Nancy Hünger «Wir drehen dem Meer unsere Rücken zu», Azur

Ich bin gleichermassen verblüfft, erschlagen und beglückt. Nancy Hünger lässt mich nach der Lektüre ihres Romans mit vielen Fragen zurück. Genau das, was Literatur soll. Weder Sättigungsgefühl noch Berauschung. Und ganz sicher mit dem Gefühl, einer literarischen Perle begegnet zu sein.

„Wir drehen dem Meer den Rücken zu“ ist eine Liebesgeschichte, wenn auch auf einer Seite des Spektrums, wo Nancy Hüngers Buch zu einem Unikat wird, frei von aller Sentimentalität, ganz in der Realität, nie abgehoben, schon gar nicht entrückt. Eine Liebesgeschichte, die deutlich macht, dass Liebe letztlich kein Gefühl ist, sondern eine Entscheidung. Zu einem grossen Teil eine Entscheidung trotz allem. Es hätte die Geschichte einer Trennung werden können, einer Entfremdung, was es letztlich auch wurde, die Geschichte von Ent-Täuschungen, Ernüchterung. Aber da lieben sich zwei, auch wenn es blitzt und donnert, wenn graue Wolken aufziehen und man bei der Lektüre befürchten muss, dass der immer dünner scheinende Faden reissen könnte. Tut er aber nicht. Sie liebt ihn, er liebt sie, sie lieben sich beide, wenn auch nicht im satten Sound einer Romanze, wenn auch nicht im ausfliessenden Glück. Mag sein, dass es Glück gibt. Aber so wie die Liebe zur Entscheidung wird, so wird das Glück zu einem Teil der Bewegung zum Gegenüber.

Nancy Hünger Wir drehen dem Meer unsere Rücken zu», Azur, 2025, 150 Seiten, CHF ca. 31.90, ISBN 978-3-942375-77-1

Und weil Nancy Hünger in der Lyrik zuhause ist, ist ihr Roman, der auch formal ungewohnt erscheint, nicht nacherzählte Handlung, sondern Resultat einer permanenten Reflexion, eines Nachdenkens, des Haderns genauso wie dem Wissen darum, dass da etwas ist, dass man sich letztlich nur nehmen lassen kann, das jenes Stück Zuhause ausmacht, dass eine Beziehung, eine Langzeitbeziehung ausmachen muss. Neben der Erkenntnis, dass da immer zwei Planeten bleiben, zwei, die sich in einem instabilen Gravitationsfeld umkreisen. Im Wissen darum, dass wir uns letztlich dauernd aus dem Gefühl der Einsamkeit herauswinden müssen, dass es zum Gegenüber immer eine Distanz gibt, sieht man/frau über die Momente der Verzückung hinaus.

Da liebt eine Frau einen Mann, obwohl sie weiss und spürt, dass diese Liebe auch zum Kampf werden kann. Ein Kampf gegen seine Gewohnheiten, auch wenn er sich selbst als Feminist bezeichnet, gegen all die kleinen und grossen Selbstverständlichkeiten, die die feinen und groben Arten der Gewalt in Beziehungen, zwischen Liebenden offenbaren. Mag sein, dass die Grenze zu einer „toxischen“ Beziehung fliessend ist. Vielleicht spielen wir allzu leicht mit dieser Etikette, auch wenn Gewalt an Frauen, Gewalt in Beziehungen in keiner Weise kleingeredet werden darf. Nancy Hünger geht es in ihrem Roman aber nicht draum, Missstände aufzudecken. Sie führt mir vor Augen, dass der Missstand im Kleinen zu finden ist, dass wir in Traditionen sozialisiert werden, die die Formen männlicher Gewalt eindeutig begünstigen. Genau darin liegt die Stärke dieser Liebesgeschichte. Sie spiegelt, was überall passiert und tut dies in einer Sprache, die nicht analysiert, sondern Gefühle, Gedanken spiegelt. In teilweise ganz kurzen Kapiteln, die alle mit einer neuen Seite beginnen, wird das Erzählen zu einem Eintauchen, manchmal fast meditativ, manchmal wie lyrische Prosa, meistens eindringlich, intensiv, von entblössender Tiefe. 

Im ersten Teil des Buches schildert die Autorin die Geschichte einer Liebe, deren Risse immer tiefer, immer offensichtlicher werden. Im zweiten Teil hoffen die beiden auf einer kanarischen Insel auf einen Neuanfang. Ausgerechnet dort, wo die Sonne brennt und es Asche regnet.

Ein ungemein starkes Stück Literatur!

Nancy Hünger, 1981 geboren, studierte Freie Kunst an der Bauhaus-Universität Weimar und verschrieb sich danach ganz der Literatur. Bei AZUR / Voland & Quist sind bereits sechs Bände mit Lyrik und Prosa erschienen, zuletzt «4 Uhr kommt der Hund» (2020). 2023 wurde sie mit dem Anke Bennholdt-Thomsen-Lyrikpreis ausgezeichnet. 2024 erhielt sie das Stipendium zum Rainer-Malkowski-Preis. Nancy Hünger lebt in Tübingen, wo sie das Studio Literatur und Theater leitet.

Beitragsbild © privat

Mahnmale mit Hoffnung? Ishbel Szatrawska «Die Tiefe» / Sergej Lebedew «Die Beschützerin»

Dem unverändert aktuellen Thema von Krieg, Gewalt und Zerstörung widmen sich zwei lesenswerte Bücher auf unterschiedliche Weise. Sowohl Ishbel Szatrawska aus Polen mit ihrem Debüt als auch Sergej Lebedew aus Russland mit einem neuen Roman. Beide sind 1981 geboren.

Lieber Gallus

Vor Kurzem trafen wir Freunde und Bekannte aus der Ukraine anlässlich der Tournee des grossartigen Chores «CANTUS» aus Uschgorod, Transkarpatien. Sie berichteten eindrücklich, wie sie den Krieg erleben. Es sitzen junge Leute in Kiev in ihrer Freizeit in den Cafés zusammen und diskutieren lebhaft, obwohl sie nachts bei steten Bombenangriffen kaum schlafen. Das Strassenbild tagsüber im Zentrum gleicht einer modernen europäischen Stadt, unweit davon entstehen täglich neue Zeichen der Zerstörung. Müde, aber überzeugend kämpfen sie weiter um ihr Land, ihre Kultur, ihr Leben. Für uns Schweizer nicht vorstellbar.

Ishbel Szatrawska hat einen historischen Familienroman geschrieben, der im ehemaligen Ostpreussen spielt. Diese Gegend hat eine sehr bewegte Geschichte an einem Schmelztiegel von Völkern, hier haben Polen, Deutsche, Litauer und Russen um Macht und Einfluss gekämpft. Nur schon von diesen historischen und kulturellen Verflechtungen zu erfahren, war für mich hochinteressant. Der Zweite Weltkrieg mit dem Nationalsozialismus, die sowjetische Invasion und die Jahre des Kommunismus in der Region um Königsberg bilden den Hintergrund des Romans. Hauptpersonen sind die Grossmutter Janka und die Enkelin Alicja sowie der Chirurg Max und Jankas Sohn Wolf. Ihre Erlebnisse in einer Zeit des Umbruchs, des Krieges mit Verschiebung der Grenzen werden bildhaft und sprachgewaltig geschildert. Jede Person bekommt ein charaktervolles Gesicht und bleibt trotzdem geheimnisvoll. Einige Weiterentwicklungen bleiben für den Leser, die Leserin offen, machen das Buch noch interessanter und anregender. Ein Roman, der wirklich in tiefe Abgründe des Menschseins führt.

Ishbel Szatrawska «Die Tiefe», Voland & Quist, 2025, aus dem Polnischen von Andreas Volk, 461 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-86391-414-1

Die aus Olsztyn stammende Autorin möchte mit ihrem Buch eine Lücke füllen, da bisher Vieles aus der Geschichte Ostpreussens nicht bekannt ist und kaum aus der Sicht einer Polin dargestellt wurde. An der Buchvernissage im Literaturhaus Zürich sagte sie, dass das Buch in Polen in den verschiedenen Bezirken sehr kontrovers aufgenommen wurde. In der ehemals ostpreussischen Region sehr gut, in Zentralpolen teils mit Unverständnis. Dort hat die polnische Bevölkerung die Deutschen als Invasoren erlebt.

