Margaret Atwood «Hexensaat», Knaus

Margaret Atwood, fasziniert und ergriffen von William Shakespeares Stück «Der Sturm» (The Tempest) schrieb mit «Hexensaat» einen wuchtigen und gleichzeitig verspielten Roman. Ich spüre die Freude, die Lust der Autorin, mit dem Inhalt, den Bildern des Dramas zu spielen. Dabei setzt sie den Inhalt des 1611 fertig gestellten Theaters nicht einfach in eine Gegenwart. Sie spielt mit dem Text, spielt mit Ebenen und zuweilen auch mit den ihr ausgelieferten Protagonisten.

Felix ist dort, wo er sein will. König in seinem Reich, Theaterdirektor des Makeshiweg-Festivals. Ein Ziel, für das er einen hohen Preis zu zahlen hatte. Zuerst verliess ihn seine Frau nach nicht einmal einem Jahr Ehe in Folge einer aggressiven Infektion. Und dann verlor er Miranda. Seine einzige Tochter starb mit drei Jahren an einer Meningitis. Und ausgerechnet seine Weggefährten, darunter sein Geschäftspartner Tony, der damals noch mit vielen Tränen am Grab seiner Tochter stand, katapultiert ihn von seinem Theaterthron. Felix, untröstlich, bis aufs Mark zerfressen von Wut, Zorn und Enttäuschung verbannt sich selbst «auf eine Insel». Er taucht ab in eine heruntergekommene Hütte, in der er sich in seinem Schmerz suhlt und nur langsam, versteckt hinter einem buschigen Bart und einem neuen Namen neuen Tritt gewinnt. Eine shakespearsche Intrige zwingt Felix auf «eine Insel», ihn allein mit seinen Erinnerungen an seine geisterhaft tote Tochter Miranda. «Seht her, ich leide!» Schnell wird deutlich, dass da auf einer zweiten Ebene das Drama des auf eine Insel geflüchteten Fürsten Prospero und seiner Tochter Miranda nacherzählt wird. Mehr als ein Jahrzehnt nach seinem selbst gewählten Exil bietet sich Felix eine Stelle an einer Justizvollzugsanstalt an. Schweren Jungs soll mit einem Bildung-durch-Literatur-Programm eine Möglichkeit mehr zur Resozialisierung geboten werden. Unter seiner Maske, von nun an Mr Duke genannt, studiert Felix mit der illustren Truppe Theaterstücke ein, die er nicht direkt vor Publikum aufführen lässt, sondern in einem multimedialen Projekt umsetzt. Bis in ihm der Plan reif genug ist, um sich mit dem Drama «Der Sturm» an seinen intriganten, ehemaligen Mitstreitern zu rächen.
«Hexensaat» ist aber mehr als der Roman einer Rache, eines Mannes, der sich an der Sehnsucht nach Vergeltung hoch hangelt. Margaret Atwoods Roman ist derart kunstvoll gestrickt und verwoben, dass ich den Eindruck bekomme, die Autorin hätte die Ideen zur Umsetzung ebenso lange mit sich herumgetragen wie Felix seinen akribischen Plan zur Rückkehr auf seinen Thron. Margaret Atwood erzählt Prosperos Rückkehr auf den Thron gleich auf mehreren Ebenen, auf der einen offensichtlich, auf den anderen versteckt, verborgen, bis zum grossen Finale wartend. Felix nennt sich im Gefängnis in seiner Arbeit mit den Häftlingen Mr Duke (Herzog). Dabei scheint alles auf die Inszenierung dieses einen Stückes «Der Sturm» hinzuweisen, ein Stück, das erst zur Umsetzung kommt, nachdem Felix sich in seiner neuen Umgebung, der Justizvollzugsanstalt, ganz sicher fühlt.
Ich nehme nicht nur teil am Absturz und der langsamen Rückkehr des Gedemütigten und Vergessenen. Ich nehme teil an einer grossen Inszenierung in einem Gefängnis, so wie Prospero auf der Insel. Margaret Atwood nimmt die Schar Häftlinge mit, macht sie zur Truppe, die Welttheater macht. Und dabei entwirft und erzählt sie so kunstvoll, so virtuos, dass die kanadische Meisterin aus dem sonst schon filigranen Stoff tektonische Platten aufeinander prallen lässt. Im Klappentext des bei Knaus erschienen Romans steht: «Der Sturm» ist eigentlich ein frühes Multimedia-Stück. Ich bin sicher: Würde der Barde heute leben, so würde er alle Special Effects nutzen, welche die Technologie inzwischen zu bieten hat. Ausserdem war das Stück für mich besonders verlockend, weil Shakespeare hier so viele Fragen einfach offen lässt. Was für ein – anstrengendes! – Vergnügen es doch war, sich damit auseinanderzusetzen.
Eine geniale Inszenierung des Dramas in meinem Kopf! Dämonen werden heraufbeschworen, um den Kampf mit ihnen aufzunehmen. Unser Dasein ein mehrschichtiges und vielkammeriges Gefängnis, aus dem es auszubrechen heisst. Jedem seinen Plan, der irgendwann seine Blüten tragen soll.

