Ein Popduo, bestehend aus Marthe und Mägpi, gastiert in der Kleinstadt, aus deren ländlichem Umfeld Mägpi stammt. Vor gut zehn Jahren hat seine damalige Schülerband, bestehend aus Gwaag, Fink und ihm, in demselben Lokal eines ihrer letzten Konzerte gegeben.
I. Marthe Mir hocked i eim vo däne Sofas, wo mr immer dinn hocked, und denäbed schtoht ein vo däne Chüelschränk, wo immer denäbed schtönd, au de obligat Täller mit de drei Öpfel, zwei Banane und de Orange ufem Tischli vorem Schpiegel fählt nid, und gliich isch da etz also die Garderobe, wie da nu die Garderobe isch, so wie de Mägpi di ganz letscht Ziit drüber gredt hät, ohni dan er drüber gredt hett, und ich gliich und genau gmärkt ha, dan er nu über da redt. «Isch okay doh, oder?», frogt de Mägpi. «Doch», säg i und de Mägpi: «Nüt bsunders, aber okay.» –«Doch, hät nid tosche, de erscht Iidruck.» – «Klar ischs eis vo däne Löcher.» – «Es Ässe isch guet gsi.» – «Mol nid, hüt gits, was niemez susch git, wa denn gliich immer s Gliich isch wie überall, bis uf d Sauce villicht.» – «Würkli guet.» – «Schtimmt.» – «Und d Lüüt sind au fründlich.» – «So sind s halt doh», seit de Mägpi und ich: «Du mueschs jo wüsse.»
II. Mägpi Müest i allwäg scho, und allwäg wüüsst is au, aber ich säg nüt meh dezue, wien i di ganz letscht Ziit nüt meh dezue gseit ha, wenns druf use gloffe isch, öppis meh dezue z säge, da mr hüt z Obed doh, wo d Marthe und ich etz ide Garderobe devo, us irgendere Gegend chömed mr schliesslich alli; überhaupt hockt me bequem i däm neue Sofa, brummt er aagnehm, dä neu Chüelschrank, und da ganz Gmües ufem Tischli vorem Schpiegel gseht au frisch pflückt us. Doh cha d Marthe nu so chli umetrömmele mit de Finger wie de Gwaag denn so chli mit de Sticks, tänk i und tänk dra, wien i tänkt ha: Guet, trömmelet er da nomol dure. «Wa?», frogt de Gwaag, und ich säg: «Dä Rhythmuswächsel.» – «So», seit de Gwaag und ich: «Wa mr no gänderet händ halt.» – «Da isch nid würkli en Rhythmuswächsel, da isch eifach de Akzänt e biz andersch gleit», seit de Fink und ich: «Hauptsach, es chunnt denn.» – «Chunnt denn so oder so», seit de Gwaag und ich: «Jo, da sowiso.» – «Chunnt denn scho.» – «Klar chunnts denn scho, wie immer alles denn scho chunnt bi dir chunnt immer alles irgendwie», säg i und leg d Gitarre uf d Siite. «Färtig gschtumme?», frogt de Gwaag, und ich säg: «Für s erschte.» – «Scho klar. Und du?», frogt de Gwaag de Fink, wo uf sim Bass no so chli vor sich aneklimperet. «Wa?», frogt de Fink, und de Gwaag frogt: «Am ufwärme?» – «Nid würkli», seit de Fink und de Gwaag: «Natürli.» – «Hät nid schlächt tönt», säg ich und de Gwaag: «Sind jo schliesslich au kän Schportverein.» – «Ämel so wiit wie mes ghört hät.» – «Kä verdammti Junioreabteilig vo wa weiss ich wa für ere Kampfmannschaft.» – «Chönt me villicht öppis drus mache.» – «Wa für e Kampfmannschaft?», frogt de Fink und leit sin Bass wäg. «Nochwuchsband, wenn i da nu scho ghör», seit de Gwaag, und de Fink schtoht uf. «Wa machsch?», frog i, und de Fink macht en Schritt Richtig Türe.
III. Fink Ich schtoh doh ide Garderobe und schtreck mi dure, no massig Ziit und langsam e chli äng doh inne, sowiso chönt me mol go luege, wär scho doh und öb überhaupt scho öpper; en erschts Mol go seiche sött i au, also use us däm Kabuff doh und über d Bühni dur de Zuschauerruum, wo no nid würkli de Huufe los isch und au no niemert umeschtoht, wo sichs lohne würd, schtoh z bliibe defür, wiiter Richtig Schtäge, und won i die denn grad durue wott, chömed grad zwei die durab, di eint vo ine känn i, märk i, und si, won i nu so vom Gseh känne, chunnt diräkt uf mich zue. «Und, scho chli ufgregt?», frogt si. «Wa?», frog ich, und si seit: «Du ghörsch doch zu däne, wo etz denn doh.» – «Scho», säg ich und si: «Äbe.» – «Wa?» – «Scho chli ufgregt?» – «Und sälber?» – «Kän Grund dezue, oder?» – «Wa weiss ich.» – «Da würd i gärn wüsse.» – «Wa?» – «Äbe.» – «Chumm, isch guet etz», seit d Nati, und si, won i nu so vom Gseh känne – oder söll i säge: vom Luege – seit: «Guet.» – «Hoi», seit d Nati, und ich säg: «Hoi.» Und d Nati: «Dasch d Charlotte.» Uf da abe d Charlotte: «Hoi.» Denn isch en Momänt lang schtill. «Schö, chömed er cho lose», säg i und d Charlotte: «Öbs schö würd, ghöred mr denn.» – «Sind scho gschpanne», seit d Nati, denn isch en Momänt lang schtill. «Also bis schpöter», säg ich, und d Nati seit: «Jo bis nochane.» – «Bis denn», seit d Charlotte, und ich gang wiiter. Worum dan i nid no gschnäll gfroget ha, öb di andere au no chömed, weiss i allerdings au nid. «So isch er halt», seit d Nati und d Charlotte: «Denn wäred mr etz doh.» – «Oder tuet er zmindscht.»
