt und einem Beruf, den er sich nicht ausgesucht hatte, in dem er strandete. Eines Abends, er trinkt bereits sein Feierabendbier in seinem Stammlokal, erhält er einen seltsamen Anruf eines Kunden, der ihn für eine Fahrt engagiert, keine Bitte, viel mehr eine Order. Krause nimmt widerwillig an und chauffiert einen Mann, der sich Frederico Temperini heisst und Krause bittet, ihn immer mal wieder als seinen Chauffeur da und dort hinzufahren. Weil der Herr im schwarzen Gewand zuverlässig einen Büttenumschlag mit Geld im Auto deponiert, grosszügig bezahlt und Krause bittet, jeweils auf ihn zu warten, bis er zum Taxi zurückkehrt, wird Krause sein regelmässiger Fahrer. Fahrten zu Konzerthäusern, zwischendurch auch einmal auf den Friedhof, das eine oder andere Mal gar an einen See, manchmal mit der Bitte ihn zu begleiten. Es sind Fahrten, bei denen sich die beiden ungleichen Männer auf ganz eigentümliche Weise näher kommen. Krauses Fahrgast Temperini gibt nicht nur Geld in die Kuverts mit der Bezahlung, er legt eine Fährte, eine in sein Leben, eine zu der Figur, in dessen Schatten sein eigenes Leben verlief; Niccolò Paganini. Temperini war einst Geiger, spielte jene Stücke, mit denen Paganini berühmt wurde. Aber Temperinis Stern ist im Gegensatz zu Paganini in der Bedeutungslosigkeit untergegangen. Temperini ist ein Geist.

Und trotzdem spielt er mehr und mehr eine Rolle in Krauses Leben. Krause beginnt sich zu sorgen, wenn ihn länger kein Anruf Temperinis erreicht. Krause erzählt von seinem Sohn, von einer schleichenden Entfremdung. Es begegnen sich zwei Männer, zwei Existenzen, die sich festgefahren haben. Das, was zwischen Krause und seinem seltsamen Fahrgast wächst, fühlt sich an wie eine ganz besondere Art der Freundschaft, eine Form der Zuwendung, die so gar nicht mit den Kollegen in seinem Stammlokal vergleichbar ist. Temperini öffnet ihm die Welt eines entrückten Künstlerlebens, Krause ihm die kleine Welt seiner Familie.

Bis Frederico Temperini eines Tages nicht zur ausgemachten Fahrt erscheint.

„Schwarzer Schwan“ ist die zärtlich erzählte Geschichte einer seltsamen Beziehung. Gleichzeitig ein wager Blick in das Leben eines Einzelgängers, der in seinem Tun alles auf eine Karte setzte, den das Schicksal ins Vergessen trieb, erzählt mit der Patina eines französischen Schwarz-Weiss-Spielfilms. Man liest das Buch und lässt es nach dem Ende der Lektüre noch eine Weile über dem Herz ruhen.

Ein berührender Roman, der eindringlich von den Wunden des Krieges erzählt und von der Kraft der Versöhnung.

Theres Essmann, 1967 im Münsterland, studierte Germanistik und Philosophie in Tübingen und lebt heute in Stuttgart, wo sie als Poesietherapeutin und Referentin für kreatives Schreiben arbeitet. Davor war sie 20 Jahre lang als Führungskraft in der freien Wirtschaft tätig. Für ihr 2020 erschienenes Romandebüt «Federico Temperini» wurde sie mit dem Literaturstipendium des Landes Baden-Württemberg ausgezeichnet und war für den Thaddäus-Troll-Preis nominiert. Ihr zweiter Roman «Dünnes Eis» stand auf der Shortlist für den Anna-Haag-Preis 2024.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Ruediger Nehmzow

Dorothee Elmiger «Die Holländerinnen», Hanser #SchweizerBuchpreis 25/07

Es gibt sie, die Autor*innen, die sich trauen, die nicht den üblichen Erzählkonventionen entlangschreiben, die nicht in erster Linie unterhalten wollen, sondern Leser*innen und Lesegewohnheiten aufbrechen. Neben Jonas Lüscher und Christian Kracht glänzt Dorothee Elmiger mit ihrer Expedition in menschliche Tiefen.

Es gibt Schreibende, die mich nicht wegen ihrer Geschichten faszinieren, sondern wegen ihrer Bilder, ihrer Sprache, ihrer Wucht, ihrem Sperren gegen das Konventionelle. Bei Dorothee Elmiger fasziniert alles; die Geschichte, die sich immer wieder spiegelt, die nicht nur inhaltlich an Filme von Werner Herzog erinnert, sondern auch in der Intensität ihrer Bilder. Dann die Sprache, das Mäandern in Satzkaskaden, von denen ich mir kaum vorstellen kann, wie und in welcher Intensität sie geschrieben werden mussten. Das Buch liest sich phasenweise so, als hätte Dorothee Elmiger die Fähigkeit, in einem unendlich langen Atem Satz an Satz aneinanderzureihen, abzusinken in die Tiefen einer Szenerie, weit hinauf oder tief hinunter. Als hätte sie tief eingeatmet und in einem Guss geschrieben, wofür anderen niemals die Luft reichen würde. Sie spielt mit der Sprache, die Sprache spielt mit ihr. Klar will Dorothee eine Geschichte erzählen. Aber es ist die Geschichte einer Frau, die sich verloren hatte, die Geschichte des Sich-Verlierens. Die Geschichte einer Frau, die in der Kulisse, in den Bildern absinkt, die ihr Leben fast verloren hätte.

Dorothee Elmiger «Die Holländerinnen», Hanser, 2025, 160 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-446-28298-8

Die Frau erzählt die Geschichte auf der Bühne, hinter einem Mikrophon, vor Zuhörer*innen, einem ganzen Saal. Sie erzählt von einem Anruf eines Theatermachers, der sie zu einem ganz besonderen Projekt eingeladen hat, ihr den Auftrag gegeben hatte, das Geschehen, das Gesprochene, das Herausgefundene aufzuschreiben, festzuhalten, zu protokollieren. Ein Theaterprojekt mit dem Titel „Die Holländerinnen“. Der Theatermacher, der weitab im Urwald, zwischen den Wendekreisen am Meer, wie damals Werner Herzog mit Klaus Kinski „Fitzgeraldo“ oder „Aguirre der Zorn Gottes“, ein Theaterprojekt realisieren will, lädt eine ganze Truppe von Menschen in die Abgeschiedenheit ein, einen „Fall“ nachzuspielen, jenen der Holländerinnen. Man sammelt sich und macht sich gemeinsam auf, wobei niemand eine wirkliche Ahnung davon zu haben scheint, wo das Abenteuer hingehen soll, auch der Theatermacher selbst nicht. Man will eine Geschichte entstehen lassen. Man werde sich im Laufe der Arbeit verdoppeln, ja vervielfachen, es würden, im besten Falle, andere, verschüttete Teile ihrer selbst zum Vorschein kommen.

