Benedict Wells auf Lesereise

Lesungen von Autoren können zu wahren Happenings werden. Auf ihre Weise auch die von Benedict Wells, der vor ein paar Jahren als «literarisches Wunderkind» gepriesen wurde und in vielem den hohen Erwartungen standhielt. Mit «Vom Ende der Einsamkeit» schrieb Benedict Wells einen eindrücklichen Roman über die Überwindung von Angst, darüber, was passiert, wenn Verlust einem aus dem Leben reisst. (Besprechung auf diesem Blog)
Benedict Wells las auch in Konstanz aus seinem neusten Roman, wartete höflich auf Fragen aus dem eingeschüchterten Publikum, dem er das Gefühl gab, mindestens ebenso wichtig zu sein wie Schriftstellerei und Buch. Auch nach vielen Lesungen habe ich noch nie erlebt, dass….

….sich ein Autor zum Signieren so unendlich viel Zeit liess, sich von nichts und niemandem treiben liess.

…an einer Lesung so viel junges Publikum gebannt zuhörte. Angesichts der Jugendlichkeit des Autors erklärbar. Trotzdem eine Ausnahme!

….ein Autor einem jeden, der geduldig wartete, fast einen ganzen Brief in den Umschlag schrieb, meist so viel, dass es nicht einmal auf eine Seite Platz fand.

….ein Autor mehr von anderen Büchern anderer Autoren schwärmte und bei vielen eine lange Liste von Buchempfehlungen (John Williams, John Steinbeck, John Irving…) zur Signatur dazuschrieb.

….ein Autor vor dem Kauf seines Erstlings warnte. Man solle mit dem Kauf warten, bald würde eine überarbeitete Fassung bei Diogenes erscheinen.

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Ruth Loosli «Berge falten», Gedichte, Wolfbach

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Ruth Loosli, geboren 1959 in Aarberg (Seeland), wo sie aufgewachsen ist, lebt und arbeitet seit einigen Jahren in Winterthur. Sie veröffentlicht in Anthologien und Literaturzeitschriften. Ein erster Gedichtband „Aber die Häuser stehen noch“ erschien 2009. Es folgte im Wolfbach Verlag (DIE REIHE, Band 5) 2011 Wila, Geschichten; dieser Band wurde mittlerweile auf Französisch übersetzt. Neu erscheint jetzt im Frühling wieder im Wolfbach Verlag «Berge falten» (DIE REIHE, Bd. 35), feine Prosaminiaturen und Gedichte, fast durchscheinend, kurz und prägnant.

Der Wind streut mir Sand
in die Augen ich wechsle meine
Meinung

Berührung
ich wusste nicht
ob ich meine Hand auf
deinen Rücken legen darf
doch
deine Schulterblätter bejahten
sie liessen sich nach unten fallen
in die Wärme der offenen Handfläche.

Wenn es geregnet hätte
Hätten wir uns klein geredet und
die Schirme aufgespannt
wir hätten unsere Wünsche auf
dem Tablett serviert
uns ein bisschen geniert

Wenn die Fenster offen wären
und irgendwo auch eine Tür
hätten wir geklingelt
und wären eingetreten
in eine andere Geschichte.

Geträumt
Gedichte
hängen
an
transparenten
Fäden
über den Wolken

Am 16. Juni 2016 , um 19 Uhr in der Stadtbibliothek Winterthur: Buchvernissage im Saal Tiefrot.

