Lukas Maisel «Buch der geträumten Inseln», Rowohlt

Robert Akeret macht sich auf, auf eine lange Reise. Nicht zur Erholung, nicht einmal auf die Suche nach dem Glück. Robert Akeret will seinem kleinen Leben Bedeutung verschaffen. Er will ein Grundstein der Wissenschaft werden, sein Name ein Denkmal, das bleiben soll.

Robert Akeret bezeichnet sich selbst als Kryptozoologe („Lehre von den versteckten Tieren») und schimpft seine Gegenwart, dass nicht längst an jeder Universität ein Lehrstuhl dieser Wissenschaft vertreten ist. Er hält nichts von der eidgenössischen Bescheidenheit, der Abneigung gegen das Weitschweifende, Weltumspannende. „Ein Leben ohne Zuschauer» sei sinnlos. Er macht sich auf, jenes Lebewesen zu finden, dass das Bindeglied zwischen Mensch und Tier sein soll. Jenes Lebewesen, das man in Vietnam Nguoi Rung nennt, in China Deren, Alma im Altaigebirge, Batutut auf Borneo oder Orang Pendek auf Sumatra.

Insel der unbegründeten Hoffnung

Lukas Maisel siedelt seinen farbigen, üppigen und verspielten Roman in naher Zukunft an, einer Zeit, die aus dem Flughafen und der Stadt Dubai eine heruntergekommene, kaputte Destination macht, ohne zu erzählen, was die Welt derart veränderte. Akeret schliesst sich zusammen mit Blum, einem Studenten der Ethnologie, einem jungen, empfindsamen Mann, der auf dieser Reise, deren Zweck Akeret im Dunkeln lässt, unbekannte Sprachen, Geheimsprachen zu erforschen hofft, wie Akeret eigentlich nur weg will und auf die grosse Offenbarung hofft. Als dritten auf dieser Expedition heuert Akeret Mansur an, einem Mann aus Sulawesi, Angehöriger der Bugs, einem alten Seefahrervolk. Und als letzter noch Jonah, einen stillen Maschinisten, Sohn eines Fischers, geflohen, der mit dem umgebauten Schiff mit dem übergrossen Käfig und seinem tuckernden Motor zurecht kommen soll.

So sehr sich Akeret und Blum auf ihre Aufgabe zu konzentrieren versuchen, so ergeben scheinen Mansur und Jonah, scheinbar zufrieden mit der Aufgabe allein, ohne Zukunft, ohne Perspektiven.

Insel des berauschten Paradiesvogels

Lukas Maisel «Buch der geträumten Inseln», Rowohlt, 2020, 272 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-498-00202-2

Akeret war schon als Kind ein Sonderling, einer, der mit seiner Fragerei den letzten Nerv rauben konnte. Einer der sich mit keiner Antwort abspeisen liess, einer, der sich auch in der Schule nicht abspeisen liess. Sein Lieblingsbuch damals war „Das Buch der geträumten Städte“.
Und als Erwachsener schimpft Akeret sie alle, die Lehnstuhlzoologen, die sich fürchten, ihre schlaffen Körper ins Unbekannte zu stürzen. Ob von Erfolg gekrönt oder nicht, Akeret weiss, sie würden schimpfen, ausrufen, denn er hatte nicht studiert und bekannte sich mit Vehemenz zu einer Wissenschaft, die bei Zoologen nur Kopfschütteln verursacht. Aber er würde es ihnen zeigen. Und wenn der Moment des Triumphs kommt, wird das Wesen Homo Akereti heissen! Akeret und Blum belauern sich, jeder wissend, dass das Unternehmen nie ohne den andern gelingen kann. Man misstraut sich, versteckt sich hinter seiner Aufgabe, der ganz persönlichen Aussicht auf den grossen Triumph, jedes Scheitern ausblendend.

Während die Natur immer wilder wird, der Fluss immer schmaler, das Weiterfahren mit der Marie immer schwieriger, während die Eingeborenen immer feindlicher werden, sich das, was ihnen begegnet immer mehr verschliesst, steigert sich Akerets Entschlossenheit. Irgendwann bringen Eingeborene den Forschungsreisenden tatsächlich ein Wesen, weder Mensch noch Tier. Ein eindeutig menschlicher Kopf mit haarigem Rumpf und Fischlaib, zusammengenäht mit grobem Garn. Ein Versuch, die Fremden zu beschwichtigen? Ein Glücksbringer, ein Ningyo? Eine Warnung?

Lukas Maisels Sprache ist wie seine Geschichte von einer anderen Welt, erfrischend altbacken, genauso wie der Protagonist, der in naher Zukunft unterwegs ist, wie die einstigen Entdecker, wohl wissend, wie viel Leid, Zerstörung und Krankheiten sie auslösten – im Dienst von Wissenschaft und Forschung, Eroberung und Status. So sehr es Akeret um die Erfüllung seines Traumes geht, dem Zusammenschluss zwischen seiner ganz eigenen Logik und allgemeingültiger Wahrheit, so geht es Lukas Maisel nicht um das Ziel, nicht um die Erfüllung. Das „Buch der geträumten Inseln“ liest sich tatsächlich wie ein Traum zwischen den Wirklichkeiten. Ein Mann fährt durch seine Welt, ohne je in ihr anzukommen. Die Welt bleibt fremd. 

„Ich weiss, wonach ich gesucht habe, wenn ich es finde.“ Unglaublich erfrischend!

Interview mit Lukas Maisel:

80 Prozent der gegenwärtigen AutorInnen beschäftigen sich in ihrem Schreiben in irgend einer Weise mit sich selbst, transformiert oder nicht. Wer weiss, vielleicht ist diese Selbstschau in ihrem Roman so weit verfremdet und verborgen, dass ich an ihr vorbeilese. Umso mehr interessiert mich der Ursprung ihres Romans. Was stand ganz zu Beginn?
Ich habe kein Bedürfnis, etwa meine Familiengeschichte niederzuschreiben. Ich fände es öde, das zu schreiben, und öde, zu lesen. Das ist so eine unnötige Verdopplung der Wirklichkeit, obwohl man doch alle Mittel hätte, eine ganz andere Wirklichkeit zu erschaffen. — Am Anfang dieses Romans standen ein paar Zeilen, die ich am Literaturinstitut in einem Kurs geschrieben hatte. Es gibt darin noch keine Figuren, allein die Bedrohung durch geheimnisvolle Wesen in einem Regenwald. Diese Miniatur hat viele Fragen aufgeworfen, denen ich nachgehen wollte. Es verbanden sich andere Ideen mit dieser, etwa jene von einer Expedition, bei der möglichst viele Insektenarten beschrieben und benannt werden sollten. Ich finde den menschlichen Drang, alles zu benennen, und die Hybris, es auch zu tun, unglaublich faszinierend. Erst später kam dann Robert Akeret hinzu, die Hauptfigur.

Sind Sie zu Recherchezwecken tatsächlich gereist? Und wie weit hat sich ihr Romanvorhaben während dieser Recherchen von seiner ursprünglichen Form entfernt? Oder folgten Sie einem (ge)strickten Plan?
Ja, ich bin gereist, auf die indonesischen Inseln Sumatra, Sulawesi und Ternate, auch auf Waigeo, das zum indonesischen Teil Neuguineas gehört. Auf Ternate gibt es den Vulkan Gamalama, auf den mich ein barfüssiger Führer gebracht hat, der ständig Nelkenzigaretten rauchte: das Urbild Jonahs, einer der Figuren im Roman. Auch auf Sulawesi verbrachte ich einige Zeit, um Mansur nachzuspüren, dem indonesischen Helfer der Expedition. Es geht um Details, aber Details sind alles in einem Roman. Der Kern des Romans hat sich dabei kaum verändert.

Die verbissene Suche nach etwas, was vielleicht nicht einmal sein kann, dass sich allen Wahrscheinlichkeiten entzieht, ist ein weit verbreitetes Phänomen. All die aktuellen Verschwörungstheorien sind Beispiele genug. So wie der Abenteurer Robert Akeret über die Lehnstuhlzoologen schimpft, schimpft der Verschwörungstheoretiker auf den Mainstream, die Wissenschaft, die Politik. Ist dieses „Aufsitzen“ nicht ein urmenschliches Bedürfnis? Ein Stück Zuhause?
Das wiederkehrende Narrativ ist: Nichts sei, wie es scheint, die vorherrschende Meinung sei falsch. Das würde auch Akeret unterschreiben, doch anerkennt er die wissenschaftliche Methode und die durch sie gewonnenen Erkenntnisse. Er glaubt aber, dass die Wissenschaft etwas übersehen hat, das ein unbefangener Laie eher finden kann. Man sieht nur, was man weiss, meinte Goethe.

Frauen scheinen in Ihrem Roman nur eine sehr untergeordnete Rolle zu haben. Ist es, weil die vier Archetypen, die sich auf diese Forschungsreis begeben auch wirklich den verschiedenen, männlichen Archetypen entsprechen?
So ganz stimmt das nicht: Professorin Dr. Unland beansprucht mehrere Kapitel, und auch Margarete ist keine unwichtige Figur. Den Bechdel-Test jedenfalls würde der Roman bestehen.

„Er wusste wohl, dass Scheitern möglich war, ans Aufgeben aber glaubte er nicht. Mit leeren Händen heimzukehren, war keine Möglichkeit.“ Dieses Missionarische. Wie weit gilt dieser Satz auch für die Schriftstellerei, das Leben als „Jungautor“?
Es ist schon so, wie Meister Yoda sagt: »Tu es oder tu es nicht. Es gibt kein Versuchen.« Natürlich ist Talent ungleich verteilt und wichtig für das Schreiben, aber genauso wichtig ist die Bereitschaft, aus jeder Zurückweisung, jedem Scheitern zu lernen. Ich hatte schon einige Jobs, ich habe in einer Weinabfüllerei, einem Warenlager, einer Druckerei etc. gearbeitet — ich weiss, dass jeder andere Beruf mich langweilen würde, nur das Schreiben nicht. Darum ist jedes Scheitern für mich, wie für Akeret, kein Anlass zu Zweifeln, sondern treibt mich weiter an.