IV. Charlotte Wäred mr etz also gliich doh, au wenn mr üs bis zletscht nid würkli einig gsi sind, öb mr söled oder nid und defür is Kino, oder diräkt uf die Fete, aber etz simmr doh, zmindscht d Nati und ich schtönd doh etz vor de Bühni, bis da d Nati denn mol a d Bar goht, und wo da d Corinna und d Nico sind, wär weiss, si chöm e chli schpöter, hät d Corinna gmeint, guet, lueged mr mol, aber lieber wärs mr, ich gsähcht denn d Nico, au wenn die vo Aafang aa degege gsi isch, wan i jo au irgendwie verschtoh cha, aber irgendwie verschtohn is gliich nid. Klar ischs iren Brüeder, wo hüt z Obed doh, nu ischs jo nid nu er, und so wie d Corinna und d Nati verzellt händ, ischs eh vor allem er am Schlagzüüg, wo me nie wüssi, wa alles chös cho vo im; hät zwor vorane uf de Schtäge gar nid so de Iidruck gmacht, villicht eifach nomol froge, wär genau wa schpilt, wenn d Nati denn zrugg isch mitem Bier. «So, doh wär i wider.» De Kusi schtreckt mr da Bier ane, wie mr da denn d Nati anegschtreckt hät, fallt mr uf. «Voilà.» Und das d Nati und ich denn aber vo öppis anderem gha händ, fallt mr ii. «Proscht.» Wien i au etz bi öppis anderem bi weder de Kusi, wo wider aafangt und nomol erklärt, worum da Rock and Roll never dead will: «Rock and Roll will never dead will…»
Andri Beyeler, geboren 1976 in Schaffhausen, lebt in Bern. Mitglied der freien Tanz-Theater-Gruppe Kumpane. Mehrere Theaterstücke, Bearbeitungen und Übertragungen. 2017 wurde er von der Stadt Bern mit dem Welti-Preis für das Drama ausgezeichnet. 2018 erschien bei Der gesunde Menschenversand «Mondscheiner«, eine Ballade.
„Ach“, sagt der Mann, der mich eben überholt hat und nun, nach einem Seitenblick, den Kopf zu mir her dreht, „ich verfolge deine Arbeit mit Vergnügen.“ Er trägt Cordhosen, ausgetretene Schuhe und einen dieser hellen, beigen Rentneranoraks. Sein schütteres Haar ist weiss, und sein Gesicht hat diesen alterslosen Ausdruck zäher Sportler. Er ähnelt Luis Trenker. Geschmack ist wichtiger als Benehmen, denke ich und verzeihe ihm das Duzen, nicke mit dem Kopf und lächle, wie immer, wenn jemand mich lobt. Ohnehin gehöre ich der Generation an, die das Duzen einst für einen Fortschritt hielt und sich nur langsam zur Revision früherer Ideale durchringt. Allerdings: wie rede ich ihn an? Der Mann ist sechzig oder siebzig. „Natürlich auch mit du“, sagt er mit herablassender Geduld, „ich trete in der ersten Person Einzahl auf.“ Kann der Gedanken lesen? „Ja“, sagt er. „Eine der leichteren Übungen.“ Er zieht mich am Arm zu einer Parkbank. Entgeistert folge ich ihm und denke, dass ich, wenn das wirklich stimmt, jetzt nichts mehr denken darf. „Versuch das gar nicht erst“, sagt er und lächelt. Ich bin gern in Badenweiler, spaziere durch den Park und stelle mir vor, wie hier früher mondäne Damen, Dichter, Schwindler und Emporkömmlinge, Ausbeuter und Adel über den… „Ausbeuter“, sagt der alte Mann, „so ein Quatsch. Erschien dir nie der Gedanke plausibel, ich könnte euch mit Bedacht so gebaut haben? Sagt dir der Name Darwin denn gar nichts?“ Will der Typ mir etwa im Ernst weismachen, er sei… er habe… das darf doch wohl nicht wahr sein! „Doch“, sagt er, „darf es wohl. Du hast die Wahl: glaub‘s, glaub‘s nicht, mir egal, ich bin nicht so empfindlich wie ihr meint.“ Ich wage es kaum ihn anzusehen, aber irgendwie muss ich raus aus dieser verflixten Situation. Er sieht gar nicht aus wie ein Spinner. Aber wie sehen die aus? Spinner gibt‘s in jeder Form. Ich muss ihn loswerden. Schnell und höflich. Vor allem schnell. Ich hebe den Kopf und versuche, das Gesicht aufzusetzen, mit dem ich schon manches geschniegelte Mormonenpaar Sonntag morgens um elf aus meinem Hausflur komplimentiert habe, aber mein Ausdruck blasierter Starre muss dem vollständiger Verblüffung gewichen sein, als ich ihn grinsend vor mir sehe, und er ist umgezogen! „Da staunst du“, sagt er nur. Allerdings staune ich. Er hat auf einmal einen Turban auf dem Kopf, Sandalen an den Füssen und ein indisches Gewand am Leib. „Tja“, sagte er und deutet mit dem Daumen auf zwei vorübergehende Inder, „das kommt von denen da.