Webseite der Autorin

Foto: Anne Bürgisser

«Literatur am Tisch» mit Eva Roths «Blanko»

DSCN1140Eva Roth «Blanko», Edition8

Ein Buch lesen und dann ins Regal stellen? Erst recht nicht bei einem guten Buch! Und wenn dann auch noch die Autorin daran interessiert ist, sich mit neuguerigen Leserinnen und Lesern auszutauschen, dann kann ein solcher Abend nur zum Erlebnis werden, für beide Seiten, selbst dann, wenn es nach der Lektüre zu kritischen Bemerkungen kommen könnte.
So nicht bei Eva Roth, die ihren ersten Roman «Blanko» bei Edition8 veröffentlichen konnte und bis jetzt immer noch auf ein überregionales Echo wartet. Zu Unrecht, wie das einhellige Urteil der Runde ausfiel. Der Roman mag für den Gelegenheitsleser anspruchsvoll sein, in seiner Vielschichtigkeit und Vielsinnigkeit ist er aber ein echter Genuss.
Am Schluss des gemeinsamen Abends versicherte Eva Roth, es sei für sie eine Bereicherung gewesen, in dieser Runde über ihr Buch und ihr Schreiben zu diskutieren, mit Menschen, die sich wirklich mit dem Roman, den Geschichten, den Feinheiten bis hin zur Sprache beschäftigt haben.
So sassen am Tisch mit Eva Roth 7 LeserInnen mit der einhelligen Meinung, ein besonderes, absolut lesenswertes Buch diskutiert zu haben, ein Buch, das es verdient, viel mehr Aufmerksamkeit zu gewinnen als der kleine Verlag am Zürichsee versprechen kann.

Rezension in «Saiten»
Rezension in der NZZ
Rezension in der «Thurgauer Zeitung»
Edition8

Rolf Lappert wird noch lange nachhallen!

Am 9. April 2016 las Rolf Lappert aus seinem neuesten Roman «Über den Winter» in Amriswil. Zur 8. Hauslesung trafen sich mehr als zwei Dutzend LauscherInnen in unserer Stube, um Lennard Salm zurück nach Hause zu begleiten.

Im Herbst 2012 war es die Claudia Schreiber, im Frühling 2013 Patrick Tschan, im Herbst 2013 Jens Steiner, im Frühling 2014 Yusuf Yesilöz, im Herbst 2014 Christine Fischer, im Frühling 2015 Andreas Neeser, im Herbst 2015 Michèle Minelli und im Winter 2015 Margrit Schriber.

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Zum Buch: Lennard Salm ist fünfzig, als Künstler durchaus erfolgreich, wenn auch nicht er- und ausgefüllt. Er dümpelt bei Freunden in einer Ferienkolonie am Mittelmeer und sucht nach Strandgut (nicht bloss metaphorisch gemeint) bis ihn zwei Ereignisse aus der Ausweglosigkeit reissen: Ein totes, angeschwemmtes Kind (Das Buch nahm das schreckliche Foto voraus!) und die Nachricht, dass seine ältere Schwester gestorben ist. Salm kehrt zurück nach Hamburg in ein Haus in Wilhelmsburg, wo sein Vater immer mehr auf Hilfe angewiesen ist. Mir als Leser wird dabei nicht nur der Mikrokosmos eines Hauses ausgebreitet. Rolf Lappert versteht es meisterlich, Szenen kunstvoll und genau zu schildern und tief in das Wesen eines ganzen Reihe von Personen einzudringen, nicht nur in jene des Rückkehrers Lennard Salm. Wer stand nicht schon einmal vor der Fassade eines Hauses und dachte sich, was da wohl alles gelebt wird. Salm kehrt zurück zu seiner Familie, die ihn verloren hatte, zurück in eine Rolle, die Salm abgestreift hatte, mit der wachsenden Erkenntnis, dass nichts wichtiger sein kann als Familie. Salm ordnet neu, diesmal nicht Strandgut für Kunst, sondern einen Platz, an dem er kein Gesicht wahren muss.

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Rolf Lappert: Ich las in ihrer gemütlichen, bis auf den letzten Sitzplatz besetzten Stube, und es war sehr schön und heimelig, ganz anders als in einem großen Saal vor fünfzig oder hundert Menschen, intimer natürlich und auch intensiver, weil näher. Eine gute Erfahrung. Nur die drei Gläser Rotwein um elf Uhr morgens sollten nicht zur Gewohnheit werden. Danke, Irmgard und Gallus und allen, die nach Amriswil gekommen sind.