© Rowohlt Verlag

Lukas Maisel, geboren 1987 in Zürich, machte eine Lehre zum Drucker, bevor er am Literaturinstitut in Biel studierte. Für das Manuskript seines ersten Romans, Buch der geträumten Inseln, erhielt er 2017 einen Werkbeitrag des Kantons Aargau und 2019 den Förderpreis des Kantons Solothurn. Er lebt in Olten.

Webseite des Autors

Hans Joachim Schädlich «Die Villa», Rowohlt

Hans Joachim Schädlich beweist mit seiner Art des Schreibens, dass sich Literatur durchaus der Schlichtheit, dem (scheinbar) Einfachen verschreiben kann, um Grossartiges zu erzählen. Der Autor erzählt die Geschichte eines Hauses und ihrer Bewohner. Wer im Laufe seines Lebens einmal ein Haus gebaut hat, weiss, wie sehr man dem Irrtum verfallen kann, man baue ein Stück Beständigkeit, vielleicht sogar Ewigkeit.

Ein zweiflügliges, schmiedeeisernes Tor, eine leicht geschwungene Auffahrt an einem Springbrunnen vorbei, im Erdgeschoss grosse Räume, Parkett und Stuck, ein Wintergarten, über dem Treppenpodest ins Obergeschoss ein grosses, hohes Bleiglasfenster, ein Turmzimmer. Die Gründerzeitvilla, von einer zu Reichtum gekommenen Familie 1890 gebaut, wird 1940, mitten im grossen Krieg das Zuhause der Familie Kramer. Hans und Elisabeth Kramer und ihre vier Kinder.

Als sie in die Villa einziehen, Vater Kramer längst eingeschriebenes Mitglied der NSDAP, prosperiert das Tausendjährige Reich. Man richtet sich ein für eine glorreiche Zeit. Elisabeth Kramer, die jung gar nicht heiraten wollte und von einer sozialen Aufgabe irgendwo auf der Welt träumte, schob man in eine kaufmännische Lehre und in den sicheren Hafen der Ehe. Auch Hans hätte gerne studiert. Aber da der Vater Drogerien besass und Nachfolgesorgen, war schnell klar, in welche Richtung das Leben verlaufen würde, erst recht mit der Marschrichtung der Partei.

Hans Joachim Schädlich «Die Villa», Rowohlt, 2020, 192 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-498-06555-3

Hans ist kein strammer Nazi, seine Frau Elisabeth noch viel weniger. Aber man richtet sich mit und in den Umständen ein. Der Nationalsozialismus ist Naturgesetz, so wie das generelle Misstrauen, die Judenfeindlichkeit und der logisch scheinende Weg in einen Krieg. Den Kramers geht es schliesslich gut und man ist überzeugt, einer Herrenrasse anzugehören. Man ist erfolgreich, hält sich Gärtner, Kindermädchen, feiert Feste und pflegt Beziehungen zu Parteispitzen. Bis nach der Katastrophe von Stalingrad der Wind zu drehen beginnt, man vorsichtiger wird und vor allem Elisabeth den herannahenden Zusammenbruch erahnt.

Irgendwann reicht das Geld nicht mehr. Man verkauft die Villa, zieht sich ins Obergeschoss zurück. Die Amerikaner fahren mit ihren Jeeps im Ort ein. Es gibt Kaugummis und Zigaretten. Später fällt der Ort in die sowjetische Zone. Der Russe kommt, man muss in eine kleine Mietwohnung umziehen, kann nur das Nötigste mitnehmen.

Hans Joachim Schädlich erzählt wahrscheinlich die Geschichte seiner Familie. Was am Roman des Schriftstellers begeistert, ist aber nicht einmal so sehr die Geschichte der Familie, die durch die Wirren der Zeit gespült wird. Es ist die Geschichte dieses Hauses, mit Selbstbewusstsein gebaut, für Grosses bestimmt. 2008 wird die Villa abgerissen, muss dem Fortschritt weichen. Kurz vor ihrem Abbruch, aus der Villa ist ein Pflegeheim geworden, besucht Elisabet zusammen mit ihrem Sohn noch einmal jenes Haus, das für wenige Jahre, in den Glanzzeiten des Tausendjährigen Reiches, zum Stammhaus einer aufstrebenden Familie hätte werden sollen.

Aber was am Roman Hans Joachim Schädlichs wirklich fasziniert, ist die Lakonie seiner Sprache, seines Erzählens. Er zeichnet mit einem spitzen Stift, malt nicht aus, verliert sich mit keinem Satz. Wo andere mit der grossen Kelle ans Werk gehen, bleibt Hans Joachim Schädlich beim Wesentlichen, hangelt sich am Gerüst durch die Zeit. Umso mehr steigen bei mir selbst die Bilder auf, füllen sich mit Farben, Stimmungen, sogar mit Gerüchen. Hans Joachim Schädlich ist eine Ikone!

Interview mit Hans Joachim Schädlich:

In „Die Villa“ ist die Protagonisten nicht aus Fleisch und Blut, sondern eine Villa in Reichenbach, erbaut in der Gründerzeit, Ende des 19. Jahrhunderts. Im letzten Kapitel besucht die greise gewordene Frau Kramer noch einmal die Villa, kurz bevor das Gemäuer weichen muss und abgerissen wird. Es ist die Geschichte eines Hauses über mehr als ein Jahrhundert bis in die Neuzeit. Häuser erzählen Geschichten, alte Häuser viele Geschichten. Sie sind die Bühne, die Kulisse, flüstern von Zeiten, die längst vorbei sind. Mauern suggerieren Beständigkeit, beinahe Ewigkeit, zumindest aus menschlicher Sicht. Rückt Geschichte mit fortschreitendem Alter in ein anderes Licht?
Geschichte offenbart sich mit fortschreitendem Alter immer klarer, zumindest aus meiner Sicht.

Kramers, die mitten im letzten Weltkrieg die letzten „grossbürgerlichen“ Bewohner dieser Villa waren, waren das, was die meisten im Tausendjährigen Reich waren; wenn nicht stramme Nazis, dann doch mindestens überzeugt davon, dass Parteizugehörigkeit unverzichtbar ist, erst recht als Unternehmer und Arbeitgeber. Damals die Partei, heute der Glaube an stetes Wirtschaftswachstum und Konformismus?
Es bedarf wohl der Kompetenz vom Soziologen, Wirtschaftsfachleuten und Historikern, um Ihre Frage zu erörtern.
Ich bemerke zumindest, dass man es damals und heute mit grundsätzlich verschiedenen Bedingungen zu tun hat. Damals herrschte die Nazidiktatur in Deutschland und seit den vierziger Jahren in fast ganz Europa. Heute gibt es in einem freien Europa gemeinsame, regulierende Behörden (EU).

Ihre Sprache ist glasklar, ihre Sprache Programm. Sie hat nichts Verschwenderisches, ihre Sätze mäandern nicht um ihrer selbst willen. Sie bauen mit ihren Sätzen keine dicken Mauern, keine tiefen Keller. Aber ein filigranes, fast durchscheinendes Gefüge, das in die Höhe strebt. Kurze Kapitel, jedes wie ein Bild. Sie erklären nicht, deuten und ergründen nie. Alles liegt bei mir, dem Leser. Was ist bei ihrem Schreiben oberste Maxime?
Ein poetisches Prinzip meiner Schreibarbeit besteht darin, Denkräume für die Phantasie des Lesers zu schaffen. Manche nennen das lakonischen Stil. Das Mittel des lakonischen Stils ist – informationstheoretisch gesprochen – die Reduktion redundanter Ausdruckselemente.
Ein anderes Prinzip ist bei historischen Stoffen die geschichtliche Präzision. Die umfangreichsten Recherchen habe ich wohl für meinen Roman „Tallhover“ betrieben. Wenn ich mir vorstelle, ich hätte z.B. für das Kapitel über Lenins Reise im April 1917 aus der Schweiz über Deutschland, Schweden, Finnland nach Petrograd keine präzisen Daten ermittelt, dann hätten Leser, die das nachprüfen können, vielleicht gemeint, das Ganze stimme gar nicht. Diese Reise gewann aber welthistorische Bedeutung. Aus der historischen Präzision folgt die Glaubwürdigkeit des Textes.

So wie die Denkmalschutzbehörde am Schluss, kurz vor Abbruch der Villa „für die Nachwelt“ eine photogrammetrische Erfassung der Liegenschaft vornimmt, hält man bei der Beerdigung einen Nachruf am Sarg des Verstorbenen. Ein paar Eckdaten, ein paar Geschichten. Sie setzen dem Haus, den Menschen, die darin wohnten ein Denkmal, aber ohne mahnenden Finger: „Denk mal!“ Wo lag der Anfang ihres Buches auf dem man die Bezeichnung „Roman“ vergeblich sucht?
Der Anfang des Buches lag in dem Wunsch begründet, die Villa und ihre Bewohner – eine deutsche bürgerliche Familie in den dreissiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts – in einer Kombination aus Fakten und Fiktion gleichnishaft zu verknüpfen, exemplarisch für Aufstieg und Niedergang.

Erzählen Sie kurz von einem literarischen Geheimtipp, den es zu entdecken lohnt und den Sie vor noch nicht allzu langer Zeit gelesen haben?
Ich habe in letzter Zeit Daniil Charms, der mit bürgerlichem Namen Daniil Juvacev hiess, für mich entdeckt. Er ist 1942, im Alter von 37 Jahren, in einem sowjetischen Gefängnis in Leningrad  verhungert. Seine Arbeiten wurden in der Sowjetunion erst in den Zeiten der Perestroika gedruckt. Peter Urban, der große Cechov-Übersetzer, hat als erster „Charms“ ins Deutsche übersetzt. Im Galiani Verlag ist von 2010 – 2011 eine vierbändige „Charms“-Ausgabe erschienen. 