“ „Sie sind ein Zauberer, stimmt‘s? Sie wollen Ihre Tricks an mir probieren“, sage ich. „Noch ein, zwei Wunder, dann geben Sie mir Ihre Karte, sagen Nichts für ungut und laden mich zu Ihrer Vorstellung ein.“ „Du“, sagt er nur. Ich bin verärgert und fühle mich gehänselt. „Fällt mir schwer, Sie zu duzen, wenn Sie mir diese respekteinflössenden Nummern hier vorführen. Hauen Sie gleich noch ein Fünfmarkstück durch die Tischplatte? Soll ich in meine Brieftasche gucken, und da liegt dann Ihre Visitenkarte?“ „Deine“, sagt er. „Ich hab keine“, antworte ich trotzig. „Keine Tricks, ehrlich.“ Seine Kleidung ist wieder wie vorher. „Und ausserdem, welche Tischplatte überhaupt?“ „Ich kapiere nichts mehr“, sage ich. „Das fällt mir auch auf.“ In seiner Stimme ist ein Unterton von Spott. „Ich hätte gedacht, dass du ein wenig flinker wärst. Deine Bücher machten mir den Eindruck.“ Jetzt hat er mich wieder. Meine Bücher – wie schön so etwas klingt. Der Mann ist ein Fan und will mich beeindrucken, weil er selbst von meiner Arbeit so hingerissen ist. So jemanden fertigt man nicht ruppig ab, das wäre nicht anständig. „Ihr seid doch alle gleich“, sagt er seufzend, „die affigsten Ungeheuer, die man sich vorstellen kann“, aber es klingt verzeihend und so, als freue er sich, den richtigen Knopf gedrückt zu haben. Dass er das weiss, ist mir peinlich. „Komm schon, so war‘s auch nicht gemeint. Es ist nur, weil du manchmal über mich schreibst und ich bei deinen Texten hin und wieder schmunzeln musste, da dachte ich, ich mach dir eine Freude und sprech dich mal an.“ „Nett“, sage ich, „danke.“ „Na, auf geht‘s, du willst mir doch Fragen stellen. Die Gelegenheit, mich mal persönlich zu sprechen, das ist doch was, oder?“ „Aber ich glaube doch nicht mal an Sie…, dich.“ „Was meinst du, weswegen ich mit dir rede?“ „Weil ich‘s noch nötig habe vielleicht?“ „Hör mir gut zu“, jetzt klingt er ernstlich ungehalten. „Meine Zeit will ich nicht mit dir verplempern. Wenn du dich blöd stellst, dann war es das. Ich hatte so eine Vorstellung von amüsantem Geplauder. Auf zähen Dialog, bei dem es nur darum geht, dich von mir zu überzeugen, bin ich nicht scharf. Das ist ein bisschen unter meiner Würde, weisst du?“ „Alles klar“, sage ich, „Du bist es. Ich stell mich nicht mehr stur. Versprochen. Und ich stell dir Fragen. Zum Beispiel die, warum du mit mir sprichst, obwohl ich nicht an dich glaube. Sprichst du nur mit Ungläubigen?“ „Ausschliesslich“, sagt er, „ja. Und unter denen am liebsten mit den Künstlern.“ „Und wieso?“ „Die lassen mir ein bisschen mehr Freiheit.“ „Die Künstler?“ „Die Ungläubigen überhaupt. Die haben keine so genaue Vorstellung von mir, da ist noch ein bisschen Spielraum zur Entfaltung drin. Und die Künstler haben den Vorteil, mich als Konkurrenz anzusehen, das macht es kurzweiliger. Übrigens, da du davon sprichst, so ungläubig, wie du glaubst, bist du nicht. Die Art, wie du mich angezogen hast, spricht Bände. Dieser Anorak hier: ich bitte dich. Die weissen Haare. Dieser Turnlehrerstil. Du hast sehr wohl eine feste Vorstellung von mir.“ „Soll das heissen, dass du immer so aussiehst, wie sich jemand dich vorstellt? Dass du eine Art Chamäleon bist? Dass die Menschen dich phantasieren, und du die Gestalt ihrer Bilder annimmst?“ „Brav. Er hat‘s kapiert. Schön, dass du wieder klar bist. Mach einen Test.“ Das ist keine schlechte Idee. Ich muss ihn mir nur vorstellen und prüfen, ob er sich entsprechend verwandelt. Aber nein, Mist, das geht ja nicht. Er kann doch Gedankenlesen. Das bewiese also gar nichts. „Bist du immer noch am Beweisen? Ich dachte, das hätten wir hinter uns.“ „Entschuldige“, sage ich betreten. Er legt seine Hand auf meinen Arm und sagt: „Schau mich an, wenn jemand vorbeikommt. Vielleicht hast du Glück und es ist ein Japaner. Achtung. Da kommen welche. Sogar schön hintereinander, die Versuchsanordnung stimmt also. Konzentrier dich, dann hast du was zu lachen.