Urs Faes «Halt auf Verlangen», Suhrkamp

«Er fürchtete nicht das Leiden, den Tod, er war nicht einmal verliebt in das Leben, aber er hatte ein tiefes Begehren gespürt» steht als Zitat des amerikanisch-britischen Schriftstellers Henry James dem neuen Buch von Urs Faes vorangestellt. Kein Roman, ein Fahrtenbuch, ein Logbuch, eine literarische Auseinandersetzung mit einer Diagnose, die den Tod bedeuten kann. Ein intimer Blick, der nur deshalb gelingt, weil nichts an dem sehr persönlichen Buch rührselig, mitleiderregend oder exhibitionistisch ist, nichts.

Urs Faes ist einer der Grossen der Schweizer Literatur, kein Szenenautor und seit Jahrzehnten Hausautor bei Suhrkamp. Schon in seinen frühesten Werken erzählte Urs Faes von Lebens- und Beziehungskrisen. Einmal zeitlich ganz nah wie im grossen Roman «Paarbildung», ein ander Mal in zeitlicher Entfernung wie im letzten Roman «Sommer in Brandenburg» auf einem brandenburgischen Landgut während des Nationalsozialismus, wo junge Juden aud das Leben im Kibbuz vorbereitet wurden. Eine zarte Liebesgeschichte unter unsäglicher Bedrohung. Kein Wunder, wenn sich Urs Faes nach der Diagnose Krebs mit der eigenen, gesundheitlichen Krise auseinandersetzt.

Urs Faes «Fahrtenbuch» «Halt auf Verlangen» beschreibt Fahrten mit der Strassenbahn, mit Zürichs Tram von seinem Zuhause in die Klinik zur Bestrahlung, manchmal aber auch eine Station weiter bis zu den Friedhöfen. Er beginnt zu schreiben wie damals als 12jähriger in ein Heft, nicht grösser als ein Schulheft. Anfangs wohl noch ohne Ziel, ohne Absicht, dann immer mehr als Auseinandersetzung mit sich, der Krankheit, der Menschen aus der Vergangenheit, dem, was im Angesicht des möglichen Sterbens übrig bleibt. Mit dem, was aus der eigenen Geschichte hervorbricht. Wonach man sich sehnt, wenn man aus der Selbstverständlichkeit hinausrutscht. Urs Faes schrieb schon als Knabe, als sein Vater für lange Zeit verschwand und als gebrochener, kranker Mann zurückkehrte. Er schrieb vom kleinen Bruder, der anders war als alle andern, im Heim war und immer nach dem Vater fragte. Er schrieb von der Mutter, die in Arbeit und Sorge zu ertrinken drohte. Urs Faes schrieb damals als Zurückgelassener. Schreiben war Notwendigkeit, die einzige Möglichkeit, den Halt nicht zu verlieren. Genau wie jetzt mit seiner Krankheit, dem Krebs, als ihn ein Freund ermuntert: Schreib auf. Urs Faes schreibt von den behutsamen, heimlichen Anfängen des Schreibens, als es nach dem Tod seines kleinen Bruders und der langen Krankheit seines Vaters Trost und Flucht war. Er schrieb, «weil nichts in dieser Stille war». Wie die Not des Schreibens zum Zwang wurde und verstehen lässt, dass Urs Faes mit der Krankheit, die den Tod bedeuten kann, das Schreiben unmöglich sein lassen kann.

Warum ein solches Buch lesen? Warum sich dem aussetzen? Es geht kaum um die Krankheit, nie um das ausgesteckte Feld auf dem Unterbauch, das bestrahlt werden soll. Es geht darum, was mit einem Menschen geschieht, der wohl mit den Augen sieht, aber mit dem Schreiben wahrnimmt. Urs Faes, seiner Endlichkeit vorgeführt, sieht sich mit Erinnerungen konfrontiert, die wie Zeigefinger aus dem Meer von Unverdautem und Verdrängtem auftauchen. Bis zum Friedhof, wo unter Steinen Geschichten begraben liegen, dem Vergessen übergeben. Etwas, dem Urs Faes mit seinem Fahrtenbuch entgegenschreibt.

Urs Faes Sprache schmeichelt nicht, umgarnt einem aber doch. Sie ist Farbe, Geruch und Stimmung. Ohne Pathos, nicht einmal in den Schmerz der Krankheit getaucht. Sie ist ehrlich, unmittelbar. Gefühle werden über Sprache zelebriert, etwas, was der Autor in seinen Romanen seit je beweist; ein untrügliches Gespür für Klang und Musik. Urs Faes spielt mehrstimmig, ein ganzes Orchester an Klangfarben anstimmend. Grosses Können,

Urs Faes liest aus seinem Fahrtenbuch «Halt auf Verlangen» an den Solothurner Literaturtagen 2017, vom 25. bis 28. Mai. Ich freue mich!

Urs Faes, 1947 geboren, lebt und arbeitet in Zürich. Seine Werke wurden vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Schweizerischen Schillerpreis und dem Zolliker Kunstpreis. Sein Roman «Paarbildung» stand auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis.

Webseite des Autors

Titelfoto: «Inhalation» ©️ Philipp Frei

Pascale Kramer: Schweizer Grand Prix Literatur


Das Bundesamt für Kultur verleiht im Bereich Literatur jährlich einen Schweizer Grand Prix Literatur, um in der Schweiz und im Ausland auf das Werk einer bestimmten Autorin aufmerksam zu machen. Die Jury zeichnete Pascale Kramer für ihr Schaffen aus, eine Autorin, die sich als scharfe
Beobachterin mit grosser Sensibilität beweist. An den Solothurner Literaturtagen wird Pascale Kramer an einer Hommage ganz besonders gefeiert – mit Recht!

Pascale Kramer schreibt mit analytischem Blick, beschreibt die Einsamkeit derer, die jeden Halt, jede Sicherheit verlieren. Nicht nur die Perspektive, aus der die Autorin schreibt, auch die Sprache machen die Romane zu erschütternden Enthüllungen, was Verlorenheit und Verzweiflung anrichten können. Ihr letzter auf Deutsch erschienener Roman «Die unerbittliche Brutalität des Erwachens» erlangte viel Aufmerksamkeit und wurde vielfach ausgezeichnet. Trotzdem gilt die Autorin im deutschsprachigen Raum noch immer als Geheimtipp.