Nichts an diesem Buch ist altbacken, spröde oder weltfremd. Margaret Atwood transformiert William Shakespeares Stoff gleich vielfach, ohne ihn unnötig aufzublasen. Grosse Literatur einer grossen Schriftstellerin. Ich verneige mich tief.

Margaret Atwood, geboren 1939, ist unbestritten eine der wichtigsten Autorinnen Nordamerikas. Ihre Werke liegen in über 20 Sprachen übersetzt vor und wurden national wie international vielfach ausgezeichnet. Neben Romanen verfaßt sie auch Essays, Kurzgeschichten und Lyrik. Margaret Atwood lebt in Toronto. «Hexensaat» wurde übersetzt von Brigitte Heinrich.

Titelfoto: Sandra Kottonau

Ebenfalls auf literaturblatt.ch besprochen: «Die steinerne Matratze»

Monika Helfer «Schau mich an, wenn ich mit dir rede!», Jung und Jung Verlag

Manchmal schmerzt Lektüre. Liegt es an der Sprache, lege ich das Buch weg. Liegt es an der Geschichte, dann kann Lesen zu einer Berg- und Talfahrt werden, zuweilen zu einem Höllentripp. Monika Helfers Protagonisten in ihrem neuen Roman «Schau mich an, wenn ich mit dir rede!» sind keine Helden. Nicht einmal das Mädchen Vev, das eigentlich Genoveva heisst, das einem schon im ersten Kapitel unsäglich leid tut und mich unsicher werden lässt, ob ich mir die Geschichte ein Buch lang antun soll. Aber dieser Roman birgt so viel Kraft, so viel feinsinnige Empathie, so viel lupengenaue Beobachtung, dass ich das Buch schon aus Respekt nicht weglege.

Auf den ersten Seiten fährt Vev mit Sonja, ihrer aufgekratzten und zugedröhnten Mutter U-Bahn. Vev war bei ihrem Vater Milan und seiner neuen Frau Nati mit ihren beiden Töchtern. Sonja tut alles, um ihrer Tochter Vev wehzutun, sie vor allen anderen, die in der U-Bahrn mitfahren, blosszustellen, ihrer Tochter verbal an die Gurgel zu gehen. Schon im ersten Kapitel eine Szenerie, die über die Schmerzgrenze hinausgeht. Vevs Mutter Sonja ist bei ihrem Neuen untergekommen, nachdem sie ihre Wohnung verloren hatte, einem Grossen, der sich „The Dude“ nennt, die Dinge energisch in die Hand zu nehmen scheint und Sonjas Leben retten will. In eine Wohnung, in der im Schlafzimmer auf dem Boden ein paar Besoffene am Morgen nicht mehr wissen, wie sie dahin gekommen sind. Sonja ist noch jung, noch schön. Das weiss sie. Und „The Dude“ gross, stark und grosszügig. Nur Vev weiss nicht, wie und ob sie ihre Mutter lieben soll und kann.

Genauso wie ihren Vater Milan, der auch mit seiner neuen Familie nichts auf die Reihe bringt. Schon gar nicht, dass er sich endlich von seiner schnödenden Mutter abnabelt, die ihm immer noch jeden Monat einen weissen Umschlag mit Geld übergibt, obwohl sie kaum etwas an Milans neuer Familie goutieren kann. Milan weiss; Arbeit ist Scheisse, arbeiten tun die anderen. Milans Neue heisst Nati, eine Krankenschwester, Milans Retterin, «ihr eigener Diktator». Und Maja, die ältere von Natis Töchtern, Vevs neue Halbschwester, eine, die allzu gerne in Vevs angerissenem Leben bohrt.

Vev ist alleine, nirgends zuhause, hin- und hergerissen zwischen kaputten Welten. Sie durchschaut das Spiel der Erwachsenen, lernt durchzustehen, auszuhalten, wegzuhören. 

Es gibt aber sehr wohl Gründe, sich dem schmalen aber schweren Roman Monika Helfers auszusetzen. Zum einen ist da die Sprache, der klare Blick, sind es die prägnanten, oft kurzen Sätze. Monika Helfer schlüpft nicht in die verschiedenen Perspektiven, sondern erzählt mit zarter Distanz und einem sicheren Gespür für Dialoge und die Konzentration auf Höhe- und Tiefpunkte. Sie rührt nie im sentimentalen Topf, bleibt trocken, ohne spröde zu sein und verstärkt dadurch bei mir das Gefühl von Nähe und Unmittelbarkeit. 

