Der diesjährige Schweizer Buchpreis geht an Anna Stern für den Roman «das alles hier, jetzt.» (Elster & Salis Verlag).
In der Begründung der Jury heisst es: «Anna Stern hat einem der ältesten Themen der Literatur eine völlig neue Form und unerhörte Töne abgewonnen. «das aller hier, jetzt.» handelt vom Tod eines geliebten Menschen, und die Autorin erzählt mit grosser experimenteller Kraft und zugleich mit hoher sinnlicher Intensität. Fast beschwörend wird die Vergangenheit wachgerufen und die Leserinnen und Leser in den Erinnerungsprozess einbezogen. Das Erzählverfahren ist höchst originell. Nicht nur kommt der Text über die gesamte Strecke ohne jede Gender-Fixierung der Figuren aus, es ist auch ein Roman in zwei Spuren: auf den linken Buchseiten die Gegenwart der Trauer, rechts die erinnerte Vergangenheit einer gemeinsamen Kindheit und Jugend – bis alles auf ein fulminantes Roadmovie-Finale zusteuert. Ein gleichermassen intimer wie kunstvoller Roman über zutiefst menschliche Erfahrungen.»
Wenn der Schweizer Buchpreis vergeben sein wird, ist eigentlich alles vorbei. Die Spannung weg, die Prognosen, die Diskussionen darüber, wer und welches Buch ihn verdienen würde. Ob wie vorletztes Jahr der schon mehrfach Nominierte den Preis verdiene, ob der oder die Unbekannte einen solchen Preis „wert“ sei. Dieses Jahr ist kein Erstling darunter, dafür Autorinnen und Autoren, die in der Art ihres Schreibens nicht unterschiedlicher sein könnten.
Aber vielleicht doch nicht, doch nicht vorbei? Wenn die Vergabe meiner Genugtuung entspricht, dann werde ich sagen: «Habs doch gewusst», dann ist es vielleicht eine Spur Erleichterung. Wenn die Vergabe mein Unverständnis erntet, dann werde ich noch eine Weile über die verpasste Chance den Kopf schütteln. Jene verpasste Chance, die sich mit der Nominierung dieser fünf Bücher vorsichtig in den Vordergrund zu schieben wagte. Bestimmt nicht, weil dann die immer gleichen Diskussionen wieder aufflammen, die bei einem solch „singularen“ Preis in der Literaturlandschaft Schweiz unvermeidbar sind. Schaffte man es, das Buch und nicht die Autorin oder den Autor dahinter zu prämieren, kein Lebenswerk, sondern dieses eine Buch, das das beste sein soll und es doch niemals ist, höchstens in den Augen und Ohren der fünf Jurymitglieder?
Alles an diesem Preis ist subjektiv, nur die Preissumme nicht.
Als Tomas Tranströmer 2011, vier Jahre vor seinem Tod den Nobelpreis für Literatur erhielt, war er längst nicht der erste Schriftsteller, der für seine Lyrik, seine Gedichte mit der höchsten literarischen Auszeichnung geehrt wurde. Aber als sein Name mit dem Preis in mein Bewusstsein drang und ich seine Gedichte zu lesen begann, war es gleichermassen Offenbarung wie Beschämung, denn erst mit Tomas Tranströmer begann ich wieder Gedichte zu lesen, lagen wieder regelmässig Gedichtbände auf meinem Nachttischchen und steckten solche in der Tasche auf meinen Reisen. Und als Jan Wagner 2015 mit seinem Gedichtband „Regentonnenvariationen“ den Preis der Leipziger Buchmesse gewann und hernach seinen Gedichtband zum Bestseller machte, schienen Gedichte ganz langsam aus ihrem Randdasein in Buchhandlungen und Festivals zu treten, vielleicht erst recht mit dem Paukenschlag in diesem Jahr, als das Nobelpreiskomitee eine für viele (mich eingeschlossen) unbekannte Autorin auf den Literaturthron setzte: Die Amerikanerin Louise Glück.
Wie lange muss es dauern, bis wenigstens unter den nominierten Büchern einmal ein Gedichtband erscheint? Wo steht geschrieben, dass es ein Erzählband sein muss? Ganz sachtebrach diese Grenze zweimal. Als Ilma Rakusa schon im zweiten Jahr seit der Lancierung des Schweizer Buchpreises mit „Mehr Meer“ (Erinnerungspassagen) den Buchpreis gewann und 2012, als Peter von Matt mit seinem „Das Kalb vor der Gotthardpost“ (Essays) Preis und Blumen entgegennahm. Die Gedichtlandschaft in der Schweiz ist reich, Perlen gibt es viele, man muss sie nicht suchen.
Gäbe es in der Vergabe des Schweizer Buchpreises Logik, die es aber gar nicht geben darf, dann müsste der Preis eher an eine Frau vergeben werden und an ein Buch, das sich von der Romanform möglichst weit zu entfernen wagt. So prognostiziere ich eine einzige Möglichkeit; Dorothee Elmiger mit „Aus der Zuckerfabrik“. Nicht weil Anna Stern den Preis mit „das alles hier, jetzt.“ nicht verdient hätte, ganz im Gegenteil. Aber weil sich Dorothee Elmiger mit ihrem Buch traut. Sie traut sich, zu verunsichern. Sie will keinen Hunger stillen. Sie will nichts zu Ende bringen. Sie experimentiert mit dem Text, mit ihrem Schreiben, ihrem Forschen, vielleicht sogar mit meiner Reaktion als Leser. „Aus der Zuckerfabrik“ reisst aus der Form, verabschiedet sich aus aller Starre, jedem sicheren Rezept.
Tom Kummer schreibt über einen Tom Kummer. Tom Kummer hat Kinder und verlor seine Frau durch Krebs, Tom Kummer im Buch genauso. Tom Kummer schreibt, Tom Kummer fährt Taxi. Und doch erzählt Tom Kummer kein Spiegelbild. Allenfalls eine Variante. Und weil Tom Kummer über einen Tom Kummer schreibt, kommt mir sein Erzählen derart nah, dass mich die Bilder über Tage nicht mehr loslassen.