© Jürgen Bauer

Hans Joachim Schädlich, 1935 in Reichenbach im Vogtland geboren, arbeitete an der Akademie der Wissenschaften in Ost-Berlin, bevor er 1977 in die Bundesrepublik übersiedelte. Für sein Werk bekam er viele Auszeichnungen, u. a. den Heinrich-Böll-Preis, Hans-Sahl-Preis, Kleist-Preis, Schiller-Gedächtnispreis, Lessing-Preis, Bremer Literaturpreis, Berliner Literaturpreis und Joseph-Breitbach-Preis. 2014 erhielt er für seine schriftstellerische Leistung und sein politisches Engagement das Bundesverdienstkreuz. Hans Joachim Schädlich lebt in Berlin.

Rezension von «Felix und Felka» von Hans Joachim Schädlich auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Jürgen Bauer

Steffen Schroeder «Mein Sommer mit Anja», Rowohlt

Während eines Sommers kann sich alles ändern. Alles. Zumindest für einen Jungen zwischen Kindheit und Erwachsensein. Die festgelegte Ordnung, das ewige Ticken des Einerlei, die Selbstverständlichkeit, die man nie in Frage stellt, obwohl einem die Welt der Erwachsenen suspekt erscheint. Steffen Schroeder hat in seinem Roman die Hitze eines Sommers nacherzählt, die Hitze über einem kleinen Stück Glück, das verglüht.

Konrad teilt den Sommer mit Holger, einem geistig behinderten Jungen aus der Nachbarschaft, der in jenem Sommer zwar achtzehn wird, seinen um einige Jahre jüngeren Freund aber wie einen grossen Bruder sieht. Für ein paar Sommerwochen befreit von der Schule verbringen sie ihre Tage im Freibad Floriansmühle, nicht zuletzt deshalb, weil sie sich ihr karges Taschengeld durch Pfandflaschengeld aufbessern können, weil Konrad nicht viel anzufangen weiss mit dem wichtigtuerischen Gehabe seiner Klassenkameraden und weil die Mädchen in seinem Alter auf einem andern Stern leben. Weil er mit den Jungs, die Fussball spielen nicht mithalten kann und weil ihm die ewigen Streitereien seiner Eltern auf den Wecker gehen.

Erstes Zeichen dafür, dass der Sommer nicht sein wird, wie all die andern bisher, ist das Versteck, das er und Holger im Unterholz verborgen finden, der tote Specht unter ihrem Kletterbaum und die Plastiktüten in ihrem Versteck, die verraten, dass sie nicht die einzigen sind, die das Versteck nicht weit vom Bach nutzen.

Anja taucht auf. Ein Mädchen, das so ganz anders ist wie alle, die er sonst kennt. Anders als Jasmine, die Schwester seines reichen Klassenkameraden, die in ihren rosa Klamotten aussieht wie aus einer Mädchenzeitschrift entstiegen. Anja hat kurze Haare, als wären sie selbst geschnitten, trägt Kordhosen, keine Jeans wie alle andern, kennt jedes Kraut, das wächst und gibt sich selbst im Freibad, als sie sich umzieht, unbekümmert, als ginge sie die Welt rundum nicht wirklich etwas an.

Steffen Schroeder «Mein Sommer mit Anja», Rowohlt, 2020, 208 Seiten, 28.90 CHF, ISBN: 978-3-7371-0071-7

Konrad ist gleichermassen fasziniert wie Holger. Erst recht als klar wird, dass Anja vom nahen Heim ausgebrochen ist und klar macht, dass sie lieber sterben würde, als in den Bau zurückkehren zu müssen. Aus einer zaghaften Annäherung wird ein Dreigespann. Und als Anja immer mehr Nähe zulässt, Konrad bittet, ihr Geschichten zu erzählen, als sich die Tage nur noch um ihr Zusammensein zu drehen beginnen und Konrad in Kauf nimmt, von seinen Eltern Schelte zu kassieren, schleicht sich jenes Verliebtsein ein, jene zarte, erste Liebe, die alles andere zur Nebensache werden lässt. Sie sitzen am Fluss, nehmen Anja mit ins Freibad, sie hocken in ihrem Versteck oder stromern durch die Gegend.

Aber Konrad spürt, dass er durch Anja einer Welt begegnet, die mit der seinen nichts gemein hat. Was Anja erzählt, ist wenig. Der Sommer wird zu einer Blase ohne Vergangenheit, ohne Zukunft. Erst als Konrad und Anja im Wald bei wild gebauten Hütten von Stadtstreichern aufgestöbert werden, als in den Zeitungen von einem aus einem Heim ausgebüxten Mädchen geschrieben wird, als Konrad und Holger sehen, mit welcher Gier das Mädchen die von zuhause mitgebrachten Lebensmittel vertilgt, spürt Konrad, dass seine Welt mit der des Mädchens nicht viel gemein hat. Trotz all der Nähe, den zaghaften Berührungen, den flüchtigen Küssen. 

Steffen Schroeder erzählt von einem heissen Sommer, in dem Konrad seine Unschuld verliert. Von einem Sommer, der ihn aus der Kindheit katapultiert. Von einem Sommer, der ihn mit einer offenen Wunde zurücklässt, in dem der Verrat über die Liebe siegt und das eigene Tun und Lassen zu einer Katastrophe werden kann. Konrads Ahnung, dass das Leben nicht bloss aus Wassereis, den Top Ten aus dem Radio und der Sehnsucht nach Nähe besteht, dass es ein Leben ausserhalb aller Konventionen gibt, an der Grenze zwischen Kindheit und Erwachsensein, bricht über den Jungen, wie Hagel, Blitz und Donnerschlag zugleich.

„Mein Sommer mit Anja“ ist die Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies.

Interview mit Steffen Schroeder:

Konrad und Holger haben ein Geheimnis. Anja. Aber vielleicht macht das das Wesen von Geheimnissen aus. Der Unterschied zwischen jenen in der Kindheit und jenen als Erwachsener. Ein Geheimnis ist nicht einfach nur mehr etwas Verborgenes, sondern das, was den Träger eines Geheimnisses zum Schuldigen macht, wenn auch nur sich selbst gegenüber. Konrad erfährt existenziell, dass Geheimnisse tiefe Wunden reissen können. Ist Schreiben eine Form der Wundheilung?
Für mich auf jeden Fall. Ich habe schon als Kind Erlebtes in kleinen Geschichten verarbeitet oder in Tagebucheinträgen. Es gibt Texte, die schreibe ich nur für mich. Und andere, bei denen ich mich sehr freue, wenn ich sie mit möglichst vielen Menschen teilen darf.

In der Kindheit wächst man auf in der von den Eltern mehr oder weniger behüteten Familie. Die Pubertät ist nicht nur die Zeit der Verselbstständigung, der Loslösung, sondern auch die Zeit der Ernüchterung darüber, dass die Welt nicht den eigenen Vorstellungen entspricht. Wird die Ernüchterung nicht mit jedem Jahrzehnt schmerzhafter, so sehr, dass die Jugendlichen der Gegenwart allen Grund hätten, einer kollektiven Depression zu verfallen?
Das glaube ich nicht. Der Spruch „Früher war alles besser“ galt ja schon immer. Und ich stelle fest: So sehr mich dieser Ausspruch als Kind genervt hat – mit zunehmendem Alter muss man aufpassen, ihn nicht selbst zu verwenden. Letztens las ich einen Artikel, der mit einer Abhandlung über den kuriosen Umstand begann, dass heutzutage jeder überallhin reist. Der Witz war: Die so heutig wirkende Einleitung stammte von Theodor Fontane.
Und was die Depression angeht: Die Jugendlichen von heute haben unglaubliche Möglichkeiten und Freiheiten, wie es sie in diesem Ausmass noch nie zuvor gegeben hat: Man kann sich frei entscheiden, welchen Beruf man ausüben will, wo man leben will, ob und wen man heiraten will, welche Form der Sexualität man leben will und welches Geschlecht man gerne haben möchte. Die Kehrseite der Medaille: Wenn alles offen ist, muss man überall Entscheidungen treffen. Und das ist nicht immer einfach. Hinzu kommt die Angst: Jede Entscheidung, die ich treffe, kann die falsche sein. Und schliesst automatisch eine andere Option aus. So grossartig und verlockend diese Freiheit ist, ich stelle im Umfeld meiner grossen Söhne fest: Viele Jugendliche tun sich nach dem Abitur schwer, überhaupt irgendeine Entscheidung zu treffen, egal in welchem Bereich. Und verfallen in eine Depression. Das kann ich durchaus verstehen.
Übrigens fällt mir dazu ein: Ich habe mich ja bei meinem ersten Buch ausgiebig mit dem Gefängnis und seinen Insassen beschäftigt. Und genau dieses Verhalten kenne ich auch von Langzeithäftlingen, die nach vielen Jahren vor der Entlassung stehen. Die plötzlich in Aussicht stehende Freiheit, Freiheit auf allen Ebenen, überfordert sie. Und sie werden häufig depressiv. Ich glaube, Freiheit muss man lernen.

Holger, Konrads Freund, ist zurückgeblieben, Konrad der einzige, der ihm nicht die kalte Schulter zeigt, Holgers Mutter eine Frau mit langen schwarzen Haaren und dem Kämpferherz eines Indianers. Holger, seine Mutter, Anja – alles Figuren, die nichts mit der Biederkeit der späten Achtziger gemein haben. Kann man sich allein durch Erinnerung in jene Zeit zurückschreiben oder brauchten sie Hilfe; Bilder, Geschmäcker, Düfte, Musik, Filme?
Vielleicht kann man es, aber mir wäre es definitiv zu trocken. Und so habe ich mich all dieser Hilfsmittel bedient: Musik, Geschmackssinn und Gerüche funktionieren bei mir da besonders gut – mit diesen „Transportmitteln“ konnte ich mich schlagartig in die 80er Jahre versetzen und hatte viel Spass daran!

