Jens Eisel «Bevor es hell wird», Piper


Nach dem Buch «Hafenlichter», Jens Eisels Erstling mit Erzählungen, legt der Autor bei Piper mit seinem ersten Roman «Bevor es hell wird» nach. Und nachdem ich den Autor anfragte, ob er für ein paar Fragen bereit wäre, hier das Interview:

Lieber Herr Eisel, ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Roman! Ein Roman, der mich zuerst kritisch stimmte, dem ich mich auf den ersten Seiten zuerst annähern musste, dessen Themen ich zu Beginn als allzu emotional aufgeladen empfand. Alex kommt aus dem Knast zurück in sein altes Leben, zurück zu einer Vergangenheit, die er mit all seinen Veränderungen zuerst zurückgewinnen muss. Alex kannte seinen Vater nicht, verlor seine Mutter durch Krankheit, als er noch zur Schule ging und zuletzt auch noch seinen einzigen Bruder Dennis. Ihr Roman hätte genügend Potenzial, um mich nach der Lektüre mit Zweifel zurückzulassen. Hat da ein Autor nicht allzu deftig in der Schicksalsschüssel den Stoff schaumig gerührt, das Unglück kulminieren lassen, um mich an der Stange zu halten? Wurde da nicht zwischendurch der Gang an der Grenze zum Kitsch allzu sehr ausgereizt, um meine Empathie anzuheizen? Ihr Roman tat es nicht! Ihr Roman «Bevor es hell wird» machte mich glücklich. Glücklich, weil er mir ehrlich gegenübertritt, weil seine Figuren authentisch sind, weil ich sie erkenne und weil die gewählte Sprache mit Alex› Welt übereinstimmt. Herr Eisel, da gab es die Idee zur Geschichte. Gab es auch den Typus einer Sprache, die sein musste, um Ihre Geschichte zu erzählen? Schon während des Schreibens war mir bewusst, dass der Kitsch-Vorwurf sicher kommen würde. Ein Grund, warum ich amerikanische Erzähler schätze, ist, dass sie keine Angst vor großen Gefühlen haben. Seltsamerweise wird einem Denis Johnson oder einem Richard Ford das in Besprechungen im deutschen Feuilleton nicht vorgeworfen. Sobald sich allerdings ein deutscher Autor einem Stoff emotionaler nähert, läuten sofort überall die Alarmglocken. Und dennoch, ich wollte diese Geschichte so erzählen – und ich werde es auch weiterhin tun. Auch die Sprache ist bewusst gewählt. Ein überbordender Stil würde schlicht und einfach nicht zu dem Erzähler passen.