Tom fährt einen 560er, manchmal, bei ganz besonderen Kunden einen 600er, stets nachts, vom Hotel zum Flughafen, von einer Tür zur andern. Manchmal auch nur einen Koffer. Tom ist bekannt und geschätzt für seine Diskretion, seine Zuverlässigkeit, seine Ruhe. Auch wenn Gespräche entstehen, Freundlichkeiten ausgetauscht werden, Fragen beantwortet werden müssen; Tom drängt sich nicht auf. Da ist nur das Auto, der Weg und die Aufgabe, den Kunden von A nach B zu chauffieren. Das einzige, was nicht zu seinem schwarzen Anzug, seiner schwarzen Limousine passt, ist das Foto von Vince und Frank, seinen beiden Söhnen und seiner Frau Nina, deren Stimme er noch immer hört, deren Duft er noch immer in der Nase mit sich trägt, wenn er bei seinem jüngeren Sohn Vince morgens eine Weile unter die Decke schlüpft. Das Foto ist das, was er wirklich mit sich herumchauffiert, immer, dauernd. Die Angst, genau das zu verlieren, was im Moment, als das Foto geknipst wurde, Familie ausmachte. Nina ist tot, Frank achtzehnjährig in den USA geblieben und der zwölfjährige Vince zuhause viel zu oft alleine.
«Ich warte darauf, dass sich meine Trauer löst, wie Verkehr.»
„Von schlechten Eltern“ ist ein buchgewordener Roadmovie aus einer Zwischenwelt, zwischen der Schwärze der Nacht und den Bildern, die sich im Kopf festsetzen, in die Schwärze hineinprojiziert werden. Tom schiebt sich während seinen Auftragsfahrten farbige Pillen in den Mund und konzentriert sich auf die weissen Streifen auf der Fahrbahn, schnappt auf, was Passagiere in den Fahrgastraum bringen; Geschichten, Spannungen, Gerüche, fremdes Leben. Während ihm das eigene Leben durch die Finger zerrinnt, das, was an Familie geblieben, durch Denunziation und Ämter bedroht ist. Tom funktioniert, fährt nachts den Mercedes quer durch das Land, um morgens bei seinem Sohn Vince aufzuwachen, das Frühstück zuzubereiten, ihn in die Schule weggehen zu sehen, um dann die Vorhänge zu ziehen, weil Tom die Helligkeit nicht mehr erträgt, das Licht, das alles ausleuchtet und zu nehmen droht, was ihm durch den Tod seiner Frau genommen wurde. Rauchende Ruinen, Tierkadaver, schmieriger Regen. Apokalyptische Szenen an den Rändern der Dunkelheit auf seinen Fahrten durch ein eingeschwärztes Land. Tom fährt nicht einfach Auto. Das Autofahren transportiert ihn – in eine andere Welt. Und im Fond seines Wagens Gestalten, als ob sie einem Theater entstiegen wären, die sich schälen, offenbaren, die versprechen und umgarnen.
«Manchmal fühlt sich die Welt an, als hätte ich keine Verbindung mehr zu lebenden Dingen. Und je mehr sich ein Mensch dem Erleben entzieht, desto näher kommt er dem Tod.»
Der Roman ist der Countdown bis zum Moment, wo Tom seinen älteren Sohn Frank vom Flughafen abholen kann, zusammen mit Vince. Frank, den Jean-Luc, sein Chef mit seinen „Kontakten“ auf der anderen Seite des Ozeans aufgespürt hatte, nachdem er sich bei seinem Vater während Tagen nicht gemeldet hatte. Der Roman ist die Landschaft eines Verlorenen, der die Enden seines Lebens zu halten versucht, der gegen das Verschwinden und Entschwinden kämpft, der ein guter Vater, eine gute Familie sein will, dem das Leben abhanden gekommen ist durch den Tod seiner Frau. „Von schlechten Eltern“ ist intensiv, konzentriert, traumwandlerisch und mit Bildern aufgepumpt, die sich wie böse Träume aneinander reihen. „Von schlechten Eltern“ ist tief wie schwarzes Wasser, wie Vantablack, jenes Schwarz, das fast nichts mehr reflektiert und magisch in die Tiefe zieht.
Mag sein, dass Tom Kummer, jener Tom Kummer, der schreibt, in seinem Leben Han erlebte, jenen koreanischen Begriff für extreme Traurigkeit. Aber sein Roman schöpft daraus eine milde Wärme, jene Wärme, die aus jener Liebe entsteht, die nur in der Familie zu existieren vermag. Grossartig und absolut würdig in der Runde der besten Bücher zu erscheinen.
Tom Kummer, geboren 1961 in Bern, ist ein Schweizer Autor. Als Journalist löste er im Jahr 2000 wegen fiktiver Interviews einen Medienskandal aus. Nach mehreren Jahren in Los Angeles mit seiner Familie, lebt er wieder in Bern. Er schrieb u.a. «Good Morning, Los Angeles – Die tägliche Jagd nach der Wirklichkeit» (1997) und «Blow Up» (2007). Sein letzter Roman «Nina & Tom» (2017) wurde von der Kritik gefeiert.
Haben Sie die Sendung gesehen? Die fünf Nominierten des Schweizer Buchpreises auf dem „Blauen Sofa“, einer Sendung des ZDF, ausgestrahlt anlässlich der Frankfurter Buchmesse, die coronabedingt nur digital stattfand. Moderatorin Nina Mavis Brunner spricht mit den fünf FinalistInnen über ihre Bücher.
Wenn Sie die Sendung noch nicht gesehen haben, dann lassen Sie es bitte bleiben. Sie laufen Gefahr, dass die Nebenwirkungen dieser 39 Minuten jegliche Lust auf eines der fünf Bücher, wahrscheinlich sogar auf alle Bücher verderben könnte. Keine Ahnung, ob da eine Regieassistenz fehlte, das Geld oder schlicht der Wille, aus der Sache etwas Gutes zu machen.