Sie selbst, die auf der Bühne steht und erzählt, von ihrem Manuskript liest, hatte die Aufgabe, als Protokollantin eine Mitschrift dieser Tage anzufertigen, eine Mitschrift, die im Grunde alles enthalte, ALLES, in Grossbuchstaben… Eine Aufgabe, die ihr in diesen seltsamen Tagen weit ab aller Zivilisation alles abverlangt, in der jede Begegnung, selbst ein ausrangierter Kühlschrank, den man an einer Halde entsorgte, eine Kaskade von Erinnerungen und Assoziationen auslöst. Geschichten, die andere, die Mitreisenden erzählen, Geschichten, die sie sich selbst erzählt. Auf den Spuren jener Frauen aus der holländischen Stadt Leiden, die damals auf ihrer Reise ohne Ende am selben Ort wie sie vor Ort gewesen waren, einer Reise auf den Spuren einer anderen Reise. Als hätte sich die mittelalterlichen Erzählungen „Canterbury Tales“ von Geoffrey Chaucer in eine undurchsichtige Gegenwart transformiert.

Was in diesem seltsamen, geheimnisvollen, rätselhaften Roman so bestechend ist, ist die Sprache, Dorothee Elmigers Kunst, sich einem Sprachrausch hinzugeben, der sich aller Schreib- und Erzählstrategie verweigert. Dorothee Elmigers Buch wabert an den Grenzen von Sein und Nichtsein, zwischen Leben und Tod. Es riecht nach der Feuchte des Urwaldes, schildert eine Gruppe loser miteinender verbundener Menschen, die dem Theatermacher in fast messianischem Gehorsam folgen. Man lauscht den kryptischen Äusserungen dieses Mannes, staunt darüber, wozu Menschen bereit sind, wenn sie der Überzeugung sind, an etwas Aussergewöhnlichen, Besonderen teilhaben zu können.

Wer plottgesteuert liest, wird von Dorothee Elmigers neustem Husarenstück enttäuscht sein. „Die Holländerinnen“ ist weder Strand- noch Einschlaflektüre. Ihr Buch setzt sich fest, nistet sich ein. Ihr üppiger Sound macht trunken. Wären Elmigers Sprachbilder Gemälde, dann erinnern sie an jene von Anselm Kiefer. Auch wenn Dorothee Elmiger bereits Trägerin des Deutschen Buchpreises 2025 ist, ist «Die Holländerinnen» für mich ein grosser Favorit um den Schweizer Buchpreis 2025! Auch wenn das Buch nicht für ein Publikum geschrieben ist, dass sich bloss wegtragen und unterhalten lassen will. Dieser Roman ist ein Diamant, der in den verschiedensten Farben funkelt!

Dorothee Elmiger, geboren 1985 in der Schweiz, lebt als freie Autorin und Übersetzerin in New York. Ihre Bücher «Einladung an die Waghalsigen» (2010), «Schlafgänger» (2014) und «Aus der Zuckerfabrik» (2020) wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, für die Bühne adaptiert und vielfach ausgezeichnet.

Webseite der Autorin

Illustrationen © Lea Le / literaturblatt.ch

Julia Trompeter «Selbst ist der Text», Plattform Gegenzauber

Wer schreibt angesichts von Klimakrise und Krieg, bitteschön, noch über sich selbst und falls ja, über wie viele denn überhaupt, und wenn das hier schon am Anfang so kompliziert wird, wird doch jede anständige Leserin den Tab sowieso gleich wieder schließen, und du kannst dir die ganze Schreiberei sparen.

Um es kurz zu machen:  Ein Text, in dem jemand irgendwann einen Marathon läuft und dann alles besser wird, wird das hier nicht werden. Die Entscheidung, ob jemand deinen Text lesen will, wird sicher keine drei Sekunden in Anspruch nehmen. Die Person wird sich vermutlich fragen: „Habe ich Lust, das hier zu lesen?“; „Habe ich überhaupt die Zeit dazu?“ und zack, weiß sie Bescheid. In deine Lage hingegen versetzt sich kaum einer. In dich, die du jetzt und hier entscheiden sollst, ob du diesen Text schreiben sollst – oder lieber nicht. Dabei geht es hier um eine Entscheidung, die extrem weitreichend ist, weil sie deine ganze schreibende Zukunft betrifft.

Du weißt es also noch nicht, du zauderst noch. Und selbst wenn du dich zum Innersten entscheiden solltest, bleibt fraglich, ob du es überhaupt noch kannst. Solltest du ihn aber irgendwann doch geschrieben haben werden, heißt dies noch lange nicht, dass ihn jemand lesen wird.

Es sind also, um den Gedanken ein wenig abzukürzen, recht viele Zufälle und Wunder von Nöten, damit ein Text seinen Weg geht. Und wenn er tatsächlich einst geschrieben worden sein wird und Sie ihn bis zu diesem Punkt gelesen haben sollte, dann sollten Sie ihn schon deshalb bis zum Ende lesen, weil sein Entstehen mindestens so unwahrscheinlich war, wie mit Mitte vierzig noch spontan schwanger zu werden.

Einen Text über sich selbst schreiben zu wollen und das auch noch öffentlich kundzutun, statt es nur heimlich als Möglichkeit zu denken, ist ein ziemliches Wagnis. Um nicht zu sagen, reichlich hirnverbrannt. Kurzum, die Frage „Warum dieser Text?“ wäre noch kurzfristig zu klären.

Du versuchst es mal.  Am Abend und in der Nacht, wenn dein Kind schläft und wilde Träume hat von Piraten und Schildkröten und seiner Oma. Du hast festgestellt, dass etwas in dir leckt, und Sie dürfen sich nun gerne eine Zunge vorstellen, so eine rote wie die der Rolling Stones, falsch ist das sicher nicht, doch du dachtest eher an ein Schiff, das langsam mit Wasser vollläuft, um dann irgendwann Schlagseite zu bekommen und zu sinken. Du bist also, um im Bild zu bleiben, die Kapitänin eines beunruhigend schlingernden Schiffs. Und da hast du dir gedacht, weil ja Selbstfindungstexte gemeinhin recht erfolgreich sind, dass du vielleicht auch einen schreiben solltest. Natürlich nicht irgendeinen. Texte, die die Welt nicht braucht, gibt es bekanntlich schon genug. Wenn also, dann gilt es einen zu produzieren, den sie braucht. Einen, der Anfang, Mitte und Ende hat und bei dem man beim Lesen irgendwie verändert herauskommt. Ein Text der Nächte, des Dunklen und Verdrängten. Aber auch dessen, was inwendig leuchtet und strahlt. So wie die Seele.