Sie sind Schauspieler und Schriftsteller. Geben Sie sich mit ihrem Roman die Hauptrolle in ihrem eigenen, inneren Film? Oder entspricht das Schreiben viel mehr der Sehnsucht nach einer gewissen Ordnung im Leben?
Das Schreiben ermöglicht mir Geschichten so zu erzählen, wie ich sie fühle. Das ist das Grossartige daran. Ich kann alles laufen lassen, so wie es in mir entsteht. Das ist eine grosse Freiheit, die ich gar nicht genug schätzen kann.
Als Schauspieler unterstehe ich ja immer einem Regisseur, der wiederum einem Intendanten untersteht, der wiederum auch von politischen Gegebenheiten abhängig ist. Oder ich folge den Anweisungen eines Fernsehregisseurs, der einen Produzenten zufriedenstellen muss, der es wiederum seinem Redakteur Recht machen will und dieser seinem Chefredakteur; die Quote muss am Ende stimmen und so weiter… und dann spielt das Geld natürlich noch eine Riesenrolle.
Da stellt sich oft nicht mehr die Frage, wie erzählen wir unsere Geschichte am schönsten? Sondern wie erzählen wir die effektvollste Geschichte, zum günstigsten Preis, mit breitestmöglicher Zielgruppe?
Wenn ich jedoch schreibe, kann ich alles einfach so entscheiden, wie es der Geschichte dienlich ist – und Punkt. Zumindest wenn man das Glück hat, bei so einem wunderbaren Verlag wie Rowohlt Berlin zu sein. Für mich ein riesiges Geschenk.

Das Schreiben eines Buches begleitet einem über Jahre. Es teilt Leben bis in die kleinsten, feinsten Sequenzen. Und selbst, wenn die Musik jener Zeit in ihrem Roman eine wichtige Rolle spielt, bleiben die Bilder über lange Strecken stumm. Was ist der Schriftstellerei und der Schauspielerei gemeinsam?
Letztendlich geht es doch immer ums Geschichten erzählen, ob als Schauspieler oder als Schriftsteller. Ich denke, da kommen diese beiden Berufe her. Vor langer, langer Zeit sind Minnesänger durch die Lande gereist und haben den Menschen ihre Geschichten erzählt und vorgetragen. Aus diesem Beruf sind Schriftsteller und Schauspieler hervorgegangen. Insofern liegt für mich beides ganz nah beieinander. Und auf einen Nenner gebracht: Egal ob ich spiele oder schreibe: Ich möchte gerne Menschen berühren. Darum geht es mir.

© Anne Heinlein

Steffen Schroeder wurde 1974 in München geboren. Nach seiner Schauspielausbildung war er zunächst Ensemblemitglied am Wiener Burgtheater, dann beim Berliner Ensemble. Er wirkte in Fernsehserien und Kinofilmen mit. 2017 erschien bei Rowohlt «Was alles in einem Menschen sein kann. Begegnung mit einem Mörder». Steffen Schroeder lebt mit seiner Familie in Potsdam.

Webseite des Autors und Schauspielers

David Wagner «Der vergessliche Riese», Rowohlt

Er besucht seinen Vater. Einen Vater, der sich ungewollt immer mehr von ihm entfernt. Einen Vater mit Demenz. Dieses grosse Vergessen, das einem einen Menschen wegnimmt, immer weiter weg, bis dieser trotz körperlicher Nähe ganz entschwindet, bis sich das Vergessen durch alles hindurchgefressen hat.

Als Arno Geiger 2011 seinen Roman „Der alte König in seinem Exil“ veröffentlichte, war es ganz offensichtlich für viele Leserinnen und Leser, als hätte da jemand ihre eigene Geschichte aufgeschrieben, die Geschichte einer unaufhaltsamen Abkehr, die Geschichte um einen an Alzheimer erkrankten Vater. Ich war an einer Lesung des Schriftstellers, an der er schon zu Beginn der Lesung klarmachte, dass er weder Fachmann in Fragen zu dieser Krankheit sei und auch keine Lust habe, eine Pandorabüchse zu öffnen.

David Wagner erzählt die Vater-Sohn Geschichte bis zu jenem letzten Satz: „Wer sind eigentlich deine Eltern?“ Eine Erzählung über einen langen, unvermeidbaren Abschied. David Wagner erzählt von den Besuchen des Sohnes bei seinem Vater. Zuerst im Glashaus in Andernach, später in der grossen Villa für Demenzkranke am Rhein. David Wagner schildert Begegnungen, in denen er Dialoge in Echtzeit erzählt, wie sich Wiederholungen immer mehr ausbreiten, die Entfernung aus der Gegenwart immer grösser wird. David Wagner tut dies so schlicht und geradlinig, dass ich mich tief in die Begegnungen hineingezogen fühle, ohne dass der Schriftsteller je in eine sentimentale Ebene abrutschen würde. Ich werde unmittelbarer Zeuge eines Verschwindens. Ich werde durch die immer gleichen Fragen des Vaters, der äusserlich noch immer rüstig und agil erscheint, durch die herzlich hartnäckigen Antworten des Sohnes tief in dieses Gefühl hineingesogen, als würde die Insel im Meer des Vergessens Stück für Stück wegbrechen und immer kleiner werden. Nur die fernen Streifen in der Vergangenheit, die Bilder aus der Kindheit aus der Familiengeschichte während und nach dem grossen Krieg, sind unmittelbar, als würden sie wie Wetterwolken in die absolute Windstille des Vergessens einbrechen.

Es sind nicht die Geschichten der Familie, nicht die Episoden von Vater und Sohn, auch nicht die zuweilen auftretende Komik, sondern die Art und Weise, wie David Wagner über diese Besuche schreibt, seine Zurückhaltung, seine Liebe, seine Behutsamkeit, sein Respekt. Wenn ein Vater nur mehr in der Erinnerung der Riese ist, der einem auf seinen Schultern durch das Leben trägt.

Es wird bei Lesungen aus diesem Buch ganz ähnlich sein wie bei Arno Geiger. David Wagner macht eine Tür auf, von der wir lieber wollen, dass sie geschlossen bleibt. Und für all jene, die gezwungen wurden hindurchzugehen, jenen Menschen an der Hand zu nehmen, weil ein Gang alleine immer unmöglicher wird, jenen gibt er zwar keine Hoffnung, aber den Mut, den Zauber einer Kleinigkeit. Der Vater ist schlussendlich im Pflegeheim, im Waisenhaus für alte Kinder. Ausgeschlossen von den Erinnerungen, die nicht mehr einzuordnen, nicht mehr kontrollierbar sind. Eingeschlossen ins Vergessen. Und wenn dann diese Vater-Sohn-Gespräche mit einem Mal voller Tiefe, Weisheit und Wissen strahlen, dann wird klar, dass Demenz nicht nur ein dunkler, schwarzer Abgrund sein muss.

© Linda Rosa Saa

David Wagner, 1971 geboren, debütierte mit dem Roman «Meine nachtblaue Hose». Sein Roman «Vier Äpfel» stand er auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. 2013 wurde ihm für sein Buch «Leben» der Preis der Leipziger Buchmesse verliehen, 2014 erhielt er den Kranichsteiner Literaturpreis und war erster «Friedrich-Dürrenmatt-Gastprofessor für Weltliteratur» an der Universität Bern. «Der vergessliche Riese» brachte ihm 2019 den Bayerischen Buchpreis und eine Platzierung auf der Shortlist für den Wilhelm Raabe-Literaturpreis ein. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt. Er lebt in Berlin.

Rezension von «Ein Zimmer im Hotel» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild: Sandra Kottonau

24. Internationales Literaturfestival Leukerbad, Rückblick 3/3

Literaturfestivals sind Orte der Begegnungen, für Schreibende und für Lesende. Und wenn sich dann die beiden Seiten gar mischen, Gespräche entstehen über die „Lager“ hinaus, dann stellt sich dieses Gefühl von Berauschung ein, die das Lesen allein nicht erzeugen kann. Dann wird Literatur greifbar, Sprache zu Stimme Geschichten zu Geschichte.

Dem 24. Internationalen Literaturfestival gelang es zwar nicht, sich den schwindenden Besucherzahlen der meisten Literaturfestivals entgegenzustellen. Dafür beugt sich Leukerbad aber auch nicht dem Geschmack der Masse, der Lust nach Ablenkung und Abschweifung.

Hier ein Streifzug durch meine ganz persönlichen Höhepunkte:

Nell Zink, Foto © Literaturfestival Leukerbad

Wer „Virginia“ noch nicht gelesen hat, sollte es tun. Dass Nell Zink, die im länglichen Virginia aufgewachsene Amerikanerin, in Medien derart grosse Aufmerksamkeit geniesst, erstaunt nicht. Sie, die schon lange in Deutschland lebt und immer wieder in der Schweiz an Festivals anzutreffen ist, beweist mit ihrem Erfolg, den Bestsellern, dass sich der Durchbruch als Schriftstellerin nicht unbedingt mit 30 einstellen muss und man literarisches Schreiben nicht unbedingt mitten im Literaturkuchen erlernen muss/kann/soll. Ihre Romane sind eigenwillig, intelligent und schlicht sensationell erzählt.
In ihrem neusten in deutscher Sprache erschienenen Roman „Virginia“ leben die Mutter Peggy und ihre Tochter auf der Flucht aus einer gescheiterten Ehe mit erschwindelten Ausweispapieren als „Schwarze“ unerkannt in einem kleinen Ort in der Pampas, in Virginia, vergessen von der Weissen Seite der Amerikaner. „Virginia“ ist ein Familienroman mit überragendem Sound, ein Amerikaroman über das Leben in einer Kleinstadt im Schatten der grossen amerikanischen Metropolen, ein Identitätsroman über die Fragwürdigkeiten zugeschriebener und zugespielter Identitäten. Ein Roman über zwei Welten, Schwarz und Weiss, zwei Kasten, über eine Frau, die aus der einen Kaste ausbricht, um in der andern unterzutauchen, über Zufall und Glück, die Unmöglichkeiten von Schicksal, Geschlecht und Sexualität. Ein sprachliches Feuerwerk, das man auch in der deutschen Übersetzung von Michael Kellner geniessen kann.