Mich hat die poetische kraftvolle Sprache von Szatrawska sehr beeindruckt. Zeitlich und örtlich hin und her springend erzählt, ist das Buch nie unübersichtlich. Der geschickte Perspektivenwechsel gibt dem Werk eine faszinierende Dichte und Tiefe. Wie sich Grossmutter Janka und ihre ebenso starke Enkelin Alicja den Herausforderungen stellen, bleiben im Gedächtnis hängen:

Nimm nichts von Deutschen. Alicja erstarrte, sie hielt ein bunt verpacktes Schokoladenbonbon in ihrer Faust. Sie brauchte sich nicht umzudrehen. Auch so wusste sie, dass Grossmutter Janka mit der Zigarette in der Hand unter dem Vordach stand, unbewegt, bedrohlich. Obgleich der Sommer in diesem Jahr ein typisch preussischer war, mässig warm, wolkig, mit unangenehm kühlem Wind aus Norden, spürte sie, wie ihr heiss wurde. (Buchanfang, Janka noch Mädchen)

Wie der Chirurg Max umgeben von immer mehr Zerstörung und Eindringen der Russen unter schwierigsten Bedingungen und in einem widerlichen Umfeld arbeiten muss, haben mich als pensionierten Hausarzt erschüttert:

Halt!, rief Max, das ist ein Operationssaal. Der Grösste der Meute zielte sofort auf seinen Kopf. Unwillkürlich hob er die Hände. Johanna schluchzte in der Ecke. Er hörte, wie sie ihr die Kleider vom Leib rissen. Er schaute in den Lauf des Gewehrs, um die Frauen nicht sehen zu müssen, in der erhobenen Hand hielt er noch immer den Nadelhalter. (Russeneinfall in Königsberg am Ende des Zweites Weltkriegs)

Menschen verlieren Würde und Heimat und müssen entwurzelt ums nackte Überleben kämpfen.
Keine leichte Kost, aber ein Buch, das zu Herzen geht. Sehr zu empfehlen!

Sergej Lebedew, studierter Geologe setzt sich bereits seit Jahren mit den unterirdischen Spuren menschlichen Terrors auseinander. Erstmals 2011 (deutsche Ausgabe) mit «Der Himmel auf ihren Schultern» und aktuell im soeben erschienen Roman «Die Beschützerin»; Fünf Tage im Juli 2014 im Donbass, wo bereits die Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg Tausende Juden umgebracht und verscharrt haben. 2014 wurde zudem ein Passagierflugzeug von den Russen abgeschossen.

Sergej Lebedew «Die Beschützerin», S. Fischer, 2025, aus dem Russischen von Franziska Zwerg, 256 Seiten, CHF ca. 37.90, ISBN 978-3-10-397521-5

Der russische Originaltitel »Белая дама», «Die weisse Dame», wäre für mich sinnvoller, denn Marianna, dreissig Jahre lang Leiterin einer Bergbau-Wäscherei, versucht dunkle hartnäckige Flecken in der Wäsche weisszuwaschen. Später versucht auch ihre Tochter Shanna, unerschöpflich das Böse dieses Ortes wegzuzwaschen. Reinwaschen als Metapher fürs Verdrängen schrecklicher Tatsachen. Hier, im «Schacht ¾» eines Bergbaus lagern bis unter die Erdoberfläche aufgeschichtet Leichen, erschossen und ermordet durch verschieden Aggressoren:

Unter uns liegen von den Deutschen erschossene Soldaten der roten Armee. Unter ihnen die Gefangenen sowjetischer Gefängnisse, erschossen von den Bolschewiki beim Rückzug der roten Armee. Unter ihnen sind weisse, rote, grüne und zufällige Ansässige, als Geiseln genommen und hingerichtet im Bürgerkrieg von den vorrückenden und sich zurückziehenden Truppen… Und unter ihnen sind die getöteten Streikenden der ersten Revolution von 1905.

Eine dunkle Geschichte mit vier ProtagonistInnen zwischen Schuld und Versöhnung, Geschichtsbewusstsein und Vergessen, Verlassenheit und Wut.
Neben Marianna, die «Beschützerin», die an Krebs stirbt, und ihrer Tochter Shanna erscheint Valet, ein früherer Nachbar von Shanna, der «gehärtet und abgedroschen» von Moskau zurückkehrt, um die prorussischen Separatisten zu unterstützen und Shanna endlich zu entführen. Er schenkt ihr einen teuren Lippenstift, den er einer Leiche aus dem abgeschossenen Flugzeug entwendet hat. Auch General «Korol», ein typischer KGB-Offizier, welcher Mariannas Akte unter «Schneewittchen» notiert hat, kehrt an diesen Ort zurück, überwacht die «Totenkammer», Schacht ¾, damit der Bevölkerung keine unnötigen Fragen kamen. Als innere Stimme, als Geist, lässt Lebedew einen jüdischen Ingenieur sprechen:

Daraufhin wurde eine neue Waffe geboren: der lange Arm des Todes, der bis über den Ärmelkanal reichen konnte. Eine vollendete Form, ein Hai der Lüfte, ein Gerät ohne Menschen darin. Es war die V2… Als man uns im Frühjahr 1942 tötete, wurden sie bereits produziert, getestet und vorbereitet. Zwangsarbeiter setzten sie zusammen – lebende Tote. Damit sie andere Menschen in Tote verwandeln konnten.

Erschüttert und nachdenklich lege ich das Buch weg. Metaphorisch etwas überladen zeigt dieses düstere Buch nachhaltig, was Kriege mit uns Menschen machen. Ein Mahnmal! Mit Hoffnung?
Ich bin gespannt auf deine Eindrücke und grüsse herzlich

Bär

© Ada Kopec-Pawlikowska

Ishbel Szatrawska, 1981 in Olsztyn (ehemals Allenstein, Polen) geboren, studierte polnische Literatur und Theaterwissenschaft an der Jagiellonen-Universität in Krakau, wo sie heute lebt und schreibt. Sie ist Autorin von sechs Theaterstücken. Ihr Debütroman «Toń» (dt. «Die Tiefe») stand auf Platz eins der Bestsellerliste für polnische Literatur und wurde zu einem der «10 besten Bücher des Jahres» gewählt.

Andreas Volk, 1971 in Idar-Oberstein geboren, lebt seit bald zwanzig Jahren als Literaturübersetzer in Warschau. Er übersetzte bereits Ishbel Szatrawskas Theaterstück «Totentanz. Schwarze Nacht, schwarzer Tod». 2013 wurde er mit dem Übersetzerpreis der Vereinigung der polnischen Bühnenautoren und -komponisten Zaiks und 2022 mit dem Karl-Dedecius-Preis ausgezeichnet.

Sergej Lebedew wurde 1981 in Moskau geboren und war viele Jahre auf geologischen Expeditionen im Norden Russlands und in Zentralasien unterwegs, bevor er zu schreiben anfing. Sein erster Roman «Der Himmel auf ihren Schultern» stand auf der Longlist des russischen Nazbest-Preises 2011. Zuvor sind in Russland seine Gedichte, Essays und journalistischen Texte erschienen. Lebedew lebt seit 2018 in Potsdam.

Franziska Zwerg, geboren 1969, studierte in Berlin und Moskau Slawistik, Germanistik und Theaterwissenschaft und übersetzt zeitgenössische russische Literatur, neben den Romanen von Sergej Lebedew u.a. Werke von Dmitry Glukhovsky, Viktor Martinowitsch, Viktor Remizov.

Nora Gomringer «In mir taucht der Krieg auf», Plattform Gegenzauber

In
mir
taucht
der
Krieg
auf

Fragt: Du bist überrascht?

Ich sag: Na, der Form halber.

Sagt er: Ich hab Konjunktur. Schreib drüber!

Sag ich: Angeber. Hat Brecht schon.

Sagt er (mit lauter Monsterstimme):
Ich bin der Vernichter.

Sag ich: Du bist in mir ein Hall und Jammer.
Ich halt dich ein, werd innen schwarz,
bleib außen Alabaster, bis die Glut durch dringt.
Dann stehst du da. Verbrennst
die mir zu Hilfe eilen wollten.
So vermehrst du dich als Infektion,
Entzündung aller Wunden.