Alissa, eben Mutter geworden, eingezogen mit ihrem Mann in eine Wohnung mit Pool, findet den Tritt im neuen Leben nicht. Obwohl sie mit dem Mann verheiratet ist, der ihr Traummann gewesen war. Schachteln und Kisten bleiben unausgepackt, kein Tag ohne Kampf mit sich selbst und der Welt. Die Liebe zu ihrem Mann ist ihr entglitten – und auch das Mutterglück scheint abhanden gekommen zu sein. Und als ihr Mann nach der Rückkehr eines Freundes aus dem Irakkrieg, der ihn als Versehrten ausspuckt, den Stand verliert und sich ihre Mutter von ihrem Vater scheiden lässt, beginnt sich die Spirale von Dramatik und Tempo zu drehen. Die Katastrophe scheint unausweichlich.

Pascale Kramer, 1961 in Genf geboren, hat zahlreiche Romane veröffentlicht, für die sie mehrfach ausgezeichnet wurde. Aufgewachsen in Lausanne, verbrachte sie einige Jahre in Zürich und ging 1987 nach Paris, wo sie auch heute lebt und arbeitet. Mit ihrem vierten Roman «Die Lebenden» (Prix Lipp Suisse), 2000 in Frankreich und 2003 erstmals auf Deutsch in der Übersetzung von Andrea Spingler erschienen, kam der literarische Durchbruch. Im Rotpunktverlag liegt außerdem «Die unerbittliche Brutalität des Erwachens» (2013) vor, für den ihr der Schillerpreis, der Prix Rambert und der Grand Prix du roman de la SGDL zuerkannt wurde. 2017 konnte Pascale Kramer mit dem Schweizer Grand Prix Literatur erstmals eine Auszeichnung für ihr Gesamtwerk entgegennehmen.

Eben neu erschienen ist im Rotpunktverlag in der Edition Blau Pascale Kramers «Die Lebenden». neu erscheint im Juli ihr Roman «Autopsie des Vaters».

Titelbild: Sandra Kottonau

Christoph Hein «Trutz», Suhrkamp

Christoph Heins neuer Roman „Trutz“ ist auf dem Schutzumschlag als „Jahrhundertroman“ angepriesen. Ist er das? Gemessen an der Zeitspanne, die der Roman beschreibt, mit Sicherheit. Aber auch sprachlich und in seiner Erzählweise? Christoph Hein, der seine ersten Werke noch in der DDR veröffentlichte, schrieb die Geschichte von Menschen, die der Sturm der Geschichte durch ein Jahrhundert peitscht. Er zeichnet ein Stück Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts von Norddeutschland über Berlin und Moskau bis ins tiefste Sibirien, das mir bewusst macht, wie sehr Wohlstand und politische Stabilität zur Selbstverständlichkeit wird. Geschichte rutscht aus dem Bewusstsein weg, erst recht heute, wo Ausblenden und Verleugnen zum politischen Programm werden kann.

Christoph Hein erzählt die Geschichte von Rainer Trutz und seinem Sohn Maykl, von Waldemar Gejm und dessen Sohn Rem, von Deutschland und Russland, in denen durch die Geschehnisse des 20. Jahrhunderts kein Stein auf dem andern bleibt. Und von der Mnemotik, einer vergessenen Wissenschaft gegen das Vergessen.
Rainer Trutz entflieht der elterlichen Engstirnigkeit auf dem norddeutsche Hof ins von der Wirtschaftskrise gebeutelte Berlin, einer Stadt zwischen den Weltkriegen. Seine Hoffnungen, dort schnell eine Arbeit und einen Platz zu finden, verflüchtigen sich angesichts der grassiereden Armut und Arbeitslosigkeit. Erst durch einen Unfall, den „Zusammenstoss“ mit dem Auto einer jungen Frau, findet er einen Job als freier Mitarbeiter in Zeitungen und Zeitschriften, auch einen Platz im „Schwimmerbassin“ des „Romantischen Cafés“, wo sich die früheren Stammgäste des „Café Grössenwahn“ treffen; Schriftsteller, Maler, Journalisten, Schauspieler, Kreti und Pleti, Männlein und Weiblein der Berliner Szene. Und als dann auch noch sein erster Roman erscheint und er gemeinsam mit Gudrun eine kleine Wohnung bezieht, scheint er wider Erwarten schnell dem Ziel seiner Träume näher gekommen zu sein.
Aber Rainer stolpert. Ein erstes Mal mit seinem Roman, der seiner Frivolität wegen den moralischen Vorstellungen der aufstrebenden braunen Bewegung missfällt. Und sein zweiter Stolperer ist sein zweiter Roman, der in der Presse als „Wühlarbeit einer roten Ratte“ diffamiert wird. Rainer gerät unversehens zwischen die Fronten, muss fliehen, zuerst aus seiner Wohnung, später ganz aus Deutschland, mangels Alternativen ins sowjetische Moskau. Gudrun arbeitet nicht mehr als Gewerkschaftssekretärin, sondern an den Maschinen einer Schokoladenfabrik. Rainer mit seinen zwei linken Händen in der „Brigade Karl Marx“, die mit andern das Vorzeigeprojekt Metro in der sowjetischen Hauptstadt zu Ehren Stalins vorantreiben soll. Rainer überlebt die moskauer Jahre nur, weil er Wladimir Gejm kennenlernt, einen hochdekorierten Professor für Mathematik und Sprachwissenschaft an der Lomonosow-Universität. Ein Gelehrter, der mit seiner Wissenschaft der Mnemotik, der Lehre von Ursprung und Funktion der Erinnerung (Keine Erfindung des Autors!) Neuland betritt und darin Rainers Sohn Maykl und seinen eigenen Sohn Rem zu Probanden dieser neuen Technik macht. Zwei Familien wachsen zusammen. Für wenige Jahre bedeutet es das grosse Glück der beiden Kinder Maykl und Rem, die wie Brüder zueinander aufwachsen.
Aber die Mühlen der Geschichte drehen unberechenbar weiter. Manchmal ändert die Drehrichtung vollkommen. In den Wirren der verschiedenen russischen Säuberungsaktionen, in denen sich nicht nur Stalin, Generalsekretär und Diktator der Sowjetunion von scheinbaren Konkurrenten befreit und damit Tausende der Willkür und Denunziation zum Opfer fallen, wird auch Rainer Trutz wegen einer Buchbesprechung in seiner Berliner Zeit zu fünf Jahren Zwangsarbeit in einem sibirischen Lager verurteilt. Ebenso Professor Gejm, dessen Lehrstuhl aufgelöst, alle Manuskripte und Unterlagen vernichtet werden, um ihn zuerst in die Garderobe eines Moskauer Theaters und später in eine Besserungsanstalt, wo er Bäume fällen soll.
Familien werden auseinandergerissen, Leben zerbrochen. Christoph Hein erzählt das Panorama zweier Familien über fast hundert Jahre. Eine Geschichte, von der Christoph Hein vor dem ersten Kapitel erklärt: „In diesen Roman geriet ich aus Versehen, oder viel mehr durch Bequemlichkeit.“ Eine Geschichte, die erzählt werden musste!
Ein Buch, das ich atemlos bis zur letzten Seite las. Ein Buch, das mich bewegt, wie alle Bücher des grossen Autors, der erst im Jahr 2016 mit „Glückskind mit Vater“ (ebenfalls auf literaturblatt.ch besprochen) bei Suhrkamp einen tief beeindruckenden Roman veröffentlichte. Christoph Hein fesselt jene genauso, die nach historischen Stoffen dürsten, wie jene, die sich gerne über grosse Erzählbögen von Geschichten mitreissen lassen. Ich spüre Christoph Heins Pflicht, sich mit den Wirrungen der unmittelbaren Geschichte auseinanderzusetzen, mit Verantwortung für die Gegenwart, ohne dass er mit einem Mahnfinger drohen muss.
„Trutz“ ist grosse deutsche Literatur!