“ Bis die drei Spaziergänger nah genug herangekommen sind, frage ich ihn noch, ob er hier wohne, er sagt „Nur zur Zeit, bin auf Kur“, und da passiert uns schon der Erste, ein älterer Herr mit sensiblem Gesicht, einer Baskenmütze und langem, weissem Haar. Ich beobachte meinen Nebenmann genau, und tatsächlich verwandelt er sich blitzschnell in eine rötliche Wolke voller undefinierbarer Gestalten, ich glaube Tiere zu sehen, einen Baum, eine Art Vulkanausbruch und eine Menge Gewusel, dessen Konturen ich nicht zu erfassen vermag. „Pech“, sagt er und hat wieder seine normale Gestalt. „Das war ein Waldorflehrer. Achtung, der Nächste. Pass auf.“ Der Zweite, auch ein älterer Herr, im Pullover und mit einer Aktentasche unterm Arm, geht mit schnellem Schritt an uns vorbei. Wieder verwandelt sich mein Turnlehrer, und sein Anblick wechselt schnell und abgehackt wie unter Stroboskoplicht zwischen einem Dreieck mit Auge und dem klassischen, bärtigen, nikolausähnlichen alten Mann. „Na siehst du?“ sagt er und lächelt mich an. „Au, jetzt bin ich selber gespannt. Eine Mutter mit Kind.“ Die Frau geht vorbei. Sie ist jung, trägt ihr Baby in einem Tuch über der Schulter und lächelt mir flüchtig zu. Ich habe keine Zeit, zurückzulächeln, oder mich zu wundern, dass sie nur mich und nicht den alten Herrn neben mir beachtet, weil ich seine Verwandlung nicht verpassen will. Es ist unglaublich: Er ist zwei Gestalten gleichzeitig. Die eine sieht ein bisschen aus wie George Clooney oder Cary Grant, aber ich kann mich nicht darauf konzentrieren, denn die andere ist eine riesige weibliche Brust. Ein phänomenaler, in seiner Monstrosität befremdlich skurriler Anblick. Ich bin sprachlos. Er sitzt wieder vor mir in seinem Anorak und lacht von Ohr zu Ohr. „Das war gelungen, auf sowas hab ich gehofft“, sagt er, „das lässt uns den fehlenden Japaner verschmerzen.“ Wir schweigen eine Weile, denn mein Kopf ist jetzt tatsächlich so leer, wie ich ihn noch vor wenigen Minuten gern gehabt hätte. Er wartet geduldig, bis ich wieder soweit gefasst bin, dass ich eine vernünftige Frage stellen kann: „Heisst das, also, begreif ich das richtig, dass die Menschen dich erschaffen? Ihre Vorstellung von dir ist alles, was es gibt?“ „Na, der Gedanke wird dir doch nicht neu sein. Ja, um dir richtig zu antworten, das heisst es.“ „Sehen sie dich?“ „Nur die Künstler. Normale Menschen haben ihre Phantasien nicht als Wirklichkeit vor Augen.“ „Wenn jetzt einer vorbeikäme, der das Geld anbetet, würdest du dann als Tresortür oder Bündel von Scheinen hier liegen?“ „Theoretisch ja“, sagt er, „aber praktisch kommt das nicht vor. Kein Mensch stellt sich mich als Geld vor. Das ist eine Metapher. Hat nichts mit der Realität zu tun.“ „Und bei einem Atheisten?“ „Nichts. Absolut nichts. Da verschwinde ich einfach. Kommt allerdings sehr selten vor. Echte Atheisten sind sehr, sehr dünn gesät.“ „Halt“, sage ich nach kurzem Nachdenken, „da stimmt doch was nicht. Vorher hast du behauptet, du habest die Menschen so gebaut, dass einer den andern ausbeutet, und jetzt soll ich dir glauben, dass die Menschen dich erschaffen, entsprechend ihrer Wünsche und Phantasie. Da stimmt doch die Reihenfolge nicht!“ Ich bin stolz auf meine glasklare Logik. „Du meinst“, sagt er, „wenn ich die Menschen erschaffen habe, dann können sie nicht mich erschaffen haben?“ „Ja“, sage ich. „Genau.“ „Denk noch mal drüber nach. Ich kann sie doch so erschaffen haben, dass sie mich phantasieren, und sie können mich so phantasieren, dass ich sie erschaffen habe. Mit deiner Logik kommst du nicht so weit, wie du glaubst.“ „Hm“, sage ich. „Ich muss los.“ Er erhebt sich von der Bank. „War nett mit dir zu plaudern. Hast du noch eine Frage?“ „Ja, halt.“ Ich bin erschrocken, denn da das Eis nun mal gebrochen ist, könnte ich ewig so weiterfragen. „Moment, eine Frage noch: Gibt es dich?“ „Frag dich selber, ich bin deine Idee.“ Er geht, ich bleibe sitzen und rufe ihm nach: „Wenn du meine Idee bist, was ist dann mit dieser Begegnung hier? Ich treff dich, obwohl ich nicht mal an dich glaube. Das kann doch nicht meine Idee sein!“ „Doch“, ruft er fröhlich, „Selbstverständlich. Du musst mal dein Verhältnis zu Ideen überprüfen.“ Auf einen Schlag ist er verschwunden. Die späte Blondine im Pelzmantel, die eben an ihm vorbeiging, das heisst, nur auf ihn zu, muss also eine echte Atheistin sein. Ich hätte Lust, sie darauf anzusprechen, aber mein Bedarf an Gesprächen ist gedeckt.