Wer sich in diese Sendung verirrte oder gar mit Vorsatz schaute, wird die „aktuell besten Bücher der Schweiz“ niemals als das wahrnehmen, was sie sein könnten; Kunstwerke, Buch gewordene Freude, Leseabenteuer, Sprachmagie und ein Grund, sich mit der Welt auseinanderzusetzen – jetzt, in Zeiten von Corona erst recht.
Bevor die Moderatorin Nina Mavis Brunner die fünf Nominierten vorstellte, musste ihnen jemand befohlen haben, möglichst ernsthaft und steinern in die Linse der Fernsehkamera zu schauen. Keine Regung, als wäre schon die Vorstellungsrunde ein Tribunal, das den erwarteten Schuldspruch spricht. Dann ein klein wenig aus dem Buch lesen, ein Paar Seiten, zwei drei unverfängliche Fragen. Beim Letzten, bei Charles Lewinsky, reichte es zu fast nichts mehr. Wer 39 Minuten durch sechs Akteure dividiert, weiss, was da noch zustande kommen kann.
Warum nicht einen Denis Scheck einladen, der die AutorInnen aus ihrer Reserve lockt, warum nicht Thea Dorn, die mit pointierten Bemerkungen die Bücher in den Strahl eines verbalen Scheinwerfers gebracht hätte? Warum kein Hinundher? Warum kein Gespräch? Warum sechs Personen in einer Runde, in der es nur um die Einzelnen geht, kein Austausch untereinander stattfindet. Warum nicht gleich fünf siebenminütige Werbespots!
Es sind fünf ausgezeichnete Bücher. Fünf Bücher, die es sich unbestritten lohnt zu lesen. Wenn ein Deutscher oder eine Österreicherin, ein Liechtensteiner oder sonst jemand, der der deutschen Sprache mächtig ist, nun endlich einmal in die CH-Literatur eintauchen will und sich unglücklicherweise in diese Sendung verirrt, dann geschieht die Erleuchtung ganz bestimmt nicht nach dieser Sendung, die alles verpasst hat, was eine solche Sendung zu bieten hätte. Das schnelle Urteil, wie verkopft die Schweizer Literatur sei, müsste man wohl gelten lassen.
Zwei Soldaten lernen sich im Gefängnis von Scheveningen kennen. Beiden wird nach dem Bosnienkrieg vor dem Den Haager Tribunal, dem Internationalen Gerichtshof der Prozess gemacht. Auf den Spaziergängen im Gefängnishof werden aus den ehemaligen Frontgegnern „Freunde“. Freunde, weil der neue Gegner eine drohende Verurteilung ist, das Urteil „schuldig“ oder „nicht schuldig“.
Erstaunlich ist vieles an diesem Roman und die Tatsache, dass er es auf die Shortlist des Schweizer Buchpreises schaffte. „Der Held“ ist nicht einfach ein Roman über die Auswirkungen eines Krieges. Karl Rühmann taucht so sehr in die Szenerie dieses Krieges,seiner Verwicklungen und Verwirrungen hinein, wie es nach blosser Recherche kaum möglich ist. Zum einen hat der Autor stundenlang die Verhörvideos des Den Haager Tribunals studiert, zum andern war Karl Rühmann selbst Soldat der jugoslawischen Volksarmee, selbst von diesem Wahnsinn betroffen. Karl Rühmann macht den Krieg aber nicht einfach zu einer spektakulären Kulisse einer explosiven Geschichte. Karl Rühmann geht es um die grossen Themen des Lebens; um Schuld, Vergebung, die Last der Vergangenheit, Verantwortung und das Gewissen. Grosse Themen, an denen man leicht scheitern könnte und die in der Schweizer Literatur nur selten in dieser Direktheit angegangen werden. Aber Karl Rühmann schafft es, mich mitten in die Fragestellungen hineinzuziehen, liefert keine Antworten, aber Stoff genug, um meine festgefahrenen Meinungen aufzuweichen.
Nach Jahren des Wartens, der Verteidigung, nach einem Gefecht der Worte kommt General Modoran frei und kehrt als Held in sein Land, sein Dorf zurück, vom Gericht freigesprochen, von seinem Volk gefeiert, zurück zu seinem Haus, seiner Linde im Garten, wo er hofft, nach der langen Zeit des Ausfechtens Ruhe zu finden. Ganz im Gegensatz zu seinem Zellennachbarn in Scheveningen, Oberst Bartok, der weiss, dass er auf einen negativen Schuldspruch warten muss. Nachdem sie über Jahre in Gesprächen von Feinden zu Soldatenfreunden wurden, schreiben sie sich weiter Briefe, der eine aus der Zelle, der andere von seinem langen Tisch im Garten unter der Linde.
«Die einzige Wahrheit liegt im Erzählen.»
Ana Tironi wohnt mit ihrem zwölfjährigen Sohn im gleichen Dorf wie der General. Sie verlor, als ihr Sohn noch klein war, ihren Mann im Krieg, in eben jenem Krieg, in dem sich jener Oberst und der General als Strategen und Befehlende gegenüberstanden. Ana ist die Zurückgebliebene, die Verlassene, die Verwundete. Was sie vom Tod ihres Mannes weiss, reicht nicht zum ganz eigenen Frieden, schon gar nicht für die bohrenden Fragen ihres Sohnes. Sie wird Haushälterin im Haus des Generals und beginnt in unbeobachteten Momenten in den Briefen zwischen Oberst und General zu lesen.
„Der Held“ ist ein Briefroman. Zum einen ein buchlanger Brief Anas an ihren Mann, von dem es heisst, er hätte in Gefangenschaft Suizid begangen, und das Protokoll der Briefe zwischen den beiden Soldaten.