Monika Helfer beschreibt Szenerien eines aus den Fugen geratenen Lebens, Szenen, die nichts künstlich zuspitzen und doch dramatisieren.

Zum andern spricht aus der Art und Weise, wie Monika Helfer erzählt, viel Respekt all jenen gegenüber, die verdammt sind, in diesen Welten leben zu müssen. Monika Helfer schlägt kein Kapital aus kaputten Existenzen, um eine gute Story erzählen zu können.

«Schau mich an, wenn ich mit dir rede!» ist wie im Titel des Romans unmissverständlich die Aufforderung hinzuschauen, wo man sonst gerne wegschauen würde.

© Stefan Kresser / Deuticke Verlag

Monika Helfer wurde 1947 in Au (Bregenzerwald) geboren und lebt als Schriftstellerin in Hohenems, Vorarlberg. Sie hat Romane, Erzählungen und Kinderbücher veröffentlicht, u.a. «Bevor ich schlafen kann» (2010) und «Die Bar im Freien» (2012). Ihre Bücher wurden mit zahlreichen Auszeichnungen gewürdigt, u.a. dem Robert-Musil-Stipendium 1996, dem Österreichischen Würdigungspreis für Literatur 1997 und dem Johann-Beer-Literaturpreis 2012.

Titelfoto: Sandra Kottonau

7. Randnotiz: Schreie in der Nacht

Schreie in der Nacht
Auch wenn im kleinen Ort schon tödliche Schüsse fielen, ist es ein friedlicher Ort. Auch wenn am Bahnhof manchmal zur späten Stunde die Polizei aufkreuzt oder morgens Entwurzeltes auf den Strassen liegt, scheinen sich der Schrecken und die Angst in Stuben und Zimmern zu konzentrieren, auf Bildschirmen und Schlagzeilen, auf Zeitungen mit grossen Lettern, wenig Text und vielen Bildern. Aber der Schein trügt. Meine Frau und ich sassen abends beide im Wohnzimmer und lasen, als wir durch die geschlossenen Fenster Schreie und wilde Flüche hörten. Eine Männer- und eine Frauenstimme überschlugen sich in Heftigkeit und intimen Grobheiten. Es blitze und krachte verbal, was das Zeug hielt. Selbst der Verkehr auf der Strasse pausierte für die Dauer dieser Schlacht. Die verunsicherten Blicke meiner Frau und mir kreuzten sich. Ich stand auf, öffnete die Tür zum Sitzplatz und lauschte dem Donnerwetter. Für einmal kein Drama am Bildschirm, kein Zerfleischen auf Papier. Die beiden hassten und beschimpften sich in Grund und Boden. Dann knallte eine Autotür, Reifen drehten durch und jemand raste hinter der Hecke vorbei. Mit einem Mal war es ruhiger als sonst. Bis die Vögel wieder zu singen begannen. Es kocht immer irgendwo. Nur meistens fest verschlossen. Es wird verletzt, geweint, geschrien und zerstört, im Stillen, hinter Türen, in Echtzeit, ganz real. Auf dem Deckel meines Buches im Wohnzimmer stand der Titel «Die unerbittliche Brutalität des Erwachens» (Ein wirklich guter Roman!).

Gallus Frei-Tomic

Titelfoto: «Zeit» von Philipp Frei

Paul Nizon «Die Republik Nizon, eine Biographie in Gesprächen, geführt mit Philippe Derivière, Haymon

«Ich lasse mich gehen, sehe mich sinken und klammere mich ans Schreiben, um nicht Schiffbruch zu erleiden.»

Paul Nizon, von dem einige sagen, er hätte längst den Nobelpreis verdient, gastierte unter anderem im thurgauischen Gottlieben und in Winterthur, wo er aus seinen bei Suhrkamp erschienen «Journalen» und dem bei Matthes & Seitz erschienen Buch «Parisiana» vorlas. Eine beeindruckende Reise in den «Kosmos Paul Nizon». Der 1929 geborene Sprachmagier liest und erzählt mit Witz und Schalk hinter dem Mikrophon und erklärt, dass ihm das Schreiben ums Schreiben genauso wichtig geworden ist wie alles andere, was sich in und um ihn abspielt. Paul Nizon setzt sich mit seinem Sein auseinander, seinem Leben, seinem Tun, seinem Schreiben, dem langen Ringen um Sätze, Klang und Gestalt, mit seiner Gegenwart, der Liebe und der Frage nach dem Warum. So sehr er sich aus der Enge der Schweiz distanzieren musste, Paris als ideale Distanz erschien, wählt Paul Nizon in seinem Schreiben die Enge, den Blick aus der Distanz auf die inneren Welten eines Schreibenden, eines Ringenden um Worte und Formulierungen. Nizon ist ein Musiker des Wortes. Sein Schreiben ist Melodie, seine Texte Sound, genügen sich auch ohne Plott und linear erzählte Geschichte.