Ich danke auch, all denen, die mit ihrer Unterstützung und ihrem Besuch zum Gelingen dieser Lesung beitrugen, uns trotz grossem Aufwand Mut machen ganz speziell meiner Frau Irmgard!

Fotos: Philipp Frei

 

Birgit Vanderbeke «Ich freue mich, dass ich geboren bin», Piper

«Das Land der Verheissung, von dem alle geträumt haben, entpuppt sich für das Kind als ein übler Ort, eine drastische, gewalttätige Gegenwart.»

In den 60er-Jahren siedelt eine Familie von Ost- nach Westdeutschland, ins Land der Verheissungen, der viel zu junge Vater, die ewig unzufriedene Mutter und das missratene Kind. Aber statt im Paradies anzukommen, landen sie in einer ganzen Reihe von trostlosen Flüchtlingslagern. Erst viel später in der ersten Dreizimmerwohnung, wo dann aber das Leiden an den zerbrochenen Träumen einer ganzen Familie erst richtig beginnt.
Birgit Vanderbeke erzählt aus der Reflexion einer Erwachsenen, die noch einmal mit den Augen des Kindes sieht, in ihre Anfänge, dorthin, wo man ihr schon als Kind zu verstehen gab, dass sich die Eltern über ihre Geburt alles andere als freuten und man sie selbst als Neugeborenes als Katastrophe empfand. Die Erzählerin sucht nach dem Moment, wo aus dem Missgeschick, dem allumfassenden Unglück, jene Verbündeten auftauchen, die sie überleben lassen, die Person, mit der man endlich über alles reden kann, jenes Gefährt, das Buch «Die Zeitmaschine», ein Geschenk des Onkels, dass sie aus dem Unglück hinausträgt, aus einer Welt, in der alle Erwachsenen lügen, erst recht an den Geburtstagen.
Was im Roman mit kindlicher, altkluger Stimme fast wie ein Kinderbuch daherkommt, ist in seinen Formulierungen manchmal beinahe expressionistisch, grell, zornig, phantastisch. Die Autorin erzählt von einem allein gelassenen Kind, der Spiessigkeit der neuen Ordnung nach dem grossen Krieg, der Gier nach einem Stück Fortschritt und der katastrophalen Überforderung von Mutter und Vater.

DSCN1131Birgit Vanderbeke reisst Krusten auf, Krusten über den Wunden der deutsch-deutschen Geschichte, auch wenn sich das Lügen und Nicht-miteinader-Reden in der Gegenwart nicht zum Besseren gewandelt hat. Der Roman ist nicht nur die Geschichte einer Reise vom Osten in den Westen, sondern die Zwangsreise von der Welt der Grossmutter in die Welt der Eltern, von der einen in die andere Kultur. Unerfüllte Träume und der ewige Schmerz darüber sind keine Merkmale jener, die sich in den Westen absetzten. Unzufriedenheit, Lieblosigkeit und Gewalt sind Themen der Gegenwart. Mit der Geschichte erlebe ich die Geburt einer Erzählerin. Die Magie durch das Lesenlernen braucht das Mädchen im Roman, um leben zu können, einen Ausweg zu finden.
Obwohl (männliche) Kritiker sich über den kindlichen Ton des Romans auslassen – lesen Sie dieses Buch – erst recht!

Daniela Danz «Lange Fluchten», Wallstein

«Lange Fluchten» ist der Daniela Danz zweiter Roman, ein 144 Seiten starkes Buch, viel mehr als eine Geschichte, sondern ein vielschichtiges Drama über das Scheitern, ein Buch wie ein Monolith.