Tanja Maljartschuk, Rolf Hermann und Pedro Lenz lesen Texte von Aglaja Veteranyi, Foto © Literaturfestival Leukerbad

Aglaja Veteranyi, 1962 in Bukarest in eine Zirkusfamilie hineingeboren, wählte 2002 in Zürich in einer seelische Krise den Freitod . Doch in Leukerbad war sie da. Nicht nur auf dem Büchertisch, wo aus dem Nachlass beim Verlag “der gesunde Menschenversand“ zwei neue Bücher zum Entdecken und Vertiefen, zum Geniessen und Eintauchen bereitlagen, nicht nur durch ihr bekanntestes Werk „Warum das Kind in der Polenta kocht“, dass sich bei vielen Leserinnen und Leser tief in die literarische Erinnerung eingegraben hat und von der schwierigen Kindheit der Schriftstellerin erzählt, sondern weil Pedro Lenz, Tanja Maljartschuk und Rolf Hermann ganz oben auf dem Berg in einer Mitternachtslesung unter dem grossen schwarzen Zelt einer sternenklaren Nacht die Texte einer Künstlerin vortrugen. Aglaja Veteranyi, die sich das Lesen und Schreiben als Kind selbst beigebracht hatte, Artistin und Tänzerin war und sich die deutsche Sprache zu ihrem wichtigsten Instrument machte, schuf als Vielschreiberin Kunstwerke, die beim Lesen ebenso schmerzen wie bezaubern, verwirren wie erheitern. „Café Papa. Fragmente“ und „Wörter statt Möbel. Fundstücke“ sind gesammelte Texte aus Notizbüchern, Makulaturblättern, Texte voller Witz und Tiefe, Einsichten in die Welt einer Künstlerin, für die Sprache viel, viel mehr als ein Medium war, sondern Manege selbst. Tanja Maljartschuk, die in der Ukraine aufwuchs und studierte, in Wien lebt und schreibend noch immer in das im Würgegriff unversöhnlicher Fronten gefangene Herkunftsland eingreift, nennt Aglaja Veteranyi eine Ecke ihres literarischen Dreigestirns, neben Robert Walser und Peter Bichsel.

Maria Cecilia Barbetta, Foto © Literaturfestival Leukerbad

Zehn Jahre nach ihrem gefeierten Debüt feiert die aus Argentinien stammende und deutsch schreibende Autorin Maria Cecilia Barbetta mit „Nachtleuten“ einen fulminanten Erfolg. Und wer die Schriftstellerin in ihrer leidenschaftlichen und authentischen Art lesen und erzählen hört, ist noch um ein Vielfaches mehr bezaubert und betört vom Feuerwerk aus Sprache, Sprachwitz, Originalität und der scheinbaren Leichtigkeit, die das Erzählen der Meisterin ausmacht. Maria Cecilia Barbetta besuchte die deutsche Schule in Buenos Aires, studierte später Deutsch und kam mit 24 mit einem Stipendium nach Deuschland. „Ich habe mich verliebt in die deutsche Grammatik“, beteuert die Autorin. In „Nachtleuchten“ erzählt Maria Cecilia Barbetta von ihrer Heimatstadt Buenos Aires, von ihrem Viertel Ballester, wo sie aufgewachsen ist. Ein Kosmos der Vielfalt, ein Schmelztiegel der Kulturen. Ballester ist die Urmutter aller Geschichten und Figuren. Figuren und Orte, die sich aber überall finden, in jeder Stadt, in jedem Ort, auch in Berlin, wo die Autorin seither lebt. „Nachtleuchten“ spielt 1976, am Vorabend des politischen Umsturzes, in einer Zeit, als das grosse Verschwinden begann und in der im Laufe der Militärdiktatur zwischen 1976 und 1983 Zehntausende ArgentinierInnen verschwanden. „Nachtleuchten“ ist ein sinnliches Feuerwerk!

Durs Grünbein und Stefan Zweifel, Foto © Literaturfestival Leukerbad

Und wer sich traut, sollte aus dem umfangreichen Werk des deutschen Dichters und Essayisten Durs Grünbein lesen. Der häufige Gast in Leukerbad beweist in eindrücklicher Manier, dass Lyrik nichts mit weltfremden und entrücktem Dichten zu tun haben muss. Seine Gedichte erzählen Geschichten, leuchten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, stellen Fragen, konfrontieren, springen in der Perspektive. Seine Essays spiegeln den Weitblick des Autors, fordern heraus und zeigen, wie Geschichte, Wissenschaft und Gesellschaftskritik konstruktiv provozieren können.

Das 24. Literaturfestival Leukerbad hat überzeugt und gezeigt, dass Literatur nicht im Elfenbeinturm geschieht. Leukerbad ermuntert und treibt an, denn was in den Umbrüchen der Gegenwart geschieht, spiegelt sich in der Literatur.
Der Handschlag zwischen zwei übergewichtigen Politikern ist eine grosse Geste mit kleiner Wirkung. Literatur sind kleine Gesten mit grosser Wirkung.

„Literatur kann gefährlich sein.“ Christos Chryssopoulus

Beitragsbild © Literaturfestival Leukerbad

John Wray «Gotteskind», Rowohlt

Bis zum 11. September 2001, als drei Maschinen ins World Trade Center und ins Pentagon krachten und 3000 Menschen in den Tod rissen, waren Taliban bärtige «Halbwilde», die weit weg von der «Zivilisation» mit Gewalt den Gottesstaat herbeibomben und -schiessen wollten. Mit einem Mal wurden aus den Barbaren Terroristen, wandelte sich ein einziger Tag zu einem kollektiven Trauma, aus dem viele bis heute nicht aufzuwecken sind.

Aden Sawyer ist nicht Tom Sawyer. Aber vielleicht ist dieser Name kein Zufall. Aden ist achtzehn und haut ab, geht auf eine Reise, von der es kein Zurück geben soll, emanzipiert sich von einem dominanten Vater, den sie Lehrer nennt, der Islamismus lehrt, ohne je von einem Glauben, einer Idee getragen worden zu sein, emanzipiert sich von einer alkoholkranken, apathischen Mutter, die sämtliche Familienfotos an den Wänden ihres Hauses zur Wand gedreht hat.

Sie setzt sich mit ihrem einzigen Freund in ein Flugzeug und fliegt aus den USA bis nach Afghanistan, das Land ihrer Träume, ihren Sehnsuchtsort, schliesst sich einer Meeres an, einer religiösen Schule, um die Suren des Korans auswendig zu lernen. Sie will aber nicht nur ein gottgefälliges Leben führen, sondern mit aller Konsequenz mit dem alten Leben brechen. Sie vernichtet nicht nur ihren Pass, sie kleidet und gibt sich wie ein junger Mann, bandagiert die Brust und nimmt Tabletten, die die Blutungen aussetzen lassen. Sie ist nicht mehr Aden Sawyer, sondern Suleyman Al-Na’ama.

«Gott hat dich von der anderen Seit der Welt in unsere Berge geschickt.»

Aber schon in der kleinen Schule wird nichts so, wie Aden es sich vorgenommen hatte. Zum einen zerbricht die Freundschaft zu ihrem Freund, mit dem sie die USA verlassen hatte, zum andern nimmt sie, ohne es zu wollen, in der kleinen Schule immer mehr eine Sonderstellung ein. Ihr religiöser Eifer, die Tatsache, dass sie Amerikaner(in) ist, ihre Gelehrigkeit und ihr absoluter Wille, ein neues, ganz anderes Leben zu führen, macht aus Aden Suleyman, aus der jungen Frau einen jungen Mann, aus der Flüchtenden eine um jeden Preis gewillte Ankommende. Zwei, die zusammen wegfuhren, sich gemeinsam auf einen Weg machten, entzweien sich mehr, bis hin zur Katastrophe. Je tiefer in der Fremde, je mehr sie eigentlich aufeinander angewiesen wären, desto unvermeidlicher entzweien sie sich, bröckelt Freundschaft.

Aber die Entzweiung spielt sich auch in ihrem Innern ab. Denn Aden setzt auf Lüge, ausgerechnet sie, die in ihrem neuen Leben auf Wahrhaftigkeit setzen wollte, auf Kompromisslosigkeit. Sie sieht sich als Heuchlerin und Lügnerin, sie die für jeden Missstand eine Sure zu rezitieren weiss.

Was im Buch als Katastrophenreigen von der ersten Seite angelegt ist, schleicht sich förmlich an. Decker, ihr Freund, der sich Ali nennt, schliesst sich den Mudschahedin an, den Gotteskriegern, die auf der anderen Seite der Grenze Krieg gegen Ungläubige und Verrat führen. Dass er nichts gesagt hatte, dass es keinen Abschied gab, bricht ihr eh schon eingeschnürtes Herz. Und dass es der väterliche Mullah war, der seinen kämpfenden Sohn davon abhielt, auch Aden als Kämpfer zu rekrutieren, bricht das Herz ein zweites Mal.

Aden – Suleyman haut noch einmal ab, schlägt sich alleine in die Berge, findet Ali in einem Ausbildungscamp und wird selbst zum Krieger. John Wray versteht es meisterlich, den Weg einer jungen Seele nachzuzeichnen, die eigentlich gut und wahrhaftig leben und wirken will, aber durch Willkür, Sachzwänge und Sturheit immer tiefer in ein Konvolut von Katastrophen rutscht, aus der nur die Katastrophe retten kann. Man wechselt Leben, Kultur, Religion und Herkunft nicht einfach wie einen schmutzig gewordenen Umhang. Alles, was unter der Hülle ist, bleibt, bleibt kleben.