«Mich interessiert einen Dreck, was nicht literarisch explodiert.»

Sein Schreiben ist die Spur seiner Einsicht. Paul Nizon ist aber nicht einfach Betrachter seiner selbst, seiner Innenwelten, von seiner Nabelschau gefangen, sondern ein Beobachter seiner selbst. Nizon interessiert sich nicht für das Autobiographische, sondern betreibt Autofiktion. Er wolle sich selber, «unbedingt den Saukerl und die animalische, auch die heidnische Seite erforschen». Paul Nizon ist ein Beobachter seiner Welt, der grossen und kleinen in Paris, einer Welt, die stets das Ganze spiegelt. Die Geschichten liegen in den Gesichtern und Gesten der Menschen, denen er mit Distanz oder ganz nah begegnet, seien es seine Lieben, der Kellner in der Brasserie oder die Schriftsteller, die sein Leben und Schreiben beeinflussen.
Seine «Journale» sind ein Eintauchen in die Stadt Paris. Kein sentimentaler Blick, der sich leicht aufdrängen könnte, wenn man so lange wie der Dichter in der Metropole lebt. Paul Nizon, ein Spaziergänger durch die Stadt, durch sein Leben, vorbei an den Menschen, die ihm begegneten, die ihn begleiteten und seinen Weg kreuzten.

«Zu schreiben, was ich weiss, hat mich nie interessiert.»

Paul Nizon ist ein Randgänger, zu nichts und niemandem gehörend, ausser seinem Ringen ums Schreiben. In Paris, weil es die Stadt ist, die ihn trägt und schmeichelt, zuhause allein in der «Republik Nizon». Auf die Frage, zu welcher Nation er sich den nun gehörig fühle, meinte Nizon: «Gäbe es einen Pariser Pass, wär er der meine.»

Die vom belgischen Journalisten geführten und von Erich Wolfgang Skwara übersetzten Gespräche sind bei Haymon unter dem Titel «Die Republik Nizon» erschienen. Ein idealer Einstieg ins Werk des grossen Auslandschweizers, der von sich behauptet, als Schriftsteller geboren worden zu sein. Er sei zum Schreiben vorbestimmt gewesen, ein Auserwählter, ein Verdammter.

Paul Nizon, geboren 1929 in Bern, lebt in Paris. Der »Verzauberer, der zur Zeit größte Magier der deutschen Sprache« (Le Monde) erhielt für sein Werk, das in mehreren Sprachen übersetzt ist, zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen, u. a. 2010 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur und 2014 den Schweizer Grand Prix Literatur. Zuletzt erschienen bei Suhrkamp: Urkundenfälschung (Journal, 2012), Goya (2011), Romane, Erzählungen, Journale (2009), Die Zettel des Kuriers (Journal, 2008), Das Fell der Forelle (Roman, 2005).

Wider das Vergessen

In den Antiquariaten gestrandet

Kennen sie Edwin Arnet, Kurt Guggenheim, Ruth Blum, Felix Moeschlin oder Elisabeth Gerster? Als ich noch studierte und mir das Geld für neue Bücher fehlte, erklärte ich Antiquariate zu meinen Jagdgründen. Damals das Antiquariat Ribaux an der Bahnhofstrasse in St. Gallen. Und weil auch dort die schiere Menge mich zu erdrücken drohte, kaufte und las ich ausschliesslich Schweizer Literatur. Namen, die noch immer meine Regale zieren, die etliche „Redimensionierungsaktionen“ unbeschadet überstanden. Perlen. Edwin Arnets Roman „Emanuel“ begeisterte mich so sehr, dass ich eines meiner Kinder mit seinen Worten taufen liess. Kurt Guggenheims Tod im Winter 1983 entriss mir einen Seelenfreund, der mir Türen öffnete und in Felix Moeschlins Liebesgeschichte „Der glückliche Sommer“ sind Textpassagen angestrichen, die mich noch heute schaudern lassen.
Aber ihnen droht das Vergessen. Jetzt erst recht, nachdem die Bologna-Reform die Literaturstudenten aus den Antiquariaten vertrieben haben. Es gibt keine Zeit mehr, auf eigene Entdeckungsreisen zu gehen, sich fernab von Pflichtlektüre und Kreditpunkten ins Abenteuer Literatur zu stürzen. Antiquariate schliessen und in Brockenhäusern strandet, was der Verbrennung entgeht. Der Besitzer des kleinen Antiquariats in Zürich, unweit der Universität, mit der engen Wendeltreppe ins Obergeschoss hinter dem Verkaufstisch, der zusammen mit seinen Schätzen in die Jahre kommt und keinen Gedanken mehr verschwendet, ob dereinst, nach seinem Abgang, die Türglocke weiter klingelt, winkt ab. Sie sind vergessen, ausgebremst, zurückgelassen. Niemand liest sie mehr. Die einzigen, die noch zwischen den Regalen stöbern, sind Alte und „Zurückgebliebene“. Weil sich der Literaturbetrieb in vielem nicht von allen anderen Modebranchen unterscheidet. Weil Aktualität zur obersten Maxime erklärt wird. Was bleibt, ist die Hoffnung, dass irgendwann, wenn sich die Dystopien bewahrheiten, jene bleiben, die in den Regalen überleben.