Die beiden Soldaten bringt eine Schicksalsgemeinschaft einander nahe, das gemeinsame Warten auf ein Urteil, das gegenseitige Verstehen, weil man Soldat war, in erster Linie Soldat und erst hernach mehr oder weniger Mensch. In ihren Briefen geht es wie im Krieg um die Position, den Blick auf das grosse Ganze, um Funktionen, die aus den einen Verlierer und den andern Helden machen. Im Gegensatz zu den beiden Männern, die Unversehrte zu bleiben scheinen, ist Ana eine Versehrte, ein Opfer, jene die man in der Strategie der Soldaten nicht einmal zu den Verlusten zählt. Eine Frau, um die sich kein Gericht bemüht, der man Antworten verweigert, Antworten, die sie für sich und ihren Sohn braucht.
«Ich weiss so wenig, und deshalb halte ich mich an Geschichten.»
Karl Rühmann will nicht erklären, kein Insiderwissen verkaufen. Das Buch bleibt schwer greifbar, lässt mich als Leser in der Schwebe, genau das, was ein solcher Krieg und seine Auswirkungen auch tut. Leichte Erklärungen kann es keine geben. Ein überraschend starkes Stück Literatur, das in erstaunlich poetischen Sätzen und Momenten den Gegensatz zwischen Strategie und Emotion nur noch verstärkt. Dass die Jury des Schweizer Buchpreises diesen Roman und damit den Schriftsteller Karl Rühmann aufs Podest hievt, ist die Überraschung dieses Jahrgangs. Eine Überraschung, die es in sich hat!
Karl Rühmann (Mladen Jandrlic) wurde 1959 in Jugoslawien geboren und wuchs dort auf. Er studierte Germanistik, Hispanistik und Allgemeine Literaturwissenschaft in Zagreb und Münster und war Sprachlehrer und Verlagslektor. Seit 2006 lebt er in Zürich als Literaturübersetzer und Autor von Romanen, Hörspielen und zahlreichen, international erfolgreichen Kinderbüchern. Für den Roman «Glasmurmeln, ziegelrot» wurde Karl Rühmann 2015 mit dem Werkjahr der Stadt Zürich ausgezeichnet, für das Manuskript von «Der Held» erhielt er den Werkbeitrag des Kanton Zürichs.
Dorothee Elmiger erzählt ganz eigen, mit Sicherheit nicht von Anfang bis Ende. „Aus der Zuckerfabrik“ ist eine eigentliche Erzähllandschaft, das Experimentierfeld der Schriftstellerin, eine verschlungene Reise mit unbestimmtem Ziel. Wer sich mit der Autorin auf den Weg macht, muss aushalten können, dass nicht einmal sie selbst ihrer Sache sicher zu sein scheint.
Zugegeben, es war Auseinandersetzung! Auseinandersetzung mit dem Buch, den Stoffen, den Themen, der Erzählweise, den Zeitsprüngen. Als sässe man in einem überfüllten Zug, in dem in jedem Abteil eine Geschichte erzählt wird und man von Abteil zu Abteil huscht, nie sicher, ob man das Entscheidende versäumt hat, während draussen vor dem Fenster die Landschaft vorbeirast. Es passiert und die Gleichzeitigkeit der Dinge verwirrt in höchstem Masse. Nicht weil die Autorin der Ordnung wiedersagt, sondern weil „Aus der Zuckerfabrik“ ein Forschungsbericht ist, nicht das Resultat einer Forschung.
Sonst sind Romane Endprodukte, denen Recherche vorausging. „Aus der Zuckerfabrik“ ist eine Werkschau, ein Recherchebericht. Wer nur einfach eine Geschichte erzählt bekommen will, ist bei Dorothee Elmiger an die Falsche geraten. Auch wenn sich Dorothee Elmiger Geschichten annähert. So wie jener des Schweizer Psychiaters Ludwig Binswanger und seiner Patientin Ellen West vor hundert Jahren, einer Frau, die „dauernd ans Essen dachte“ und jung durch Suizid starb. Oder jener des Lottomillionärs Werner Bruni, dessen Gewinn sich irgendwann verflüchtigte und man sein letztes Hab und Gut bei einer Versteigerung zur Schuldentilgung verhökerte. Eines Mannes, der zum Lottokönig wurde und dabei kein Glück fand.
Alles ist mit allem verbunden, über und durch die Zeiten. So wie Zucker den Hunger nie zu stillen vermag, höchstens kurzfristig. Sie alle haben Hunger. Hunger nach Liebe, nach Anerkennung, nach Erfüllung, nach dem Gefühl des satten Zufriedenseins. Dorothee Elmiger spürt dem nach, diesem Hunger. „Je mehr ich zu wissen meine über diese Geschichte, desto zahlreicher die Unstimmigkeiten, Abweichungen…“ Und weil dieses Nachspüren und Nachforschen nicht zwingend in der Klarheit enden muss, weil Dorothee Elmiger an keinem Resultat interessiert zu sein scheint, bleibt das Buch das Experiment selbst. Sprachlich glasklar, inhaltlich mit voller Absicht verunsichernd.
So wie die Geschichte des Zuckers eine Geschichte der Abhängigkeiten, der Sklaverei ist, so kostet und misst die Schriftstellerin den Zuckergehalt des Lebens, sei es im Leben einer jungen Haitianerin im Wunsch sich ganz und vollkommen hinzugeben oder im Leben eines Lottomillionärs, den die Boulevardpresse lüstern in seinem Untergang begleitet.
„Ob man mir bis hierher noch folgen oder dies alles als Protokoll eines Wahns, als Material für eine Fallstudie lesen wird…“ Dorothee Elmigers literarisches Experiment „Aus der Zuckerfabrik“ ist sprachlich bestechend, als Unterhaltung eine «Zumutung». Ich habe grosse Teile des Buches laut gelesen, las mich über lange Passagen in einen wahren Rausch, fasziniert von Sätzen, Bögen und Konstruktionen. Aber so sehr die Lektüre in der Kleinheit verzückt, lässt sie einem in ihrer Gänze allein.