John Wray hat einen atemberaubenden Roman über zwei Welten geschrieben, die im Innern einer Achtzehnjährigen kämpfen. Wer mit dem Buch mitgeht, macht eine Reise in das absolut Fremde mit. Eine Fremde, die der Autor kennen muss, von der er mit derart grosser Selbstverständlichkeit erzählt, als hätte er den Roman in einem kahlen Tal irgendwo zwischen Afghanistan und Pakistan geschrieben. Ein Roman, der mit keinem Satz urteilt, mich als Leser nie zu einem Komplizen macht, nicht mit mir spielt.

John Wray recherchierte zu John Walker Lindh, der als «amerikanischer Taliban» bekannt wurde, als er in der Nähe von Kabul einen älteren Mann traf, der ihm nicht nur vom Amerikanischen Taliban erzählte, sondern von einem amerikanischen Mädchen. Die Recherchearbeiten zu einem Sachbuch über John Walker Lindh begannen zu stocken. Statt dessen entstand das Manuskript zu «Godsend», eine «wahre» Geschichte um ein Mädchen, dass sich in Pakistan radikalisiert in den Kleidern eines Jungen.

Grosse, bewegende Literatur!

© Jan Schoelzel

John Wray wurde 1971 in Washington, D.C., als Sohn eines amerikanischen Vaters und einer österreichischen Mutter geboren. Studium am Oberlin College, an der Columbia University und an der Universität Wien. Er lebt als freier Schriftsteller in Brooklyn und Friesach (Kärnten). 2007 wurde er von dem Literaturmagazin «Granta» unter die zwanzig besten jungen US-Autoren gewählt, 2017 beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt mit dem Preis des Deutschlandfunks ausgezeichnet.

Übersetzt aus dem Englischen wurde «Gotteskind» von Bernhard Robben. Im Amerikanischen Original heisst der Roman «Godsend».

Webseite des Autors

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Katrin Seddig «Das Dorf», Rowohlt

Sechs Wochen Sommerferien für die 12jährige Jenny, ein unsäglich langer Sommer für den 17jährigen Schulabbrecher Maik, ein Sommer zum Vergessen für Arno, der mit seiner Familie weg aus der Stadt aufs Land zog, aufbrechende Sommerhitze für Helmut, der längst kein Bauer mehr ist, aber mit eiserner Hand Leben an sich fesselt, auch das der wilden «Nackten» – und vielleicht der letzte Sommer für Ingetraut, die Alte.

Es ist flimmernd heiss im Dorf. Eine Strasse zerschneidet die Siedlung, das was von ihr übrig geblieben ist, ein paar Häuser, kein Geschäft mehr, keine Schule, kein Gasthaus, in dem man sich trifft. Diejenigen, die schon lange im Dorf wohnen, sind alt geworden. Und jene, die jung sind, gehören irgendwie nicht dorthin. Weder die Verlorene mit ihrer Tochter Jenny, auch nicht Arno mit seiner Frau Caren und seinen Kindern. Auch Maik nicht, der in seinem Zimmer auf dem Bett liegend die Decke studiert oder mit dem Mofa ziellos in der Gegend herumfährt. Endzeitstimmung ohne die Geschehnisse in eine Dystopie zu transformieren. Katrin Seddig schafft es von der ersten Seite ihres neuen Romans «Das Dorf» die Szenerie in einen unsichtbaren Vulkan zu setzen. Als würde der Boden unter den Geschehnissen mit jeder Seite mehr beben und dampfen.

Jenny ist kein Kind mehr. Aber auch von niemandem der Erwachsenen ernst genommen. Im Dorf lebt niemand mit Kindern, ausser die Neuen in einem der Reiheneinfamilienhäuser, die sich aber nie zeigen. Da ist nur Maik, fünf unendlich lange Jahre älter, das Tor zu einer Welt, auf die Jenny aufspringen will, einer Welt, vor der sich Maik fürchtet. Es wird eine Freundschaft, die in den Augen der Erwachsenen keine sein darf. Welcher 17jährige gibt sich schon ohne Absichten mit einer 12jährigen ab. Aber genau das will Maik. Maik hat keine Absichten, gar keine, hängt in seinem Leben, zwischen nichts und den vorwurfsvollen Kommentaren seiner Mutter. Sie beide, Jenny und Maik, entfliehen dem, was an ihnen klebt, einem Leben, das sie nicht teilen möchten.

Im gleichen Dorf lebt Ingetraut, lebt noch, denn sie weiss, dass es nicht mehr lange dauern kann. Sie wartet auf ihre Erlösung, glaubt, dass Maik ein wichtiger Teil davon sein wird, ihr Erlöser, ihr Jesus. Denn im Dorf hockt der Wahn. In Helmut, dem brutalen Bauer, der seine Tochter Elke einsperrt, die wilde «Nackte», die auf ihren Liebsten wartet, den Albaner, den Arno in einem Geschäft an Helmut vermittelte, für das Stück Land, auf dem das Leben von Arnos Familie zur Ruhe kommen soll. Aber der Albaner ist weg, verschwunden.

Es kocht und brodelt. Man liest «Das Dorf» im Wissen um die drohende Katastrophe. Eine der Qualitäten des Romans ist seine Unvorhersehbarkeit. Man spürt die Hitze, das Böse im Verborgenen, den Dampf in den Rissen der Oberflächlichkeit. Ein Buch der Gegensätze, der Pole. Hier das Zarte einer Freundschaft zweier, die sich im Dazwischen von Kindheit und Erwachsenen bewegen, dort das Brutale hinter den Mauern des Festgefahrenen, Unumstösslichen.

Ein Interview mit Katrin Seddig:

Was reizte Sie am Schauplatz Dorf? Das leer gewordene Schulhaus, trüb gewordenen, ausgeräumte Schaufenster, Fässer und Autoreifen in Hinterhöfen, verschrobenes Personal und himmelschreiende Gegensätze?

Ich bin in einem sehr kleinen Dorf aufgewachsen und weiß, wie sich Dorfstrukturen mit der Zeit verändert haben. Auch in meinem Dorf gibt es keinen Dorfladen mehr, keine Poststelle, keinen Gottesdienst. Dennoch gibt es in mir und auch in vielen anderen eine Sehnsucht nach dem Landleben, nach der Natur. Es ziehen ja auch viele wieder auf das Land, die vorher in urbanen Strukturen gelebt haben und jetzt ausdrücklich das Gegenteil suchen. Daraus ergibt sich wieder eine neue Änderung der dörflichen Strukturen. Vereinzelt kehrt ja sogar Altes zurück, es werden Genossenschaftsläden gegründet, zum Beispiel. Das Thema hat mich einfach persönlich beschäftigt. Und dann eignet sich so ein Setting natürlich gut für eine Geschichte. 

Auf der einen Seite die 12jährige Jenny, ein Mädchen voller Energie und der 17jährige Maik, eingepackt in ein Leben ohne Perspektiven. Auf der anderen Seite die Alten, Verwundeten, in sich und Situationen Gefangenen. Lieben Sie es, Gegensätze aufeinander prallen zu lassen? Der Roman als Experimentierfeld?

Natürlich. Es ist ja wichtig, wenn man etwas herausarbeiten will, dass man eine Art Reibung erzeugt. Daran, an diesen Funken, lässt sich ja, sozusagen, die Wahrheit erahnen.
In dem Fall von Maik und Jenny schien es mir notwendig, Jenny als so einen offenen, willensstarken Charakter zu erschaffen, um den Altersunterschied zu dem lethargischen Maik auszugleichen. Ein voll im Leben stehender Maik hätte sich wohl kaum zu einer Freundschaft mit einer Zwölfjährigen hinreißen lassen.

Foto © Carina Middendorf

Ingetraut, nur „die Alte“ genannt, sieht im 17jährigen Maik, der mit seinem Mofa und Jenny auf dem Sozius durchs Dorf brettert, ihren Jesus, den Erlöser, was er dann auch irgendwie wird. Wenn auch weniger Er- als Auslöser. Braucht es Katastrophen, um einem Geschehen eine wirkliche Wendung zu geben?

Es braucht jedenfalls Auslöser, und das kann vielleicht auch ein unverhofftes Glück sein. Warum soll sich etwas ändern, wenn sich nichts ändert? Natürlich könnte sich auch ein kleines Unglück auf einen Haufen weiterer kleiner Unglücke häufen, und dann, irgendwann, explodiert das Ganze. Das ist auch eine Lösung. Aber Katastrophen eignen sich gut, um die Geschichte in Gang zu bringen, in extremen Situationen zeigen sich die Menschen etwas mehr. 

Im Dorf wohnt seit kurzem auch Arno mit seiner Frau Caren und seinen Kindern in einem frisch gebauten Einfamilienhaus. Weggezogen von der Stadt, in der er sich gefangen fühlte, in der Hoffnung, aus seinen mehr oder weniger illegalen Geschäften dereinst aussteigen zu können. Er verheddert wie fast alle im Dorf in Ausweglosigkeit. In Ihrem Roman „Das Dorf“ bleibt auch vom Ideal „Familie“ nicht viel übrig. Warum?

Zum einen ist es eine Beobachtung, die ich mache, und die ich umsetze. Anscheinend funktioniert das nicht mehr, wie es Jahrhunderte funktioniert hat. Oder vielleicht hat es vor allem so funktioniert, wie bei einem Vertrag, an dem man festhielt. Heute hält man nicht mehr an Vielem fest und das ist auch ein Problem. Auf der anderen Seite, und ich finde, das wird im Buch auch deutlich, finden sich zarte „Wahlverwandtschaften“ zusammen. Maik und Jenny und die Alte, das wäre so eine kleine Familie, die sich aus Neigung zusammenfindet. Und auch Jenny findet ja wieder zur Mutter, ihrer winzigen Ursprungsfamilie,  zurück, aber freiwillig und aus echten Gefühlen heraus. Wir haben uns ja nun mal entschlossen, unseren Gefühlen den Vorrang vor Verträgen zu geben. Da müssen wir dann halt auch sehen, wie wir in unserer Gesellschaft damit umgehen und ob wir damit glücklich werden können.