Dazu fändest du gerne eine Sprache wie Wasser, transparent, warm in der Sonne und im Schatten kühl, mit kleinen Fischen darin, die allesamt nicht mehr bedeuten, als was sie sind: kleine Fische in einem klaren Bach. Sprachflüsse sind etwas Herrliches, und wer sich je als Ursache eines solchen Flusses erlebt hat, wird deine Sehnsucht verstehen, diese Quelle im Inneren wiederanzapfen zu wollen. Insbesondere dann, wenn sie lange ausgetrocknet war und versiegt und verloren schien.

Quellen sind, neben den Menschen, wohl die eigenwilligsten Geschöpfe Gottes. Die ewige Quelle, die du Gott nennst, schafft auch andere Quellen. Solche, die sich, längst versickert und vergessen, plötzlich wiederbeleben können. Auch der nichtswürdigste Schreiberling kann jederzeit mit einem neuen Buch reüssieren, kann plötzlich wieder Götterliebling sein. Dass Gott seine Quellen (ebenso wie die Dichter) besonders liebt, sieht man daran, dass er ihnen die Fähigkeit zum Schöpfen quasi vererbt hat – und schon bist du kurz davor, dich selbst als gottähnliches Wesen darzustellen, was sicherlich dem ein oder der anderen sauer aufstoßen mag, aber dafür kannst du nichts. Möge man den herabfließenden Sprachfluss des Hochmuts bezichtigen und dich verschonen.

Es liegen also Jahre der Dürre hinter dir, Jahre, in denen du kaum etwas Gescheites zu Papier brachtest und kein Brünnlein floss. Stattdessen spiest du dann und wann wütende Sprachbrocken aufs Papier, zähe Ungeheuer, die sich später nur im Geheimen und unter großer innerer Pein von ihrer Schöpferin lesen ließen. Inkognito ergo non sum, wie der stümpernde Lateiner in dir sagt: Solange du dich nicht mit deinem Geschriebenen identifizierst, gibt es dich nicht.

Doch dann hast du dir eines schönen Tages gedacht, dass du es eigentlich nicht einsiehst dich auszulöschen. Du hast es satt, deinen Kopf in den Sand eines zugekackten Spielplatzes zu stecken. Du fühlst endlich wieder etwas in dir. Und lass es einfach Wut sein.

Moment bitte, es klingelt.

An der Tür war ein junger Mann von der Telekom, der eine Glasfaserleitung verlegen wollte, also natürlich nicht sofort, sondern demnächst. FTTH heißt diese Faser, was dich an die unzähligen FDH-Diäten deiner gottlosen Jugend erinnert, aber die Unterschrift über den Vertrag, der besagt, dass du dann die nächsten zwei Jahre dein Internet bei der Telekom bezahlst, die wollte er sofort.

„Entschuldigung, aber das kann ich nicht so schnell entscheiden“, hast du gesagt, du bräuchtest eigentlich keine so schnelle Leitung.

Wobei du natürlich nicht weißt, ob du sie nicht doch brauchst, solange du sie nicht getestet hast. Der menschliche Geist gewöhnt sich ja an nichts schneller als an Komfort, Schnelligkeit und Bequemlichkeit. Und eine schnelle Leitung, die wäre ja vielleicht doch gut, gibt es die auch für den Kopf, das hättest du den jungen Mann einmal fragen sollen.

Jedenfalls warst du noch nie gut im Abwimmeln, weshalb ihr sicher zehn Minuten im Flur herumstandet, und vielleicht hättest du ihm einen Kaffee anbieten sollen. Und ihn dann fragen, ob er sich nicht ein bisschen ausruhen will bei dir auf dem grauen Sofa, wo man W-Lan Empfang hat. Vom Feinsten. Kupfer wird gemeinhin unterschätzt, man denke nur an die Spirale zur Verhütung; und dein Internet mit seinen Kupferdrähten, das funktioniert wirklich tadellos.

Jetzt ist er jedenfalls wieder gegangen, aber nur kurz, da du sagtest, dass du erst deinen Bruder anrufen müssest, der sei nämlich Glasfaserspezialist und kenne sich mit allen Einzelheiten aus. Bloß hat der Bruder gerade keine Zeit und jetzt liegt das Handy neben der Tastatur, und gleich wird der junge Mann wieder an der Tür klingeln, und du fühlst dich wie diese tapfere, weißgelockte Lady in Herbie, deren Haus in einer riesigen Baubrache als einziges noch steht ,aber von Alonzo Hawks Abrissbirne bedroht wird, der ein 130 Stock hohes Plaza just an der Stelle bauen will, wo die gute alte Frau Steinmetz schon seit vielen Jahrzehnten zu Hause ist. Nicht, dass das Haus, in dem deine Wohnung sich befindet, abgerissen werden soll, nein, so ist es nicht. Doch betrachtet man es, könnte man meinen, es wäre vielleicht besser, wenn es jemand täte.

Nun denn, das ist viele Stunden her. Hallo zurück. Du kannst leider nicht sagen, ob der Junge nochmal wiedergekommen ist, denn zwischendurch warst du beim Italiener und hast deinen Entschluss, den Text zu schreiben, komme was wolle, gefeiert. Hast einen großen Teller Pasta gegessen und einen mezzo litre vino della casa und mehrere Grappas getrunken, und jetzt willst du nur kurz gucken, ob das Brünnlein noch fließt oder schon wieder Ebbe eingesetzt hat. Dein Vertrauen in deine Fähigkeiten ist nämlich durch die Negativerfahrungen der letzten Jahre, gelinde gesagt, ein wenig erschüttert.

Wer weiß eigentlich, dass die Themse einer winzigen Quelle in einem Kaff namens Trewsbury Mead entspringt? Einer Quelle, die so winzig ist, dass Wanderer sie regelmäßig für eine Pfütze am Wegesrand halten? Hätte nicht jemand einen dicken, grauen Stein zum Gedenken am Wegesrand aufgestellt, wüsste kein Schwein, dass hier ein bedeutender Fluss entspringt. Nun, die Schweine wissen es wahrscheinlich noch am ehesten, wenn sie sich an heißen Sommertagen an dem kleinen Rinnsal laben.

Du selbst bist auch auf einem Kaff aufgewachsen, in einem Zimmer voller Spinnen, und hattest dabei Haare so lang wie der Arm eines normalgroßen, ausgewachsenen Mannes. Deine Zeit vertriebst du dir zu je einem Drittel mit Schule, mit der minutiösen Dokumentation deines Lebens in Tagebüchern sowie Besuchen bei deiner besten Freundin im Fachwerkhaus gegenüber, deren Haar ebenso lang war wie deines. Ihr hattet einander wirklich gern, auch wenn ihr euch selbst hasstet und somit, nach landläufiger Sicht, gar keine Liebe hätten empfinden dürfen, denn Liebe gründet ja auf Selbstliebe. Das wusstest du aus den Büchern über das Selbstbewusstsein, die du damals last, weil du hofftest, die würden dich weiterbringen. Tagebuchschreiben gleicht einem sehr langen Blick in einen blinden Spiegel, es ist weder befreiend noch bringt es einen weiter. Und Jahre später, sollte man es denn mit viel Überwindung wagen, noch mal in eins dieser Bücher hineinzulesen, packt einen ein würgendes Gefühl des Ungenügens. Dein Schreiben von damals war aus heutiger Sicht ein Akt der Selbstvergewisserung und Identitätserzeugung. Wer warst du und wer wolltest du sein?