Christoph Hein wurde am 8. April 1944 in Heinzendorf/Schlesien geboren. Nach Kriegsende zog die Familie nach Bad Düben bei Leipzig, wo Hein aufwuchs. Ab 1967 studierte er an der Universität Leipzig Philosophie und Logik und schloss sein Studium 1971 an der Humboldt Universität Berlin ab. Von 1974 bis 1979 arbeitete Hein als Hausautor an der Volksbühne Berlin. Der Durchbruch gelang ihm 1982/83 mit seiner Novelle „Der fremde Freund / Drachenblut“.
Hein wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Uwe-Johnson-Preis und Stefan-Heym-Preis.

Jens Eisel «Bevor es hell wird», Piper


Nach dem Buch «Hafenlichter», Jens Eisels Erstling mit Erzählungen, legt der Autor bei Piper mit seinem ersten Roman «Bevor es hell wird» nach. Und nachdem ich den Autor anfragte, ob er für ein paar Fragen bereit wäre, hier das Interview:

Lieber Herr Eisel, ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Roman! Ein Roman, der mich zuerst kritisch stimmte, dem ich mich auf den ersten Seiten zuerst annähern musste, dessen Themen ich zu Beginn als allzu emotional aufgeladen empfand. Alex kommt aus dem Knast zurück in sein altes Leben, zurück zu einer Vergangenheit, die er mit all seinen Veränderungen zuerst zurückgewinnen muss. Alex kannte seinen Vater nicht, verlor seine Mutter durch Krankheit, als er noch zur Schule ging und zuletzt auch noch seinen einzigen Bruder Dennis. Ihr Roman hätte genügend Potenzial, um mich nach der Lektüre mit Zweifel zurückzulassen. Hat da ein Autor nicht allzu deftig in der Schicksalsschüssel den Stoff schaumig gerührt, das Unglück kulminieren lassen, um mich an der Stange zu halten? Wurde da nicht zwischendurch der Gang an der Grenze zum Kitsch allzu sehr ausgereizt, um meine Empathie anzuheizen? Ihr Roman tat es nicht! Ihr Roman «Bevor es hell wird» machte mich glücklich. Glücklich, weil er mir ehrlich gegenübertritt, weil seine Figuren authentisch sind, weil ich sie erkenne und weil die gewählte Sprache mit Alex› Welt übereinstimmt. Herr Eisel, da gab es die Idee zur Geschichte. Gab es auch den Typus einer Sprache, die sein musste, um Ihre Geschichte zu erzählen? Schon während des Schreibens war mir bewusst, dass der Kitsch-Vorwurf sicher kommen würde. Ein Grund, warum ich amerikanische Erzähler schätze, ist, dass sie keine Angst vor großen Gefühlen haben. Seltsamerweise wird einem Denis Johnson oder einem Richard Ford das in Besprechungen im deutschen Feuilleton nicht vorgeworfen. Sobald sich allerdings ein deutscher Autor einem Stoff emotionaler nähert, läuten sofort überall die Alarmglocken. Und dennoch, ich wollte diese Geschichte so erzählen – und ich werde es auch weiterhin tun. Auch die Sprache ist bewusst gewählt. Ein überbordender Stil würde schlicht und einfach nicht zu dem Erzähler passen.

Nachdem Alex mit 14 zusammen mit seiner Mutter und seinem Bruder nach Hamburg zog, waren es die wenigen Monate der Hoffnung. Endlich, nach einer langen Reihe von Umzügen, schien Familienglück auf ihrer Seite zu sein. Alex› Mutter fand einen Job und Dennis einen Ausbildungsplatz im «Krähennest», einem kleinen Restaurant. Und weil Sommerferien waren, streifte Alex in Hamburg herum, freundete sich mit Carmen, einer älteren Kinobetreiberin an, bei der er ebenso ein kleines Stück Zuhause fand wie bei Norman, seinem neu gewonnenen Freund und seines Vaters Autowerkstatt. Norman, ein von seiner Mutter Verlassener und Alex, ein von seinem Vater Verlassener. Alles schien damals zu stimmen. Und als sie dann auch noch zum ersten Mal Familienferien am Meer in einem Zirkuswagen in den Dünen antreten konnten, schien sich das Glück wirklich festzusetzen. Aber ausgerechnet bei dieser Reise kündigte sich an, was sich ein paar Monate später zur grossen Katastrophe auswachsen sollte. Alex› Mutter war krank. Misstrauen Sie dem Glück? Sie beschreiben das Leben einer Familie, die zuvor schon kaum die Nase aus den Schattenseiten des Lebens brachte. Sie als Autor konzentrieren derart viel Unglück, dass Alex später gar Angst davor bekommt, Menschen zu nahe zu kommen, Angst, sein Unglück könne überspringen. Suchen Sie in Ihrem Roman die Grenzen des Unglücks? Wie viel Unglück «braucht» der Mensch, um daran zu zerbrechen, so wie Alex Bruder Dennis? Suchen Sie nach Antworten darauf, warum es die einen schaffen, die andern nicht? Tut Ihnen das Unglück Ihres eigenen Personals während des Schreibens nicht weh? Bevor ich mich ganz dem Schreiben widmete, habe ich ein paar Jahre bei der Diakonie St. Pauli gearbeitet. Ich habe dort hauptsächlich Alkoholiker und Junkies betreut. Einige der Menschen, um die ich mich kümmerte, waren kaum älter als ich. Was all diese Menschen verband, war, dass es an irgendeiner Stelle in ihrem Leben Ereignisse gegeben hatte, die sie aus der Bahn geworfen haben – der Verlust des Arbeitsplatzes, der Tod des Partners. Einige dieser Menschen wurden von mehreren Schicksalsschlägen hintereinander ereilt, waren immer wieder auf die Beine gekommen, bis sie – eine vergleichsweise harmlose Begebenheit – völlig aus dem Gleichgewicht brachte. Es ist nicht unbedingt das Unglück, was mich beschäftigt. Vielmehr ist es die Frage, was uns zu dem macht, was wir sind. Ich fühle mich meinen Figuren sehr verbunden, und sicher, ich leide auch mit ihnen.