Menschen scheitern an ihren Lebensträumen. Das Mädchen Jenny ist voll von Lebensträumen. Ihr heftigster; nie so wie Mutter werden. Sind Lebensträume in „fortschreitendem Alter“ gefährlich? Wäre es nicht viel besser, sich all ihrer zu entledigen, um jeden Tag wie Maik neu zu erfinden.

Lebensträume können sehr gefährlich sein. Sie sind ja auch oft Illusionen über die eigenen Möglichkeiten. Die Frage ist sehr schwierig, und ich fürchte, ich kann sie nicht beantworten. Das ist ja die große Frage danach, wie man leben soll. 

Foto © Heike Blenk

Katrin Seddig, geboren 1969 in Strausberg, studierte Philosophie in Hamburg, wo sie auch heute mit ihren beiden Kindern lebt. Über ihren Roman «Runterkommen» (2010) schrieb die «taz»: «Ein brillantes Debüt … Anrührend, witzig und nüchtern.» 2012 erschien «Eheroman», zu dem «Der Tagesspiegel» meinte: «Grandios, wie Katrin Seddig jeder ihrer Figuren einen eigenen Ton verleiht»; 2015 der Roman «Eine Nacht und alles». Für ihre Erzählungen erhielt Katrin Seddig 2008 und 2015 den Förderpreis für Literatur der Hansestadt Hamburg.

Webseite der Autorin

… und was für ein Cover! Wer sich im Netz nach der Schöpferin umsieht, den Namen Oriana Fenwick eingibt, wird überrascht sein:

kombinatrotweiss.de, eine Webseite, auf der Illustrator*innen ihre Arbeiten präsentieren

Webseite der Illustratorin Oriana Fenwick

Beitragsbild © Oriana Fenwick (mit freundlicher Genehmigung der Illustratorin)

23. Literaturfestival Leukerbad: ein Rückblick

Solche mit Bikes, andere mit Wanderschuhen und Funktionswäsche, etliche mit Sonnenhüten, riesigen Koffern und dem staunenden Blick in die felsige Kulisse, manchmal in Bademäntel gehüllt und über dieses eine Wochenende im Sommer eine ganze Schar von Leuten mit Stofftüten, die die Therme in Leukerbad betreten, ohne jemals nass zu werden, die von eine Lokalität zur nächsten wandeln oder hetzen, ins Gespräch vertieft oder die Nase tief in einem Buch – Literaturfestival Leukerbad.

Ein solches Festival ist ein Ort der Begegnung. Leserinnen und Leser untereinander; trifft man doch oft die immer Gleichen, Unverbesserlichen, die jedes Jahr verkünden, das nächste Jahr dann einmal ein Pause einzulegen, um den Vorsatz irgendwann zu vergessen, weil Literatur lockt.

Man kommt Schriftstellerinnen und Schriftstellern so nah wie sonst nie. Nicht wie bei einer Lesung, bei der es während des Signierens für ein paar unbeholfene Nettigkeiten reicht. Man begegnet ihnen auf der Strasse, im Café, unterwegs, im Publikum, auf dem Heimweg.

So wie der Lyrikerin und Performerin Nora Gomringer auf dem Weg nach Bern und später nach Klagenfurt zum Bachmann-Wettlesen. Sie sitzt dort in der Jury und hat sich vorgenommen, an jedem Tag ein anderes T-Shirt mit einem Bachmann-Zitat zu tragen, um so wenigstens etwas von der Namensgeberin ins Showlesen hineinzugeben.

Oder Sasha Maria Salzmann, die mit ihrem Erstling «Ausser sich» in Leukerbad las und diskutierte und mit ihrer Moderatorin Jennifer Khakshouri jenes Haus suchte, in dem James Baldwin vor einem halben Jahrhundert in der Abgeschiedenheit Leukerbads sein Romandebüt vollendete.

Oder den Künstler, Buchgestalter, Illustrator und Herausgeber Christian Thanhäuser, der einem in ein Gespräch verwickelt, von seinen Freundschaften zu Autoren erzählt, der Zusammenarbeit und dem Entstehen eines Buchprojekts, wie man mit Jaroslav Rudis Bier trinken kann, was ebenso wichtig für ein gemeinsames Buch- oder Kunstprojekt sein kann, wie schürfende Gespräche.

Oder den schüchtern wirkenden Péter Nádas, der 1942 in Budapest geborene grosse Chronist, der in Leukerbad aus seinen Memoiren «Aufleuchtende Details» liest und mit jedem Bild aus seinem umfassenden Werk nachempfinden lässt, was es heisst, untrennbar mit der Geschichte eines Landes, eines Volkes, seiner Familie verbunden zu sein. (Auf dem Beitragsfoto zu Beginn des Textes sitzt Péter Nádas zwischen der Moderatorin Ilma Rakusa (rechts, Schriftstellerin, Übersetzerin und Publizistin) und seiner Übersetzerin Christina Viragh (Schriftstellerin)).

Vier Bücher, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Vier Perlen, die in Leukerbad aufleuchteten und denen ich wünsche, dass die viele Leserinnen und Leser finden.

Beitragsfoto: Fotocredit Literaturfestival Leukerbad, Ali Ghandtschi

Lucy Fricke „Töchter“, Rowohlt

Ein literarisches Roadmovie, eine Geschichte um unberechenbare Väter und Töchter, denen es schwer fällt, sich von diesen zu emanzipieren. Lucy Fricke erzählt gekonnt, webt in einzelne Szenen gleichermassen viel Leben und Theatralik ein, dass man diese noch einmal und noch einmal lesen will.

«Ich bin nicht auf die Welt gekommen, um meine Eltern zu retten.»

Marthas Vater hatte drei Jahrzehnte lang gefehlt, war nie da, als sie ihn gebraucht hätte. Und nun will er, dass Martha ihn, den Todkranken, zum Sterben in die Schweiz begleitet. Betty, ihre Freundin, glaubt, ihr Vater sei tot, irgendwo in Italien begraben. Aber vielleicht auch nicht. Betty, Martha und Marthas Vater Kurt fahren im Auto los. Zwei Freundinnen, die sich schon Jahrzehnte kennen und Kurt, der Todkranke auf der Rückbank, der sein Leben kommentiert.

«Im Notfall brauchst du keine Freunde. Im Notfall brauchst du einen guten Arzt oder einen Anwalt. Freunde brauchst du für die guten Zeiten, die schlechten schaffst du auch allein. Für das Glück brauchst du Freunde. Wer kann denn alleine feiern? Das Glück kannst du teilen, aber nicht das Leid. Das Leid wird immer nur verdoppelt.»

Aber bald wird klar, dass Kurt Sterbewunsch nur Vorschub leisten sollte für seinen eigentlichen Plan, den die beiden Frauen und schon gar nicht seine Tochter gutgeheissen hätten, für den Martha und Betty nie mit ihm in sein Auto gesessen wären. Kurt will nach Stresa in Italien. In Stresa lebt Francesca. Francesca habe sich letzthin wieder gemeldet, eine alte Liebe. «Ich lasse dich kein zweites Mal allein», habe sie gemeint.
Nach dieser Offenbarung steht das Auto irgendwo am Strassenrand stehen, Warnblinker sind an. Die Situation droht zu eskalieren. So reiten Väter ihre Töchter und Söhne in Situationen, aus denen man nicht ohne sie zurückfindet. «Zum Sterben fährst du mich, aber zum Lieben hättest du mich niemals gefahren.»

Die Reise im Auto wird zur Tortur im Faradayschen Käfig, aufgeladen mit Emotionen, die sich nicht erden können. Betty deponiert ihren wieder erstarkten Vater in Stresa. Und weil man nun schon einmal in Italien ist, geht die Fahrt weiter nach Bellegra, einem kleinen Nest nicht weit von Rom, wo auf dem Friedhof Bettys Vater Ernesto liegen soll, «eine Liebe, die keine Verbindung mehr hatte». Ernesto hatte sich in seinem Musikerleben vor langer Zeit abgesetzt. Ein Umstand, der nichts klärte und nur immer wieder Spekulationen aufkochen liess. Betty will nun endlich Klarheit, auch darüber, ob unter der Grabplatte auf dem Friedhof wirklich ihr Vater liegt.

«Ich wollte spucken auf mich, die ich zu lange geglaubt hatte, es sei nicht möglich, sich von seiner eigenen Geschichte zu befreien.»

«Töchter» ist ein Buch über Väter. Die Geschichte zweier Frauen, die sich von der emotionalen Dominanz ihrer Väter zu befreien versuchen. «Unsere Väter waren nicht verlässlich, je mehr wir von ihnen erfuhren, desto weniger wussten wir.» Ein Buch über Freundschaft, eine Frauenfreundschaft, die auszuhalten versucht, was man alleine nie durchstehen würde. Ein Roadtrip von Deutschland durch die Schweiz und Italien bis nach Griechenland. Die Suche zweier Frauen nach Gewissheit und Klarheit bis auf eine kleine Insel mitten auf dem Meer. So wie sich Betty auf dem Trip von ihrer Abhängigkeit von Antidepressiva zu befreien versucht, so ist die turbulente Reise eine Befreiung von Lügen. Und nicht zuletzt ist «Töchter» ein freches Buch über den Sehnsuchtsort Italien.

«Italien macht dich pathetisch, behauptete Martha. Womit sie recht hatte. Dieses Land kitzelte am Drama, und dafür war ich empfänglich.»

Überzeugend am Roman aber ist viel mehr als bloss die Story, die immer wieder Haken schlägt. Es ist das Ausbleiben plumper Psychologie, das Aufblitzen von Groteske und Witz, die Tatsache, dass Lucy Friede die Geschichte nie nur in die Nähe von Sentimentalität abrutschen lässt. Es sind die sprachliche «Schamlosigkeit», entlarvende Ehrlichkeit, erfrischende Frechheit und die überraschende Tiefe, die mich überzeugen. Nach der Lektüre ist Lucy Frickes Buch voll mit Bleistiftmarkierungen und Stellen, die ich noch einmal lesen möchte. Als wolle man den Teller blank lecken!