In deinem Kopf geisterten die Vorstellungen aus der Werbeindustrie, aus MTV und der Brigitte Young Miss, und generierten in dir jene oberflächlichen Zerrbilder der Schönheit, jene Ungetüme der Modewelt, die das pubertäre Selbst umkreisen und anzugreifen trachten, indem sie es von jenen Werten entfernen, an die es sich eigentlich schmiegen sollte: Liebe und Achtung und Respekt und Bewusstsein. Als Kind hattest du, um dein Ungenügen zu vergessen, in eskapistischer Weise Mädchenbücher gelesen, anschließend schriebst du Tagebücher voll. Später Bücher.

Der wichtigste Unterschied zwischen dem Konsum und der Produktion von Literatur ist wohl der, dass man beim Schreiben, theoretisch zumindest, die Möglichkeit hat, zu produzieren, was man selbst gerne lesen würde. Denn Schreiben und Lesen sind eng verknüpft. Der Akt des Schreibens wird durch das gleichzeitige Lesen selbst zu einem ästhetischen, einem wahrnehmenden Akt. So last du also beim Tagebuchschreiben tagtäglich dein eigenes Leben, du erzeugtest es und schufst dein Dasein, indem du Worte suchtest für dein Suchen, deine Verzweiflung und deine Sehnsucht nach Besserung.

Die Katalogmädchen, denen du so gerne ähneln wolltest, wurden nachmittags in die Eis-Disco eingeladen oder tänzelten beim Leistungsturnen auf Schwebebalken herum. Du lagst nach der Schule auf dem Sofa, aßt Schokolade und schriebst.

Heute, da die zweite Lebenshälfte angebrochen ist und ein Gefühl der Endlichkeit den Horizont deiner Erfahrungswelt begrenzt, liegt dir viel daran, dem Augenblick auf die Schliche zu kommen. Beim Schreiben jedes einzelnen Wortes zeigt sich die gerade vergangene Vergangenheit, während die Zukunft – das wartende, immer schon in den Startlöchern des Vorbewussten sitzende Wort – eben dabei ist sich zu erfüllen. Und zwischen beidem liegt das Ungreifbare, Unfassbare, das wir Gegenwart nennen. Jener Augenblick, der nie ganz da ist, sollte man meinen, da er, wenn man ihn fassen will, schon wieder verflossen ist. Du siehst also die Wörter vor dir wie durch Zauberhand entstehen, denn die Signale, die vom Gehirn zu den Muskeln führen und so die Gedanken in etwas Lesbares verwandeln, bleiben unsichtbar. Man kann sie nicht beobachten, diese Impulse, die aus Gedanken Sprache oder sogar Literatur machen. Vielleicht hat ja die ganze Schriftstellerei weniger mit Begabung zu tun als mit dem Entdecken dieses Mechanismus, jener eigentümlichen Lust, die den Schreibenden überkommt, wenn er bemerkt, dass er nicht mehr und nicht weniger ist als der Mittler eines notwendigerweise verborgen bleibenden Prozesses, den du für ein zentrales Moment jener Tätigkeit hältst, die du jetzt und hier, an diesem herbstlichen Vormittag, ausführst.

Und so sitzt du heute, so viele Jahre nach deinem letzten Tagebucheintrag, wieder da und weigerst dich, dich thematisch zu veräußern, dich irgendwo ‚reinzulesen‘ oder ‚reinzufühlen‘, um dann irgendeinen Lebensweg darzustellen oder ähnliches, weil du, wie du gestehen musst, beim Schreiben nach wie vor am liebsten in deiner eigenen Gesellschaft bist. Es ist sicher nicht besonders schlau, über sich selbst zu schreiben. Andererseits schreiben in letzter Instanz alle über sich selbst. Es ist ihr eigener Erfahrungsschatz, den sie dem vermeintlich Anderen überstülpen. Wer hingegen über sich selbst schreibt, schreibt zugleich immer auch über das Andere.

„Was als Fremdes abstößt, ist nur allzu vertraut“, stellten Horkheimer und Adorno in Dialektik der Aufklärung klar, und im Umkehrschluss wird das Eigene bei näherer Betrachtung unvertraut – was das Schreiben über sich selbst zu einer Reise in völlig unbekannte Gefilde machen kann.

Wer eine Reise beginnt, ohne zu wissen, wo sie enden wird, geht das Risiko ein, sich zu verirren und für immer verloren zu gehen. Die große Chance aber besteht darin, auf Reisen einen Schatz zu finden. Dir wurde unlängst ans Herz gelegt, eine Therapie zu machen, und du hast dich dagegen entschieden. „Liebe dein Symptom wie dich selbst“, ruft der Zizek in dir. Es lässt sich ja nicht ausschließen, dass eine Therapie negative Konsequenzen für das weitere Leben hätte. Sie könnte zum Beispiel einer Beamtenlaufbahn im Wege stehen, falls du doch noch Lehrerin werden musst, oder, schlimmer noch, deinen gerade erst wiedererwachten Schreibimpuls abwürgen. Und es wäre doch schade, wenn Trewsbury Mead auf einmal trocken bliebe und keine Themse mehr ins Meer flösse. Auch der kleine Bär und der kleine Tiger finden einen Schatz, wähnen sich kurz im Reichtum und kehren letztlich mit leeren Händen nach Hause zurück. Ihre Erkenntnis: Zu Hause ist‘s am Schönsten.

Seit du diese Geschichte kennst, stellst du dir das mit dem Schatz der Selbsterkenntnis nicht mehr so hochtrabend vor. Eher so, wie Lacan sagt, dass ein Brief immer seinen Bestimmungsort finde. Wenn du ihn recht verstehst, meint er damit, dass es nicht so sehr auf die Botschaft ankommt, sondern darauf, sie zu verfassen. Und wenn du einen Brief schreibst, ohne ihn abzuschicken, dann ist seine Botschaft wahrscheinlich an dich selbst gerichtet. Du solltest dir also vielleicht die Tagebücher von damals noch einmal vornehmen und sie lesen wie nicht abgeschickte Briefe an dein heutiges Ich. Und dann folgt die Selbsterkenntnis? Eher nicht. Du jedenfalls rechnest nicht damit, dass dich plötzlich ein Spotlight erleuchtet und jene initialen Ereignisse deines Lebens sichtbar macht, die dazu geführt haben, dass du heute die bist, die du eben bist. Vielleicht gleicht deshalb auch dieser Text hier am ehesten einer Botschaft, die dich irgendwann ebenso zufällig erreichen wird wie Sie heute. Wichtig ist aber, dass das, was die Empfänger aus der Botschaft machen, nicht mehr in deiner Hand liegt. Aber genug der Abschweifungen. Obwohl sie dann gerechtfertigt sind, wenn der Anfang mehr als die Hälfte ist, wie Aristoteles sagte, denn wenn das stimmt, dann muss man sich besonders zu Beginn ordentlich ins Zeug legen. Du bist also jetzt fertig mit der Schilderung der Umstände, in denen du dich befindest und hast die Gründe für diesen Text hinreichend dargelegt. Hast dich entschlossen, die Reise anzutreten. Sie mögen selbst entscheiden, ob Sie dich begleiten wollen – oder lieber nicht.