Auch wenn ihr Roman in einem Prolog im Jahr 2004 beginnt und keinen Zweifel darüber lässt, dass da einer tief gefallen ist, spielt ihr Roman grösstenteils auf zwei Zeitebenen. 1996/97, als Alex 14 ist und sein Leben, das zusammen mit seinem Bruder und seiner Mutter noch nie auf der Siegerstrasse spielte, im Moment scheinbarer Entspannung endgültig zu schlingern beginnt. Und 2006, zehn Jahre später, nach zwei Jahren im Knast, von Alex, der sein Leben zu verstehen versucht. Zwei Ereignisse, zwei Geheimnisse sind es, die mich als Leser bis zum Schluss durch ihren Roman peitschen, die die Spannung fast unerträglich werden lassen: Warum musste Alex in den Knast? Und warum gibt es nicht nur ein Grab seiner Mutter, sondern auch eines seines grossen Bruders?
Ich hatte einmal einen Nachbar, der, reich und eitel geworden durch seine Geschäfte, allen Ernstes behauptete, jeder müsse sich nur ordentlich anstrengen, dann würde sich Glück und Erfolg automatisch einstellen. Was würden Sie meinem Nachbarn entgegnen? Es wäre schön, wenn Ihr Nachbar recht hätte. Leider habe ich schon allzu oft das Gegenteil erlebt.

Sie waren mit ihrem Roman auf der Leipziger Buchmesse. Gab es da einen besonderen Moment? An einem der Abende habe ich im Deutschen Literaturinstitut gelesen. Es war das erste Mal, dass ich dort war, seit ich mein Studium abgeschlossen habe, und es war sehr schön in der alten Villa aus meinem Buch zu lesen.

Haben sie ein Buch von Leipzig mit nach Hause genommen? Ja, den neuen Gedichtband von Sascha Kokot. Er heißt FERNER, und ich kann ihn jedem ans Herz legen.

Was geht im Kopf eines Schriftstellers vor, angesichts des Rummels rund ums Buch, der schieren Menge an Neuerscheinungen und dem Wirbel um schreibende Promies? Da ich eine Weile in Leipzig gelebt habe, ist die Messe für mich nichts Neues. Sie gehört für mich zum „Geschäft“. Die Lesung in der Moritzbastei war schön, und ich habe mich gefreut, meine Lektorin zu sehen. Aber insgesamt ist mir die Messe zu hektisch.

Vielen Dank, Jens Eisel. Und Sie, liebe Leserinnen und Leser: Lesen Sie «Bevor es hell wird»! NDR Buch des Monats April!

Jens Eisel, geboren 1980 in Neunkirchen/Saar, lebt in Hamburg. Nach einer Schlosserausbildung arbeitete er unter anderem als Lagerarbeiter, Hausmeister und Pfleger. Er studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und war 2013 Finalist beim Literaturpreis Prenzlauer Berg. Mit seiner Story «Glück» gewann er im selben Jahr den Open Mike.

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Mein kleines Jubiläum

Liebe Leserinnen und Leser, liebe Freundinnen und Freude, liebe Gleichgesinnte, Bücherwürmer, Leseratten und Kopfcineasten

Jetzt sind es 200. Zugegeben, nicht alle von der gleichen Qualität. Aber alle gleichen Ursprungs, meiner Leidenschaft fürs Buch, fürs gute, besondere Buch. Auch wenn ich weiss, wie sehr die Qualität eines Buches beim Urteil seiner LeserInnen variieren kann. Zumindest behaupte ich; wer sich an meine Lesetipps auf literaturblatt.ch und im Besonderen an die auf meinen Literaturblättern hält, liest gute Bücher, Bücher, die Eindrücke hinterlassen, Bücher, die bewegen, Bücher, die klingen, Bücher, die fesseln.

200 Berichte, 140 Schriftstellerinnnen und Schriftsteller, Veranstaltungen, Hinweise und mehr. Es ist eine Reise durch die Welt, es sind Begegnungen mit vielen Menschen. Ich danke allen, die immer wieder einmal einen Blick auf literaturblatt.ch werfen, den Verlagen, die akzeptieren müssen, wenn ich nicht schreibe und den vielen Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die mein Herz bewegen:

Sascha Kokot, Takis Würger, Bernd Schroeder, Martina Clavadetscher, Andreas Neeser, Stephan Lohse, China Miéville, Simone Meier, Michèle Minelli, Peter Höner, Sarah Moss, Eva Roth, Frédéric Zwicker, Joachim B. Schmidt, André David Winter, Tim Krohn, Yves Rechsteiner, Beat Gloor, Herta Müller, Nina Jäckle, Akog Doma, Lukas Hartmann, Urs Richle, Fee Katrin Kanzler, Navid Kermani, Evelina Jecker Lambreva, Steven Millhauser, Markus Werner, Elisabeth Binder, Berni Mayer, Dina Sikirić, Margriet de Moor, Petra Ahne, Raoul Schrott, Reif Larsen, Hannah Dübgen, Quentin Mouron, Petro Lenz, Jonas Karlsson, Julia Trompeter, Guy Krneta, Diana Broeckhoven, Christine Fischer, Anna Mitgutsch, David Wagner, Ralph Schroeder, Patrick Tschan, Christian Kracht, Max Küng, Andreas Meier, Linus Reichlin, Christoph Ransmayr, Klaus Merz, Dominique Anne Schuetz, Esther Kinsky, Franz Dodel, Bodo Kirchhoff, Matthias Brandt, Zora del Buono, Bastian Astonk, Leon de Winter, NoViolet Bulawayo, Bettina Spoerri, Paula Fürstenberg, Jan Philipp Sendker, Matthias Zschokke, Ursula Fricker, Lorenz Langenegger,  Daniela Danz, Alex Capus, David Mitchell, Philipp Blom, Reinhard Kaiser-Mühlecker, Christoph Keller, Rebecca C. Schnyder, Heinrich Kuhn, Florian Vetsch, Peter Weber, Molly Brodek, Delphine de Vigan, Beat Brechbühl, Hanna Sukare, Thommie Bayer, Meinrad Inglin, Kurt Guggenheim, Carlos Peter Reinelt, Klaus Modick, Pablo Bernasconi, Rebecca West, Julia Kissina, Vladimir Sorokin, Urs Mannhart, Loranzo Marone, Judith Hermann, Jens Steiner, Shumona Shina, Anita Siegfried,  Barbara Köhler, Peter Stamm, Philipp Hagen, Erica Engeler, Roland Schimmelpfennig, Monika Maron, Charles Lewinsky, Hans-Ulrich Treichel, Judith Kuckart, Feridun Zaimoglu, Juli Zeh, Noëlle Châtelet, Daniel de Roulet, Meral Kureyshi, Thomas von Steinaecker, Marjleena Lembcke, Frédéric Pajak, Heinz Strunk, Tom Zürcher, Benedict Wells, Ruth Loosli, Rolf Lappert, Brigit Vanderbeke, Heinz Helle, Pierre Jarawan, Radek Knapp, Jakob Hein, Mireille Zindel, Michael Kumpfmüller, Andreas Neeser, Jean Mattern, Hans Platzgumer, Tomas González, Mario Vargas Llosa, Alessandro Baricco, Claudia Schreiber, Anna Galkina, Aline Bronsky, Anthony Doerr.

Über Wortgeschenke freue ich mich sehr!

Sascha Kokot «Ferner», edition AZUR

Ich las Sascha Kokots Lyrikband «Ferner» auf einer Fahrt mit dem Zug, dem Bodensee entlang. Ich las immer wieder, mit Pausen, liess das Buch sinken, las weiter. Die Gedichte schärfen den Blick, auch wenn sie es mir nicht leicht machen. Sie zwingen mich hinein- und nicht darüberzulesen. Sprachkunst, herausgegeben in einer wunderschönen Ausgabe!

 

 

dieser Tage springt es dir wieder in die Knochen

dieser Tage springt es dir
wieder in die Knochen
lagert sich in den Gelenken ab
holt dich ein weit vor dem Morgen
dann liegst du wach weisst nicht
wie dir geschieht woher das kommt
was da bleiben wird
nur dieses schmale Zimmer
die falsch furnierten Möbel
das angekippte Fenster
ein Spalt zur Strasse hin
das Rauschen in den Pappeln
trieb mich durch die Nächte
du hörst dort nichts mehr
und fragst stumm in dich hinein
wann fing es an dass ich
mich nicht mehr nähern konnte

sobald die Sonne vertrieben ist

sobald die Sonne vertrieben ist
tauchen die Schwärme auf
sie kreisen über den Dächern
lassen sich für einen Moment
auf den steifen Ästen nieder
jagen unvermittelt wieder fort
verschwinden aus dem Blickfeld
unserer noch nicht erleuchteten Fenster
brechen durch das Gestrüpp höherer Flugrouten
lassen uns einen dämmernden Himmel zurück
den wir nicht deuten können

Sascha Kokot beschreibt Landschaften, innere und äussere. Und machmal dreht sich dieser Blick unvermittelt, plötzlich. Ein Blick in den Himmel wird zur Frage nach Innen. Sascha Kokots Gedichte erschliessen sich mir nur langsam, die einen gar nicht, oder noch nicht. Macht nichts, denn Sascha Kokot verspricht mir mit seiner Sprache vieles. Es sind Bilder, die nicht abbilden, nicht einfach zeigen, obwohl ich im Blitzlicht des Lesens Konturen erkenne. Es bleibt stets Geheimnis, nicht zuletzt in den Überschriften zu den Gedichtgruppen: Drift, Transit, Graphen, Schären, Filament (Nachgesucht: Textilfaser).

«Kokots Gedichte mit ihrer melancholischen Zugewandtheit führen direkt unter die dünne Haut der Dinge und Erscheinungen – präzis arbeitende Sonden, die Bilder von großer Einprägsamkeit versenden.»
Daniela Danz

Sascha Kokot, 1982 in der Altmark geboren und aufgewachsen, lebt als freier Autor und Fotograf in Leipzig. Nach einer Lehre als Informatiker in Hamburg und einem längeren Aufenthalt in Australien studierte er am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Er war Stipendiat der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen und der Albert Koechlin Stiftung. Für seine Arbeiten wurde er mehrfach ausgezeichnet, u. a. 2012 mit dem zweiten Feldkircher Lyrikpreis und 2014 mit dem Georg-Kaiser-Förderpreis.

Ich danke dem Autor für die Erlaubnis zwei seiner Gedichte aus dem Band «Ferner» hier wiedergeben zu dürfen!

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Webseite edition AZUR

Titelbild: Sandra Kottonau

Welttag des Buches, bloss ein Tag

Unsere westliche, europäische Kultur ist untrennbar mit dem Buch verbunden, dem Geschriebenen zwischen zwei Buchdeckel gefasst. Lesen eine Kulturtechnik, der man sich unmöglich entziehen kann, auch wenn laut Statistik mehr als eine halbe Million Personen in der Schweiz nicht richtig lesen und schreiben können. Ist der Welttag des Buches bloss eine PR-Aktion? Wer beginnt schon zu lesen, wenn er ein Buch geschenkt bekommt? Bei mir klappte das nicht.

Gibt es einen Welttag des Fernsehens, des Computergames, des Autos, des Sitzens, des Pinsels? Müsste der Welttag des Buches nicht viel eher «Welttag des Lesens» heissen? Ein Tag, an dem allen bewusst sein müsste, dass längst nicht alle Kinder eine Schule besuchen können, längst nicht alle Menschen Zugang zu Büchern oder Zeitungen haben, die Kulturtechnik des Lesens im Zeitalter des Bildschirms und der Piktogramme immer weniger zur Selbstverständlichkeit wird. Dass Lesen zu einem Verbrechen werden kann. Früher las man selbst in bildungsfernen Stuben wenigstens in der Bibel. Heute kann man Geräte ohne eine Gebrauchsanweisung bedienen, Mitteilungen ohne Schriftzeichen übermitteln. Vom Illettrismus betroffene Menschen, die einmal Lesen und Schreiben lernten, die Fähigkeiten aber wieder verloren, entwickeln raffinierte Verhaltensweisen, um mit ihrer Schwäche, ihrem Unvermögen nicht aufzufallen oder anzustehen.