Ein Interview mit Lucy Fricke:

Viele werden irgendwann Mutter oder Vater. Und so wie jedes Mutter- oder Vaterwerden eine Emanzipation vom Tochter- und Sohnsein ist, gelingt dieses Werden ganz offensichtlich oft nicht ohne Kampf. Ihr Roman bietet ganz viele Lesarten, aber die Emanzipationsgeschichte von Vätern scheint zentral. Für alles braucht man einen Fähigkeitsausweis, für jede Verantwortung eine Prüfung. Nur nicht als Vater oder Mutter. Sind wir als Töchter und Söhne verurteilt?
Ich finde es spannend, wie sich dieses Verhältnis verändern kann, wie sich Abhängigkeiten und Bedürfnisse ändern, manchmal auch umkehren. 
Nichtsdestotrotz ist eine Befreiung notwendig. Wir bleiben immer die Kinder unserer Eltern und es ist erstaunlich, wie schwer es fallen kann, sich damit abzufinden. Man lernt das Mutter- und Vatersein, indem man es ist. Je älter ich werde, desto besser verstehe ich meine Eltern. Es erscheint mir unmöglich, ein Kind zu erziehen, ohne dabei Fehler zu machen. Wir alle verbocken so viel, haben schon so vieles erlebt, was uns vielleicht zu schwierigen Charakteren macht. Das verändert sich eben mit dem Alter, man sieht seine Mutter als Frau, den Vater als Mann, man kann seine eigenen Eltern endlich aus verschiedenen Perspektiven wahrnehmen und erkennen. Und damit auch nahezu alles verzeihen. 

Es gibt in ihrem Roman so viele Textstellen, die in vielerlei Hinsicht aufblitzen. Sei es Weisheit, Frechheit, Groteske, Humor, Überraschung. Ganz offensichtlich liegt Ihnen weit mehr daran, als bloss eine spannende Geschichte zu erzählen. Was treibt Sie beim Schreiben?
Das klingt pathetisch, aber mich treibt die Suche nach einer Wahrhaftigkeit. Keine Klischees, keine Filter, kein Schönreden. Der Humor ist bei der Suche nach Wahrheit äußerst hilfreich. Wenn ich, wie jetzt, wochenlang nicht schreibe, dann merke ich zudem, wie sehr das Schreiben mir Halt gibt, mich regelrecht zusammen und aufrecht hält. 

„Töchter“ ist eine Geschichte über Freundschaft. Martha und Betty erleben gemeinsam eine Berg- und Talfahrt weit weg vom Alltag. Betty muss vom Schicksal gezwungen werden, Martha wühlt schon ein Leben lang. Zwei Archetypen im Umgang mit der Vergangenheit. Wer „Frieden“ finden will, muss sich stellen. Ganz offensichtlich eine Eigenschaft, die unserer Gesellschaft im breiter abzugehen scheint. „Töchter“ ist auch ein Sehnsuchtsroman; Sehnsucht nach Klarheit, Sehnsucht nach Liebe und Freundschaft, Sehnsucht nach „Italien“. Spiegeln sich darin Ihre Sehnsüchte?

Das sind universelle Sehnsüchte, denke ich. Italien jetzt mal ausgenommen. Freundschaft ist definitiv das Beste im Leben, nach der Klarheit, nach der Liebe.
Eine weitere Sehnsucht im Roman ist die nach dem Unterwegs-Sein. Dieses Immer-weiter-fahren, immer-weiter-suchen. Ich habe seltsamerweise noch nie eine Sehnsucht nach dem Ankommen verspürt. 

Michael Köhlmeier prügelte mit seiner Rede zum Holocaust-Gedenken in Wien den Umgang mit Geschichte, die Politik gegenüber Flüchtlingen. Wir leben nicht in einer Gesellschaft, die sich der Geschichte, der Wirklichkeit stellt. Je näher wir uns an den Rändern der Katastrophen bewegen, desto deutlicher verschliessen wir Augen, Ohren und Münder. Martha und Betty stellen sich, mehr oder weniger gezwungen. Wir treten ja nicht einmal am Ort, wenn wir uns der Vergangenheit entziehen. Warum verlangt man von den SchriftstellerInnen mehr, als dass sie nur unterhalten?

Gute Frage. Die stelle ich mir auch oft. Ich halte es für ein Missverständnis, dass SchriftstellerInnen mehr vom Leben und der Welt wissen als andere. Wir sind genauso ahnungslos wie der Rest. Wir denken bloß mehr nach, das ist unser Job, wir ringen härter um eine Haltung. Wir geben unser Bestes, aber klüger sind wir nicht.

Verraten Sie mir, was sie lesen und warum Sie es lesen?

Ich hatte jetzt endlich Zeit für“ 2666″ von Roberto Bolaño. Das gehört wohl zum Besten, was ich je gelesen habe. Wild, frei und überbordend. Auf ungemein kunstvolle Art scheint er außer Kontrolle zu sein. Eine Phantasie zum Niederknien. Das ist ein grenzenloser Roman, der in so einem deutschen Schriftstellerinnen-Hirn einiges umwälzt und freisetzt, besonders was das eigene Schreiben betrifft. 
Ansonsten lese ich immer wieder Richard Ford. Den Mann finde ich nun wirklich klug.
Vielen Dank!

Lucy Fricke, 1974 in Hamburg geboren, wurde für ihre Arbeiten mehrfach ausgezeichnet; zuletzt war sie Stipendiatin der Deutschen Akademie Rom und im Ledig House, New York. Nach «Durst ist schlimmer als Heimweh», «Ich habe Freunde mitgebracht «und «Takeshis Haut» ist dies ihr vierter Roman. Seit 2010 veranstaltet Lucy Fricke HAM.LIT, das erste Hamburger Festival für junge Literatur und Musik. Sie lebt in Berlin.

Titelfoto: Sandra Kottonau

Friedrich Christian Delius «Die Zukunft der Schönheit», Rowohlt

Der Georg-Büchner-Preisträger Friedrich Christian Delius war mit 23 für ein paar Wochen als ganz junger Autor nach New York eingeladen. Mit Freunden besuchte er dort einen Jazzclub in der verrufenen Lower East Side, ein Konzert des Saxophonisten Albert Ayler und seiner Band. Ein Gig, der Jahrzehnte nachhallt.

Friedrich Christian Delius erinnert sich 75 geworden an den einen Abend am 1. Mai 1966 in Slugs› Saloon in New York. Es war ein Ausflug mit Freunden in der Fremde, zum ersten Mal im «Land der Sieger», auf einer eben erst begonnenen, langen Reise als Schriftsteller

Es gibt sie, jene Momente, jene Schalt-, Wende-, Angel- und Kulminationspunkte im Leben. Ob dieser 1. Mai 1966 einer in Friedrich Christian Delius Leben war, ist vielleicht zum Teil Fiktion – aber in Buchform perfekt konstruiert und komponiert. Ganz anders wie der Freejazz damals in New Yorks Downtown, der alles andere sein wollte, als in Konstruktion und Komposition eingezwängt.

«Die Zukunft der Schönheit» ist das Porträt eines Mannes am Scheidepunkt, ein Abend in Echtzeit. Der Sound ist ohrenbetäubend, pulverisiert mit Synkopen und schrillen Tönen alles, brennt wie ein Feuersturm alles nieder. Eingemauertes im Nachkriegskopf des jungen Schriftstellers beginnt einzustürzen.

Schreiben war und ist Delius Stimme, sein Instrument, sein Sound. Nach dem Tod seines Vaters auf dessen Schreibmaschine getaktet. Er, der damals verschreckte Musiklaie, das Dorfkind, der Provinzler, der Predigersohn, Spätzünder sass mit einem Mal dort, wo sich die amerikanische Seele mit aller Radikalität und Intensität von den Verkrustungen und Verunsicherungen befreien wollte. Sei es der nie zu gewinnende Vietnamkrieg, das Attentat auf Kennedy. Alle Grenzen und Mauern sollten mit den Hörnern von Jericho niedergerissen werden, auch die Grenzen und Barrieren zwischen Schwarz und Weiss, dem zementierten Establishment und unüberwindbarer Armut.

Die Musik an jenem Abend provozierte und riss auf. Genau das, was Friedrich Christian Delius in den Jahren nach Kriegsende in seiner kleinbürgerlichen Heimat mit seinem Schreiben einreissen wollte. Im Kampf gegen den freundlichen Drogisten im Ort, der Jahre zuvor Stellvertreter Adolf Eichmanns war, der als Musterbürokrat den Tod Hunderttausender organisierte.

«Die vulkanische Gewalt der Musik» soll aufbrechen, erst recht die eben erst erkalteten Krusten in einem Deutschland, in dem sich Altnazis hinter Biederkeit verschanzten.
Delius schreibt, wie jedes Freejazz-Musikstück Fenster und Türen aufreisst, auch jene zu seinem Vater, den ihm der Tod unversöht durch Krankheit entreisst. Kurze Kapitel, nie mit einem Punkt endend, jedes am Schluss mit einem Gedankenstrich ins Leere. Als würde Delius immer wieder den Weg zurück in den Sound der Musik suchen, um sich gedanklich erneut wegtragen zu lassen.
Musik als Flammenmeer, in das alles versinken soll, was sich als Nazibodensatz in seiner Jugendstadt unter die Normalität abgesetzt hatte.

Ein musikalischer Einstieg in den vielfältigen Kosmos eines grossen Deutschen!

Friedrich Christian Delius, geboren 1943 in Rom, in Hessen aufgewachsen, lebt seit 1963 in Berlin. Seine Werkausgabe im Rowohlt Taschenbuch Verlag umfasst derzeit achtzehn Bände. Friedrich Christian Delius wurde unter anderem mit dem Fontane- Preis, dem Joseph-Breitbach Preis und 2011 mit dem Georg-Büchner-Preis geehrt.

Titelfoto: Sandra Kottonau