Julia Trompeter, geboren 1980 in Siegburg, studierte Philosophie und Germanistik in Köln. Nach ihrer Promotion lehrte sie Philosophie in Deutschland und den Niederlanden. Seit Kurzem ist sie an einer Schule in Berlin tätig, wo sie seit der Geburt ihres Kindes lebt. Sie schreibt Lyrik und Romane und arbeitet frei für die FAZ und den WDR. Für ihr Werk wurde sie u. a. mit dem Rolf-Dieter- Brinkmann-Stipendium der Stadt Köln und dem Förderpreis des Landes NRWausgezeichnet. Ihr erster Gedichtband Zum Begreifen nah erhielt den Poesie-Debüt-Preis der Stadt Düsseldorf.

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Beitragsbild © Peter Susewind

(D)eine Weihnachtsgeschichte

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Adventsgeschichten 2024

Adventsgeschichten 2023

Adventsgeschichten 2022

Petra Dvořáková «Die Krähen», Anthea

Petra Dvořáková erzählt in ihrem Roman „Die Krähen“ von den finsteren Abgründen in einer Familie. Ausgerechnet in jenem filigranen Gefüge, das Gesellschaft und Politik gerne idealisieren, das aber nicht erst in der Gegenwart Schauplatz einer Form von Gewalt ist, der nur ganz schwer zu begegnen ist.

In den Ästen einer alten Ulme nisten Krähen. Während Männchen und Weibchen brüten, die Jungen schlüpfen, beobachten sie das eigenartige Treiben im Haus davor. Bei den Menschen, bei denen das Brutverhalten so ganz anders zu verlaufen scheint, als in den immer gleichen Bahnen der Vögel, die beiden Mädchen, das eine mit kürzeren Haaren als das andere, bei denen es hinter den offenen Fenstern oft laut zu- und hergeht. Wo geschrieen und geweint wird. Wo sich ein Drama abspielt.

Was in seinen Grundzügen an ein Märchen erinnert, eine Familie mit zwei Kindern, das eine geliebt, das andere geduldet, das eine folgsam, das andere wild und aufmüpfig, eine Krähenfamilie, die das Geschehen im Haus zu spiegeln scheint; hier die von Instinkten geleitete Harmonie, dort die von Ehrgeiz und Zwängen zerfressene Welt des zivilisierten Menschen, ist ein Stück Wirklichkeit, das sich sehr oft nicht an der Oberfläche zeigt, dessen Wirkungen aber ganze Leben zerstören, Seelen derart beschädigen, dass es ein Leben braucht, um gegen all die Verletzungen anzukämpfen.

Petra Dvořáková: Die Krähen, Anthea, 2025, aus dem Tschechischen von Hana Hadas, 196 Seiten, CHF ca. 31.90, ISBN 978-3-89998-453-8

Jedes Jahr werden Tausende von Kindern bei innerfamiliären Konflikten zu Opfern von Gewalt. In Deutschland sind laut Statistik mehr als 70 % aller Opfer Häuslicher Gewalt Frauen und Mädchen. Viele Opfer werden gar nie statistisch erfasst, bleiben „Dunkelziffer“. Wie schwer sich Kinder selber helfen können, wie gefährlich eine Offenbarung innerfamilärer Missstände sein kann und wie schnell ein verzweifelter Versuch ein Kind zwischen die Fronten von Familie und Institutionen manövrieren kann, davon schreibt Petra Dvořáková.

Die Autorin erzählt aus drei Perspektiven; aus der Sicht des Mädchens, ihrer Mutter und zwischen den Kapiteln, als wäre es das entschlüsselte Krähen in einem Krähennest, von den Vögeln in der alten Ulme. Burana ist acht. Zusammen mit ihrer grösseren Schwester, die schon ihre Tage hat, besucht sie die gleiche Schule. Ihre Mutter arbeitet in der städtischen Bibliothek, ihr Vater, Václav, kümmert sich erst dann um die Belange der Familie, wenn seine Frau ihn dazu drängt. Immer dann, wenn die Situationen zu eskalieren drohen. Buranas Mutter steht permanent unter Strom; an ihrer Arbeitsstelle, zuhause als Ehefrau und Erzieherin und all den andern Müttern gegenüber, die ihre wunderbaren Kinder präsentieren und Familie demonstrieren.

Wäre Burana so wie ihre ältere Schwester Katuška, wäre, so glaubt die Mutter, alles kein Problem. Katuška ist hilfsbereit, zugewandt, brav und angepasst, während sich ihre kleinere Schwester in ihren Gedanken verliert, viel lieber zeichnet und bastelt, als staubsaugt oder die Küche in Ordung bringt, ihre Welt erkundet und in allem ein Abenteuer sieht. Bàra ist dauernde Provokation, so gar nicht das, was die Mutter braucht nach einem anstrengenden Tag, ein Schlachtfeld für Konflikte. Und wenn die Situation eskaliert, muss der Vater die strafende Hand spielen, auch wenn dieser genau weiss, dass er es nur tut, um seiner Frau zu genügen. Und wenn dann Bàra einmal allein mit ihrem Vater ist, dann wird die Sehnsucht nach Liebe zum Abgrund.

Bàra wächst in einem Klima der Verunsicherung auf. Der Kunstunterricht in der Schule wird zum Rettungsanker. Aber schnell wird klar, dass auch dieses Licht am Ende des Tunnels zum Irrlicht werden kann.

Petra Dvořákovás Roman ist in ganz einfacher Sprache erzählt. Bàra und ihre Mutter schildern jeweils ihre Sicht der Dinge. Umso beklemmender, denn die Ausweglosikeit treibt beide. Beide fühlen sich mehr und mehr in die Enge getrieben. Nur die Miniaturen aus der Sicht der Krähen blicken ohne Angst und Moral auf ein Geschehen, das mehr und mehr auf eine Katastrophe zuläuft. Ein wichtiges Buch.