Thommie Bayer, 1953 in Esslingen geboren, studierte Malerei und war Liedermacher, bevor er 1984 begann, Stories, Gedichte und Romane zu schreiben. Neben anderen erschienen von ihm «Die gefährliche Frau», «Singvogel», der für den Deutschen Buchpreis nominierte Roman «Eine kurze Geschichte vom Glück», «Das innere Ausland» und zuletzt «Das Glück meiner Mutter».
Wenn man in den Westen fährt, hat man die Sonne jeden Morgen im Rücken. Sie treibt einen in den eigenen Schatten und brennt auf den Hinterkopf, bis die Reste des Vorangegangenen verdampfen und träge in der Luft stehen bleiben, während man selbst nur noch ein Motorengeräusch in der Ferne ist.
Jeder, der sagt, ein Land kann man nicht vom Highway aus entdecken, hat recht. Hier muss ja auch gar nichts mehr entdeckt werden. Wenn man aber schnell fährt, über eine gewaltige Landmasse auf einer geraden Umlaufbahn, stundenlang und ununterbrochen, bis auf ein paar Kaffeepausen in den Diner, die immer gleich sind von Ost nach West, dann bekommt man eine Ahnung von der Masse und Oberfläche der Welt. Auf der Umlaufbahn unterwegs zu sein, wird dann interessanter als alle Details im Inneren des Landes, denn man kann hier zusehen, wie sich die Erde in schnellen und groben Zügen umformt, unter einem Himmel, der sich ständig bewegt. Man sieht das Grundgerüst. Man sieht, wie sich die endlosen, flachen Maisfelder, durch deren Halme morsend die Abendsonne blitzt, irgendwann in Hügel verwandeln, und wenn man weiterfährt, sieht man durch die Windschutzscheibe, wie sich eine gezackte Wand aus dem Nichts materialisiert.
Eine Steinwand, die sich wie ein Scherenschnitt auf einen zuschiebt, bis man herunterschalten und hinauffahren muss ins Gebirge. Bis man die Fenster hochfahren muss, weil es immer kühler wird und der Wind schärfer und das Gestein immer grauer, splitternder und härter. Bis man auch die Baumgrenze passiert, dünne Luft, und am höchsten Punkt treibt der schnelle Wind Wolken auf Sichthöhe vorbei, denen man ungläubig hinterherglotzt.
Aber dann fährt man einfach wieder runter. Sieht die blauen Seen in die Täler gegossen, schlängelt sich halsbrecherisch an den Kanten der Abhänge entlang, und die Bäume vermehren sich wieder, stehen wieder dichter, werden zu Wald, Nationalwald, man fährt durch nationale Waldkathedralen, ein Baum nach dem anderen rast vorbei, und man kann die Fenster wieder öffnen, es riecht nach Harz, und man muss weniger und weniger bremsen, irgendwann muss man gar nicht mehr bremsen und rollt erleichtert wieder auf eine Ebene, auf der der Boden immer trockener wird.
Dann tauchen plötzlich diese bizarren Steinformationen auf. Erdrot vor dem jetzt wolkenfreien Himmel. Diese Bogen, die aussehen wie aus dem All gefallen, die der Wind aber eigentlich aus einem Urzeit-Meeresgrund herausgeweht hat, Staubkorn für Staubkorn, und die Canyons tauchen ebenso plötzlich auf, stürzen schockierend neben einem in die Tiefe, dieser viel zu steile Abgrund, an dem man sich ängstlich und mit offenem Mund vorbeistiehlt, weil er so erdzeitalt ist.
Aber selbst das verschwindet wieder, wenn man weiterfährt, und verliert seine Farben. Bleicht aus, bis man in den graugelben Staub kommt, der zu Hügeln zusammengepresst ist, abgerundete Hügel, die der seltene Regen schraffiert, durch die er Netze gezogen hat, die wieder erhärtet und stehen geblieben sind, als Sehnsucht nach dem Wasser, und man fährt die Fenster mit diesem elektrischen Surren wieder nach oben, dreht die Klimaanlage auf Anschlag, fährt einfach weiter, bis es anfängt, vor Hitze zu flimmern am fatamorganischen Horizont unter dem Meeresspiegel, dort, bei den Kakteen und den stacheligen Silberbüschen.