Nachdem Alex mit 14 zusammen mit seiner Mutter und seinem Bruder nach Hamburg zog, waren es die wenigen Monate der Hoffnung. Endlich, nach einer langen Reihe von Umzügen, schien Familienglück auf ihrer Seite zu sein. Alex› Mutter fand einen Job und Dennis einen Ausbildungsplatz im «Krähennest», einem kleinen Restaurant. Und weil Sommerferien waren, streifte Alex in Hamburg herum, freundete sich mit Carmen, einer älteren Kinobetreiberin an, bei der er ebenso ein kleines Stück Zuhause fand wie bei Norman, seinem neu gewonnenen Freund und seines Vaters Autowerkstatt. Norman, ein von seiner Mutter Verlassener und Alex, ein von seinem Vater Verlassener. Alles schien damals zu stimmen. Und als sie dann auch noch zum ersten Mal Familienferien am Meer in einem Zirkuswagen in den Dünen antreten konnten, schien sich das Glück wirklich festzusetzen. Aber ausgerechnet bei dieser Reise kündigte sich an, was sich ein paar Monate später zur grossen Katastrophe auswachsen sollte. Alex› Mutter war krank. Misstrauen Sie dem Glück? Sie beschreiben das Leben einer Familie, die zuvor schon kaum die Nase aus den Schattenseiten des Lebens brachte. Sie als Autor konzentrieren derart viel Unglück, dass Alex später gar Angst davor bekommt, Menschen zu nahe zu kommen, Angst, sein Unglück könne überspringen. Suchen Sie in Ihrem Roman die Grenzen des Unglücks? Wie viel Unglück «braucht» der Mensch, um daran zu zerbrechen, so wie Alex Bruder Dennis? Suchen Sie nach Antworten darauf, warum es die einen schaffen, die andern nicht? Tut Ihnen das Unglück Ihres eigenen Personals während des Schreibens nicht weh? Bevor ich mich ganz dem Schreiben widmete, habe ich ein paar Jahre bei der Diakonie St. Pauli gearbeitet. Ich habe dort hauptsächlich Alkoholiker und Junkies betreut. Einige der Menschen, um die ich mich kümmerte, waren kaum älter als ich. Was all diese Menschen verband, war, dass es an irgendeiner Stelle in ihrem Leben Ereignisse gegeben hatte, die sie aus der Bahn geworfen haben – der Verlust des Arbeitsplatzes, der Tod des Partners. Einige dieser Menschen wurden von mehreren Schicksalsschlägen hintereinander ereilt, waren immer wieder auf die Beine gekommen, bis sie – eine vergleichsweise harmlose Begebenheit – völlig aus dem Gleichgewicht brachte. Es ist nicht unbedingt das Unglück, was mich beschäftigt. Vielmehr ist es die Frage, was uns zu dem macht, was wir sind. Ich fühle mich meinen Figuren sehr verbunden, und sicher, ich leide auch mit ihnen.

Auch wenn ihr Roman in einem Prolog im Jahr 2004 beginnt und keinen Zweifel darüber lässt, dass da einer tief gefallen ist, spielt ihr Roman grösstenteils auf zwei Zeitebenen. 1996/97, als Alex 14 ist und sein Leben, das zusammen mit seinem Bruder und seiner Mutter noch nie auf der Siegerstrasse spielte, im Moment scheinbarer Entspannung endgültig zu schlingern beginnt. Und 2006, zehn Jahre später, nach zwei Jahren im Knast, von Alex, der sein Leben zu verstehen versucht. Zwei Ereignisse, zwei Geheimnisse sind es, die mich als Leser bis zum Schluss durch ihren Roman peitschen, die die Spannung fast unerträglich werden lassen: Warum musste Alex in den Knast? Und warum gibt es nicht nur ein Grab seiner Mutter, sondern auch eines seines grossen Bruders?
Ich hatte einmal einen Nachbar, der, reich und eitel geworden durch seine Geschäfte, allen Ernstes behauptete, jeder müsse sich nur ordentlich anstrengen, dann würde sich Glück und Erfolg automatisch einstellen. Was würden Sie meinem Nachbarn entgegnen? Es wäre schön, wenn Ihr Nachbar recht hätte. Leider habe ich schon allzu oft das Gegenteil erlebt.

Sie waren mit ihrem Roman auf der Leipziger Buchmesse. Gab es da einen besonderen Moment? An einem der Abende habe ich im Deutschen Literaturinstitut gelesen. Es war das erste Mal, dass ich dort war, seit ich mein Studium abgeschlossen habe, und es war sehr schön in der alten Villa aus meinem Buch zu lesen.

Haben sie ein Buch von Leipzig mit nach Hause genommen? Ja, den neuen Gedichtband von Sascha Kokot. Er heißt FERNER, und ich kann ihn jedem ans Herz legen.

Was geht im Kopf eines Schriftstellers vor, angesichts des Rummels rund ums Buch, der schieren Menge an Neuerscheinungen und dem Wirbel um schreibende Promies? Da ich eine Weile in Leipzig gelebt habe, ist die Messe für mich nichts Neues. Sie gehört für mich zum „Geschäft“. Die Lesung in der Moritzbastei war schön, und ich habe mich gefreut, meine Lektorin zu sehen. Aber insgesamt ist mir die Messe zu hektisch.