Lauter Menschen, deren Hunger nicht zu stillen war. Mein Hunger ist geblieben. Literatur soll nicht stillen. „Aus der Zuckerfabrik“ tut es ganz und gar nicht. Dorothee Elmiger schrieb ein Buch, das in keine Kategorie passt, sich nicht einordnen lässt. Sie entzieht und verweigert sich jeder Kategorisierung, schert sich einen Deut um Konventionen, darum, was Literatur soll und muss. Das ist mutig. Ihr Schreiben dreht sich in die Tiefe, nicht in die Breite. Ihr Schreiben ist kein Fluss, sondern ein Absinken, manchmal sogar ein Absacken in Tiefen, die mich verwirren. Und Dorothee Elmiger will schon gar nicht unterhalten. Der Genuss dieses Buches liegt in seiner Sperrigkeit ebenso wie in seiner Eleganz. Sperrig, weil es sich den gewohnten Leseerfahrungen entzieht. Elegant, weil die Sprache etwas Berauschendes hat. Sie macht mich trunken.
Bildende Kunst darf verunsichern. Man nimmt beim «Lesen» dieser Kunst Unklarheiten, Schatten, Provokation und ein gewisses Mass an Unverständnis in Kauf, will das gar so. Ebenso bei der Musik. Warum muss bei Literatur immer alles glasklar sein?
Als ich als Buchpreisbegleiter ganz zu Beginn gefragt wurde: «Was wünschst du dir für den Schweizer Buchpreis 2020?», antwortete ich: «Mut!» Verleiht die Jury den Buchpreis an Dorothee Elmiger für «Aus der Zuckerfabrik», dann ist das Mut.
Dorothee Elmiger, geboren 1985, lebt und arbeitet in Zürich. 2010 erschien ihr Debütroman «Einladung an die Waghalsigen», 2014 folgte der Roman «Schlafgänger» (beide DuMont Buchverlag). Ihre Texte wurden in verschiedene Sprachen übersetzt und für die Bühne adaptiert. Dorothee Elmiger wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Aspekte-Literaturpreis für das beste deutschsprachige Prosadebüt, dem Rauriser Literaturpreis, einem Werkjahr der Stadt Zürich, dem Erich Fried-Preis und einem Schweizer Literaturpreis.
Man kennt die Erzählungen davon, wie das Nobelpreiskomitee die jeweiligen PreisträgerInnen kontaktiert, um ihnen mitzuteilen, dass sie zur Übergabe des prominentesten Preises nach Stockholm an eine königliche Nobelpreisverleihung eingeladen werden. Klar, der Nobelpreis ist in keiner Weise mit dem Schweizer Buchpreis zu vergleichen. Aber eine ganz spezielle Anerkennung ist er alleweil.
Spontan schrieb ich den fünf Nominierten mit der Bitte, diesen einen Moment zu schildern, als das Telefon klingelte und man sie über die Nominierung informierte:
Dorothee Elmiger: «An den Moment kann ich mich schon gar nicht mehr so genau erinnern: Ich sass in der Küche und hatte das Telefon am Ohr, draussen schien auf jeden Fall die Sonne!»
Nicht nur die Preissumme unterscheidet sich erheblich, gleich mit einer Stelle mehr, auch das Renommee des Preises lässt sich schlecht vergleichen. Schon alleine der Unterschied zwischen dem Deutschen und dem Schweizer Buchpreis in Sachen Publizität, medialer Aufmerksamkeit ist riesig. Während die Verleihung des Schweizer Buchpreises dem Schweizer Fernsehen einen Kurzbeitrag wert ist, wird die Verleihung des Deutschen Buchpreises live im Deutschen Fernsehen übertragen. Während sich der Schweizer Buchpreis vor allem auf nationaler Ebene abspielt, ist der Deutsche Buchpreis ein Ereignis im deutschsprachigen Europa.
Charles Lewinsky: «Ein Telefongespräch mit den Veranstaltern brachte die erfreuliche Nachricht. Ich habe mich darüber gefreut. Mehr gibt es nicht zu sagen. Da es meine dritte Nomination ist, bin ich in dieser Hinsicht vielleicht ein bisschen abgestumpft.»
Sollte man sich deshalb grämen? Nein. Im Schweizer Buchpreis spiegelt sich auch die Schweizer Buchlandschaft. Viele Buchveröffentlichungen von Schweizer Verlagen schaffen es nur ganz schwer über die Landesgrenzen. Sehr oft bleibt das Interesse an Schweizer Literatur angesichts der schieren Menge der Veröffentlichungen in den deutschen Buchhandlungen mässig, sieht man von den grossen Namen ab. Als ich für ein paar Wochen in Berlin arbeitete und immer wieder in einer der unzähligen Buchhandlungen abtauchte, wurde mehr als deutlich, dass die Schweizer Literatur nicht einmal ein Anhängsel ist, sondern bis auf einige wenig Namen inexistent.
Tom Kummer: «Happiness. Ich empfand ein grosses Glücksgefühl als ich von der Nominierung erfuhr. Und dann verspürte ich sofort den Drang, meiner Mutter anzurufen und zu berichten. Erstaunlich! Wie die Mutter doch immer wieder Ursprung der ganz grossen Gefühle wird – und dabei das Bedürfnis wachrüttelt, etwas mir sonst ganz Fernes zu beweisen: How To Be A Good Son!»
Umso mehr tut es meiner Seele gut, wenn auf der Longlist des Deutschen Buchpreises die Namen von Dorothee Elmiger, Charles Lewinsky und Arno Camenisch auftauchen, noch mehr wenn Dorothee Elmiger mit «Aus der Zuckerfabrik» sogar auf der Shortlist zu finden ist. Und nichts desto trotz ist die Nominiertenliste des Schweizer Buchpreises eigentlich schon eine Anerkennung. Sind sich doch alle Mitglieder der Jury einig, dass diese fünf Bücher auf ein ganz speziell sichtbares Podest gehören.
