5 Bücher, die man 2017 gelesen haben sollte – Weihnachtsgeschenke

Fünf Bücher, mit denen Sie sich auf Reisen begeben können. Fünf Bücher, die Sie wegtragen, ohne dass Sie den Boden unter den Füssen verlieren. Fünf sehr gute Bücher eingepackt als Weihnachtsgeschenk. Fünf Bücher, bei denen Sie etwas versäumt haben, wenn Sie sie nicht gelesen haben. Fünf Bücher, die Sie überallhin mitnehmen. Fünf Bücher, die Sie mitnehmen!

Carmen Stephan „It’s all true“, S. Fischer, 120 S.

Brasilien, Nordosten, 1941. Vier Männer wollen nicht länger hinnehmen, was falsch ist. Sie bauen ein Floß und machen sich auf den Weg zum Präsidenten. Zweitausend Kilometer segeln sie auf ihrer Jangada über das Meer. Aufrecht. Barfuß. Ohne Karte, ohne Kompass. Die Sterne führen sie. Es sind die Fischer Jerônimo, Mané Preto, Tatá und ihr Anführer, Jacaré. Sie fahren für etwas so Einfaches wie Großes: ihre Rechte. Nach einundsechzig Tagen erreichen sie Rio de Janeiro und sind Helden. Der Hollywood-Regisseur Orson Welles, dessen Film »Citizen Kane« gerade in den Kinos lief, will ihre kühne Odyssee verfilmen – doch bei den Dreharbeiten fällt Jacaré von Bord und verschwindet im Meer. Carmen Stephan kommt in dem schmalen Roman ihren Gestalten dabei so nah, dass es mir nach der Lektüre des Buches fast unmöglich erscheint, so einfach zur Tagesordnung überzugehen. Das Buch ist voller Weisheit, voller Sprachmusik, intensiv und expressiv. Ein Buch mit Sätzen, die sich tief einbrennen. Ein Buch, das in meinem Regal einen ganz besonderen Platz bekommen hat!

Lawrence Osborne „Denen man vergibt“, Wagenbach Verlag, 272 S.

In einer träumerischen Landschaft inmitten der Wüste Marokkos veranstalten Richard und Dally für ihre Freunde eine dreitägige extravagante Party im Gatsby-Stil, mit Kokain, Champagner, Pool und Feuerwerk. Auf dem Weg dorthin überfährt das britische Paar David und Jo, angetrunken und heillos zerstritten, einen Fossilienverkäufer am Straßenrand und möchte die Leiche am liebsten verschwinden lassen. Aber da taucht die Familie des Opfers auf und verlangt Davids Anwesenheit bei der Beerdigung in einem abgelegenen Dorf, während Jo sich weiter auf der ausgelassenen Party vergnügt. Die strebt ungebrochen ihrem Höhepunkt zu – unter den argwöhnischen Augen des Hausangestellten Hamid. Meisterhaft konstruiert und erzählt, spannend, Innenwelten aufreissend und mitreissend geschrieben. Und nicht zuletzt beweist Lawrence Osborne tiefes Verständnis für die Hoffnungs- und Zukunftslosigkeit der Menschen in der Wüste, die mit Hamid, dem Diener auf dem Anwesen von Richard und Dally erfühlen lässt, was es heisst, wenn dieser zuschaut und denkt. „So sind sie eben. Sie haben ein Herz aus Stein, wenn es um uns geht. Für sie sind wir nicht mehr wert als Fliegen.“
Ein Roman mit ungeheurer Reife geschrieben. Unaufgeregt, aber mitten ins Herz treffend, präzise auf den Nerv gezielt.

Linda Boström Knausgård „Willkomen in Amerika“, Schöffling, 144 S.