Brüche sind es, die Geschichte schreiben. Auch bei Cons, eigentlich Constantin, dessen Lebensplan nicht aufging. Nach Jahren in der Armee und einem Aussetzer im falschen Moment ist Cons schwieriges Leben, nach einer Kindheit mit einem «energischen» Vater, für den er nichts als ein Schwächling war, aus den Fugen geraten. «Die Armee ist das Modell einer Gesellschaft, jeder an seinem Platz und jeder seinem Auftrag verantwortlich.» Aber Cons wartete bloss, auf seine Aufgabe, seinen Auftrag, seinen Platz, bis ihn die Armee als nicht mehr brauchbar ausspuckte. Cons taumelt zurück in ein begonnenes Leben, irgendwo in der Nähe seiner Frau und seiner beiden Söhne, einem Haus im Rohbau und zweier aufeinander gestellter Container, aus denen schon lange viel mehr wurde als ein Provisorium, nämlich Symbol eines Lebens, entwurzelt, irgendwo hingestellt. «Nicht einmal ein Arm fehlt dir oder ein Bein, nicht einmal in einem richtigen Krieg warst du. Und liegst den ganzen Tag hier rum. Und wenn du deinen Arsch mal hochhebst, dann baust du nur Scheisse. Und Mama hilft dir auch noch und verteidigt dich. Sie sollte dich rausschmeissen samt deinem ganzen Jagdgerümpel», giftelt der 12jährige Sohn. Der Krieg ist in vollem Gang.
Als dann auch noch Henning, sein einziger wirklicher Freund, vom Krebs zerfressen, sich in seiner Wohnung mit Hilfe Cons Seils und Bohrmaschine aufhängt, spitzt sich in Cons Lebensrest alles zu auf diesen einen Moment, in dem er sein und die Leben seiner Familie dann doch noch in den Griff bekommen will. Henning hinterlässt ihm eine Schachtel mit Briefen, auch den einen: «Cons, du musst springen. Du musst zurück in den Wald gehen, aus dem du nie wieder rausgekommen bist.»

Daniela Danz, 1976 geboren, schrieb einen Roman voller Verzweiflung und Schmerz, in bildhafter, starker Sprache, mit Sätzen die sich tief einbrennen, ein Roman, der einiges abverlangt, das Lesen nicht leicht macht, viel mehr als bloss eine Geschichte erzählen will, sondern auf kleinem Feuer einen Kloss zum Klotz wachsen lässt.

Webseite der Autorin

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Wortlaut 2016, mal luise mal laut, mal rinks mal lechts

Vom 31. März bis 3. April fanden die 8. St. Galler Literaturtage WORTLAUT statt, ein Festival des geschriebenen, gesprochenen und gezeichneten Wortes.

Hier meine ganz eigene Perlenkette, eine Hand voll gute Bücher:

Helle-coverHeinz Helle «Eigentlich müssten wir tanzen», Suhrkamp
Fünf junge Männer verbringen ein Wochenende in den Bergen. Zurück im Tal sind die Ortschaften verwüstet, die Menschen tot, aufgequollen oder geflohen, die Häuser und Geschäfte geplündert, die Autos ausgebrannt, Kühe noch im Sterben an Melkmaschinen hängengeblieben. Zu Fuss unterwegs, aller Ziele beraubt, wird das Leben reines Funktionieren, Handeln jedem Sinn beraubt.
Im Gespräch bei der Lesung meinte Heinz Helle, die Gruppe junger Männer sei ein Versuchsanordung gewesen. Was passiert, wenn alles verschwindet, wegbleibt, wenn Menschen nur noch Körper sind? Sie werden Teil der Natur, haben Zivilisation aufgegeben, erst recht die verklärte, romantische Vorstellung, was ein Leben in und mit der Natur sein könnte. Einzig der Wille treibt sie, überleben zu wollen, obwohl niemand unter ihnen ein Warum und Wozu beantworten kann. Auch wenn der Roman düster erscheint, ist allein die Sprache es wert, dieses Buch zu lesen. Und der Autor ein Versprechen für die Zukunft!
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Pierre Jarawan «Am Ende bleiben die Zedern», Berlin
Vor Samirs Geburt sind seine Eltern aus dem Libanon nach Deutschland geflohen. Mit acht verschwindet sein geliebter Vater, plötzlich, unerwartet. Zwanzig Jahre später, nachdem ihm seine Verlobte das Letzte verweigert, macht sich Samir auf in das Land der Zedern, auf die Suche nach sich selbst und seiner Herkunft. Ein Buch über Risse in der Familie, im Heimatland Libanon und jene in der eigenen Seele. Pierre Jarawan schrieb ein Buch über seine Liebe, über ein Land, das noch über Generationen an Missverständnissen leiden wird, über ein Land, dass sich nicht traut, über die Vergangenheit nachzudenken. Ein erstaunlich reifes Buch ganz in der Tradition wahrer Geschichtenerzähler! In seiner Lesung spürte ich sein Feuer, die verzehrende Leidenschaft des Autors für Land und Familie. Das Buch sei Fiktion, aber trotzdem 100%ige Wahrscheinlichkeit. Und weil Pierre Jarawan als Slam Poet das Publikum als Teil seiner Performance ernst nimmt, sprang der Funken umso mehr.

