Lieber Bär
Hast Du schon einen Blick auf den Deutschen oder den Österreichischen Buchpreis geworfen? Ich schiele jedes Jahr und wundere mich auch jedes Jahr. Vielleicht ist es ein bisschen wie beim Fussball, auch wenn ich mich als Fussballlaie damit wahrscheinlich in Nesseln setze. Aber krankt der immer wieder ins Straucheln kommende Erfolg der Schweizer Nationalelf nicht am Selbstvertrauen, am Selbstverständnis, am bis ins Knochenmark durchgesickerte fehlende Selbstbewusstsein? Ist es die helvetische Zurückhaltung, die bremst, der eingeimpfte Zwang sich anzupassen? Sind wir mit Menschen anderer Sprache zusammen, passen wir uns augenblicklich an. Kein Franzose käme auf die Idee, einem Deutschschweizer „sprachlich“ entgegenzukommen, sind wir doch Bewohner eines mehrsprachigen Landes und machen mit Stolz auch immer wieder darauf aufmerksam.
Was kümmern uns unsere Nachbarn. Warum sollten wir uns mit ihnen vergleichen. Österreich zählt ungefähr gleich viele Einwohner wie die Schweiz. Einsendungen der Verlage an den Österreichischen Buchpreis gab es aber wesentlich mehr als in der Schweiz. Liegt es vielleicht daran, dass sich bereits eine ganze Reihe von Schriftstellerinnen und Schriftsteller weigern, beim Schweizer Buchpreis mitzumachen, es den Verlagen untersagen, ihre Bücher in den Wettbewerb zu stellen? Fehlt es am Mut der Organisation oder der Jury? Béla Rothenbühlers Roman „Polivon Pervers“ ist eine Ausnahme. Oder ist sein Buch bloss die Vertretung all jener, die mit Mut und Risiko der Tradition trotzen?

Deutschland und Österreich leisten sich eine Longlist, Österreich gar eine Shortlist der Debüts. Und die Liste Österreichs ist mutig. Ausgewogen zwischen Traditionellem und Offensivem. Die deutsche Longlist huldigt mehr der Tradition, setzt auf viele grosse Namen, darunter mit Doris Wirth und Zora del Buono gar zwei Schweizerinnen. Erinnern wir uns doch gerne an Melinda Nadj Abonji, die mit ihrem Roman „Tauben fliegen auf“ sowohl den Deutschen wie den Schweizer Buchpreis erhielt. Kann man sich vorstellen, dass eine Deutsche den Schweizer Buchpreis erhalten könnte? Nur mit fünf Nominierten unmöglich. Ein Sakrileg.
Es sind fünf gute Bücher, die für den Schweizer Buchpreis nominiert wurden, lesenswerte Romane. Aber mir fehlt der Mut, das Selbstbewusstsein. Nicht zuletzt der Mut zu Veränderungen und das Selbstbewusstsein auch Bücher mitzunehmen, die den drei anderen Landessprachen zugehören.
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Lieber Gallus
Ich bin nicht einverstanden, dass die Auswahl der Nominierten für den Schweizer Buchpreis 2024 ohne Mut und ohne Selbstvertrauen getroffen wurde. Sind doch junge Autorinnen dabei, ein Début und sogar ein Mundart Autor. Dass zwei davon aus der Nähe von Luzern kommen, freut mich, ist aber nicht ausschlaggebend.
Ein grosses Fragezeichen steht für mich hinter dem Sinn dieser Preise: Helfen sie wirklich zur Verbreitung guter Literatur, zur Auseinandersetzung mit unserer Sprache und dem besseren Verständnis unserer Welt? Was würde ich, was würden die Leserinnen und Leser lesen, wenn es diese Preise nicht gäbe? Sind sie wichtig für die AutorInnen? Geht es «nur» um Verbesserung der Verkaufszahlen? Was ist der Wert einer Longlist, vor allem nach Bekanntgabe der Shortlist?
Da ich keinen Überblick über die deutsche und österreichische Literaturszene habe (wie du), kann ich deren Auswahl nicht beurteilen. Meine Auswahl der Bücher, die ich lesen will, orientiert sich nicht an den Buchpreisen.
Für mich sind das Literaturblatt, Literatursendungen im Radio und Fernsehen sowie die leider nur noch spärlichen Buchbesprechungen in den Zeitungen wichtiger. Literaturfestivals und Lesungen während des Jahres beeinflussen mich mehr als der Buchpreis. Ebenso schätze ich hin und wieder einen Blick zurück in ältere Werke, die noch ungelesen in meinem Büchergestell liegen. Ich bin sicher nicht der Einzige, dem es so geht.

