6. Randnotiz: Motorengeflüster

Motorengeflüster

Einmal, nur ein einziges Mal. Aber ich bin ein «Schisshase». Unfähig, aus meiner perfekt antrainieren Rolle auszusteigen. Ich bin selbst bei Krankenkassenvergleichen am Telefon freundlich, auch wenn mein Gegenüber der deutschen Sprache gerade so sehr mächtig ist, dass ich nach den ersten Floskeln verstehe, worum es gehen soll. Ich bleibe anständig, wenn sich Leute vor dem Zug vordrängeln, versuche mich nicht zu entrüsten. Traue mich nicht einmal, wenn im Zugabteil gegenüber eine junge Frau ihre Boots auf die Sitzkante stellt und ihre Fingernägel zu lackieren beginnt. Einmal, nur ein einziges Mal. Am vergangenen Sonntag geschah es wieder. Ich fuhr mit dem Rad zur Bäckerei im Städtchen, meine Frau lag noch im Bett. Ich überquerte die Strasse, hebelte den Ständer runter und hängte den Helm an die Lenkstange. Gleich beim Eingang stand ein dunkelblauer BMW mit laufendem Motor. Aber im Auto drin sass niemand. Der Motor tuckerte vor sich hin, während der Fahrer oder die Fahrerin im Laden Brötchen kaufte. Irgendwie italienische Verhältnisse. Als ich vor Jahrzehnten für ein paar Tage in San Gimignano war, sah ich das auch. Tiffosi, die in der Bar ihren Esspresso tranken, während draussen vor der Tür der beste Freund warm blieb. Wie gerne wäre ich ins Auto gestiegen, hätte den Gang eingelegt, den BMW ganz behutsam aus der Parklücke gefahren, um ihn fünfzig oder hundert Meter weiter weg wieder an den Strassenrand zu parken. Ich wäre zurückgelaufen, in den Laden und hätte durch die Scheibe zugeschaut, wie sie oder er verzweifelt ein Auto sucht. Hätte, wäre. Ich bin ein anständiger Schisser.

Gallus Frei-Tomic