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Rebecca C. Schnyder «Alles ist besser in der Nacht», Dörlemann
Alles an Billy ist Protest, jede Faser, jede Geste, jedes Wort. Protest gegen alles. Billy hat zwar schon einmal ein Buch geschrieben, aber nicht einmal das ist es wert, aufrecht zu gehen. Sie geht geduckt durchs Leben, gequält von den Anrufen ihrer Mutter, vom Drängen ihres Verlegers, selbst von der Liebe Noes, der ausgerechnet Theologie studiert. Rebecca C. Schnyder erzählt in ihrem ersten Roman vom inneren Kampf einer jungen Frau gegen sich selbst. Zugegeben, das Buch mag auf den ersten Seiten abschreckend wirken. Schon der zweite Satz schlägt in die Magengrube und es dauert eine ganze Weile Lesen, bis ich Mitgefühl für die Heldin aufbringen kann. Aber das ist Programm, braucht dieses Buch, diese Geschichte, um glaubhaft von einem Leben zu erzählen, das aus der Spur geraten ist. Kein Buch zur Erbauung, aber ein Buch, das einem eine Tür öffnen kann. Rebecca C. Schnyder, bisher mehr bekannt als Dramaturgin («Erstickte Träume – St. Gallens stilles Erbe», UA 7. November 2015 Theater St. Gallen) überzeugt auch im Roman mit scharfen, gut inszenierten Dialogen, rotzfrech. Billy ist ein erfrischendes Ekel.

Radek Knapp «Der Gipfeldieb», Pipercsm_produkt-11980_947c139828
Jedes Mal, wenn Ludwik seine polnische Mutter besucht, tischt sie ihm eine ganze Palatschinken-Pyramide auf. Sie wissen nicht, was Palatschinken sind? Etwas von dem, was Ludwiks Mutter von Polen mit nach Wien genommen hat, was ihr selbst nicht schmeckt, ihrem Sohn aber ungefragt zu schmecken hat, erst recht bei schwierigen Entscheidungen. Und weil Ludwik Junggeselle ist und sich seine Mutter immer wieder höchst engagiert in das Leben ihres einzigen Sohnes einmischt, ist Palatschinken-Essen eine Art sich nahezukommen, manchmal auch auszusöhnen. Vor allem, wenn Ludwik nach 15 Jahren «Warten» Österreicher werden soll und man ihm die Staatsbürgerschaft wie einen Orden für ein «Leben im Griff» verleihen will. Leider meldet der Staat aber unvermittelt eine Gegenleistung und der Vierunddreissigjährige soll zur Armee. Radek Knapp ist eine Fabulierer, ein begnadeter Geschichtenerzähler, bei dem man nie ganz sicher ist, wie ernst er den Ernst des Lebens nimmt. Sein Roman ist aber nicht bloss ein Schwank, sondern von bissigen Kommentaren durchsetzt, bei denen nicht nur die Wiener einige Hiebe abbekommen: «Das Gesindel ist arm. Und wenn der Westen nicht hinüberfährt und der Armut vor Ort unter die Arme greift, kommt die Armut hierher und hilft  sich selbst. Wenn sich also jemand schämen sollte, dann der Westen.» Die 40 Minuten Lesung waren köstliche Unterhaltung. So witzig der Protagonist im Roman, so witzig der Autor. Da werden Buch und Autor eins und für eimal gerät die Frage nach der Grenze zwischen Realität und Fiktion augenblicklich in den Hintergrund, erst recht nachdem der Autor in einem einzigen Satz die fünf meist gestellten Fragen bereits beantwortete.