Sagt er: Du hast es dir schon ausgemalt.

Sag ich: Kenn’ dich wie Abel. Kenn’ dich doch ewig.

Sagt er mir (sanft an mich gelehnt, sein Atem köstlich, so warm im Nacken
alles wie immer alles, nicht ohne Melodie):
Ich bin der Funke.
Im Dunkeln bin ich der hellste Punkt.

(aus Nora Gomringer «Gottesanbieterin», Voland & Quist, Berlin, Dresden & Leipzig, 2020)
Immer öfter lässt sich Nora Gomringer die Gretchen-Frage stellen, sie antwortet in Essays, Reden, Geschichten und natürlich: in Gedichten. Das geschieht oft komisch und mit einem Augenzwinkern, ihr und jedes Gläubigsein ist persönlich. Die Lyrikerin hat sich zuletzt mit irdischen Ängsten, Krankheiten und Phänomenen des Oberflächlichen beschäftigt, doch das Metaphysische wohnte dem schon immer inne – und denken wir an Gomringers Wanderung mit einem lispelnden, über die Einsamkeit des Menschen sprechenden Hermelin, so wundert es kaum, dass erneut eine tierische Begegnung Auslöser für die in diesem Band versammelten Gedichte ist: Schon vor vielen Jahren traf die Dichterin auf eine riesige Heuschrecke im US-amerikanischen Hinterhof ihrer damaligen Gastfamilie: die Gottesanbeterin. Es war diese einstündige Begegnung des Schweigens, die Gomringer zur Hinterfragung des irdischen Seins und der Vielgestaltigkeit von Religion gebracht hat, jenem »geschmacksverstärkenden, mal verträglichen, mal unverträglichen Glutamat des Seins«. (Verlagstext)

 

Liebesrost

Liebesrost
Über Nacht
Bist du oxidiert
Neben mir

Hast auf mich reagiert
Bist rostig geworden
Du sagst
Golden
Ich lecke an deinem Hals
Du schmeckst wie der
Wetterhahn

(aus Nora Gomringer «Mein Gedicht fragt nicht lange reloaded», Voland & Quist, Dresden & Leipzig. 2015. S. 168)
Nora Gomringers Gedichte sind viel herumgekommen. Daher haben sie Sieben-Meilen-Stiefel an den Versfüßen und manchmal einen recht breitbeinigen Gang. Dazu eine laute Stimme und manchmal ganz schön viel Attitüde. Doch manche von ihnen haben Katzensohlen, zarte, bebende Haut, sind verweht, fast noch bevor sie ausgesprochen wurden, sind zum Still-für-sich-Lesen statt zum Deklamieren geeignet. (Verlagstext)

Nora Gomringer, geboren 1980, hat zahlreiche Lyrikbände vorgelegt und schreibt für Rundfunk und Feuilleton. Neben zahlreichen anderen Auszeichnungen sowie Aufenthaltsstipendien in Venedig, New York, Ahrenshoop, Nowosibirsk und Kyoto wurde ihr 2012 der Joachim-Ringelnatz-Preis für Lyrik zuerkannt. 2015 erhielt sie den Ingeborg-Bachmann-Preisund 2019 war sie Max-Kade-Professorin des Oberlin College and Conservatory in Ohio. 2022 wurde Nora Gomringer mit dem Else Lasker-Schüler-Preis ausgezeichnet. Nora Gomringer lebt in Bamberg, wo sie das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia als Direktorin leitet.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Judith Kinitz

Nora Gomringer «Krippel“, 2. unschöne Weihnachtsgeschichte

Weiß man gar nicht, wie dunkel die Zeit der Lichter ist, bevor einer darin stirbt, statt geboren zu werden. Ähnlich ist, was sie dir ins Haus tragen, wenn du dann alle wissen lassen musst: Wir haben einen verloren. Myrrhe, Weihrauch, zu wenig Gold. Keiner bringt die Windeln mehr, die Sanitärartikel, keiner rollt die Augen, weil die Rezepte immer zum Freitag auslaufen und die Stürze als Regel immer tief in der Nacht, früh am Morgen ebenfalls zum Wochenende hin geschehen. Keiner telefoniert mehr wie wild. Und keiner weint, weil der Schnee selbst unwissend fällt. Die Natur ist Komplizin ihrer selbst, lacht ein bisschen über dich, weint verstohlen ein bisschen mit dir. Hast eine ganz neue Landkarte und wünschtest, da wäre ein Esel, ein Ochse. Ein paar große Tiere, die dich ablenken, deren Umsorgung eine Anstrengung wäre. So bist du nur ein Lebewesen ohne den anderen und das zur Weihnachtszeit. Vielleicht selbst der Ochse, der Esel – ein Tier, das man waschen und füttern muss, trotz schwerer Hufe, die man kaum anheben kann. Liegen da die Strümpfe, die engmaschigen, hautfarbigen, die man kaum über Beine und Hände zwingen konnte. Liegen da die Unmengen an Handtüchern, die Unfälle vermeiden, rasch ungesehen machen sollten. Liegen da Brille und Zähne. Engel kommen und gehen, sie lassen Federn. Das Haus wird ein Flughafen. Du hältst die aufwirbelnden Blätter fest: Fotos, Einkaufs- und Notizzettel, Beweise der Handschrift einer Hand, die nie mehr sichtbar werden wird. Du begreifst und verschiebst und verschreibst dich der Erinnerung, wirst ihr Besitzer, hängst ein Schild an dein Hirn: Cave Canem. Dieser Hund wird beißen, wer deiner Erinnerung widerspricht. Diese Phase – alles wird phasisch – hält an, wird groß und wild, deine Tränen waren nie feuchter. Nach dem Grab kommen der Frühling, das Auferstehen. Und schon im Sommer sind die Gedanken wieder voller Kerzen und du machst Yoga und lernst neue Rezepte für den Winter. Darin wird alles Schleife. So eine um die Geschenke, so eine im Hirn. Im Gottesdienst wird noch einmal der Name erwähnt, da klingt er schon fremd und wie Legende. Dann ist Weihnachten. Und die, die übrig sind, schlafen vor der Mitternacht. Schlafen im Stroh, träumen von sprechenden Tieren.

Nora Gomringer hat zahlreiche Lyrikbände vorgelegt und schreibt für Rundfunk und Feuilleton. Neben zahlreichen anderen Auszeichnungen sowie Aufenthaltsstipendien in Venedig, New York, Ahrenshoop, Nowosibirsk und Kyoto wurde ihr 2012 der Joachim-Ringelnatz-Preis für Lyrik zuerkannt. 2015 erhielt sie den Ingeborg-Bachmann-Preis und 2019 war sie Max-Kade-Professorin des Oberlin College and Conservatory in Ohio. 2022 wurde Nora Gomringer mit dem Else Lasker-Schüler-Preis ausgezeichnet. Nora Gomringer lebt in Bamberg, wo sie das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia als Direktorin leitet.

2. Weinfelder Buchpreis: Noemi Somalvico «Ist hier das Jenseits fragt das Schwein»

Katharina Alder verlieh als Initiatorin, Organisatorin und Sprecherin der Jury des 2. Weinfelder Buchpreises den mit 4000 Franken dotierten Literaturpreis an die junge Schriftstellerin Noemi Somalvico. Eine mutige Entscheidung für eine mutige Schriftstellerin mit einem mutigen Debüt.

Die fabelhafte Welt der Noemi Somalvico – Laudatio an das Gewinnerbuch «Ist hier das Jenseits, fragt Schwein» 

Schwein, Dachs und Gott begeben sich in Noemi Somalvicos charmantem Romandebüt gemeinsam auf Sinnsuche. Sie reisen ins Jenseits, wo sie in einem Hotel am Meer verweilen. Dort macht Schwein einen Tanzkurs, Dachs spielt Tennis und Gott verbringt viel Zeit im Bett.