Schön, wenn Bücher verschenkt werden. Schön, wenn an einer solchen Aktion Kindern Gutscheine verteilt werden, wenn man sich am Samstag davor in Buchhandlungen ganz besonders umworben fühlt.

Solange Bibliotheken aber immer noch um finanzielle Unterstützung von Seiten der öffentlichen Hand zittern müssen, solange es Bücher gibt, die es auf einen Index schaffen, solange man Bücher als Kampfschriften gegen die westliche Welt verteilt und damit missbraucht, solange 6 Jahre Schreibarbeit an einem Buch und 5000 verkaufte Exemplare höchstens ein Taschengeld für einen Schriftsteller abwerfen, solange Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Journalistinnen und Journalisten wegen ihrer Schriften in Gefängnisse weggesperrt werden oder aus ihrer Heimat fliehen müssen, solange hinter einem Buch das Wirken des Santans vermutet wird, solange braucht es jährlich mindestens einen Tag des Buches.

Der Welttag des Buches und des Urheberrechts (kurz Weltbuchtag, englisch World Book and Copyright Day) am 23. April ist seit 1995 ein von der UNESCO weltweit eingerichteter Feiertag für das Lesen, für Bücher, für die Kultur des geschriebenen Wortes und auch für die Rechte ihrer Autoren.

Wenn Sie etwas für das Buch tun wollen, dann wählen Sie mit bei der Suche nach dem Verlag und der Buchhandlung des Jahres in der Schweiz. Machen Sie mit: Zur Abstimmung!

Takis Würger «Der Club», Kein & Aber

Menschen sind voller Sehnsüchte. Eine davon, vielleicht die stärkste, ist die Sehnsucht nach einem Zuhause, einem Ort, an dem man sich in keiner Weise zu verstecken oder verstellen braucht. Takis Würger beschreibt in seinem ersten Roman «Der Club» solche Sehnsuchtsorte; das Zuhause und die Freundschaft, die Liebe.

Schon die erste Seite seines Romans spiegelt, was Takis Würger kann. Er bringt es auf den Punkt, ganz klar, unmissverständlich, mit dem sicheren Gefühl für die richtigen Bilder, unprätentiös in der Sprache und mit tiefer Empathie für die Figuren. Allein die erste Seite seines Romans ist eine Geschichte. Wer in der Buchhandlung steht, die erste Seite aufschlägt und liest, sieht eine ganze Reihe von Türen und Fenstern, die neugierig machen auf das, was dahinter steckt.

Hans wächst in einem kleinen Haus im südlichen Niedersachsen auf, direkt am Wald, mit Eltern, die ihn wachsen und gedeihen lassen und einem Pferd, das keinen Sattel mehr ertägt. Hans ist ein Sonderling, als Kind eines, das nicht spielt, viel lieber die Zeit im Wald verbringt, um die Welt zu beobachten. Er mag die Schule nicht, ausser wenn im Fach Deutsch Geschichten geschrieben werden, Geschichten, die ihm erlauben, seine Ordnung zu schaffen, die Welt zu verstehen. Als zuerst sein Vater bei einem Verkehrsunfall und ein halbes Jahr später seine Mutter am allergischen Schock eines Bienenstichs sterben, hätte ihn seine Tante Alex aufnehmen sollen. Sie tut es nicht und schickt ihn in ein Jesuiteninternat, wo ihm Pater Gerald aus dem Sudan im Keller das Boxen beibringt. Boxen als eine Art Sprache, ein Rhythmus, der ohne Worte auskommt. Nach dem Internat inszeniert die Tante aus der Ferne, die Dozentin an der Eliteuniversität Cambridge ist, dass er zum Studenten an ihrer Universität wird. Es gibt eine Angelegenheit, bei der er ihr helfen soll. Hans wird zum Studenten Hans Stichler, der im Auftrag seiner distanziert agierenden Tante ein Verbrechen aufdecken soll. Ein Verbrechen im Club, im Pitt Club, einer äusserst elitären Vereinigung in einer äusserst elitären Universität. Hans› Tante Alex weiss, dass sie niemals Zugang zu den geheimen Machenschaften innerhalb des Clubs finden kann. Aber Hans ist ihr Schlüssel – und nicht nur dank seiner Intelligenz und seines Boxtalents. Hans besitzt eine Gabe, die ihn in seiner Bescheidenheit auffallen lässt; er kann zuhören. Er gibt seinem Gegenüber schon mit seiner Gestik, seinem Blick das Gefühl, in ihm einen Freund, ein Stück Heimat gefunden zu haben. Ausgerechnet Hans findet Freunde, die er täuschen muss, um hinter ein Geheimnis zu kommen, von dem er selbst nichts weiss, das ihn aber immer näher an den Abgrund bringt. Seine Lüge wird zum Nitroglyzerin, das jederzeit zu explodieren droht. Er träumt ein Leben lang von Liebe und Freundschaft, um seinen Traum zum Alp werden zu lassen.

Die Welt ausserhalb des Clubs ist aufgeteilt in Sieger und Besiegte, Raub- und Beutetiere, Clevere und ewig Dumme. Takis Würger erzählt mit den Stimmen der Protagonisten, u. a. auch mit der von Josh, dessen Stimme so unglaublich viel Verachtung, Arroganz und elitäres Bewusstsein zeigt, dass ich gewisse Passagen seiner Aussagen fast unausstehlich empfand. Ein geschicktes Konstrukt des Autors! Takis Würger weiss, wie Geschichten erzählt werden, weiss es, weil er als Journalist den Riecher für Geschichten hat, weil er weiss, wie viel er Preis geben muss, ohne dem Leser das Gefühl zu geben, am Gängelband zu sein.

«Manchmal ist das Leben ein Rausch. Ich habe diesen Roman wie im Rausch geschrieben. Die Idee war einfach da, und ich habe sie in drei Monaten zu Papier gebracht.»