Lappert_24905_MR.inddRolf Lappert «Über den Winter», Hanser
Lennard Salm ist fünfzig und Künstler, wenn auch verunsichert. Als seine älteste Schwester stirbt, kehrt er von der einen mit Strandgut überzogenen Küste am Mittelmeer zurück nach Hamburg an die andere «Küste» mit dem Strandgut seiner Familie, von der er immer entkommen wollte. Auf der Suche nach dem eigenen Leben begegnet er seiner Familie. Aber was ist das, das eigene Leben? Es ist kalt im Winter in Hamburg! Er lernt seine Eltern und Geschwister neu kennen. Rolf Lappert beschreibt genau, poetisch und mit einem ungeheuren Zug in seiner Sprache. Dass er am 9. April bei uns in Amriswil lesen wird, freut mich ungemein!

PS Lea, meine Tochter, zeichnete auf eine Papierserviette im Papiersaal Zürich.

Juli Zeh «Unterleuten», Luchterhand

Juli Zeh schrieb den lange angekündigten grossen, deutschen Gesellschaftsroman.

Juli Zeh ist eine der Grossen im deutschsprachigen Literaturbetrieb. 1974 in Bonn geboren, Jura, Europa- und Völkerrecht studiert, landete sie schon mit ihrem Debut «Adler und Engel» einen Grosserfolg und konnte mit Romanen, Essays und Reisetagebüchern auch im weiteren überzeugen. Juli Zeh ist eine der AutorInnen, deren Schreiben immer politisch ist. So nimmt sie kein Blatt vor den Mund, sei es in einem offenen Brief an Angela Merkel als Konsequenz aus der NSA-Affäre oder zusammen mit Illija Trojanow («Der Weltensammler») in der Streitschrift Buch «Angriff auf die Freiheit: Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte», wo sie im Rahmen der Buchvorstellung kritisierte, dass der Staat unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung immer weiter in die Privatsphäre seiner Bürger vordringe.

Und nun also der vom Verlag mit Trommelwirbel präsentierte Roman «Unterleuten». Unterleuten ist nicht das Dorfidyll, von dem Aussteiger, Zivilisationsflüchtlinge, Tierschützer träumen. Es schmaucht, raucht und stinkt. Es wird verleumdet, taktiert, geschlagen, 130 km weg von Berlin in der ehemaligen DDR, aber scheinbar auf der anderen Seite des Planeten. Alteingesessene, durch Jahrzehnte gestählte Befehls- und Ansichtenempfänger prallen auf geblendete Freiheitssehnsüchtige, Zuzüger, die Landschaft, Haus und Garten mit Erwartungen vollpumpen. Aber die alte Ordnung steckt wie all das Gift aus 40 Jahren sozialistischer Erfolgsgeschichte 20 cm unter dem Boden.
Mit den geschärften Sinnen der Autorin taucht der Leser in einen ganzen Kosmos ein, spielt mit bei all den Winkelzügen eines ganzen Dorfes. Die Autorin schildert unverblümt. Mag sein, dass den einen gewisse Charakteren überzeichnet erscheinen. Wer aber Dorfleben kennt, und nicht nur jenes in der ehemaligen DDR, weiss, dass Juli Zeh bloss konzentriert und scharf zeichnet. In Film und Theater wäre der Vorwurf der Überzeichnung hinfällig. Warum soll dies ausgerechnet in der Literatur, in diesem Buch das Vergnügen und die Einsichten schmälern.
Der eine Klimawandel stülpt sich über Landschaft, Dorf und Menschen, während der andere Klimawandel, weg von der eigenen Nasenspitze, auch bei den idealverseuchten Zuzügern und verklebten Ewiggestrigen noch längst nicht stattgefunden hat. Die einen hecheln nach Heimat und die anderen haben sie im Laufe ihres Lebens mehrmals verloren.
Juli Zeh schafft ein weitverzweigtes Panoptikum von Archetypen; Meiler der Spekulant, Kron der ewige Krieger, Linda die Pferdeflüsterin, Gerhard der geleuterte Tierschützer, Jule die verzweifelte Mutter, Hilde die verschrobene Alte… Ich tauchte ein und las mich weg. Juli Zeh fesselte mich an ihr Buch und ich liess es gerne geschehen!