Klingt kurios, oder? So erscheint einem Somalvicos falbelhafte Welt zunächst auch. Eine Fabel ist ihr Erstling Ist hier das Jenseits, fragt Schwein jedoch nicht. Obwohl Tierfiguren mit ziemlich menschlichen Eigenschaften die Erzählung tragen. Und obwohl der formale Aufbau des Romans sich durchaus für die Vermittlung von Moral eignen würde: Das schmale Buch ist in kurze Kapitel geteilt, die man auf den ersten Blick für Lektionen halten könnte. In ihnen spielen das Dreiergespann Schwein, Dachs und Gott die Hauptrollen – und noch viele weitere Tiere haben einen Auftritt, darunter das Reh, ein Fisch und ein zwielichtiger Hase.

Aber Somalvico verfällt nicht einem moralisierenden Ton. Die Lebensweisheiten, die hie und da dennoch vorkommen, wirken daher nie belehrend, sondern unkompliziert erfrischend. Wie wenn da steht: «Dem Himmel ist heute keine Farbe gelungen. Wenn es in schwierigen Zeiten auf etwas ankommt, dann aufs Licht». Mit dieser Beobachtung zeigt Somalvico ihr Talent, einen kindlichen Blick auf die Welt zu wahren – nicht naiv, sondern neugierig, unverfroren und ehrlich.

Auch nutzt sie ihre Tierfiguren nicht aus, um unsere menschlichen Lebens- und Verhaltensweisen satirisch vorzuführen. Nein, die junge Schweizer Autorin begegnet ihnen stets auf Augenhöhe. Und hat dabei ein Gespür fürs Zwischenmenschliche.

Als zum Beispiel das Reh verlassen wird und sagt, dass es noch nie so traurig war, legt sich Schwein zu ihm und «sorgt dafür, dass stets ein Bein oder sein ganzer Rücken gegen Rehs Körper drückt. Reh soll wissen, dass Schwein sich nicht verschieben oder gar verschwinden wird». Und auch als Schwein lieber im Jenseits bleiben würde, obwohl es Gott dort nicht gut geht, bleibt Somalvicos Sprache feinfühlig. Dem Schwein ist halt «das Herz in den Kopf gestiegen». Aber dann stürzt es doch bei «knapp 30 Grad im Schatten» an Dachs vorbei in Gottes Hotelzimmer und weint «alle Tränen, die es in der glücklichen Jenseitswoche nicht geweint hat».

Somalvicos Werk ist also keine Fabel. Was aber nicht heisst, dass ihrer wunderlichen Welt die Moral abhanden gekommen ist. Es fällt auf, dass die Autorin ihren Figuren anerkennend und wertfrei begegnet – so bleibt zum Beispiel das Gender der Charakteren bis zum Schluss offen. Auch dem Publikum wird keine Lesart aufgezwungen. Das Büchlein lässt sich einfach geniessen, kann aber auch diskutiert werden. Etwa im Hinblick die ethische Verantwortung gegenüber anderen, Gottes Existenz oder, nun ja, Tiersymbolik.

Mit Ist hier das Jenseits, fragt Schwein gelingt der Autorin also ein Balanceakt zwischen schlicht und wunderlich. Ihre literarische Welt kommt unbemüht vielschichtig, überraschend zauberhaft und doch altbekannt daher. Eine Lektüre lohnt sich für alle, die schon mal Fernweh hatten – und sich zugleich nach einem Zuhause sehnen.

Würdigung «Culturestress» von Sarah Elena Müller

Wenn man, um kurz ein Velo zu mieten, zuerst ein Abo abschliessen muss (aber zumindest noch einen Haselnussmilch-Latte dazu bekommt), wenn posttraumatische Verbitterungsstörungen in der «Post-Nüüt-Ära» überhand nehmen, wenn kleine Nager mit ihrer toxischen Mäuslichkeit hadern, oder wenn der Samichlaus vom Sonderkommando niedergerungen wird – ja spätestens dann ist man mitten im «Culturestress» angelangt. Sarah Elena Müllers Kolumnensammlung nimmt die Leser:innen mit auf eine Reise durch die durchdigitalisierte, selbstoptimierte, spätkapitalistische Horrorshow, die wir unsere Gegenwart nennen. Die siebenunddreissig Kurztexte sind sprachlich treffsicher und mitreissend, es sind Kolumnen, die auch auf einer Poetry-Slam Bühne nicht fehl am Platz wären. Müllers Ton ist manchmal hässig, manchmal staunend, manchmal beissend, manchmal resigniert – immer gefühlt am Rand der Klippe, immer so lustig wie abgründig: «Du chasch no dis PhD mache, aber d Welt gaht unter. Du chasch no öppis publiziere, bi me Verlag, vilich chasch du das, aber d Welt gaht unter.» Wir freuen uns trotzdem auf ihren ersten Roman, der nächstes Jahr erscheinen wird.

Würdigung «Die Dinge beim Namen» von Rebekka Salm

Gleich im ersten Kapitel versucht sich ‘der Vollenweider’ als Autor. Endlich will er «die Wahrheit» über den unheilvollen Unterhaltungsabend im Jahr 1984 veröffentlichen – mit dem Ziel vor Augen, «die Dinge beim Namen zu nennen». Die Leerstelle in Rebekka Salms Romantitel Die Dinge beim Namen weist aber darauf hin, dass sich ihre Erzählweise deutlich von der ihrer Figur unterscheidet. Sie will in ihrem Roman nicht einfach be-nennen, von einer einzigen Wahrheit zu sprechen liegt dem Text fern. Stattdessen kommen die Figuren selbst zu Wort: Aus der Perspektive von zwölf Bewohner:innen wird die Geschichte eines Dorfes geschildert. Zusammengehalten werden diese unterschiedlichen Erzählstränge von jenem Abend im Jahr 1984, um den der Text kreist. Man erfährt von den allgegenwärtigen Träumen, der Beengung des Dorfes zu entkommen, von falschen Entscheidungen mitsamt deren Auswirkungen auf die Bewohner:innen und das Zusammenleben und vor allem von den Geschichten und den Gerüchten, die im Dorf die Runde machen. Mit seinem polyphonen Aufbau zeigt Rebekka Salms Roman, dass es eben doch nicht nur eine Geschichte ist, die sich über dieses Dorf, über den Unterhaltungsabend und über einen vermeintlichen Zuckerrübendiebstahl erzählen lässt, ganz im Gegenteil: Die verschiedenen Perspektiven ergänzen und korrigieren sich, sie widersprechen einander und ergeben zusammen doch ein kohärentes Bild. Nicht nur ist dies geschickt erzählt, sind die einzelnen Figurenperspektiven gelungen zusammengefügt, es macht auch Spass, diesen Text zu lesen.

Würdigung «Gegen Gewicht» von Andri Bänziger

Andri Bänzigers Erstling «Gegen Gewicht» besticht durch seine Leichtigkeit, mit der er sich durch schwere Themen manövriert. Den Brocken Depression, Psychose und Behinderung nimmt sich der Roman mit einer unaufgeregten, geschmeidigen Sprache und einer genauen Schilderung der Figuren an. Die viel gelesene Erzählung von Beziehung, Familie und sich später einschleichenden Problemen stellt er dabei auf den Kopf. Hier ist zuerst alles schwer und wird später leicht. Diese Umkehrung ist erfrischend, weil neu. Die Beziehung zwischen der Ich-Erzählerin und ihrer Tochter gestaltet sich zunächst schwierig. Da ist ein Kind, das purer «Rock» ist – keine Konvention kennt und nichts und niemandem gehorcht. Und da ist eine Frau, die eine zynisch-distanzierte Haltung hat, sogar wenn sie sieht, wie ihr Kind nicht in diese Welt passt. Als Lesende muss man dem beleidigenden, zuweilen aggressiven Verhalten der Tochter zuschauen, Wut und Fremdschämen inbegriffen. Dass man diese Gefühle nicht mit der Mutter teilt, ist umso befremdender. Sie sagt von sich, dass sie eine Mauer aufgebaut hatte, um ihre jahrelang angestauten Probleme zu verdrängen. Der Tochter gelingt es schliesslich, diese Mauer niederzureissen. Dass hinter einer gefallenen Mauer nicht nur Leichtes, sondern auch noch mehr Schweres zum Vorschein kommen kann, blendet der Roman aus. Nichtsdestotrotz birgt er auf vielen Ebenen – wie der der Figuren und der Sprache – Potenzial und wirft die Lesenden auf ihr eigenes Verstehen von (Ab-)Normalität zurück.