«literarischer monat», das schweizer Literaturmagazin, Ausgabe 29

Felix Moeschlin wurde am 31. Juli 1882 in Basel geboren. Kurz vor Abschluss seines Biologie- und Geologiestudiums startete untenahm Moeschlin erste schriftstellerische Versuche. 1909 heiratete er die schwedische Malerin Elsa Sophia Hammar und lebte bis 1914 in Skandinavien. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs kehrte Moeschlin in die Schweiz zurück und leistete Aktivdienst an der Grenze. Als Schriftsteller repräsentierte er in jenen Jahren die „geistige Landesverteidigung“. Von 1924 bis 1942 war Felix Moeschlin Präsident des Schweizerischen Schriftsteller-Verbands SSV, in den vierziger Jahren sass er für den LdU im Nationalrat. Bis zu seinem Tod war Moeschlin, neben seiner schriftstellerischen Arbeit, auch als Zeitungs- und Zeitschriftenredaktor tätig. Er starb am 4.10.1969 in Basel. Von seinen grossen Werken ist keines mehr im Buchhandel erhältlich. In Antiquariaten allerdings findet man «Der Amerika Johann» oder «Der glückliche Sommer» noch.

Auf dem Bild Felix Moeschlin, gezeichnet von Gallus Frei-Tomic

Aus Edwin Arnets Roman «Emanuel», 1926 erschienen beim Verlag Orell Füssli, Zürich

6. Randnotiz: Motorengeflüster

Motorengeflüster

Einmal, nur ein einziges Mal. Aber ich bin ein «Schisshase». Unfähig, aus meiner perfekt antrainieren Rolle auszusteigen. Ich bin selbst bei Krankenkassenvergleichen am Telefon freundlich, auch wenn mein Gegenüber der deutschen Sprache gerade so sehr mächtig ist, dass ich nach den ersten Floskeln verstehe, worum es gehen soll. Ich bleibe anständig, wenn sich Leute vor dem Zug vordrängeln, versuche mich nicht zu entrüsten. Traue mich nicht einmal, wenn im Zugabteil gegenüber eine junge Frau ihre Boots auf die Sitzkante stellt und ihre Fingernägel zu lackieren beginnt. Einmal, nur ein einziges Mal. Am vergangenen Sonntag geschah es wieder. Ich fuhr mit dem Rad zur Bäckerei im Städtchen, meine Frau lag noch im Bett. Ich überquerte die Strasse, hebelte den Ständer runter und hängte den Helm an die Lenkstange. Gleich beim Eingang stand ein dunkelblauer BMW mit laufendem Motor. Aber im Auto drin sass niemand. Der Motor tuckerte vor sich hin, während der Fahrer oder die Fahrerin im Laden Brötchen kaufte. Irgendwie italienische Verhältnisse. Als ich vor Jahrzehnten für ein paar Tage in San Gimignano war, sah ich das auch. Tiffosi, die in der Bar ihren Esspresso tranken, während draussen vor der Tür der beste Freund warm blieb. Wie gerne wäre ich ins Auto gestiegen, hätte den Gang eingelegt, den BMW ganz behutsam aus der Parklücke gefahren, um ihn fünfzig oder hundert Meter weiter weg wieder an den Strassenrand zu parken. Ich wäre zurückgelaufen, in den Laden und hätte durch die Scheibe zugeschaut, wie sie oder er verzweifelt ein Auto sucht. Hätte, wäre. Ich bin ein anständiger Schisser.

Gallus Frei-Tomic

Radek Knapp «Der Mann, der Luft zum Frühstück ass», Deuticke

Kennen Sie Radek Knapp? Wenn nicht, ist die Erzählung «Der Mann, der Luft zum Frühstück ass» der ideale Einstieg in den Kosmos Radek Knapp. Der Mann ist ein Ereignis. Nicht nur als Schriftsteller. Wer einmal die Gelegenheit hatte, dem Schriftsteller zu lauschen, wird es als Wiederholungstäter immer wieder tun. Es erstaunt wenig, dass es einen «Fanclub Radek Knapp» gibt. Zu den erklärten Sympathisanten zähle ich mich mit Sicherheit.