Die elfjährige Ellen lebt in einer hellen Familie. So betont es die Mutter, eine erfolgreiche, lebenslustige Schauspielerin. Wenn sie zu Hause ihren Unterricht hält, müssen die Türen geschlossen sein, und sie genießt ihre eigene Welt am Theater. Auch der große Bruder verbarrikadiert sich in seinem Zimmer, hört laute Musik und hat eine erste Freundin. Die Zeit aus­gelassener Eishockeyspiele in der Diele der großen Wohnung ist vorbei, erst recht, als der Vater stirbt. Nach der Trennung der Eltern war er aggressiv geworden, und Ellen hat seinen Tod so sehr herbeigewünscht, dass sie nun aus Angst über die Macht ihrer Gedanken verstummt. Mit ihrem Schweigen schützt sie die dunkle Wahrheit ihres Ichs und fordert die Mutter zu einem Kräftemessen heraus. Linda Boström Knausgårds Roman ist die Beschreibung eines unausweichlichen Zustands. Von Gefühlen, an die sich jede Leserin und jeder Leser erinnern kann. Linda Boström Knausgård schreibt rückblendend über genau jene Wende- und Scheitelpunkte im Leben, die darüber entscheiden, wie man sich im Leben als Erwachsener bewegt, wie sehr man zum Knecht seiner selbst wird. Linda Boström Knausgårds Sprache ist schlicht und dicht, kraftvoll und markig. Wieder so ein Buch, das man mit einem Bleistift hinter dem Ohr liest

Franzobel „Das Floss der Medusa“, Hanser, 592 S.

18. Juli 1816: Vor der Westküste von Afrika entdeckt der Kapitän der Argus ein etwa zwanzig Meter langes Floß. Was er darauf sieht, lässt ihm das Blut in den Adern gefrieren: hohle Augen, ausgedörrte Lippen, Haare, starr vor Salz, verbrannte Haut voller Wunden und Blasen … Die ausgemergelten, nackten Gestalten sind die letzten 15 von ursprünglich 147 Menschen, die nach dem Untergang der Fregatte Medusa zwei Wochen auf offener See überlebt haben. Da es in den Rettungsbooten zu wenige Plätze gab, wurden sie einfach ausgesetzt. Diese historisch belegte Geschichte bildet die Folie für Franzobels epochalen Roman, der in den Kern des Menschlichen zielt. Franzobel gelang ein ganz besonderes Buch, eines, das ans Eingemachte geht. Franzobel wühlt mit Wonne und Lust in der Schlangengrube Mensch, scheut sich nie, den Schrecken beim Namen zu nennen, zwingt mich hinzuschauen, wo ich normalerweise nicht hinzuschauen brauche. Die Lektüre seines Romans macht demütig, lässt einen zweifeln. Vielleicht brauchte der Stoff eben diese Landratte Franzobel, der es schafft, angesichts des Grauens mit Humor und Sarkasmus das zu schildern, was sonst kaum in Worte zu fassen wäre.

Ida Hegazi Høyer „Das schwarze Paradies“, Residenz, 224 S.

1929: Der zivilisationsmüde Arzt Carlo Ritter beschließt, seine bequeme Existenz in Deutschland hinter sich zu lassen und fortan auf Floreana, einer unbewohnten Insel im Pazifik, als zahnloser, nackter Wilder zu leben. Seine Utopie findet rasch Nachahmer: ein abenteuerlustiges, junges Paar landet in Ritters „schwarzem Paradies“, und schon bald folgt ihnen eine exzentrische Baronin mit ihrem Hofstaat aus Lustknaben. Aus der Idylle wird ein unerbittlicher Existenzkampf, und auch die Insel wehrt sich gegen die Besiedelung. Inspiriert von den niemals gelösten Kriminalfällen der „Galapagos-Affäre“, erzählt Ida Hegazi Høyer eine vor Spannung und düsterer Sinnlichkeit vibrierende, ungeheuerliche Geschichte aus dem Herz der Finsternis. Ein Roman aus der Wirklichkeit, wie eine grosse Versuchsanordnung. So wie die Anordnung auf der Insel 1000 km vor dem Festland Versuche einer Neugestaltung von Gesellschaft waren, so ist das Buch das Mikroskop mit dem Brennpunkt mitten im unglückseeligen Geschehen. Ida Hegazi Høyer erzählt nicht einfach nach, bläht die Fakten mit etwas Fantasie auf zu einer unterhaltsamen Geschichte. „Die schwarze Insel“ ist sprachlich opulent, überschäumend und sinnlich erzählt. Sätze von unglaublicher Kraft. Sätze, die mehr als abbilden und wiedergeben, sondern mit der Resonanz in mir sämtliche Sinne erfassen, die Haut kräuseln lassen. Fantastisch wahr!