Karl Rühmann: «Das Telefon klingelt zur Unzeit, wie immer, und dann ist es auch noch eine «unbekannte Nummer». Abnehmen oder wegdrücken? Man ist ein höflicher Mensch und wählt den grünen Knopf. Ohne viele Umschweife teilt mir eine freundliche Stimme mit, dass mein «Held» für den Schweizer Buchpreis nominiert worden sei. Ich muss mich erstmal setzen und dann nach Worten suchen, die auch nur einigermassen zu meinen Gefühlen passen. Das ist schwierig. Ein einfaches «Danke» trifft es nicht, ein Freudeschrei eher, doch dafür habe ich mich zu gut im Griff. Leider. Ich murmle etwas, wahrscheinlich sage ich «wunderbar» und «unglaublich» und «Freude», dann bin ich wieder mit der Nachricht allein. Seither schwebe ich über dem Boden und möchte noch eine ganze Weile nicht landen.»
PS Auch Anna Stern meldete sich per Mail und schrieb, sie wolle jenen Moment für sich behalten. Respekt!
Ananke stirbt nach kurzer Krankheit. Eine junge Frau. Ihr Tod hinterlässt nicht nur eine Lücke, sondern pulverisiert ein ganzes Gravitationsfeld. Nichts ist mehr so, wie es einmal war, gar nichts. Und weil es nach 150 Tagen aus der Trauer keinen Weg zu geben scheint, machen sich Anankes Freunde auf, um sich ihrem Eingeschlossenen Luft zu machen.
Anna Sterns Roman überrascht nicht nur inhaltlich, sondern auch formal. Das kündigte sich schon in ihrem letzten, ihrem dritten Roman „Wild wie die Wellen des Meeres“ an. Aber mit „das alles hier, jetzt.“ geht die junge Schriftstellerin aus der Ostschweiz noch einen Schritt weiter. Ichor erzählt, wahrscheinlich ein Mann, wahrscheinlich. Er erzählt von der Zeit nach Anankes Tod und von der Zeit davor, den Erlebnissen als Kinder, als Jugendliche, als junge Erwachsene, mit Ananke zusammen oder in der Gruppe mit Freunden, in der kleinen Stadt am See.
„du hast angst vor dem vergessen und fängst an, alles aufzuschreiben.“
Anna Stern erzählt in zwei Teilen. Der erste Teil, jeweils auf der linken Seite in schwarzer Schrift von der Zeit nach Anankes Tod und rechts in grauer, etwas blasserer Schrift von den Erinnerungen aus der gemeinsamen Zeit mit Ananke, vor der Krankheit, vor ihrem Tod. Die Gegenwart klar wie in Stein gehauen. Die Vergangenheit, die irgendwann einmal verblassen wird, auch wenn man daran nicht denken will und kann, grau geworden. Die Textstücke in diesem ersten Teil erzählen unabhängig voneinander und zwingen mich als Leser, das eine oder andere Mal vor- und zurückzublättern, obwohl mir die Autorin bei der Vernissage in Rorschach versichert, den ersten Teil könne man überall zu lesen beginnen. Vielleicht könnte man den Roman auch im letzten Viertel beginnen, dem zweiten Teil des Buches, in dem Anna Stern linear und „traditionell“ von Anankes Freunden erzählt, die mehr oder weniger gemeinsam beschliessen, ihren dunklen Tunnel der Trauer zu verlassen und „Nägel mit Köpfen zu machen“. Dann wiederum könnte man den ersten Teil danach lesen und er würde mir erschliessen, was die Freunde dazu treibt, in einer Nacht-und-Nebel-Aktion auf den Friedhof zu fahren.
Aber Anna Stern springt formal noch mehr aus der Spur. Ausser den Namen ist nichts gross geschrieben, nicht einmal Satzanfänge. Vielleicht weil Namen das einzig Konstante sind, an das man sich halten kann. Und neben Ananke und dem Erzähler Ichor sind alle Namen so gewählt, dass sie seltsam androgyn erscheinen, geschlechtslos, als ob die Autorin Gefühle und die Art des Erinnerns von geschlechtspezifischen Vorstellungen abkoppeln möchte. Zudem lässt die Autorin in vielen Sätzen das Verb weg, entseelt die Sätze, genauso wie Ananke mit ihrem Tod die Zurückgebliebenen entseelte. So wird Text und Form zu einem Spiegel der Geschichte.
Ananke war ein Fixstern. Mit ihrem Tod verschwand das Zentrum eines Sternensystems. Die Gravitation brach auseinander! Ananke war lebend ein Mythos, nach ihrem Tod nicht weniger.
„du bist müde, müde und schwer mit einem eigenartigen glück, mit dem gefühl, gleichzeitig in deinem Körper zu sein und ausserhalb, eins zu sein, ganz nah bei dir zu sein: traumgleich.“
Dass sich Anna Stern nicht an gängige Erzählmuster hält, ist erfrischend und konsequent. Anna Stern geht es nicht darum, den Lebens-, Leidens- und Sterbensweg einer jungen Frau zu erzählen. „das alles hier, jetzt.“ ist auch kein Trauerroman, kein Abschiedsroman, schon gar kein Protokoll. Anna Stern erzählt ungeheuer sinnlich und in dieser Sinnlichkeit höchst präzis und unemotional. „Unemotional“ darum, weil „kühl“ falsch wäre. Ihr Roman bewegt ohne zu erschüttern. Er hinterlässt nicht Trauer, sondern das pure Glück über ein absolut gelungenes Sprachabenteuer. An Anna Sterns Roman ist nichts zu viel und schon gar nichts zu wenig. Er ist mutig und konsequent. Und so wie die Autorin selbst, ganz eigen.
Anna Stern, geboren 1990 in Rorschach, schreibt und doktoriert in Zürich.»das alles hier, jetzt.» Zuvor erschienen «Wild wie die Wellen des Meeres» (2019, Roman, Salis), beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt 2018 mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet, «Beim Auftauchen der Himmel» (2017, Erzählungen, lectorbooks), «Der Gutachter» (2016, Roman, Salis) und «Schneestill» (2014, Roman, Salis). Anna Stern ist Förderpreisträgerin der St. Gallischen Kulturstiftung. 2019 zeichnete die Stadt Zürich ihr literarisches Werk aus.