«Wenn das Leben der Figuren auf katastrophale Weise schiefgeht, selbst wenn nach allen Regeln der Kunst gequält und gelitten wurde, so besassen Qual und Leiden noch immer einen Sinn, und wenn keinen Sinn, dann immerhin Zusammenhang und folglich Bedeutung.»

Juli Zeh liest am 17. Mai um 20 Uhr im Kaufleuten in Zürich.

Eine ganze Webseite zu allem rund ums Dorf und ihre BewohnerInnen

Webseite der Autorin

Jakob Hein «Kaltes Wasser», Galiani

Es gibt verschiedene Arten, sich dem Schicksal entgegenzustellen. Es hinzunehmen und zu akzeptieren – oder die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, auch mit dem Risiko, dabei ordentlich «auf die Schnauze zu fallen».
Im neuen Roman Jakob Heins, einem echten Schelmenstück, wohl selbst ein Wesenszug des Autors (unbedingt Video schauen!), beginnt Friedrich Bender schon als «Agitator» in der Ostschule, als Sohn eines Professors für Marxismus und Leninismus, die Realität nach seinen eigenen Gesetzen einzufärben, zumal die sozialistische Wirklichkeit in der bröckelnden DDR im trüben Grau Farbe dringend nötig hat. Friedrich ist 17, als die Mauer fällt. Er entschliesst sich gleich, seine Ostidentität an den Nagel der Vergangenheit zu hängen und nicht lange auf mühsam erwarteten und erhofften Erfolg zu warten. Da wird aus einem alten Armeebus eine bierige Goldgrube, aus Din A4 und ein paar Stempeln von weiter weg ein solides Studium in Betriebswirtschaft und später aus dem klingenden Namen des Schwagers und Friedrichs geölter Schnauze eine respektable und florierende Partnervermittlung im gehobenen Segment. Nur lässt sich nicht alles auf Hochglanz schnorren, am wenigsten seine müden Eltern und all das, was Friedrich in weiter Ferne als altes Leben zurückliess.

Jakob Hein, Schriftsteller und Psychiater an der Charité in Berlin, kennt sich aus mit queren Köpfen, solchen wie Friedrich, der durchs Leben taumelt, immer knapp an der Katastrophe vorbei, ein Filou, ein liebenswerter Hochstapler. Ein witziges, lustiges Buch von einem Autor, der sich selbst nicht allzu ernst nimmt, wohl weiss, dass nur so aus dem Schatten eines «grossen» Vaters (Christoph Hein) zu entfliehen ist. Ich las den Roman mit blankem Spass und dem stillen Bedauern darüber, so gar nichts von der bedenkenlosen Frechheit des Helden abschneiden zu können. Genau das richtige aufs Nachttischchen, auch wenn Bilder in die eigenen Träume geraten sollten.

Jakob Hein, geboren 1971 in Leipzig, lebt mit seiner Familie in Berlin. Seit 1998 Mitglied der »Reformbühne Heim und Welt«. Er hat inzwischen 14 Bücher veröffentlicht, darunter Mein erstes T-Shirt (2001), Herr Jensen steigt aus (2006), Wurst und Wahn (2011) sowie zuletzt gemeinsam mit Jürgen Witte die Streitschrift Deutsche und Humor. Geschichte einer Feindschaft (2012).

Jakob Hein liest «zehn Seiten».