Würdigung „Vom Onkel“ Rebecca Gisler

In Rebecca Gislers Roman „Vom Onkel“ bestimmen die Marotten eines Onkels den Alltag: Am liebsten schaut er die blutrünstigsten Horrorfilme, verschlingt Berge an Wurstbroten und Keksen und leert kanisterweise Bier und Limonade. Der Blick der Autorin auf ihren Helden aber bleibt stets von einer faszinierenden und vorallem auch schillernden Präzision: Dieser Onkel ist naiv, kindlich, kindisch, komisch, tragisch, traurig, unberechenbar, auch animalisch, bedrohlich, erhaben und noch vieles mehr. So wie die Sprache an diesem Sonderling (oder Sonderding?) immer wieder abgleiten muss, so unangepasst ist der Onkel auch sozial. Unter der mitziehenden Komik des Skurrilen also verstecken sich durchaus auch neuralgische Punkte einer latenten Gesellschaftskritik. Man könnte sogar sagen, eine gnadenlos irdisch-materialistische Ökonomie prägt den Roman. Was nämlich in den Körper des Onkels eintritt, das sammelt sich in ihm an oder es wird ihn auch wieder verlassen müssen. Rebecca Gisler gelingt eine ausdrucksstarke, aufdeckende und somit treffende und aktuelle Groteske, die unser Bedürfnis nach Konformität und klinischem Oberflächenglanz herausfordert. Zum Lesen ist das unbedingt reizend – und zwar bewusst auch im Sinne einer lästigen Hautstelle, die weiterhin juckt, egal wie oft man sie noch kratzen wird. 

Rezension Preisträgerbuch von Aline Tettamanti 

Rezension Preisträgerbuch von Caterina John

Noemi Somalvico «Ist hier das Jenseits, fragt Schwein», Voland & Quist, an den Weinfelder Buchtagen

Selbstfindung im Fabelkleid

Mit Gott, Schwein und Dachs durch Welten und Wüsten; Noemi Somalvicos Debutroman «Ist hier das Jenseits, fragt Schwein» begleitet eine skurrile Reisetruppe auf ihrer Suche nach dem Paradies.

Gastbeitrag von Aline Tettamanti
Aline Tettamanti studiert Deutsche und Englische Philologie in Basel. Ansonsten überarbeitet sie Texte und schreibt Kurzgeschichten, Gedichte und Lieder.


Die Geschichte beginnt, nachdem für Schwein die Welt zu Ende ging: Biber ist weg, und Schwein sitzt in einer stillen Wohnung mit einem biberförmigen Loch in der Brust.
In einer anderen Welt schleicht sich Gott von einer Party, schliesst sich auf dem stickigen Dachboden seines Hauses ein und sieht durch seine Fernbrille der Welt beim Drehen zu. Man sollte die Erde keinem Melancholiker überlassen, denkt Gott, als er Schwein am Küchentisch weinen sieht. Die Wesen, die darauf leben, werden nach seinem Ebenbild geschaffen sein.

Doch weder Schwein noch Gott haben lange Zeit, sich in ihrem Selbstmitleid zu suhlen: Dachs tüftelt an einem Apparat, mit dem er zwischen Welten reisen kann – und trifft auf der anderen Seite prompt Gott, als dieser auf dem Velo auswandern will.
Während Gott Dachs das «Du» anbietet, gewinnt Schwein im Radio eine Wüstentour und findet sich stattdessen mit Dachs auf Gotts Balkon. Aus Fremden werden Freunde, und aus Freunden wird eine Reisetruppe, die sich auf den Weg ins Jenseits begibt, um einen Fisch zu suchen.

Noemi Somalvico «Ist hier das Jenseits, fragt Schwein», Voland & Quist, 2022, 142 Seiten, CHF 26.90, ISBN 978-3-86391-321-2

Auf der Erde verbringt Reh eine Nacht mit Hirsch und lässt das Herz auf dessen Nachttisch zurück. Im Jenseits steckt Gottes Reisetruppe in der Wüste fest, und Gott schliesst sich in einer Telefonkabine ein. Reh beschliesst, unabhängig von seiner abhängigen Mutter und dem Nachbild von Hirsch für sich selbst zu leben. Gottes Reisetruppe findet im Sand versteckt das Paradies in Form von Hotel Jenseits: Gott liegt wie ein gestrandeter Wal im Sand, Schwein verführt seinen Tangolehrer und Dachs ist gänzlich unbeeindruckt von dem Kitsch, den das Paradies zu bieten hat. In allen Dingen, in jeder Lampe und jedem Stück Stoff sah er einen Versuch von Eleganz und in jedem Ding ist dieser Versuch gescheitert.

Die Geschichte springt hin und her zwischen Welten und den darin lebenden Figuren. Mit Fingerspitzengefühl und viel Liebe zum Detail verknüpft Somalvico die verschiedenen Schicksale in einem bunten Teppich. Schweins Selbstsuche, Dachs’ Erfinderneugier, Gottes Burn-Out und Rehs Liebeskummer verstricken sich immer stärker miteinander, bis sie nicht mehr voneinander zu trennen sind.
Auf ihrem Abenteuer lernen die Freunde, sich an das «Jetzt» zu wagen, ohne der Vergangenheit nachzutrauern – ob das nun die Beziehung zu Bibern und Hirschen betrifft, den sicheren Job oder den Fisch in Gottes Gang.

In der ganzen Geschichte treten ausschliesslich Tiere und Götter auf, Menschen sind in dem Buch keine zu finden. Trotzdem sind die Figuren so menschlich, dass es leicht ist zu vergessen, was Schwein und was Gott ist.
Das Ganze erinnert an eine Fabel, doch Somalvico haucht der traditionellen Gattung neues Leben ein. Ihre Kreaturen leben in einer modernen Welt und stellen sich modernen Problemen. Anstatt zu moralisieren, begleitet die Geschichte die Figuren auf ihrer Suche nach Identität.

Die wiederkehrenden Motive von zunächst belanglos wirkenden, schlichten Gegenständen und Nebengedanken verleihen der absurden Handlung ein Gefühl von Vertrautheit. Obwohl die Reise ins Jenseits führt, rückt die Geschichte nicht den Kosmos, sondern vielmehr die kleinen Dinge des Alltags ins Rampenlicht. Wer sich also vor pseudo-philosophischen Auseinandersetzungen mit Religiosität scheut, hat hier nichts zu befürchten.

In den 144 Seiten stecken so viele Motive, Themen und Parallelen, dass sich auch beim zweiten und dritten Mal Lesen immer wieder etwas Neues finden lässt. Somalvico spielt gekonnt mit Assoziationen und schafft zarte Szenen, die trotz ihrem traumhaften und sonderbaren Charakter direkt aus dem Leben gegriffen zu sein scheinen.
Dieses Buch ist ein Genuss für neugierige, experimentierfreudige Lesende, die sich einen gemütlichen Abend gönnen möchten. Ein sehr gelungener Debütroman, der gespannt auf weiteres macht.

(Dieser Text entstand im Rahmen eines Seminars zur Literaturkritik im Frühjahr 2022 an der Uni Basel, Seminarleitung: Daniel Graf, Literaturkritiker beim Republik Magazin.)

Noemi Somalvico, 1994 in Solothurn geboren, studierte Literarisches Schreiben in Biel, contemporary arts practice in Bern und ging dazwischen allerlei Beschäftigungen nach. Sie arbeitete für den Film, in Schulen, an Empfängen. Ihre Erzählungen und Lyrik wurden in Zeitschriften und Anthologien abgedruckt, im Dunkeln performt und im Radio vorgelesen. „Ist hier das Jenseits, fragt Schwein“ ist Somalvicos Debütroman.

Noemi Somalvico «Ist hier das Jenseits, fragt Schwein», Voland & Quist

Allzu menschlich

In ihrem Debütroman «Ist hier das Jenseits, fragt Schwein» erfindet Noemi Somalvico einen Gott, der im Wohnzimmer eine Erde erschafft. Schwein und seine Freunde ringen dort mit tristen Alltäglichkeiten.