Charles Lewinsky ist ein exzellenter Geschichtenerzähler. Sein neuester Streich «Der Halbbart» ist eine wahre Fundgrube hunderter Geschichten, die der Schriftsteller zu einem grossen, epischen Ganzen verbindet. Die Shortlist des Schweizer Buchpreises hat ihn schon zum dritten Mal.
«Erzählen ist wie Seichen: Wenn man einmal damit angefangen hat, ist es schwer, wieder aufzuhören.»
Anfang des 14. Jahrhunderts schwelt ein Streit zwischen dem Kloster Einsiedeln und den Bauern, die Land und Wälder des Klosters bewirtschaften. Und weil das Kloster unter der Schirmherrschaft der Habsburger steht, wird aus dem konfliktreichen Nebeneinander ein Konflikt, der das Potenzial gehabt hätte, sich zu einer Katastrophe auszuwachsen. Glücklicherweise sind die Habsburger aber so sehr mit sich und der Nachfolge nach dem Tod Heinrich VII beschäftigt, dass der Marchenstreit erst 2 Jahre nach den Geschehnissen, die im Buch beschrieben werden, zur Schlacht bei Morgarten führen.
Warum erzählt Charles Lewinsky eine Geschichte, die um 1313 spielt? Mag sein, dass ihn eine Zeit lockte, die im «eidgenössischen» Bewusstsein über Jahrhunderte allzu sehr verklärt wurde, durch männliches Heldentum aufgeblasen und durch staats- und kulturhistorische Glorie bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Mag sein, dass der Protagonist Sebi ein Geschichtensammler ist und zu einem Geschichtenerzähler werden will und das Geschichtenerzählen damals noch aus fast nur mündlicher Überlieferung bestand. Das Volk konnte weder lesen noch schreiben. Und Geschichten trösteten oft genug über das eigene sorgenvolle Leben, kalte Winternächte und angstvolle Abende. Aber vielleicht ist jene Zeit vor 700 Jahren der unsrigen gar nicht so fremd. Man hatte Angst vor fremden Mächten. Zwischen Wahrheit und Fiktion zu unterscheiden war damals nicht einfacher als heute. Oft genug und gut genug erzählt wurden und werden Unwahrheiten zu Wahrheiten. Die Angst, damals der Teufel, heute Teufelszeug, war allgegenwärtig und Klassenbewusstsein Grund genug, dass niemand seine Privilegien opfern wollte.
«Ein Gerücht muss nicht wahr sein, um seine Wirkung zu tun, es muss nur geglaubt werden.»
Der begnadete Geschichtenerzähler Charles Lewinsky erzählt die Geschichte des begnadeten Geschichtenerzählers Eusebius, Sebi, und die eines Mannes, der im gleichen Dorf wie Sebi auf seiner langen Flucht strandet. Alle nennen ihn nur Halbbart, ein Mann, dessen eine Gesichts- und Körperhälfte verbrannt und verkrustet ist, der aus einem alten Leben floh, der viel mehr weiss als fast alle im Dorf und der einen prallvollen Sack an Geheimnissen mit sich herumträgt. Geheimnisse, die Sebi und ich als Leser nur ganz langsam, häppchenweise erfahren. Halbbart schleppt ein Trauma mit sich, das Trauma einer Verbrennung, vieler schrecklicher Tode, das Trauma eines lauernden Feindes.
Sebi hats nicht einfach. Er ist der Jüngste in der Familie. An Mutter und Vater kann er sich kaum erinnern, höchstens aus den Erzählungen – und seine beiden grossen Brüder sind im Umgang mit ihm alles andere als zimperlich. Schnell ist klar; Sebi ist ein «Finöggel» und für die Arbeit auf dem Feld nicht zu gebrauchen. Auch nicht als Gehilfe des Totengräbers und nicht einmal im Kloster, in der Hoffnung, dereinst lesen und schreiben zu lernen. Schliesslich wird er zum Gesellen der Teufels-Anneli, einer umherziehenden Geschichtenerzählerin. Sebi wird das, wonach er sich sehnt, auch wenn er immer zwischen den Fronten bleibt.
«Wenn der Schnee klafterhoch liegt, kann ein Vogelschiss genügen, um eine Lawine auszulösen.»
Doch, Charles Lewinsky kann es. Er kann es mit übersprudelnder Vielfalt, mit einer Authentizität, die mir als Leser das Gefühl gibt, Charles Lewinsky hätte den unerschöpflichen Quell aller Phantasie gefunden. Und wer wie ich die Vielfalt, den Fleiss, und die unbestreitbaren Qualitäten des Tausendsassas kennt, würde ihm am liebsten den Titel «Sir» verleihen. Ein Roman über die Macht von Geschichten und die Wertlosigkeit so mancher Wahrheit. Heute wie früher – es wird munter erfunden, nicht nur aus Spass und Not, sondern strategisch. Dass aus Erfindung Lüge wird, ist auch keine Erscheinung der Gegenwart, nicht einmal die Schwierigkeit, das eine vom andern zu unterscheiden. Der Unterschied liegt im Bewusstsein des «Konsumenten», der aus der Lüge den Hass extrahiert. Aber dem neuen Roman scheint trotz aller Üppigkeit und Fabulierkunst etwas zu fehlen; beiden Protagonisten scheint das Blut in den Adern nicht warm genug zu fliessen. Weder der junge Geschichtenerzähler noch der Halbbart, der zum Erfinder der Halbbarte (Hellebarde) wird, schlüpft einem während der 680 Seiten Lektüre unter die Haut. Es reiht sich Geschichte an Geschichte, Bild an Bild, Clou an Clou (was der Serienschreiber vorzüglich beherrscht). Aber mir wird nicht warm. Schade.
Charles Lewinsky, 1946 in Zürich geboren, ist seit 1980 freier Schriftsteller. International berühmt wurde er mit seinem Roman «Melnitz». Er gewann zahlreiche Preise, darunter den französischen Prix du meilleur livre étranger. Sein jüngster Roman «Der Halbbart» hat es auf die Shortlist des Deutschen und auf die Shortlist des Schweizer Buchpreises geschafft. Sein Werk erscheint in 14 Sprachen. Charles Lewinsky lebt im Sommer in Vereux (Frankreich) und im Winter in Zürich.