Petra Dvořáková (1977, Velké Meziříčí) ist eine tschechische Schriftstellerin und Drehbuchautorin mit Schwerpunkt auf Romanliteratur. Ihr Debüt „ Verwandelte Träume“ (Proměněné sny) wurde 2007 mit dem renommierten Magnesia-Litera-Preis ausgezeichnet und behandelt Fragen von Religion und Glaube. Auch persönliche Erfahrungen prägen ihr Werk, etwa in «Ich bin Hunger» (Já jsem Hlad, 2009) über ihren Kampf mit Anorexie. «Die Krähen» (Vrány, 2020) wurde in Polen zum Bestseller und ist ihr erstes Buch, das auf Deutsch erscheint.

Hana Hadas, geboren 1972 in Uherské Hradiště, ist in der ehem. ČSSR und in Österreich aufgewachsen. Sie studierte Slawistik und Kunstgeschichte in München und ist seit 2001 als freiberufliche Übersetzerin und Dolmetscherin tätig.

Beitragsbild © Věra Marčíková

Melara Mvogdobo „Großmütter“, Transit #SchweizerBuchpreis 25/06

„Großmütter“ ist kein Frauenroman, sondern ein Buch über unsere Gesellschaft im 20. Jahrhundert und darüber hinaus. „Großmütter“ ist kein Roman über eine späte Revolte, aber eine beeindruckende Geschichte über zwei Frauenschicksale, die sich auf den ersten Blick kaum vergleichen lassen und doch schmerzhaft viele Parallelen aufweisen.

Das Gewicht eines Romans manifestiert sich nicht in erster Linie durch seine Seitenzahl, auch wenn das eine oder andere Buch sich damit zum Monument macht. Melara Mvogdobo deckt auch nichts auf, das wir nicht längst wüssten, das uns mahnen müsste, Zustände, die über Jahrhunderte Hoffnungen zerstörten, Leben auf grausamste Weise unterdrückten und nur allzu oft in Krankheit und Tod endeten. Wie leicht ist es, sich auf den Errungenschaften moderner Lebensformen auszuruhen, mit dem Zeigefinger dorthin zu zeigen, wo Unterdrückung und Gewalt gegen Frauen noch immer Normalität sind, Teil einer staatlichen oder religiösen Ideologie. Nicht erst mit ihrem Roman „Großmütter“ setzte Melara Mvogdobo ein Zeichen. Schon ihr Debüt ist ein Feldzug gegen zementierte Gesellschaftsstrukturen und patriarchalen Machtmissbrauch.

Zwei Frauenleben; das eine in der Schweiz, aufgewachsen auf einem Bauernhof. Arbeit bestimmt das Leben. Die junge Frau, der man eine Ausbildung verweigert, weil sie so etwas als zukünftige Ehefrau und Mutter gar nicht braucht, kommt auf den Hof eines Grossbauern, wird geschwängert, von allen geächtet, ohne Kind weit weg geschickt, zwangsverheiratet und von ihrem Ehemann bis ins hohe Alter nicht nur mit der Faust bestraft. Das andere in Kamerun, als weiblicher Ballast einer wohlhabenden Familie geboren, als Enttäuschung, weil man lieber einen Stammhalter gehabt hätte, früh verheiratet, von der Mutter beschworen, sich gegen Polygamie zu stemmen, vom Mann missbraucht und misshandelt, aller Träume beraubt, schlussendlich mit Hilfe ihrer Kinder zur Flucht nach Europa gezwungen.

Die Freiheit einer Frau reicht nur bis zum nächsten Nein eines Mannes.

Melara Mvogdobo «Großmütter», Transit, 2025, 128 Seiten, CHF ca. 26.90, ISBN 978-3-88747-416-4

Zwei Schicksale, die von Unglück zu Unglück stolpern, deren Aufbegehren schon im Keim erstickt wird, die all die Träume, die sie einst in sich trugen, davonschwimmen sehen, vernichtet durch die Macht der Konvention, unumstössliche Gesellschaftsordnung und das frauenverachtende Selbstverständnis männlicher „Vorherrschaft“. Und doch verlieren die beiden Frauen diesen letzten Kern nie, selbst dann nicht, wenn die Katastrophe unausweichlich scheint, wenn die Geschichte beweisen will, dass es immer so war und auch in Zukunft so bleiben wird, wenn ihnen das Schicksal Unmenschliches aufzwingt.

Dieser schmale Roman ist keine Anklage, auch wenn die Intentionen der Autorin mehr als deutlich werden. Melara Mvogdobo führt mir vor Augen, was ich allzu oft aus meinem Bewusstsein verliere, bildet man sich doch schnell viel auf die „Errungenschaften“ Westeuropas ein und schaut mit Herablassung auf Zivilisationen, die ganz offensichtlich nicht unseren Massstäben entsprechen. In bildhafter Sprache und grosser Emotionalität schrieb Melara Mvogdobo einen Roman, der mich tief bewegt. Alles an diesem Roman ist auf den Kern reduziert. Und trotzdem strahlt die Sprache in erstaunlich poetischer Kraft.

Zu gönnen ist die Nomination aber auch dem Transit Verlag mit Sitz in Berlin. Ein kleiner Verlag, der sich nicht nur um das gute, sondern auch um das schöne Buch verdient macht. Mit Sicherheit ist genau das etwas von dem, was einen Preis wie den Schweizer Buchpreis wichtig macht; für einmal sind Verlage im Scheinwerferlicht, die es sonst kaum so ins Rampenlicht schaffen. Verlage, die den Buchmarkt vielfältig und differenziert machen. Erstaunlich genug, dass es sie gibt und dass sie mit ihren Büchern Wagnisse eingehen, die bei grossen Verlagen im Streben nach Umsatz und Gewinn kaum Chancen hätten.

Melara Mvogdobo wurde 1972 in Luzern geboren. Nach ­einem Pädagogik-Studium und der Geburt von drei Söhnen lebte sie in der Dominikanischen Republik, in Kamerun und wieder in der Schweiz. Neben ihren schriftstellerischen ­Arbeiten unterrichtete sie traumatisierte Jugendliche, leitete Workshops über Textilkunsthandwerk und tropische Küche. 2022 zog sie mit ihrer Familie nach Andalusien. 2023 erschien ihr erster Roman «Von den fünf Schwestern, die auszogen, ihren Vater zu ermorden» (Edition 8, Zürich).