Wenn Sie jeweils die ganze Rezension zu den entsprechenden Büchern lesen wollen, dann klicken Sie auf das jeweilige Buch!

Birgit Vanderbeke «Ich freue mich, dass ich geboren bin», Piper

«Das Land der Verheissung, von dem alle geträumt haben, entpuppt sich für das Kind als ein übler Ort, eine drastische, gewalttätige Gegenwart.»

In den 60er-Jahren siedelt eine Familie von Ost- nach Westdeutschland, ins Land der Verheissungen, der viel zu junge Vater, die ewig unzufriedene Mutter und das missratene Kind. Aber statt im Paradies anzukommen, landen sie in einer ganzen Reihe von trostlosen Flüchtlingslagern. Erst viel später in der ersten Dreizimmerwohnung, wo dann aber das Leiden an den zerbrochenen Träumen einer ganzen Familie erst richtig beginnt.
Birgit Vanderbeke erzählt aus der Reflexion einer Erwachsenen, die noch einmal mit den Augen des Kindes sieht, in ihre Anfänge, dorthin, wo man ihr schon als Kind zu verstehen gab, dass sich die Eltern über ihre Geburt alles andere als freuten und man sie selbst als Neugeborenes als Katastrophe empfand. Die Erzählerin sucht nach dem Moment, wo aus dem Missgeschick, dem allumfassenden Unglück, jene Verbündeten auftauchen, die sie überleben lassen, die Person, mit der man endlich über alles reden kann, jenes Gefährt, das Buch «Die Zeitmaschine», ein Geschenk des Onkels, dass sie aus dem Unglück hinausträgt, aus einer Welt, in der alle Erwachsenen lügen, erst recht an den Geburtstagen.
Was im Roman mit kindlicher, altkluger Stimme fast wie ein Kinderbuch daherkommt, ist in seinen Formulierungen manchmal beinahe expressionistisch, grell, zornig, phantastisch. Die Autorin erzählt von einem allein gelassenen Kind, der Spiessigkeit der neuen Ordnung nach dem grossen Krieg, der Gier nach einem Stück Fortschritt und der katastrophalen Überforderung von Mutter und Vater.

DSCN1131Birgit Vanderbeke reisst Krusten auf, Krusten über den Wunden der deutsch-deutschen Geschichte, auch wenn sich das Lügen und Nicht-miteinader-Reden in der Gegenwart nicht zum Besseren gewandelt hat. Der Roman ist nicht nur die Geschichte einer Reise vom Osten in den Westen, sondern die Zwangsreise von der Welt der Grossmutter in die Welt der Eltern, von der einen in die andere Kultur. Unerfüllte Träume und der ewige Schmerz darüber sind keine Merkmale jener, die sich in den Westen absetzten. Unzufriedenheit, Lieblosigkeit und Gewalt sind Themen der Gegenwart. Mit der Geschichte erlebe ich die Geburt einer Erzählerin. Die Magie durch das Lesenlernen braucht das Mädchen im Roman, um leben zu können, einen Ausweg zu finden.
Obwohl (männliche) Kritiker sich über den kindlichen Ton des Romans auslassen – lesen Sie dieses Buch – erst recht!

Daniela Danz «Lange Fluchten», Wallstein

«Lange Fluchten» ist der Daniela Danz zweiter Roman, ein 144 Seiten starkes Buch, viel mehr als eine Geschichte, sondern ein vielschichtiges Drama über das Scheitern, ein Buch wie ein Monolith.