Da kommt man an den Punkt, an dem vor Hitze alles stillsteht. Auch der Wind. Aber wenn man sich nicht davon aufhalten lässt, sich nicht irritieren, einschläfern, umbringen lässt von der Hitze und dem kaum vorhandenen Herzschlag des Landes, wenn man doch weiterfährt, sich langsam hindurchquält, sozusagen über den Tod hinausfährt, ins Jenseitige, wenn man diese lang gezogene Durststrecke aushält, auf der man sich mit der mittlerweile keuchenden Klimaanlage und den fast leeren Wasserkanistern im Kofferraum bedroht, ausgetrocknet, zum Überleben gezwungen fühlt, dann kommen endlich die Palmen.
Man lässt die Fenster wieder herunter, und der Wind streicht einem die Haare aus dem Gesicht, riecht nach feuchtem Salz. Man schaltet das Radio an und singt wieder mit, denn man weiß ja, was kommt, wenn man jetzt weiterfährt, auf direktem Weg, wenn man jetzt noch den Rest schafft, brennend ungeduldig bis ans Ende des Landes, bis an seine Kante, sein Ufer, seine Auflösung im ewig wogenden Meerwasser, in das man sich nach all diesen Strapazen hineingleiten und in dem man sich sauber waschen lässt.
Und während man so fährt, stundenlang, tagelang, wochenlang, geht jeden Morgen die Sonne auf, erreicht ihren Zenit und geht abends wieder unter, und dazwischen – mal schwarz wie ein geschlossener Vorhang, mal so dicht gesprenkelt, dass die Sterne den dunklen Hintergrund des Universums überbieten – macht die Nacht immer wieder alles zunichte. Weil man es nicht schafft, die Sonne einzuholen, auch wenn man ihr ununterbrochen hinterherjagt.
(Prolog zum Roman «Lux»)
Olivia Kuderewski, 1989 geboren, lebt in Berlin. „Lux“ ist ihr erster Roman. Sie hat vergleichende Literatur und Schreiben studiert, volontiert, bisher in wenigen Anthologien veröffentlicht und noch keinen Preis gewonnen.
Bevor wir ins Licht gezerrt und mit Preisen geehrt werden, leben wir Dichter im Untergrund. Um genau zu sein: In der Kanalisation. Zusammen mit Kriminellen, Flüchtlingen und Jungsozialisten. Wir ernähren uns vom Bodensatz der Weinflaschen, die wir im Schutz der Dunkelheit aus dem Altglas fischen. Manchmal finden Kanalarbeiter vom Städtischen Tiefbauamt unser Gekritzel an den Kanalwänden. Wundern sich über unsere Zigaretten- und Kerzenstummel. Brave Bürger, die in der Nähe eines Senklochs ihr Schlafzimmerfenster haben, hören unsere sehnsüchtigen Lieder und verwechseln sie vielleicht mit Geräuschen von Tagesverkehr oder Nachtgeistern. Neulich tigerte Kaiser unter einem Senkloch aufgeregt herum. Draussen war’s kalt und windig, und mich verwunderte Kaisers Aktivität. Gewöhnlich richtete er’s sich gemütlich ein unter Zieglers Plastiksäcken und notierte Tiefsinniges aus der Tiefe. Aufgeregt unter einem Senklochdeckel herumzustreichen, war nicht seine Art. Dort zog es nur und tropfte. „Willst du nach oben?“, fragte ich und hob den Senklochdeckel. Über uns die städtische Nacht. „Bring mir eine Flasche mit.“ Kaiser kletterte an mir vorbei die Leiter hoch. Ziegler und ich blickten ihm nach. Schauten ihm besorgt zu, wie er sich mitten auf die Strasse legte – nicht ungefährlich, so auf offener Strasse herumzuliegen. Aber dann hörten wir’s auch: Ein Piepen. Und dann erspähten wir ihn: Einen Kanarienvogel. Mit Tim&Struppi-Haartolle flatterte er auf der Verkehrsinsel herum – nicht ungefährlich, so auf einer Verkehrsinsel herumzuflattern. Offensichtlich fluguntauglich, vielleicht verletzt. Wie eine Raubkatze pirschte sich Kaiser an den Vogel heran. Wir ahnten, was er vorhatte. Ziegler sprang aus dem Senkloch und hielt Kaiser am Schuh fest und ich sprang an beiden vorbei, um den Vogel einzufangen, bevor ihn Kaiser oder Ziegler erwischen und über zwei Rechaudkerzen braten würden. Käme ich ihnen bei der Jagd zuvor, kriegte ich das bessere Stück ab. Aber ich näherte mich dem Vogel nicht vorsichtig genug. Verschreckt von meinem Nahen hüpfte er von seiner Insel herab, hüpfte über Strasse und Trottoir und verschwand hinter einem Gartenzaun, einem feuerverzinkten Gartenzaun in heimischer Topqualität, verschwand im Garten unserer Tomaten-, Basilikum- und Schnittlauchlieferantin. Ich ging ums Haus herum und klingelte bei der oberirdischen Nachbarin und erklärte ihr durch den Türspalt die Sachlage: Ein armer Vogel, verletzt in ihrem Garten. Die Nachbarin kam mit dem Bescheid zurück, der Vogel sei auf der Kastanie, ausserhalb jeglicher Reichweite. Doch flugfähig, dachte ich. Das Biest. Wenn ich heute mit sattem Magen im Plastiktütenlager schlafen wollte, musste gehandelt werden. Sofort verwandelte ich mich in einen unschuldigen, kränklichen Mann, der sich am Geländer vor der Haustür abstützt, mit dünner Stimme die vogelrettende Feuerwehr erwähnt und sich umständlich die Stirn abwischt. „Sie sind ja krank, junger Mann!