7. Randnotiz: Schreie in der Nacht

Schreie in der Nacht
Auch wenn im kleinen Ort schon tödliche Schüsse fielen, ist es ein friedlicher Ort. Auch wenn am Bahnhof manchmal zur späten Stunde die Polizei aufkreuzt oder morgens Entwurzeltes auf den Strassen liegt, scheinen sich der Schrecken und die Angst in Stuben und Zimmern zu konzentrieren, auf Bildschirmen und Schlagzeilen, auf Zeitungen mit grossen Lettern, wenig Text und vielen Bildern. Aber der Schein trügt. Meine Frau und ich sassen abends beide im Wohnzimmer und lasen, als wir durch die geschlossenen Fenster Schreie und wilde Flüche hörten. Eine Männer- und eine Frauenstimme überschlugen sich in Heftigkeit und intimen Grobheiten. Es blitze und krachte verbal, was das Zeug hielt. Selbst der Verkehr auf der Strasse pausierte für die Dauer dieser Schlacht. Die verunsicherten Blicke meiner Frau und mir kreuzten sich. Ich stand auf, öffnete die Tür zum Sitzplatz und lauschte dem Donnerwetter. Für einmal kein Drama am Bildschirm, kein Zerfleischen auf Papier. Die beiden hassten und beschimpften sich in Grund und Boden. Dann knallte eine Autotür, Reifen drehten durch und jemand raste hinter der Hecke vorbei. Mit einem Mal war es ruhiger als sonst. Bis die Vögel wieder zu singen begannen. Es kocht immer irgendwo. Nur meistens fest verschlossen. Es wird verletzt, geweint, geschrien und zerstört, im Stillen, hinter Türen, in Echtzeit, ganz real. Auf dem Deckel meines Buches im Wohnzimmer stand der Titel «Die unerbittliche Brutalität des Erwachens» (Ein wirklich guter Roman!).

Gallus Frei-Tomic

Titelfoto: «Zeit» von Philipp Frei