Radek Knapps Welt ist seine Geschichte. Seine Geschichten entspringen seiner Welt, einer Welt, die ein nie versiegendes Reservoir an Anektoten, Zoten und Geschichten scheint. Der zwölfjährige Walerian wird von seiner Mutter von Polen über die Grenze nach Österreich, nach Wien buxiert. Walerians Mutter, «so unberechenbar wie eine nordkoreanische Atombombe», die ihren Sohn nach dem Beruhigungsmittel Walerian tauft und ihn lebenslang zur Verkürzung Jan nötigt, um nicht zur permanenten Lachnummer zu werden. Der Junge lernt schnell, sich auf eigenen Beinen durchs Leben in der fremden Sprache zu schlagen. Sei es in der Schule, wo er auf dem Weg dorthin mehr lernt als im Klassenzimmer selbst, da die wirklich wichtigen Dinge nicht in Schulhäusern geschehen. Auch auf seinem steinigen Weg ins Erwachsensein, immer näher seinem Traumberuf des Archäologen, nimmt er Hürden und Prüfungen mit Witz und schwejkschem Schalk. Alle Bücher, Romane Radek Knapps sind flirrende Geständnisse eines Unbesiegbaren, eines ewig Optimistischen, der seine Schmankerl- und Geschichtensammlung immer und immer wieder in neuen

Variationen zu erzählen versteht. Ein Fabulierer und begnadeter Geschichtenerzähler. Ein Mann, der nicht nur äusserlich Sein Lausbubengesicht nie ganz verloren hat. Einer, der sich weigert, den dicken Mantel des Erwachsenseins bis unters Kinn zuzuknöpfen. Radek Knapp liebt die Schrullen und Schrulligen, die Abseitigen und Vielseitigen, die Bunten und Knalligen. «Der Mann, der Luft zum Frühstück ass» ist eine Erzählung wider den tierischen Ernst, in einer Sprache geschrieben, die sich locker, süffisant und prall zeigt, gepaart mit Weisheit und Klugheit.

Radek Knapp, 1964 in Warschau geboren, lebt als freier Schriftsteller in Wien und in der Nähe von Warschau. Sein Roman «Herrn Kukas Empfehlungen» ist ein Longseller. Außerdem erschienen von ihm u.a. die Erzählungssammlung «Papiertiger», eine «Gebrauchsanweisung für Polen», der mit dem aspekte-Preis ausgezeichnete Band «Franio» (Deuticke) und 2015 der Roman «Der Gipfeldieb».

Das 37. Literaturblatt ist fertig!

Lesen Sie Bücher? Ich lese viel, immer auf der Suche nach den Perlen. Ob sie den gleichen Literaturgeschmack haben, weiss ich nicht. Aber ich verspreche ihnen hochwertige Literatur. Literatur, die bleiben wird!

Stehen Sie manchmal in einer Buchhandlung vor den Tischen und Regalen und wissen nicht, für welches Buch Sie sich entscheiden sollen?

Haben Sie Lust, sich auf ein Abenteuer, ein literarisches Abenteuer einzulassen?

Möchten Sie wirklich gute Bücher lesen? Bücher, die sie bewegen? Bücher, die bleiben? Bücher, die nachhallen?

Freuen Sie sich über handgeschriebene Post mit einer Briefmarke? Für einmal kein Prospekt, keine Werbung und schon gar keine Rechnung?

Immer vier überzeugende Bücher, literarische Leckerbissen, unabhängig ausgesucht, pointiert beschrieben.

Die Literaturblätter werden auch nach Deutschland, Österreich und Frankreich versandt!

Neugierig? Auf dieser Webseite finden Sie eine Übersicht über alle bisher erschienen Literaturblätter.

Dann fassen Sie Mut und bestellen das 36. Literaturblatt. Sie erhalten es in einem A5 Couvert per Post zugestellt, vorerst kostenlos. Wenn Ihnen das Literaturblatt gefällt, freut mich ein Abonnement.

Bestellen Sie per Post:
Literaturport Amriswil
St. Gallerstrasse 21
CH 8580 Amriswil

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oder übers Kontaktformular dieser Webseite.

Ich freue mich!
Gallus Frei-Tomic

Ilija Trojanow «Nach der Flucht», S. Fischer

Ilija Trojanow, Weltbürger und Weltenbummler, Schriftsteller und Verleger, Streiter und erklärter Optimist weiss, dass es «nach der Flucht» nicht gibt. Mein irriger Glaube, dass es der junge Syrer im Zugabteil gegenüber geschafft habe, ist Resultat einer Selbsttröstung und Selbsttäuschung. Sie haben es nicht geschafft, sind längst nicht dort, wovon sie träumen. Sie sind abgeschnitten von all dem, was Heimat bedeutet.