Illustrationen © Lea Le / literaturblatt.ch

Louise Landes Levi «The Goddess / Die Göttin», Moloko Print, übersetzt und herausgegeben von Florian Vetsch

The Goddess – Der Versuch, die Finsternis auszulöschen – neue und ausgewählte Gedichte von Louise Landes Levi

Als im Juni 2022 die 1944 in New York geborene Dichterin, Sarangi-Spielerin und Weltreisende Louise Landes Levi nach einem langen Aufenthalt in Japan in St. Gallen auf den Dichter, Herausgeber und Übersetzer Florian Vetsch traf, um gemeinsam mit ihm und zwei Musikern im KultBau St. Gallen aufzutreten, vereinigten sich Welten, die für einen Abend auf der Bühne miteinander verschmolzen. Kein Wunder, dass Florian Vetsch, Kenner amerikanischer und deutscher Beatliteratur, in der Folge alles daran setzte, mit neuen und ausgewählten Gedichten der aussergewöhnlichen Künstlerin einen breiten Zugang für ein deutschsprachiges Publikum zu schaffen. Herausgegeben bei Moloko Print, einem Label, das sich expressionistischer und zeitgenössischer Literatur sowie moderner Lyrik verschrieben hat.

Now / I realize / I’m in a Paradise / for POETRY

Louise Landes Levi „The Goddess / Die Göttin“, New & Selected Poems, Neue & ausgewählte Gedichte, aus dem Amerikanischen übersetzt & mit einem Nachwort versehen von Florian Vetsch, ISBN 978-3-910431-31-7, Preis Buch und CD: 20 EUR

Louise Landes Levi versteht sich nicht einfach als Dichterin. Sie ist nicht nur dann Dichterin, wenn sie schreibt oder auftritt. Louise Landes Levi ist Dichterin. Künstlerin, Lebenskünstlerin mit jeder Faser ihres Körpers, ihres Auftretens, ihrer Wirkung. Ihr Schreiben ist ein Wandern durch die Zeit, all den grossen Figuren ihres Lebens entlang, sei es der Dzogchen-Meister Namkhai Norbu oder Ira Cohen, einer charismatischen Schlüsselfigur der Beat Culture, Lyriker, Fotograf und Filmemacher. Louise Landes Levis Poesie ist ein Schmelztiegel zwischen Kontinenten und Kulturen. Was die Autorin ausserordentlich werden lässt, ist ihr Eintauchen und Aufgehen in den offenen Zonen dieser Kontinentalplatten. Ihre Gedichte, die Florian Vetsch englisch und deutsch einander gegenüberstellt, sind Manifest einer Lebensart, einer Überzeugung, einer grenzenlosen Leidenschaft; Wenn die Fremde kommt gewähre ihr Einlass. Von zärtlichen Augenblicken, Momenten der Erkenntnis und Erleuchtung, von Begegnungen und Liebeserklärungen, von Statements und Befreiungen – Louise Landes Levi taucht in Sprache, Musik und Fotographie, begibt sich in ihrer Kunst auf eine permanente Suche nach dem Absoluten, diesem einen Moment, der alles mit allem verbindet.

Der mit einer Fotoserie der Künstlerin, einer CD mit der Suite Kami, eingespielt von Bart de Paepe und Timo van Luijk und einem Nachwort des Übersetzers und Herausgebers Florian Vetsch ist eine Schatztruhe, zugleich ein Tor zu einer Welt, die ganz und gar in ihrer Leidenschaft aufgegangen ist.

Beitragsbild © Ira Cohen Archives

Eva Schmidt «Sonne in einem leeren Zimmer», Golden Luft

Manchmal muss mir der Zufall helfen, dass ich literarische Kostbarkeiten entdecke. So eine Kostbarbeit sind die Prosastücke der Vorarlbergerin Eva Schmidt, erschienen im Mainzer Golden-Luft-Verlag. Nicht nur literarisch ein Kleinod, auch haptisch, in Aufmachung und Gestaltung.

Blättert man in den bereits erschienenen Veröffentlichungen des Verlags, stets fadengeheftet, die Umschläge von KünsterInnen gestaltet, zeigt sich Eva Schmidt in bester Gesellschaft; Franz Kafka, Stefan Zweig, John Burnside… und Eva Schmidt. Das mag Zufall sein. Aber viel eher das verlagseigene, sichere Gespür für Qualität. Für die Qualität in der Kürze, im Eingedampften, Konzentrierten. In dem, was bleibt, wenn nur noch der hochprozentige Sud übrig bleibt.

Auch wenn Eva Schmidt in den letzten drei Jahrzehnten längst zu einem Eckpfeiler der deutschsprachigen Literatur geworden ist, Eva Schmidt zu den Grossen der österreichischen Gegenwartsliteratur gehört, muss man sie noch immer als Geheimtipp deklarieren. Wahrscheinlich deshalb, weil Eva Schmidt weder eine Autorin der grossen Gesten, noch eine der spektakulären Plotts ist. Wer Eva Schmidts Bücher liest, blickt ins pure Leben, in die Normalität, die Stille. Es sind beinahe Standbilder, die die Autorin mit ihrem feinen Blick in den Fokus bringt. Eva Schmidt scheint ein spezielles Gespür für Situationen, Augenblicke zu haben, denen die meisten Menschen keine Aufmerksamkeit schenken würden.

Eva Schmidt «Sonne in einem leeren Zimmer», Golden Luft Verlag, 2019, mit einem Nachwort von Daniela Strigl, Umschlagabbildung: Tjark Ihmels, 24 Seiten, 14 Euro (D), ISBN 978-3-9818555-6-2

Kein Wunder, tragen einige ihrer Miniaturen Titel der Bilder des amerikanischen Malers Edward Hopper. „Sonne in einem leeren Zimmer“, „Zimmer am Meer“ und „Nachtschwärmer“ setzen seine Bildlandschaft bis hin zu seinen Farben in meine ganz eigene Erfahrungswelt. Eva Schmidts Prosastücke sind literarische Meditationen des Normalen. Kein Sog, kein Rausch, aber hörbare Stille. Sätze, die wie Kristalle spiegeln, ganz klar in der Kontur, im Einen die Vielfalt spiegelnd.

Wer literaisch geniessen will und nicht bloss aus Lust nach Zerstreuung liest, wer die Muse hat, einen Text wirken zu lassen, diesen wie ein Gedicht mehrmals zu lesen, dem ist „Sonne in einem leeren Zimmer“ genau der richtige Stoff, um dem medialen Dauerrauschen zu entkommen. Man wünscht sich ein kleines Podest, auf dem man das schmucke Büchlein auflegen kann, um immer und immer wieder daran vorbeizugehen, um einen Text lang aus dem Herumgerenne auszusteigen.

„Sonne in einem leeren Zimmer“ ist als Titel Programm, wirkt ganz tief. Es wäre der Autorin (und dem Verlag) zu gönnen, wenn die stille Autorin aus Bregenz die Aufmeksamkeit erhalten würde, die ihr zusteht.

Ein Kleinod!

Eva Schmidt, geboren 1952 in Lustenau, lebt in Bregenz, Vorarlberg. Sie debütierte 1985 mit Erzählungen («Ein Vergleich mit dem Leben», Residenz Verlag), der erste Roman folgte erst zwölf Jahre später unter dem Titel «Zwischen der Zeit» (1997). Nach einer Unterbrechung von fast zwanzig Jahren erschienen die beiden gefeierten Romane «Ein langes Jahr» (2016) und «Die untalentierte Lügnerin» (2019), mit beiden war sie für den Deutschen Buchpreis nominiert. 2019 veröffentlichte sie den Band «Sonne in einem leeren Zimmer», Erzählungen unter dem Titel «Die Welt gegenüber» (2021) und 2025 ihren neusten Roman «Neben Fremden«.