Brüche sind es, die Geschichte schreiben. Auch bei Cons, eigentlich Constantin, dessen Lebensplan nicht aufging. Nach Jahren in der Armee und einem Aussetzer im falschen Moment ist Cons schwieriges Leben, nach einer Kindheit mit einem «energischen» Vater, für den er nichts als ein Schwächling war, aus den Fugen geraten. «Die Armee ist das Modell einer Gesellschaft, jeder an seinem Platz und jeder seinem Auftrag verantwortlich.» Aber Cons wartete bloss, auf seine Aufgabe, seinen Auftrag, seinen Platz, bis ihn die Armee als nicht mehr brauchbar ausspuckte. Cons taumelt zurück in ein begonnenes Leben, irgendwo in der Nähe seiner Frau und seiner beiden Söhne, einem Haus im Rohbau und zweier aufeinander gestellter Container, aus denen schon lange viel mehr wurde als ein Provisorium, nämlich Symbol eines Lebens, entwurzelt, irgendwo hingestellt. «Nicht einmal ein Arm fehlt dir oder ein Bein, nicht einmal in einem richtigen Krieg warst du. Und liegst den ganzen Tag hier rum. Und wenn du deinen Arsch mal hochhebst, dann baust du nur Scheisse. Und Mama hilft dir auch noch und verteidigt dich. Sie sollte dich rausschmeissen samt deinem ganzen Jagdgerümpel», giftelt der 12jährige Sohn. Der Krieg ist in vollem Gang.
Als dann auch noch Henning, sein einziger wirklicher Freund, vom Krebs zerfressen, sich in seiner Wohnung mit Hilfe Cons Seils und Bohrmaschine aufhängt, spitzt sich in Cons Lebensrest alles zu auf diesen einen Moment, in dem er sein und die Leben seiner Familie dann doch noch in den Griff bekommen will. Henning hinterlässt ihm eine Schachtel mit Briefen, auch den einen: «Cons, du musst springen. Du musst zurück in den Wald gehen, aus dem du nie wieder rausgekommen bist.»

Daniela Danz, 1976 geboren, schrieb einen Roman voller Verzweiflung und Schmerz, in bildhafter, starker Sprache, mit Sätzen die sich tief einbrennen, ein Roman, der einiges abverlangt, das Lesen nicht leicht macht, viel mehr als bloss eine Geschichte erzählen will, sondern auf kleinem Feuer einen Kloss zum Klotz wachsen lässt.

Webseite der Autorin

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Juli Zeh «Unterleuten», Luchterhand

Juli Zeh schrieb den lange angekündigten grossen, deutschen Gesellschaftsroman.

Juli Zeh ist eine der Grossen im deutschsprachigen Literaturbetrieb. 1974 in Bonn geboren, Jura, Europa- und Völkerrecht studiert, landete sie schon mit ihrem Debut «Adler und Engel» einen Grosserfolg und konnte mit Romanen, Essays und Reisetagebüchern auch im weiteren überzeugen. Juli Zeh ist eine der AutorInnen, deren Schreiben immer politisch ist. So nimmt sie kein Blatt vor den Mund, sei es in einem offenen Brief an Angela Merkel als Konsequenz aus der NSA-Affäre oder zusammen mit Illija Trojanow («Der Weltensammler») in der Streitschrift Buch «Angriff auf die Freiheit: Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte», wo sie im Rahmen der Buchvorstellung kritisierte, dass der Staat unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung immer weiter in die Privatsphäre seiner Bürger vordringe.

Und nun also der vom Verlag mit Trommelwirbel präsentierte Roman «Unterleuten». Unterleuten ist nicht das Dorfidyll, von dem Aussteiger, Zivilisationsflüchtlinge, Tierschützer träumen. Es schmaucht, raucht und stinkt. Es wird verleumdet, taktiert, geschlagen, 130 km weg von Berlin in der ehemaligen DDR, aber scheinbar auf der anderen Seite des Planeten. Alteingesessene, durch Jahrzehnte gestählte Befehls- und Ansichtenempfänger prallen auf geblendete Freiheitssehnsüchtige, Zuzüger, die Landschaft, Haus und Garten mit Erwartungen vollpumpen. Aber die alte Ordnung steckt wie all das Gift aus 40 Jahren sozialistischer Erfolgsgeschichte 20 cm unter dem Boden.
Mit den geschärften Sinnen der Autorin taucht der Leser in einen ganzen Kosmos ein, spielt mit bei all den Winkelzügen eines ganzen Dorfes. Die Autorin schildert unverblümt. Mag sein, dass den einen gewisse Charakteren überzeichnet erscheinen. Wer aber Dorfleben kennt, und nicht nur jenes in der ehemaligen DDR, weiss, dass Juli Zeh bloss konzentriert und scharf zeichnet. In Film und Theater wäre der Vorwurf der Überzeichnung hinfällig. Warum soll dies ausgerechnet in der Literatur, in diesem Buch das Vergnügen und die Einsichten schmälern.
Der eine Klimawandel stülpt sich über Landschaft, Dorf und Menschen, während der andere Klimawandel, weg von der eigenen Nasenspitze, auch bei den idealverseuchten Zuzügern und verklebten Ewiggestrigen noch längst nicht stattgefunden hat. Die einen hecheln nach Heimat und die anderen haben sie im Laufe ihres Lebens mehrmals verloren.
Juli Zeh schafft ein weitverzweigtes Panoptikum von Archetypen; Meiler der Spekulant, Kron der ewige Krieger, Linda die Pferdeflüsterin, Gerhard der geleuterte Tierschützer, Jule die verzweifelte Mutter, Hilde die verschrobene Alte… Ich tauchte ein und las mich weg. Juli Zeh fesselte mich an ihr Buch und ich liess es gerne geschehen!