Die Mischung hätte illustrer nicht sein können. Eine Mischung, die es in sich hat. Charles Lewinsky gehört seit Jahrzehnten zu den Grossen im deutschsprachigen Literaturhimmel. Die Ostschweizerinnen Dorothee Elmiger und Anna Stern zählen noch immer zu den Geheimtipps. Tom Kummer weiss sich zu inszenieren, nicht erst seit dem Klagenfurter Wettlesen. Und Karl Rühmann? Karl Rühmann ist die Überraschung!
Charles Lewinsky «Der Halbhart», Diogenes Charles Lewinsky ist das Schwergewicht unter den Nominierten. Nur schon deshalb, weil er bereits zweimal unter den Nominierten zum Schweizer Buchpreis sass: 2011 mit seinem Roman «Gerron» und 2016 mit dem Roman «Andersen». Auch im Wettbewerb zum Deutschen Buchpreis stand und steht sein Name schon auf der Liste. Aber ein Wettbewerb soll überraschen! Charles Lewinsky ist einer der Namen, den man längst für seine literarischen Verdienste hätte adeln sollen. Wäre ich König, hätte ich dem Schriftsteller, Drehbuch-, Theater- und Hörspielautor, Musical- und Songtexter schon längst für sein Lebenswerk den Titel «Sir» verliehen. Charles Lewinsky ist eine Grossmacht, ein Tausendsassa, ein Schriftsteller, der sich stets neu erfindet. Rezension von «Der Stotterer» (2019) auf literaturblatt.ch
Dorothee Elmiger «Aus der Zuckerfabrik», Hanser Dorothee Elmigers neues Buch ist kein Roman. Dorothee Elmiger versucht mit «Aus der Zuckerfabrik» die Welt zu verstehen, nimmt mich mit ihrem Buch mit auf ihre Kopfreise in die Tiefen des Denkens. Mit ihrem dritten Buch erscheint sie zusammen mit Charles Lewinsky nicht nur auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises, sondern auch auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2020. Erinnern wir uns an «Tauben fliegen auf» der Schweizerin Melinda Nadj Abonji. 2010 gewann sie mit ihrem zweiten Roman sowohl den Deutschen wie den Schweizer Buchpreis. Und Dorothee Elmiger hätte mit Sicherheit das Zeug dazu, es Melinda Nadj Abonji gleich zu tun. «Elmiger ist Dichterin, Historikerin, Analytikerin, Theoretikerin und begnadete Erzählerin in einem», schreibt die Presse.
Anna Stern «das alles hier, jetzt», Elster & Salis Anna Stern, Umweltnaturwissenschaftlerin und Autorin, schreibt sich mit jedem neu erscheinenden Buch tiefer, höher, prägnanter in die Szene. Anna Stern stellt die grossen Fragen der Zeit und die ewig grossen Fragen des Menschseins, experimentiert mit ihrem Schreiben, verbindet in ihren Büchern die verschiedensten Sparten der Kunst. Sie schreibt kompromisslos und wer Anna Stern schon einmal lesend und argumentierend erlebt hat, weiss, was es heisst, ganz für eine Sache einzustehen. Es ist längst Zeit, dass Anna Stern einen grossen Preis für ihr Schreiben verliehen bekommt. Es ist längst Zeit, dass man Anna Stern den Platz einräumt, der ihr gebührt. Rezension von «Wild wie die Wellen des Meeres» (2018) auf literaturblatt.ch
Tom Kummer «Von schlechten Eltern», Tropen Tom Kummer – ein bunter Vogel, der weiss, wie Geschichten erzählt werden müssen, nicht nur weil er einst die Hollywoodstories fürs Schweizer Publikum aufbereitete, weil er ein ausgezeichneter Journalist ist, sondern weil er in seinem Schreiben zeigt, dass Dichtung und Wahrheit nicht in zwei verschiedenen Schubladen gebettet liegen. Das eine mischt sich mit dem andern, unweigerlich, ob man es wahrhaben (wieder so ein Wort) will oder nicht. Sein neuer Roman «Von schlechten Eltern», von den einen gefeiert, von den andern mit Distanz quittiert (wie könnte es bei Tom Kummer anders sein). Tom Kummers Protagonist in seinem Roman ist ein VIP-Chauffeur, der vom Flughafen nach Bern oder Zürich fährt, ein Geschichtensammler, der noch viel mehr mit sich herumschleppt, alles zwischen Himmel und Hölle.
Karl Rühmann «Der Held», rüffer & rub Und Karl Rühmann? Kennen sie Karl Rühmann? Karl Rühmann schrieb vor zwei Jahren den Roman «Glasmurmeln, ziegelrot», ein wunderbares Buch, das in der Öffentlichkeit niemals jene Aufmerksamkeit erreichte, die der Roman verdient hätte. Dass Karl Rühmann unter den Nominierten ist, freut mich ungemein. Und ich stelle mir seine Überraschung mit grösstem Vergnügen vor, die ihn heimsuchen wird, wenn er von seiner Nominierung erfährt! Lesen sie seinen Roman «Der Held» aus dem Verlag rüffer & rub, einem Verlag, in dem Karl Rühmann fast das ganze literarische Programm ausmacht. Ein Roman, der aus dem Internationalen Tribunal in Den Haag eine literarische Bühne macht – existenziell! ein Interview mit Karl Rühmann auf der Verlagsseite Rezension von «Glasmurmeln, ziegelrot» auf literaturblatt.ch
Ich bin von der Shortlist beeindruckt. Sie ist listengewordener Mut! Der Beweis dafür, wie vielfältig die Schweizer Literatur sein kann – und angesichts all derer, die sich nicht auf der Liste finden, aber das Zeug dazu absolut hätten, ein starker Jahrgang!