Bücher wie «DerClub» sind der Grund, warum ich Krimis nicht mag. Nicht dass ich es unverständlich finde, dass Krimis gelesen und gesehen werden. Aber mir sind sie zu einfach, zu eindimensional, zu plump. Zu oft haben sie mit der Wirklichkeit wenig zu tun. Unterhaltung? Klar, aber mir ist die Zeit zu wertvoll, um mich mit Dingen zu beschäftigen, die mit dem Leben nichts zu tun haben.
Als ich Takis Würgers zur Seite legte, wachte ich auf wie nach einem Rausch. Ein Rausch ist konzentriertes Leben, erst recht dann, wenn er ohne Verstärker herbeigeführt wird. Ein solcher Rausch hat viel mit Wirklichkeit zu tun, genau wie sein Buch. Ein Buch, das auch ein Krimi hätte sein können, es aber nicht ist. Da fliesst Blut, es gibt Tote, es gibt die Guten und die Bösen. Und trotzdem kein Krimi, sondern die Geschichte darüber, was mit Menschen passiert, die den Boden unter den Füssen verlieren. Seien es nun die Snobs, die Geldgeilen, die Besten und Stärksten, die Erfolgreichen, die Winner oder jene die von einem Gefühl so sehr geritten werden, dass sie mit Vollgas auf den Abgrund zurasen können. Ein Buch darüber, dass jene besonderen Fähigkeiten, die uns zu Menschen machen, nur dann zum Vorschein kommen, wenn sich jemand darum bemüht, in welcher Form auch immer, am ehesten durch Liebe, vielleicht durch Sehnsucht, die nie gestillt wird.
Die Widmung, die mir der Autor an den Weinfelder Buchtagen in sein Buch schrieb, glaube ich ihm mit jeder Faser. Vielleicht auch ein Grund, warum man sein Buch so gerne liest. Das merkt man. Und hätten er einen Krimi geschrieben, wär das so nie passiert.

Takis Würger, geboren 1985, ist Redakteur beim Nachrichtenmagazin »Der Spiegel«. Im Alter von 28 Jahren ging er nach England, um an der Universität von Cambridge Ideengeschichte zu studieren. Dort boxte er als Schwergewicht für den Cambridge University Amateur Boxing Club und wurde Mitglied in verschiedenen studentischen Klubs.

Webseite des Autors

Titelbild: Sandra Kottonau

Andreas Neeser «Nüüt und anders Züüg», Zytglogge

Was für ein Geschenk! Was für ein Vergnügen, dieses Buch in Händen zu halten, darin zu lesen, sich ab beigelegter CD vorlesen zu lassen, Abende damit zu verbringen, im Halbdunkel der Stube, wegzudriften ins eigene Halbdunkel der Erinnerungen.

Schon das Glossar der aargauischen Mundartausdrücke, die oft erstaunlich weit von meiner ostschweizer entfernt scheinen, ist ein Fenster zum eigenen Erinnern, ermuntert mich selbst, mich auf die Suche nach Ausdrücken und Wörtern zu machen, die ich fast vergessen hätte, wenn sie nicht urplötzlich mit Hilfe eines Buches wie das von Andreas Neeser aus dem Dunkel des Vergessens  auftauchen würden. Andreas Neeser erzählt in seiner Mund-Art, spielt mit dem Klang seiner Sprache, dem Duktus seiner Sätze. Und wenn ich an einem Abend in meinem Ohrensessel sitze, dort, wo vor ein paar Jahren Andreas Neeser aus seinem letzten Roman «Zwischen zwei Wassern» las, dann ist mit der beigefügten CD, auf der der Autor selbst ruhig und kaum dramatisierend die Geschichten liest, während ich Zeilen im Buch folge, der Abend ein ganz besonderer. Erstaunlich, wie viel Wärme Andreas Neeser erzeugt, wie nah er mir mit seinem Erzählen kommt, selbst dann, wenn sie inhaltlich kaum mit meiner Welt Übereinstimmung finden. Andreas Neesers Geschichten haben das perfekte Mass an Auserzähltem und Verschwiegenem, an Gesagtem und Unterlassenem, an Witz und Ernst. Ohne dass er seine Freude am blossen Klang der Wörte auf die Spitze treibt.

Andreas Neesers neustes Buch ist ein Geschenk, auch mit den Illustrationen der Künstlerin Marianne Büttiker, die schon beim ersten Band «S wird nümme wies nie gsi isch» den Geschichten Andreas Neeser Luft gab. Pausen, denn seine Geschichten sind Konzentrate. Andreas Neesers Mund-Art bietet ein erfrischendes Gegengewicht zu all den Berner Mundart «Übergewichten». Andreas Neeser beweist, dass es an der Mischung zwischen Sprache, Klang, Konstruktion und Komposition loegt. Und nicht zuletzt trösten Andreas Neesers Geschichten, wie die titelgebende «Nüüt und anders Züüg», in der ein von seinem Lehrer Drangsalierter endlich ausholt zum grossen Rundumschlag gegen den allmächtigen Lehrer Ehrliholzer, den Tubel!

Andreas Neeser, geboren 1964, studierte Germanistik, Anglistik und Literaturkritik an der Universität Zürich. Während 13 Jahren unterrichtete er an der Alten Kantonsschule in Aarau. 2003 bis 2011 Aufbau und Leitung des Aargauer Literaturhauses in Lenzburg. Seit 2012 lebt Andreas Neeser als Schriftsteller in Suhr bei Aarau.
Mitglied von Autor/innen der Schweiz (AdS), Deutschschweizerisches PEN-Zentrum und VAA. Mitglied der Jury für den Franz-Tumler-Preis.

Andreas Neesers Webseite 

Titelbild: Sandra Kottonau, Illustration: Gallus Frei-Tomic

Wort – Laut und Luise, Lechts und Rinks 2017

Die 9. St. Galler Literaturtage WORTLAUT 2017 sind Erinnerung. Laute und leise Töne mit wenig und viel Publikum. Markige Sprüche, freche Zeichnungen, durchscheinende Lyrik und rundum Gespräche über Bücher und Literatur, Text und Kontur. Aber was blieb in Erinnerung? Was hat bewegt?

„Warum ist die Welt in Büchern nicht eine bessere als in der wirklichen Welt?“

Mein ganz persönliches literarisches Jahr beginnt mit den St. Galler Literaturtagen – jedes Jahr. Im Vorsommer dann die Solothurner Literaturtage, die Nabelschau der CH-Literatur und im Sommer dann das Literaturfestival in Leukerbad mit einem literarischen Blick weit über die Landesgrenzen hinaus. Es sind aber wie in jedem Bücher- und Literaturfest nicht so sehr die Bücher, die mich locken, sondern die Schöpferinnen und Schöpfer selbst. Vor allem jene, bei denen ich spüre, wie neugierig sie sind, was ihre Bücher mit mir machen.