Vielen Dank, Jens Eisel. Und Sie, liebe Leserinnen und Leser: Lesen Sie «Bevor es hell wird»! NDR Buch des Monats April!

Jens Eisel, geboren 1980 in Neunkirchen/Saar, lebt in Hamburg. Nach einer Schlosserausbildung arbeitete er unter anderem als Lagerarbeiter, Hausmeister und Pfleger. Er studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und war 2013 Finalist beim Literaturpreis Prenzlauer Berg. Mit seiner Story «Glück» gewann er im selben Jahr den Open Mike.

Webseite des Autors

Sascha Kokot «Ferner», edition AZUR

Ich las Sascha Kokots Lyrikband «Ferner» auf einer Fahrt mit dem Zug, dem Bodensee entlang. Ich las immer wieder, mit Pausen, liess das Buch sinken, las weiter. Die Gedichte schärfen den Blick, auch wenn sie es mir nicht leicht machen. Sie zwingen mich hinein- und nicht darüberzulesen. Sprachkunst, herausgegeben in einer wunderschönen Ausgabe!

 

 

dieser Tage springt es dir wieder in die Knochen

dieser Tage springt es dir
wieder in die Knochen
lagert sich in den Gelenken ab
holt dich ein weit vor dem Morgen
dann liegst du wach weisst nicht
wie dir geschieht woher das kommt
was da bleiben wird
nur dieses schmale Zimmer
die falsch furnierten Möbel
das angekippte Fenster
ein Spalt zur Strasse hin
das Rauschen in den Pappeln
trieb mich durch die Nächte
du hörst dort nichts mehr
und fragst stumm in dich hinein
wann fing es an dass ich
mich nicht mehr nähern konnte

sobald die Sonne vertrieben ist

sobald die Sonne vertrieben ist
tauchen die Schwärme auf
sie kreisen über den Dächern
lassen sich für einen Moment
auf den steifen Ästen nieder
jagen unvermittelt wieder fort
verschwinden aus dem Blickfeld
unserer noch nicht erleuchteten Fenster
brechen durch das Gestrüpp höherer Flugrouten
lassen uns einen dämmernden Himmel zurück
den wir nicht deuten können

Sascha Kokot beschreibt Landschaften, innere und äussere. Und machmal dreht sich dieser Blick unvermittelt, plötzlich. Ein Blick in den Himmel wird zur Frage nach Innen. Sascha Kokots Gedichte erschliessen sich mir nur langsam, die einen gar nicht, oder noch nicht. Macht nichts, denn Sascha Kokot verspricht mir mit seiner Sprache vieles. Es sind Bilder, die nicht abbilden, nicht einfach zeigen, obwohl ich im Blitzlicht des Lesens Konturen erkenne. Es bleibt stets Geheimnis, nicht zuletzt in den Überschriften zu den Gedichtgruppen: Drift, Transit, Graphen, Schären, Filament (Nachgesucht: Textilfaser).

«Kokots Gedichte mit ihrer melancholischen Zugewandtheit führen direkt unter die dünne Haut der Dinge und Erscheinungen – präzis arbeitende Sonden, die Bilder von großer Einprägsamkeit versenden.»
Daniela Danz

Sascha Kokot, 1982 in der Altmark geboren und aufgewachsen, lebt als freier Autor und Fotograf in Leipzig. Nach einer Lehre als Informatiker in Hamburg und einem längeren Aufenthalt in Australien studierte er am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Er war Stipendiat der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen und der Albert Koechlin Stiftung. Für seine Arbeiten wurde er mehrfach ausgezeichnet, u. a. 2012 mit dem zweiten Feldkircher Lyrikpreis und 2014 mit dem Georg-Kaiser-Förderpreis.

Ich danke dem Autor für die Erlaubnis zwei seiner Gedichte aus dem Band «Ferner» hier wiedergeben zu dürfen!

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Webseite edition AZUR

Titelbild: Sandra Kottonau