Gastbeitrag von Caterina John
Caterina John studiert Deutsch und Kulturanthropologie an der Universität Basel. Sie ist in verschiedenen Projekten zu kreativem Schreiben mit Jugendlichen involviert, besonders im SpokenWord-Bereich, und tritt selbst als Slam-Poetin auf.

In Schweins Wohnung ist es still, als hätte es geschneit. Ernüchternd beginnt die junge Schweizer Autorin ihren Roman, dessen Titel augenblicklich an eine Geschichte aus dem Hundert-Morgen-Wald denken lässt und wie eines der schönen Fernweh-getränkten Zitate Ferkels klingt. Somalvicos Roman ist keine Kindergeschichte, obwohl die Figuren darin fast ausschliesslich Tiere sind. 

Und obwohl zu Beginn drollige Bilder von einem Schwein mit Lippenstift und Lidschatten, Dachs mit Hornbrille und Reh im Badeanzug entstehen, so werden sie schnell durch die sehr realen und ernsten Gedanken und Probleme der Figuren verdrängt, sodass ihre tierische Bezeichnung beinahe als Eigenname durchgehen kann: Schwein wurde von Biber verlassen und ist wieder allein, gewinnt im Radio eine Wüsten-Reise, Reh kann Schwein nicht begleiten, denn sein Job, die kranke Mutter und eine scheinbar romantische Beziehung mit Hirsch halten es zurück. In einer heruntergekommenen Baracke in derselben Stadt tüftelt Dachs in seiner Werkstatt und erfindet (per Zufall?) einen Apparat, der ihn «hin» und «zurück» -bringen kann. Und so trifft Dachs im «Hin» plötzlich auf Gott, der mit seinem Fahrrad gerade auswandern wollte. 

Somalvico schreibt einen Roman, der lyrischer nicht sein könnte. Jeder Satz sitzt, klingt und hallt nach – trotz der absurden Bilder oder gerade deswegen. Tiere werden vermenschlicht, fahren Bus und lehnen Bettelnde peinlich berührt ab. Auch die Ortschaften, die im Roman genannt werden, kommen bekannt vor, doch wie die Tiermenschen stimmen auch sie mit unserer Realität nicht ganz überein: Schwein gewinnt eine Reise in die Halakari-Wüste, ginge jedoch lieber nach Las Gevas. Wortspiele und Witz bleiben trotz Poesie nicht aus oder entstehen gerade durch die tierische Zuschreibung. So erinnert sich Schwein an folgende Aussage Bibers: «Du bist zu nah am Wasser gebaut.» 

Mit seinem Apparat ist Dachs in Gottes Welt geraten, in der Gott ein depressiver, trainerhosentragender Hipster oder Nerd ist, der in seinem Wohnzimmer die Erde erfunden hat und seine Tage mit erdsehen verbringt. Seine Schwester bemitleidet ihn, will ihn dauernd zum Joggen motivieren und belächelt sein Flair für Kreise, die in seinem System auffällig oft vorkommen. Dass nun seine Erfindung bei ihm auftaucht und ihn siezt, schmeichelt und irritiert ihn zugleich. Dachs und Gott freunden sich an. Beim zweiten Besuch bringt Dachs Schwein mit, das viele Fragen an Gott stellt. Die drei verbringen mehr und mehr Zeit zusammen, bis Gott den Wunsch äussert, die Erde zu besuchen – ein Versuch, der scheitert, denn wohl kann er nicht Zurück, wenn er nie Hin gegangen ist.

Also beschliessen die drei Freunde, ins Jenseits zu gehen, das sich zuerst als endlose Wüste offenbart – bis sie in ein All-Inclusive-Hotel gelangen und dort verweilen, Tanzkurse besuchen, den Bananen beim Wachsen zusehen und sich in der Sonne bräunen. Schwein verliebt sich, Gott sieht zum ersten Mal das Meer und Dachs ist besorgt, denn sein Apparat wurde auf der Reise beschädigt.

Es entfaltet sich eine Geschichte, die aus einem Fiebertraum oder Drogen-Trip zu kommen scheint. Absurd, wunderbar und erschreckend vertraut sind die Gefühle von Freundschaft und Verbundenheit, die per SMS-Kontakt bis hin zu Reh auf der Erde führen. In seinen kurzen Episoden erinnert der Roman an die 2020 erstmals ausgestrahlte Animationsserie von Pendelton Ward und Duncan Trussel «The Midnight Gospel». Ähnlich wie die Serie verrückt der Roman unser Bild der Erde, Schöpfungsvorstellungen und -geschichten und unsere Befremdung inmitten eines unendlichen Universums. Schwein, Dachs, Reh und Gott finden zueinander und zu sich selbst. 

Noemi Somalvico ist ein Roman gelungen, bei dessen Ende eine Stille einkehrt, so als hätte es geschneit. Und diese Stille hallt noch lange nach.

(Dieser Text entstand im Rahmen eines Seminars zur Literaturkritik im Frühjahr 2022 an der Uni Basel, Seminarleitung: Daniel Graf, Literaturkritiker beim Republik Magazin.)

Noemi Somalvico, 1994 in Solothurn geboren, studierte Literarisches Schreiben in Biel, contemporary arts practice in Bern und ging dazwischen allerlei Beschäftigungen nach. Sie arbeitete für den Film, in Schulen, an Empfängen. Ihre Erzählungen und Lyrik wurden in Zeitschriften und Anthologien abgedruckt, im Dunkeln performt und im Radio vorgelesen. «Ist hier das Jenseits, fragt Schwein» ist Somalvicos Debütroman.

Autorin im Gespräch: Buchpremiere im Literaturhaus Berlin am 15.02.22

Beitragsbild © Tim Rod

Olivia Kuderewski «Wenn man in den Westen fährt», Plattform Gegenzauber

Wenn man in den Westen fährt, hat man die Sonne jeden Morgen im Rücken. Sie treibt einen in den eigenen Schatten und brennt auf den Hinterkopf, bis die Reste des Vorangegangenen verdampfen und träge in der Luft stehen bleiben, während man selbst nur noch ein Motorengeräusch in der Ferne ist.

Jeder, der sagt, ein Land kann man nicht vom Highway aus entdecken, hat recht. Hier muss ja auch gar nichts mehr entdeckt werden. Wenn man aber schnell fährt, über eine gewaltige Landmasse auf einer geraden Umlaufbahn, stundenlang und ununterbrochen, bis auf ein paar Kaffeepausen in den Diner, die immer gleich sind von Ost nach West, dann bekommt man eine Ahnung von der Masse und Oberfläche der Welt. Auf der Umlaufbahn unterwegs zu sein, wird dann interessanter als alle Details im Inneren des Landes, denn man kann hier zusehen, wie sich die Erde in schnellen und groben Zügen umformt, unter einem Himmel, der sich ständig bewegt. Man sieht das Grundgerüst. Man sieht, wie sich die endlosen, flachen Maisfelder, durch deren Halme morsend die Abendsonne blitzt, irgendwann in Hügel verwandeln, und wenn man weiterfährt, sieht man durch die Windschutzscheibe, wie sich eine gezackte Wand aus dem Nichts materialisiert.

Eine Steinwand, die sich wie ein Scherenschnitt auf einen zuschiebt, bis man herunterschalten und hinauffahren muss ins Gebirge. Bis man die Fenster hochfahren muss, weil es immer kühler wird und der Wind schärfer und das Gestein immer grauer, splitternder und härter. Bis man auch die Baumgrenze passiert, dünne Luft, und am höchsten Punkt treibt der schnelle Wind Wolken auf Sichthöhe vorbei, denen man ungläubig hinterherglotzt.

Aber dann fährt man einfach wieder runter. Sieht die blauen Seen in die Täler gegossen, schlängelt sich halsbrecherisch an den Kanten der Abhänge entlang, und die Bäume vermehren sich wieder, stehen wieder dichter, werden zu Wald, Nationalwald, man fährt durch nationale Waldkathedralen, ein Baum nach dem anderen rast vorbei, und man kann die Fenster wieder öffnen, es riecht nach Harz, und man muss weniger und weniger bremsen, irgendwann muss man gar nicht mehr bremsen und rollt erleichtert wieder auf eine Ebene, auf der der Boden immer trockener wird.