„Warum hat die Literatur so viel Lust, den Antihelden scheitern zu lassen?“

Die diesjährigen Literaturtage begannen in der Provinz, mit einer Prologlesung des jungen Schriftstellers und Journalisten Frédéric Zwicker im Kulturforum Amriswil. Der Autor las aus seinem ersten Roman „Hier können sie im Kreis gehen“, der Geschichte des 91jährigen Johannes Kehr, der sich im Altersheim hinter einer vorgetäuschten Demenz vor den Menschen versteckt. Sein ernst zu nehmender Roman über den letzten Lebensabschnitt vieler Menschen, den man aber gerne verdrängt, mit dem man sich selbst meist erst kurz davor und nur ungerne auseinandersetzt. Die Geschichte eines alten Mannes, die erklären soll, warum sich jemand hinter einer vorgespielten Demenz vom Leben distanzieren will. Ein Unterfangen, das mit Bedacht und Vorbereitung angegangen werden muss, wenn Kehr sich nicht durch die Wirkung eines Medikaments oder einer unglücklichen Äusserung verraten will. Ein Abenteuer, das ihm ungeahnte Freiheiten eröffnet, weil niemand, nicht einmal seine Enkelin, deren Foto er seine Geschichte erzählt, sein Doppelleben erahnt. Eine Lesung, ein Gespräch, das sich mit vielen wichtigen Fragen auseinandersetzte; Was tun, wenn einem nichts mehr am Leben hält? Wie viel Freiheit braucht der Mensch, selbst dann, wenn er unberechenbar wird?

„Literatur mag Personal, das etwas riskiert.“

Bei der offiziellen Eröffnungsveranstaltung las Max Küng, bekannt durch seine Kolumnen im Tages-Anzeiger Magazin, ein letztes Mal aus seinem Roman „Wenn du dein Haus verlässt, beginnt das Unglück“. Ein Roman darüber, was hinter der Fassade eines Zürcher Stadthauses passiert, wenn alle im Haus gleichzeitig die Kündigung ihres Mietverhältnisses zugeschickt bekommen. Max Küng ist gewiefter Beobachter, Journalist und Schriftsteller. Max Küng tut, was er wirklich kann. Er blickt mit dem Brennglas auf Grossstadtmenschen, Menschen, die nur dort leben können, bunte Kampffische im Aquarium. Ganz offensichtlich verlief die Dernière mehr nach den Vorstellungen des Autors als die Buchtaufe im vergangenen Herbst auf dem Dach seines Zürcher Verlags. Damals ass man Biosandwiches unmittelbar unter der Sonne, ein kleiner Haufen. Das Buch kam unter all den Kulturlöwen kaum zu Wort.

„Figuren die allzu positiv besetzt sind, interessieren die Literatur nicht.“

Und am Samstag, dem eigentlichen Haupttag des Festivals, waren es nicht die grossen Namen, die mich überzeugten. Dafür umso mehr jene, die es verstehen, aus Beobachtungen fein ziselierte Literatur zu schaffen. Die noch junge Franziska Gerstenberg, die über ihrem Erzählband „So lange her, schon gar nicht mehr wahr“ sagt: „Die Figuren sind alle ich, mit allen Fragen, allen Zweifeln.“ Sie gehe langsam vor, versuche sich psychologisch anzunähern, hineinzuhören, nicht auszuleuchten, nicht gewillt einer Pointe nachzurennen. Es reize sie, die Perspektive zu wechseln und sich nicht wie bei Romanen über Jahre mit dem gleichen Personal herumschlagen zu müssen. Franziska Gerstenberg , zierlich, fast zerbrechlich, las in Lederstiefeln mit drei grossen Schnallen übereinander, als müsse sie wenigstens in ihnen Halt finden. Sie las von Menschen in Not, wie dem stillen Dichter Stoll, der in der Orangerie an der Kasse hinter der Theke sitzt und mit seinem Lächeln auf Besucher wartet. Stoll, der in seinem Schreibzimmer zuhause den einzigen Ort besitzt, in dem und für den es sich zu leben lohnt.
Die noch immer junge Anna Weidenholzer: In ihrem neusten Roman „Weshalb die Herren Seesterne tragen“ erzählt sie von Karl. Karl fährt weg in einen Winterort ohne Schnee. Ein Mann, der nur forschen will und kann, sich auf dieser Reise ganz vom Zufall leiten lässt, davon überzeugt, dass es für alles und jedes mindestens zwei Möglichkeiten gibt. Bloss nicht für die Stimme in seinem Kopf, für die Stimme seiner Frau, die alles kommentiert, von der er stets weiss, wie und was sie sagen wird, wenn er etwas tun oder sagen will. Eine Stimme, die immer nur das „Richtige“ kennt. Anna Weidenholzer webt in ihren Roman Sätze, die haften bleiben, Sätze wie Schnappschüsse einer Meisterfotografin. Sätze, die klingen, Sätze, die man irgendwie kennt. Johannas Kehr bei Frédéric Zwicker, Stoll bei Franziska Gerstenberg und Karl bei Anna Weidenholzer; Männer, die zu verschwinden drohen.

„Wir leben in einer postheroischen Gesellschaft.“

Und dann noch Nico Bleutge, ein Dichter aus dem Norden, aus Berlin, den ein Stipendium nach Istanbul am Bosporus schickte, eine Stadt, die er bereits aus früheren Besuchen kennt, eine Stadt, in der es brennt. Eine Stadt zwischen Zeiten, Fronten und Kulturen. Nico Bleutge schreibt Lyrik in langen, farbigen Bändern, in „Nachts leuchten die Schiffe“ Wortgemälde mit Sicht auf die grossen Kähne, die durch die Meerenge ziehen. Auch wenn zu dieser Lesung in dem sonst gut besetzten „Raum für Literatur“ in der Hauptpost nur wenige Neugierige dem Dichter ihre Aufmerksamkeit schenkten, galten für mich diese 45 strahlenden Minuten als einer der Höhepunkte der diesjährigen St. Galler Literaturtage.
Was bleibt? Ich hörte zu und es taten sich Horizonte auf!
(Die eingefügten Zitate sind Fetzen eines sonst missratenen Literaturgesprächs zwischen Sabine Gruber, Jonas Lüscher und Andrea Gerster.)