“ „Ich hoffe nicht“, sagte ich. „Ich habe nur nichts Rechtes gegessen heute. Vor lauter tiefschürfender Arbeit.“ „Kommen Sie herein!“ Ich trat ins Wohnzimmer. Gerahmte Pferdefotos an der Wand. Die Dame in jüngeren Jahren, im Damensitz. Da wusste ich, was ich ihr erzählen musste. Für einen Dichter wie mich hängt viel vom Erzählen einer guten Geschichte ab. Um an anständige Nahrung zu gelangen, ist ein Dichter genötigt, Geschichten zu erzählen, die nicht wahr oder wahrscheinlich sein müssen, nein, sie müssen zuallererst das Herz des Publikums rühren. Ich erzählte, wie ich vor wenigen Jahren, nach Mutters Tod, mit meinem Vater das heimische Dorf verlassen hätte. Wie ich unsere Pferde vermisste, mit denen wir unsere Felder demetergerecht gepflügt hätten. Oh, wie sehr ich sie vermisste, die Pferde, die wir nach Mutters Tod viel zu billig hätten weggeben müssen! Die Dame bot mir Speck an und kochte mir Eier, und ich erzählte, dass ich mir Geld vom Mund ab sparte, um die Pferde zurück zu kaufen. „Wo sind die Pferde?“, fragt sie. „Im Freiburgischen“, sagte ich und beschrieb ihr rostbraunes Fell, ihre treuherzige Art im sozialen Umgang. Ich erzählte, wie ich ihnen zufällig bei einem Ausflug begegnet sei, an einer Schweizer-Familie-Feuerstelle, wo die Pferde mit den Cervelat-Kindern Runde um Runde gedreht hätten. Bis sie mich gesehen hätten, unbremsbar herangaloppiert seien und mir Gesicht und Hals abgeschleckt hätten. Je ein schreiendes, verkrampftes, für ein Reiterleben auf ewig verlorenes Vierjähriges auf dem Rücken. Die Dame legte eine Spur aus Kürbiskernen von der Kastanie bis in die Küche und fing dort den Kanarienvogel mithilfe eines Löchersiebs ein. Mit Fresspaketen unter dem Arm und neuen Wollsocken an den Füssen und einem Couvert mit hundert Franken in der Tasche liess sie mich ziehen. Den Kanarienvogel könne sie mir auch mitgeben, schlug ich vor. Aber sie versicherte mir, dass alles gut komme. Mit Vogel, Pferd und überhaupt allem. Unten, in der Kanalisation, zum tropfenden Klang einer Wasserleitung und beim Geruch von süssem Gas, teilten sich Kaiser und Ziegler brüderlich die Wollsocken und machen sich über die Äpfel, das Brot, die Würste und das Glas eingemachte Gurken her. Ich hörte mir an, was zwischenzeitlich hier unten passiert sei. Sigis Ratten hätten einen Kanalarbeiter angefallen. Ahmed unter der Münsterplattform sei von der Polizei ausgeräuchert worden. Düstere Geschichten. Jetzt, wo ich mich zu den Geehrten und Belichteten zähle, möchte ich nichts mehr davon wissen. Aber das ist der Reiz am Leben im Untergrund: Das Unerwartete springt dich an jeder Rohrbiegung an. Du weisst nie, was unter und über dem nächsten Senkloch geschehen wird, du siehst nur bis zur nächsten Wand. Und du kennst einzig die Freude Van Goghs, mit dem Licht von fünf auf den Hutrand gesteckten Kerzen die Dunkelheit zu malen.
Christoph Simon (1972) ist Gewinner des Salzburger Stiers 2018, zweifacher Schweizermeister im Poetry Slam und Oltner Kabarett-Casting Sieger. Seine Romane und Texte sind in neun Sprachen übersetzt und mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet worden. Simon ist ein begnadeter Storyteller und ist aktuell mit seinem vierten Solo-Programm «Der Suboptimist» unterwegs. Er lebt als freier Schriftsteller, Kabarettist, Slam Poet und Mundart-Spoken-Word-Artist in Bern.
ARALSEE. Ob es im Aralsee Korallen gibt, das ist nach wie vor ungeklärt. Nicht weil man es nicht untersucht hätte, sondern weil man zu bequem ist, es nachzulesen. Obwohl es also ungeklärt ist, ob es im Aralsee Korallen gibt, glauben viele, daß er seinen Namen von den darin möglicherweise vorhandenen Korallen hat und früher Korallsee hieß. Aber auch das ist natürlich ungeklärt.
ARBEITSTEILUNG. Einer schaufelt, zwanzig schnauben; einer schraubt und zwanzig schauen; einer schmiedet, zwanzig klauen; einer schreit und alle glauben.
AUSLAND, Ausland! Wieso willst du in dieses Ausland, Swetlana? Es ist nicht gut hier, sagst du? Aber im Ausland eben auch nicht, Swetotschka, nein, sogar noch schlechter. Wie viel mehr schreckliche Katastrophen ereignen sich im Ausland als hier? Wie viel mehr verrückte Absurditäten? Und wie viel mehr Terror und Krieg? Die Kriege sind alle im Ausland, Swetlanotschka, selbst unsere Kriege. Schalt doch den Fernseher mal an. Im Ausland ist alles schlechter, zumindest vom moralischen Standpunkt aus. Und der moralische Standpunkt, Swetlana, wo ist der? Hier!