Dann tauchen plötzlich diese bizarren Steinformationen auf. Erdrot vor dem jetzt wolkenfreien Himmel. Diese Bogen, die aussehen wie aus dem All gefallen, die der Wind aber eigentlich aus einem Urzeit-Meeresgrund herausgeweht hat, Staubkorn für Staubkorn, und die Canyons tauchen ebenso plötzlich auf, stürzen schockierend neben einem in die Tiefe, dieser viel zu steile Abgrund, an dem man sich ängstlich und mit offenem Mund vorbeistiehlt, weil er so erdzeitalt ist.

Aber selbst das verschwindet wieder, wenn man weiterfährt, und verliert seine Farben. Bleicht aus, bis man in den graugelben Staub kommt, der zu Hügeln zusammengepresst ist, abgerundete Hügel, die der seltene Regen schraffiert, durch die er Netze gezogen hat, die wieder erhärtet und stehen geblieben sind, als Sehnsucht nach dem Wasser, und man fährt die Fenster mit diesem elektrischen Surren wieder nach oben, dreht die Klimaanlage auf Anschlag, fährt einfach weiter, bis es anfängt, vor Hitze zu flimmern am fatamorganischen Horizont unter dem Meeresspiegel, dort, bei den Kakteen und den stacheligen Silberbüschen.

Da kommt man an den Punkt, an dem vor Hitze alles stillsteht. Auch der Wind. Aber wenn man sich nicht davon aufhalten lässt, sich nicht irritieren, einschläfern, umbringen lässt von der Hitze und dem kaum vorhandenen Herzschlag des Landes, wenn man doch weiterfährt, sich langsam hindurchquält, sozusagen über den Tod hinausfährt, ins Jenseitige, wenn man diese lang gezogene Durststrecke aushält, auf der man sich mit der mittlerweile keuchenden Klimaanlage und den fast leeren Wasserkanistern im Kofferraum bedroht, ausgetrocknet, zum Überleben gezwungen fühlt, dann kommen endlich die Palmen.

Man lässt die Fenster wieder herunter, und der Wind streicht einem die Haare aus dem Gesicht, riecht nach feuchtem Salz. Man schaltet das Radio an und singt wieder mit, denn man weiß ja, was kommt, wenn man jetzt weiterfährt, auf direktem Weg, wenn man jetzt noch den Rest schafft, brennend ungeduldig bis ans Ende des Landes, bis an seine Kante, sein Ufer, seine Auflösung im ewig wogenden Meerwasser, in das man sich nach all diesen Strapazen hineingleiten und in dem man sich sauber waschen lässt.

Und während man so fährt, stundenlang, tagelang, wochenlang, geht jeden Morgen die Sonne auf, erreicht ihren Zenit und geht abends wieder unter, und dazwischen – mal schwarz wie ein geschlossener Vorhang, mal so dicht gesprenkelt, dass die Sterne den dunklen Hintergrund des Universums überbieten – macht die Nacht immer wieder alles zunichte. Weil man es nicht schafft, die Sonne einzuholen, auch wenn man ihr ununterbrochen hinterherjagt.

(Prolog zum Roman «Lux»)

Olivia Kuderewski, 1989 geboren, lebt in Berlin. „Lux“ ist ihr erster Roman. Sie hat vergleichende Literatur und Schreiben studiert, volontiert, bisher in wenigen Anthologien veröffentlicht und noch keinen Preis gewonnen.

Rezension und Interview von «Lux» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Alain Barbero

Olivia Kuderewski «Lux», Voland & Quist

Lux musste weg. Musste ein altes Leben hinter sich lassen. Vielleicht neu beginnen, vielleicht eine Pause, vielleicht ein neues Paar Schienen, die Ordnung in einem aus den Fugen geratenen Leben bedeuten. Sie steigt aus und ein in New York auf einen Tripp gen Westen, der Sonne, dem Licht entgegen. Zumindest ist da ein kleines Fünkchen Hoffnung.

Zugegeben, wer sich an diesen Roman wagt, muss einiges einstecken. Olivia Kudereswski schrieb keine Unterhaltungsliteratur. „Lux“ ist wie das Leben der Protagonistin; ein dauerndes Hin-und-Her zwischen Rausch, Ernüchterung, Sehnsucht und Absturz. Olivia Kuderewski leuchtet mit grellem Licht in ein Leben, das taumelt, das die Spur verloren hat, das strauchelt und stolpert. „Lux“ ist ein Roman, der mich in ein Leben zieht, eine Umgebung, eine Welt, die trotz seiner Gegenwärtigkeit etwas Dystopisches birgt. Das, was wir an Sehnsuchtsbildern der USA, das, was wir als Projektionen einer jungen Existenz, eines jungen Lebens mit uns herumtragen, ist weit weg von der Realität, die Olivia Kuderewski in ihrem Debüt beschreibt.

Lux ist eine junge Frau. Sie macht eine Reise, eine Reise quer durch das Land, durch die Staaten, von Ost nach West. Mit wenig Gepäck und der Absicht, vieles aus ihrem alten Leben zurückzulassen. Sei es Charles, sei es ihre Familie, seien es die Antidepressiva oder die Diagnosen, mit denen man sie aus der Klinik entlassen hatte. Sie will ihrer „Glocke“ entfliehen, diesem Etwas, dass sie nicht aus ihren Fängen entlässt, das sie von allem anderen Leben trennt, dass sie für gewisse Zeiten ausknockt.

Olivia Kuderewski «Lux», Voland & Quist, 2021, 219 Seiten, CHF 31.90, ISBN 978-3-86391-279-6

Unterwegs lernt sie eine junge Frau kennen. Kat. Eine Ausgeflippte mit langem, leuchtend, weissem Haar. Eine Furie mit Schalenkoffer. Sie reisen zusammen, ohne je zusammen zu sein. Kat ist unnahbar, Lux schwer zu fassen. Je länger die Reise geht, desto mehr scheint die eine die andere zu brauchen, flimmert die Beziehung zwischen Hass und Anbetung, zwischen Unverständnis und Ergebenheit. Bis die beiden aus lauter Überdruss mit einem Spiel beginnen. Man stellt sich gegenseitig Aufgaben bis zur Selbstaufgabe, weit über die Schmerzgrenze hinaus. Nicht bloss die Reise, das Leben soll ein Tripp werden.

Das Buch erinnert mich an all jene, die sich durch körperliche Selbstverstümmelung besser spüren wollen, die den Schmerz brauchen, um sich ihrer Existenz sicher zu sein. „Lux“ schneidet ins Fleisch, ist ein Tripp in die Niederungen einer aus dem Kurs geratenen Selbstfindung. „Lux“ beschreibt, was wir nicht hören und nicht sehen wollen, ist eine Art menschliche Apokalypse. „Lux“ ist kein warmes Licht, viel mehr blaues Licht, das mich aufputscht, das Lux aufputscht, um in dunklen Phasen umso tiefer abzusacken.

„Lux“ ist eine Roadstory in einer dystopisch wirkenden Kulisse, durch ein kaputtes Land, vorbei an kaputten Menschen. Selbst dort, wo andere mit ihren Autos stehen bleiben und die Postkartenidylle fotografieren, ritzt es Lux an ihrer Haut, reissen die beiden Frauen an ihren Seelen. Und doch ist „Lux“ sprachlich ein Genuss. Von seltener Intensität und Nähe. Olivia Kuderewski schaut durch ein Brennglas, bis der Blick schmerzt. Die Autorin schreibt dort weiter, wo die meisten anderen aufhören.

Interview:

Warum die USA? Sind die Staaten als Kulisse kaputt genug? Oder weit weg genug?
Das hat mit den hartnäckigen Klischees von Freiheit zu tun, die hochkommen, wenn es um Roadtripps geht. Die gelten ja als Inbegriff von Befreiung und Lux will genau das erreichen – die Staaten sind ihre selbstgewählte Kulisse dafür. Der ultimative Roadtripp findet nun mal in den USA statt. An welchen besseren Ort könnte man sonst all seine Illusionen über Freiheit schleppen?