«Verschiebung im Gestein» von Mariann Bühler, «Brennende Felder» von Reinhard Kaiser-Mühlecker, «Die Kunst, eine schwarze Katze» von André David Winter, «Der Schweizerspiegel» von Meinrad Inglin und «Fast wie ein Bruder» von Alain Claude Sulzer neben «Die Vögel» von Tarjei Vesaas: zu diesen wunderbaren Werken fand ich durch das Literaturblatt, eine Rezension in der Zeitung und durch eine Lesung. Durch Interviews beziehungsweise Begegnung lerne ich die SchriftstellerInnen persönlich kennen und ihre Werke noch besser verstehen.
Für die AutorInnen mag es anders aussehen. Die Verkaufszahlen der nominierten Bücher sind meist besser, sie kommen ins Gespräch und in die Medien. Dagegen bin ich nicht immun, das gebe ich zu. Notwendigerweise gibt es dadurch aber unzählige Meisterwerke, die zwischen Stuhl und Bank fallen.
Dir fehlt Mut zu Veränderungen, fehlt das Mitnehmen von Büchern der anderen Landessprachen. Da würde mich sehr interessieren, welche konkreten Vorschläge du hast, dies zu verbessern.
Herzliche Grüsse
Bär

Tom fährt einen 560er, manchmal, bei ganz besonderen Kunden einen 600er, stets nachts, vom Hotel zum Flughafen, von einer Tür zur andern. Manchmal auch nur einen Koffer. Tom ist bekannt und geschätzt für seine Diskretion, seine Zuverlässigkeit, seine Ruhe. Auch wenn Gespräche entstehen, Freundlichkeiten ausgetauscht werden, Fragen beantwortet werden müssen; Tom drängt sich nicht auf. Da ist nur das Auto, der Weg und die Aufgabe, den Kunden von A nach B zu chauffieren. Das einzige, was nicht zu seinem schwarzen Anzug, seiner schwarzen Limousine passt, ist das Foto von Vince und Frank, seinen beiden Söhnen und seiner Frau Nina, deren Stimme er noch immer hört, deren Duft er noch immer in der Nase mit sich trägt, wenn er bei seinem jüngeren Sohn Vince morgens eine Weile unter die Decke schlüpft. Das Foto ist das, was er wirklich mit sich herumchauffiert, immer, dauernd. Die Angst, genau das zu verlieren, was im Moment, als das Foto geknipst wurde, Familie ausmachte. Nina ist tot, Frank achtzehnjährig in den USA geblieben und der zwölfjährige Vince zuhause viel zu oft alleine.
Der Roman ist der Countdown bis zum Moment, wo Tom seinen älteren Sohn Frank vom Flughafen abholen kann, zusammen mit Vince. Frank, den Jean-Luc, sein Chef mit seinen „Kontakten“ auf der anderen Seite des Ozeans aufgespürt hatte, nachdem er sich bei seinem Vater während Tagen nicht gemeldet hatte. Der Roman ist die Landschaft eines Verlorenen, der die Enden seines Lebens zu halten versucht, der gegen das Verschwinden und Entschwinden kämpft, der ein guter Vater, eine gute Familie sein will, dem das Leben abhanden gekommen ist durch den Tod seiner Frau. „Von schlechten Eltern“ ist intensiv, konzentriert, traumwandlerisch und mit Bildern aufgepumpt, die sich wie böse Träume aneinander reihen. „Von schlechten Eltern“ ist tief wie schwarzes Wasser, wie Vantablack, jenes Schwarz, das fast nichts mehr reflektiert und magisch in die Tiefe zieht.
Tom Kummer, geboren 1961 in Bern, ist ein Schweizer Autor. Als Journalist löste er im Jahr 2000 wegen fiktiver Interviews einen Medienskandal aus. Nach mehreren Jahren in Los Angeles mit seiner Familie, lebt er wieder in Bern. Er schrieb u.a. «Good Morning, Los Angeles – Die tägliche Jagd nach der Wirklichkeit» (1997) und «Blow Up» (2007). Sein letzter Roman «Nina & Tom» (2017) wurde von der Kritik gefeiert.

Karl Rühmann (Mladen Jandrlic) wurde 1959 in Jugoslawien geboren und wuchs dort auf. Er studierte Germanistik, Hispanistik und Allgemeine Literaturwissenschaft in Zagreb und Münster und war Sprachlehrer und Verlagslektor. Seit 2006 lebt er in Zürich als Literaturübersetzer und Autor von Romanen, Hörspielen und zahlreichen, international erfolgreichen Kinderbüchern. Für den Roman «Glasmurmeln, ziegelrot» wurde Karl Rühmann 2015 mit dem Werkjahr der Stadt Zürich ausgezeichnet, für das Manuskript von «Der Held» erhielt er den Werkbeitrag des Kanton Zürichs.

Aber Anna Stern springt formal noch mehr aus der Spur. Ausser den Namen ist nichts gross geschrieben, nicht einmal Satzanfänge. Vielleicht weil Namen das einzig Konstante sind, an das man sich halten kann. Und neben Ananke und dem Erzähler Ichor sind alle Namen so gewählt, dass sie seltsam androgyn erscheinen, geschlechtslos, als ob die Autorin Gefühle und die Art des Erinnerns von geschlechtspezifischen Vorstellungen abkoppeln möchte.
Anna Stern, geboren 1990 in Rorschach, schreibt und doktoriert in Zürich.»das alles hier, jetzt.» Zuvor erschienen «Wild wie die Wellen des Meeres» (2019, Roman, Salis), beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt 2018 mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet, «Beim Auftauchen der Himmel» (2017, Erzählungen, lectorbooks), «Der Gutachter» (2016, Roman, Salis) und «Schneestill» (2014, Roman, Salis). Anna Stern ist Förderpreisträgerin der St. Gallischen Kulturstiftung. 2019 zeichnete die Stadt Zürich ihr literarisches Werk aus.