Den zwei Mal 99 Gedanken darüber, ob es ein Leben nach der Flucht geben kann, sind zwei Zeilen vorangestellt:
Meinen Eltern,
die mich mit der Flucht beschenkten
was angesichts des Elends vor, während und nach der Flucht fast zynisch klingen mag, ist bei Ilija Trojanow das Bewusstsein, dass man aus einem «Mangel» Reichtum schöpfen kann. Vielleicht ist genau das der Optimismus, der dem Autor auch nach vielen Reisen ans Mark des Geschehens, Begegnungen und Gesprächen mit Fliehenden und Geflohenen trotz allem geblieben ist. Das Wissen darum, dass man den Kampf auf- und annehmen kann, statt sich hinter dem Tropfen auf den heissen Stein zu verstecken.

Ilija Trojanow zwingt den Leser, sich aufzutun, sich nicht hinter dem Wahn zu verbergen, es gäbe eine gelungene Flucht, es sei schon alles irgendwie gut gegangen. «Nach der Flucht» ist kein Lesevergnügen. Wer sich der Thematik nicht stellen will, lässt das Buch besser liegen. Das Leben nach der Flucht bleibt ein Leben auf der Flucht. Selbst jene, die sich hinter Zäunen und Mauern, Ideologien und Strategien verstecken, sind auf der Flucht; auf der Flucht vor der Realität, auf der Flucht davor, zum Hinsehen und Hinhören genötigt zu werden. Ilija Trojanow schont mich nicht. Im Buch geht es nicht darum, was nach der Flucht geschieht, sondern um das Gefühl des Fremdseins, ob daraus ein Mangel oder eine Kraft wird. Trojanows Miniaturen reichen von «einfachen» Fragen, Einsichten, Prosaminiaturen bis hin zu Stichen mitten ins Herz. Keine Nachttischlektüre, wenn man sich den Schlaf nicht rauben lassen will. Aber ein Brevier für unterwegs, um an Bahnhöfen, in Parks und vor Bushäuschen nicht wegzuschauen. Vielleicht als Hilfsmittel stehenzubleiben, wenn nicht physisch, dann zumindest gedanklich, um jenen zuzuhören, die man sonst kaum versteht. Trojanow will verstehen und ist davon überzeugt, das Verstehen-wollen der einzige Weg ist, um nicht in Lethargie oder gewaltsame Ausbrüche zu verfallen. Das schmale Büchlein ist mit Sicherheit Anlass genug, sich in Zeiten neu erstarkendem Nationalismus Gedanken über «Heimat» zu machen. Dringend notwendig!

Ein kleines Interview

Lieber Herr Trojanow, Es ist doch erstaunlich, dass überall gewettert, geschimpft, gelästert und verbal geknebelt wird. Nicht nur in der Politik, sondern immer mehr in der Kultur. Da gibt es Musik, die geisselt und Wut über alles erbricht. Bildende Kunst, sie aufschrecken lässt und einem mit ihrer Wucht erschlägt. Im öffentlichen Raum grassiert der Zorn. Gerichte beklagen sich über Ehrverletzungsklagen wie noch nie.
In Gesprächen und ihren Büchern beschreiben sie den wachsenden Nationalismus als eines der grossen Probleme, die ungehemmte Argumentation von Populisten, die sich nicht an Fakten und schon gar nicht an Respekt und Toleranz halten. Hat die Literatur als letzte die Wut und den Zorn im Griff oder ist es eine Frage der Zeit, bis es auch zwischen Buchdeckeln keift und lästert, weil es die einzige Sprache ist, die «man» noch versteht?
Keifen und Lästern kann auch eine Kunst sein (in Österreich etwa literarisch weit verbreitet). Die Frage ist nur; spricht jemand gegen das (Vor)Herrschende oder reiht er/sie sich ein in den Chor der gegenwärtigen Dummheit, die ja stets existiert, nur ihren Gestank gelegentlich ändert. Wer nicht im Geist des Widerstands schreibt, sollte es gleich sein lassen. Affirmative Wortklauberei gibt es mehr als genug. 

Woher nehmen sie angesichts der globalen Zustände, seien sie nun politisch, gesellschaftlich oder ökologisch, die Zuversicht, den Optimismus? Die Diskussionen darum, ob es angesichts der Weltlage angemessen sei, Kinder zu kriegen, werden nicht leiser.
Die inneren Widersprüche des Kapitalismus sind enorm. Er wird sich nur apokalyptisch halten können. Ich bin zuversichtlich, dass die Menschen erkennen werden, wie viele schönere, bessere, freiere und gerechtere Alternativen es geben könnte als das jetzige brutale, zerstörerische Regime.