Sie wollen nicht einfach unterhalten, eine Geschichte mit Pointe erzählen. „Lux“ ist eine Berg- und Talfahrt mit eindeutigem Überhang Richtung „freier Fall“. Muss gute Literatur mehr wollen, als zu unterhalten?
Ich mag „freie Fall“-Bücher, wie Sie das nennen, also Texte, bei denen es auf irgendeine Art um ein Risiko geht. Mit denen sich jemand aus dem Fenster lehnt und die dann noch so gut gemacht sind, dass sie richtig treffen. Mir gefällt es, wenn jemand seine eigene Sprache und Handlung und eigene Figuren entwickelt. Ob das dann nur gut unterhält oder auch noch als „gute Literatur“ durchgeht, ist mir ziemlich egal.

Wo lag der Ursprung Ihres Romans, die erste Idee, der Kick, der die Geisterfahrt ins Rollen brachte?
Wahrscheinlich arbeiten sich die meisten Schreibenden an ihren Idolen ab, bei mir war das früher Kerouac. Aber der richtige Kick setzte ein, als ich irgendwann beim Schreiben den Gedanken hatte, dass ich meiner Hauptfigur ALLES wegnehmen will, was sie hat. Das spricht wohl für meinen schlechten Charakter.

Lux schafft es nicht, sich von ihrer „Glocke“ zu befreien. Ich kenne diese Glocke auch. Alle haben sie, wenn man ehrlich ist. Jene Glocke, die kleine Kinder noch nicht haben, die irgendwann zu wachsen beginnt und bei einigen zu einem Alp wird. Dieses Glockengefühl hat sich durch die Pandemie wohl bei vielen noch verstärkt. Eine Klimakrise der menschlichen Existenz? Eine Klimakrise, die ebenso viel Potenzial zur Katastrophe hat und global werden kann?
Sie fragen da wahrscheinlich nach so etwas wie Isolation und der Angst davor. Im Roman geht es Lux darum, aus dieser „Glocke“ auszubrechen und wieder Kontakt zur Welt aufzunehmen. Aber ob die Menschen mehr unter Einsamkeit leiden als früher und aus welchen Gründen, kann ich schlecht beantworten. Es ist ja immer grässlich, wenn man so empfindet, warum auch immer. Und wenn sich jetzt die halbe Welt wegen Corona einsam fühlt, dann ist das natürlich – neben allem, was die Pandemie auch noch anrichtet – eine Katastrophe.

Lux und Kat. Lux bedeutet Licht. Und wenn man im Wörterbuch unter Kat nachschaut, erscheint „aus den Blättern eines afrikanischen Baums gewonnenes Rauschgift“. Wie passend. Lux sucht ihr Licht. Und Kat wird ihr Gift? Zufall oder zu viel Interpretation?
Ha! Das wusste ich nicht, danke für den Hinweis. Das passt ja! Obwohl ich das mit dem afrikanischen Baum nicht so recht mit meinem Roman in Verbindung bringen kann. Mir ging es bei der Namensfindung auch, aber nicht ausschliesslich, um die Tiere mit dem Fell. Und dann gab es noch einen Haufen anderer Assoziationen dazu, Katalysator, Katastrophe, Katharsis, Katatonie, KitKat …

„Das einzige Mittel gegen Angst ist Mut“, steht in Ihrem Roman. Ein Leuchtturm?
Im Roman nimmt dieser Leitspruch ja eher ungesunde Züge an und wird als Gedanke in einem Moment geäussert, in dem die Protagonistin zugekokst ist – würde ich jetzt nicht zu meinem allgemeinen Lebensmotto machen! „Mut“ ist ja sehr deutungsoffen und kann auch fiese Resultate nach sich ziehen.

Welches Buch, welche Musik brannte sich in den vergangenen Monaten unauslöschlich in Sie hinein? Warum?
Wede Harer Guzo von Hailu Mergia/ Dahlak Band – meine Mitbewohnerin hört den Song rauf und runter und wir leben von der Wanddicke her quasi in Schuhkartons.
Und Ágota Kristófs „Das große Heft“ – selten so etwas Grausames und Rührendes gelesen. Zwei Jungen, Zwillinge, die in Kriegszeiten versuchen, sich vorsorglich physisch und psychisch selbst abzuhärten.

© Lisa-Marie Keck

Olivia Kuderewski, 1989 geboren, lebt in Berlin. „Lux“ ist ihr erster Roman. Sie hat vergleichende Literatur und Schreiben studiert, volontiert, bisher in wenigen Anthologien veröffentlicht und noch keinen Preis gewonnen.

Beitragsbild © Alain Barbero

Nora Gomringer «Vielmals», Plattform Gegenzauber

Einmal tanzte der Bauer so wild im Matsch, dass das Kalb sich erschreckte

Einmal nahm ich Rizinus und verlor das Kind

Einmal lief sie einem Mann nach, der sie partout nicht wollte

Einmal wollte ich einen Apfel vom Baum schütteln und bekam zehn auf den Kopf

Einmal kam ein Soldat und als ich ihm die Hand geben wollte, sah ich, dass da bei ihm keine mehr war

Einmal schoss ihr das Blut in den Kopf, als sie einen Ländler mit dem Landrat tanzen sollte

Einmal pinkelte sie im Stehen, um ihre Füße auf der eiskalten Weide zu wärmen

Einmal stand da ein Kuchenbuffet und das Haus duftete nach Erinnerungen, weil sie keinen mehr backen würde

Einmal rief er mich beim Namen meiner Schwester

Einmal war der Bauer so müde, dass er im Stall auf meiner Schwester einschlief

Einmal erzählte ich der Lehrerin, was uns passierte auf dem Hof

Einmal kam sie zu Besuch Einmal und nie wieder

Einmal schüttelte ich die Betten und die Federn wirbelten herum wie im Märchen

Einmal sagte sie, sie wolle den Bruder in der Stadt besuchen und der Bauer sagte vielleicht

Einmal wieder sagte er vielleicht

Einmal noch fragte sie

Einmal zeichnete ich einen großen Hund und schraffierte seine Umrisse, weil es wichtig ist, unberechenbar zu bleiben

Einmal kam ein Brief an meine Schwester an und der Bauer las ihn ihr vor in ihrer Kammer, der Bauer las sehr langsam

Einmal hielt ich eine Hand im Dunkeln, sie war warm und weich

Einmal war die Mutter bei uns und trank Schnäpse mit dem Bauern

Einmal berührten sich dabei ihre Hände, gleich packte sie ihre Tasche und ging, ohne auf mich gewartet zu haben

Einmal kam ich nach Hause zu einem leeren Haus, nie war ich glücklicher

Einmal fiel ein Hund in die Jauchegrube

Einmal musste der Jäger kommen, der trank auch Schnäpse

Einmal sagte meine Schwester, sie könne rennen wie der Wind

Einmal war das Fenster offen, bevor alle wach waren in diesem Haus, der Wind wehte hinein

Einmal stand ich im Nachthemd, es war sehr früh, und ich sah meiner Schwester nach, wie sie rannte wie der Wind

Einmal stellte ich Milch, Brot, Schnaps auf den Tisch

Einmal fasste er mich an, sagte Worte, die ich nicht verstand, zeigte Geheimnisse auf

Auf einmal war und blieb ich meine Schwester, ersetzte ein um das andere Mal einen Menschen mit einem anderen

Einmal noch sah ich die Glühwürmchen im Glas, wurde noch einmal meine Schwester 

Einmal mein Bruder dann: der Wind

(2015 Verlag für gesunden Menschenversand. «Ach Du je«)

Video © Judith Kinitz

Nora Gomringer «Gottesanbeterin», Voland & Quist, 2020, 95 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-86391-250-5

Nora Gomringer hat zahlreiche Lyrikbände vorgelegt und schreibt für Rundfunk und Feuilleton. Neben zahlreichen anderen Auszeichnungen sowie Aufenthaltsstipendien in Venedig, New York, Ahrenshoop, Nowosibirsk und Kyoto wurde ihr 2012 der Joachim-Ringelnatz-Preis für Lyrik zuerkannt. 2015 erhielt sie den Ingeborg-Bachmann-Preis und 2019 war sie Max-Kade-Professorin des Oberlin College and Conservatory in Ohio. Nora Gomringer lebt in Bamberg, wo sie das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia als Direktorin leitet.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Judith Kinitz