Beitragsbild © Klaudia Longo

Meral Kureyshi «Im Meer waren wir nie», Limmat #SchweizerBuchpreis 25/05

«Im Meer waren wir nie» ist ein Familienroman, wenn auch nicht Abbild jener klassischen, idealisierten Familie; Vater, Mutter, Kind. Ein Bild, das lange genug alles andere zur Ausnahme, zum Sonderfall machte. Ein Roman über Befreiungsversuche – und eine würdige Nomination zum besten Buch in der Schweizer Literaturlandschaft.

In „Im Meer waren wir nie“ passiert nur wenig. Kein Roman, der sich plottorientiert um Spannung und Unterhaltung bemüht. Nicht dass dieser Roman nicht unterhalten würde. Aber er tut dies auf eine ganz eigene Weise. Es sind die Innenansichten der beschriebenen Personen und ihrer Welten. Es ist die Atmosphäre, die Meral Kureyshi mit viel Feingefühl und Empathie zeichnet. In einer Sprache, die in ihrer Tonalität, ihrer Zerbrechlichkeit genau das widerspiegelt, was die Protagonistinnen auszuhalten haben; ihr Gefangensein in einer Situation, ihre Beinahe-Ausweglosigkeit, dieses Gefühl, nicht dort zu sein, wo die Frauen eigentlich sein wollen.

Die Erzählerin und ihre Freundin aus Kindertagen leben in zwei Wohnungen übereinander. Weil Sophie als alleinerziehende Lehrerin Unterstützung braucht, hat es sich über die Jahre irgendwie ergeben, dass die Erzählerin für Sophies Sohn Eric schaut, wenn seine Mutter nicht da ist, oder keine Kraft mehr hat, sich um ihren Sohn zu kümmern. Eric ist acht, vorlaut und voller Leben. 

Meral Kureyshi «Im Meer waren wir nie», Limmat, 2025, 216 Seiten, CHF ca. 30.00, ISBN 978-3-03926-085-0

Und weil die Erzählerin so sehr zur Familie gehört und sich aus Ermangelung einer eigenen, die sich irgendwo zwischen ihrer einstigen Heimat 2000 Kilometer entfernt und der Schweiz verloren hat, ist es für sie selbstverständlich, als man sie bittet, Sophies Grossmutter Lili im Altersheim beizustehen, ihr Gesellschaft zu leisten, sie zu begleiten, ihr vorzulesen. Man bezahlt sie dafür. Sie wird zu einer Stütze in einem filigranen Familiengefüge, aber ebenso zu einer Selbstverständlichkeit. Zu der, die immer Zeit hat, die sich allem stellt, die zum Dreh- und Angelpunkt wird. Auch in ihrer ursprünglichen Familie, denn Nuri, ihre jüngere Schwester zieht vorübergehend bei ihr ein, geflohen aus einem Leben in Bedrängnis.

Lili begleitete vor Jahren ihren pflegebedüftig gewordenen Ehemann Emil ins Altersheim. Als er starb, blieb sie. Und als auch sie immer mehr Hilfe benötigt, aber niemand aus der Familie jene Zeit aufbringen kann, ist die Erzählerin gerade richtig, um jene Rolle einzunehmen. Zwischen Lili und ihr entsteht eine seltsame Beziehung, weder Freundschaft noch etwas wie Verwandtschaft. Genauso die Beziehung zu dem kleinen Eric, der sich ihr gegenüber ebenso ablehnend wie Nähe suchend zeigen kann. Auch die Freundschaft zu Sophie, Erics Mutter, ist eine andere geworden oder die Beziehung zu ihrer jüngeren Schwester Nuri. Es sind alles Beziehungen in der Schwebe. Nicht zuletzt darum, weil in allen Beziehungen Unausgesprochenes liegt, Geheimnisse, die nach Klärung rufen.

Die Erzählerin weiss, dass sie ihnen allen sagen muss, dass sie eine Stelle weit weg gefunden hat. Lili schleppt eine Schachtel mit Briefen mit sich herum, Zeugnisse einer alten Liebe, von der sie ihrer treuen Begleitung nur häppchenweise erzählt. Sophie von einer Beziehung, einem neuen Mann an ihrer Seite. Und Lilis Leben gibt mehr als deutliche Signale, dass es nicht mehr lange dauern würde, dass es Dinge gibt, die ausgesprochen und noch getan werden müssten.

Meral Kureyshis Roman beschreibt einen Typus Familie, der immer mehr dem entspricht, was bleibt, wenn aus Träumen und Erwartungen nicht wird, was hätte werden sollen. Familien, aus denen sich die Männer in ganz unterschiedlicher Art und Weise entfernen, die Pflichten aber an den Frauen hängen bleiben. „Im Meer waren wir nie“ beschreibt Frauen, deren Lebensentwürfe sich in der Maschinerie der Realitäten verheddern. Sei es Lili, die statt ihrer Liebe die Sicherheit wählt und nie darüber hinwegkommt, seien es Sophie und ihre Mutter, die sich ein Stück Freiheit erkaufen, in dem sie eine bezahlte Begleitung engagieren. Sei es die Erzählerin selbst, die erst mit Lilis Tod den letzten Schritt aus dem Hamsterrad schafft.

Beeindruckend an diesem Roman ist die Sprache, die Kunst der Schriftstellerin, aus unglaublicher Nähe jene Welt zu zeichnen, aus der es fast kein Entkommen gibt. Bilder, die mit wenigen Sätzen ganze Geschichten öffnen. Sätze, die in ihrer Poesie nachhallen. Kein Roman der lauten Töne, dafür einer tiefen Wärme!

Meral Kureyshi, geboren 1983 in Prizren, kam 1992 mit ihrer Familie in die Schweiz und lebt in Bern. Sie studierte Literatur und Germanistik und arbeitet als freie Autorin. Ihr erster Roman «Elefanten im Garten» war nominiert für den Schweizer Buchpreis, wurde mehrfach ausgezeichnet und in viele Sprachen übersetzt. Ihr zweiter Roman «Fünf Jahreszeiten» wurde im Manuskript ausgezeichnet mit dem Literaturpreis «Das zweite Buch» der Marianne und Curt Dienemann-Stiftung. 2020 wurde sie zu den Tagen der Deutschsprachigen Literatur nach Klagenfurt eingeladen (Bachmannpreis). Für «Im Meer waren wir nie» erhielt sie 2025 einen Literaturpreis des Kantons Bern.

Illustrationen © Lea Le / literaturblatt.ch