«Nach der Flucht» ist ein Aufruf. Und wenn sich viele Menschen nicht trauen, aktiv an den Lösungen rund um die Flüchtlingsproblematik teilzunehmen, dann zumindest gedanklich. Dass sie in ihrem Denken versuchen, neue Positionen einzugehen. Reicht das? Ist es nicht zu sehr Selbsttröstung?
Das Denken und das Reden über Flucht zu verändern ist zentral, als poetisches und als politisches Projekt. Ob Literatur auch tröstend wirkt, wird jeder Leser, jede Leserin selbst empfinden müssen.

Ist all das Geschrei um die nicht enden wollenden Flüchtlingsströme nicht ein Ablenken von den wirklichen Problemen. Es gibt lösbare Probleme und solche, an denen wir, vor allem in ökologischer Hinsicht, wohl nur noch korrigieren können. Ist es nicht einfach die Angst davor, dass Veränderungen unvermeidbar sind?
Es ist ja nicht einmal klar, dass Migration ein Problem ist. Es gibt Ökonomen, die genau das Gegenteil behaupten. Ich antworte ihnen aus England, hier sind zwei Artikel erschienen: der erste Berichtet von der Analyse eines think tanks, dass Grossbritannien jährlich 100.000 Immigranten benötige und der zweite stellt fest, dass Migration wesentlich zum Wirtschaftswachstum der letzten Jahre beigetragen habe (Hier eine Vielzahl an Statistiken:  http://www.economicshelp.org/blog/6399/economics/impact-of-immigration-on-uk-economy/). Zweifelsohne sind ökologische Verwüstung und soziale Ungerechtigkeit viel größere Probleme, als die Diktatur des neoliberalen Wirtschaftswesens.

Vielen Dank für das Interview.

Ilija Trojanow, geboren 1965 in Sofia, floh mit seiner Familie 1971 über Jugoslawien und Italien nach Deutschland, wo sie politisches Asyl erhielt. 1972 zog die Familie weiter nach Kenia. Unterbrochen von einem vierjährigen Deutschlandaufenthalt lebte Ilija Trojanow bis 1984 in Nairobi. Danach folgte ein Aufenthalt in Paris. Von 1984 bis 1989 studierte Trojanow Rechtswissenschaften und Ethnologie in München. Dort gründete er den Kyrill & Method Verlag und den Marino Verlag. 1998 zog Trojanow nach Mumbai, 2003 nach Kapstadt, heute lebt er, wenn er nicht reist, in Wien. Seine bekannten Romane wie z.B. «Die Welt ist groß und Rettung lauert überall», «Der Weltensammler» und «Eistau» sowie seine Reisereportagen wie «An den inneren Ufern Indiens» sind gefeierte Bestseller und wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Zuletzt erschienen bei S. Fischer sein großer Roman «Macht und Widerstand» und sein Sachbuch-Bestseller «Meine Olympiade: Ein Amateur, vier Jahre, 80 Disziplinen».

Titelfoto: Sandra Kottonau

5. Randnotiz: Vogel im Spiegel

Vogel im Spiegel

Morgens und abends fliegt eine Elster aufs Nachbargrundstück und setzt sich auf den Aussenspiegel des schwarz glänzenden BMWs. Dort sitzt sie und flirtet mit ihrem Spiegelbild, flattert wild mit ihren Flügeln, vielleicht sogar ein unbeholfener Paarungsversuch mit ihrem Spiegelbild. Jeden Morgen und jeden Abend. Aber eine ähnliche Beobachtung mache ich auch mit den menschlichen Eitelkeiten. Keine Ahnung, wann ich das innige Interesse an meinem Spiegelbild verloren habe. Allenfalls am Morgen noch einen Kontrollblick. Am Abend laufe ich zum Zähneputzen lieber im Obergeschoss herum. Hernach ein Kontrollblick, ob aller Zahnpastaschaum weg ist. Aber wenn ich durch die Strassen der Stadt gehe, dann ist es bei weitem nicht die Elster allein, die sich am liebsten mit dem Spiegelbild paaren möchte, die sich übermässig für ihr Spiegelbild interessieren. Und es sind nicht nur die Jungen, die sich in allen verfügbaren Scheiben, Spiegeln, Schaufenstern und Gläsern betrachten, posieren, im Vorübergehn die Frisur korrigieren, mit den Fingerspitzen die Strähne hinters Ohr schieben, den Kopf um Zentimeter höher tragen, die Brust um Nuancen vorgestreckt. Im Zug nachts der Geck, der sich an der Eingangstür in den schwarzen Fenstern die gelverstärkten Strähnen zurechtzupft, die Kapuze im Nacken richtet. Der Vogel ist nicht allein, der Vogel am Spiegel meines Nachbarn.

Gallus Frei-Tomic