«Wenn das Leben der Figuren auf katastrophale Weise schiefgeht, selbst wenn nach allen Regeln der Kunst gequält und gelitten wurde, so besassen Qual und Leiden noch immer einen Sinn, und wenn keinen Sinn, dann immerhin Zusammenhang und folglich Bedeutung.»

Juli Zeh liest am 17. Mai um 20 Uhr im Kaufleuten in Zürich.

Eine ganze Webseite zu allem rund ums Dorf und ihre BewohnerInnen

Webseite der Autorin

Jakob Hein «Kaltes Wasser», Galiani

Es gibt verschiedene Arten, sich dem Schicksal entgegenzustellen. Es hinzunehmen und zu akzeptieren – oder die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, auch mit dem Risiko, dabei ordentlich «auf die Schnauze zu fallen».
Im neuen Roman Jakob Heins, einem echten Schelmenstück, wohl selbst ein Wesenszug des Autors (unbedingt Video schauen!), beginnt Friedrich Bender schon als «Agitator» in der Ostschule, als Sohn eines Professors für Marxismus und Leninismus, die Realität nach seinen eigenen Gesetzen einzufärben, zumal die sozialistische Wirklichkeit in der bröckelnden DDR im trüben Grau Farbe dringend nötig hat. Friedrich ist 17, als die Mauer fällt. Er entschliesst sich gleich, seine Ostidentität an den Nagel der Vergangenheit zu hängen und nicht lange auf mühsam erwarteten und erhofften Erfolg zu warten. Da wird aus einem alten Armeebus eine bierige Goldgrube, aus Din A4 und ein paar Stempeln von weiter weg ein solides Studium in Betriebswirtschaft und später aus dem klingenden Namen des Schwagers und Friedrichs geölter Schnauze eine respektable und florierende Partnervermittlung im gehobenen Segment. Nur lässt sich nicht alles auf Hochglanz schnorren, am wenigsten seine müden Eltern und all das, was Friedrich in weiter Ferne als altes Leben zurückliess.

Jakob Hein, Schriftsteller und Psychiater an der Charité in Berlin, kennt sich aus mit queren Köpfen, solchen wie Friedrich, der durchs Leben taumelt, immer knapp an der Katastrophe vorbei, ein Filou, ein liebenswerter Hochstapler. Ein witziges, lustiges Buch von einem Autor, der sich selbst nicht allzu ernst nimmt, wohl weiss, dass nur so aus dem Schatten eines «grossen» Vaters (Christoph Hein) zu entfliehen ist. Ich las den Roman mit blankem Spass und dem stillen Bedauern darüber, so gar nichts von der bedenkenlosen Frechheit des Helden abschneiden zu können. Genau das richtige aufs Nachttischchen, auch wenn Bilder in die eigenen Träume geraten sollten.

Jakob Hein, geboren 1971 in Leipzig, lebt mit seiner Familie in Berlin. Seit 1998 Mitglied der »Reformbühne Heim und Welt«. Er hat inzwischen 14 Bücher veröffentlicht, darunter Mein erstes T-Shirt (2001), Herr Jensen steigt aus (2006), Wurst und Wahn (2011) sowie zuletzt gemeinsam mit Jürgen Witte die Streitschrift Deutsche und Humor. Geschichte einer Feindschaft (2012).

Jakob Hein liest «zehn Seiten».