B
BABUSCHKA Großmutter, alte Frau. Babuschka heißt eigentlich Matrjoschka. In einer Matrjoschka ist immer noch eine und darin noch eine, und darin wiederum noch eine. Babuschkas kommen meist auch zu mehreren vor, aber sie sind innen hohl. Babuschkas bilden die stabilste Institution Rußlands. Babuschka ist Gesetzgeberin, Strafverfolgerin, Staatsanwaltschaft, Rechtsprechung und Strafvollzieherin in einem. Ihr Hauptwerkzeug, das Geschnatter, von dem man nie wissen kann, ob es von ihr selbst oder von den sie begleitenden Elstern ausgeht, ist, demgemäß, zugleich Gesetz, Urteil und Höchststrafe. Es verfolgt und findet dich überall. Also kauf dir lieber Matrjoschkas.
BAUMSTUMPF. Wenn ein Verbannter nach drei Jahrzehnten ins heimatliche Dorf zurückkehrt, aus solcher Gegend, wo ödes Felsgrau oder das trockene Gras der Steppe oder nur weißer, unendlich weißer Schnee den Boden zudeckt; wenn ein Verbannter von dort zurückkehrt und findet keinen, nur leere Häuser, nur, längst erkaltet, Kohle, Asche, dann lehnt er sich an eine Mauer oder hinunter schaut er in den Brunnen oder er setzt sich auf einen Baumstumpf und bleibt dort sitzen.
BALALAIKA Russisches Saiteninstrument; ebenso die Gusli. Die Balalaika hat nur drei Saiten, und zwei davon sind auch noch gleich. Aber ich mag die Balalaika trotzdem. Manchmal denke ich, das ist doch öde, drei Saiten, und zwei davon auch noch gleich. Nicht nur gleich, sogar identisch, ganz identisch, fast als wäre es eine einzige Saite. Dann hätte die Balalaika insgesamt sogar nur zwei Saiten. Und das ist doch öde, denke ich manchmal. Balalaika, sage ich dann vorwurfsvoll, sieh dir die Gusli mal an, sage ich, so viele Saiten hat die Gusli, die kann ich nicht einmal zählen! Aber die Balalaika antwortet: Iwan, wenn du sie nicht zählen kannst, dann kannst du sie auch nicht spielen. Also sei es zufrieden. Und sie hat recht!
BALLETT. Das Ballett ist ein Traum, weil der Mensch vom Ballett träumt. Der Mensch träumt von den schwindelerregenden Pirouetten, von den artigen Pas de trois, von der schwerelosen Akkuratesse der Bewegung; davon träumt der Mensch. Aber in Wirklichkeit träumt er nicht vom Ballett, er träumt vielmehr davon, vom Ballett zu träumen. In Wirklichkeit träumt er von Warmwasser. Davon träumt der Mensch. Oder vielleicht von Wohnraum. Aber er würde gern von was anderem träumen, der Mensch, und zwar vom Ballett.
BÄR, DER. Der Bär, das ist ein richtiger Russe. Er redet nicht gern, brummt nur vor sich hin, und nicht einmal das macht er gern. Er ist mürrisch und träge. Erst wenn du ihn am Riemen ziehst und mit dem Zuckerwürfel lockst, wenn du ihn wachrüttelst, ihn, sozusagen, involvierst in den Trubel, dann erst wird er rege, kommt in Fahrt, jongliert, brüllt, tanzt dir was vor auf der Arena. Danach nimmt er seinen Zuckerwürfel entgegen. Und dann wird er wieder mürrisch, kauert sich in die Ecke seines Käfigs und leckt sich die Pfoten.
BAZAR Markt; Händel. Maxim sagt, Kostja sei ein Gauner und ein Dieb obendrein. Kostja sagt, das sei reine Verleumdung, weil Maxim einen Neid habe auf seinen, also Kostjas, neuen Wagen. Kostja sagt, Maxim gebe sich für einen Polizisten aus, sei aber in Wirklichkeit nur ein Bahnkontrolleur, und selbst das nur im Regionalverkehr. Maxim sagt, Wirklichkeit sei ein Konstrukt und allein der Geist der Sittlichkeit könne uns retten. Kostja sagt, Maxim sei ein hundselender Idealist. Maxim sagt, Kostja sei Materialist und gerade deswegen ein Gauner, egal ob er den Wagen ge- stohlen habe oder nicht. – Was für ein Bazar!
BEMITLEIDEN, SICH SELBST. Wir haben gelernt, uns niemals selbst zu bemitleiden. Wir sind unermüdliche, eherne Pioniere, wir sind allzeit bereit. Doch auf Dauer zermürbt es natürlich, immer bereit zu sein, ehern und unermüdlich, nie sich selbst zu bemitleiden, auf Dauer raubt das alle Kraft. Ach, wir armen, wir elenden Pioniere!
BENEHMEN. Der Russe kann sich nicht benehmen, besonders in Deutschland, und zwar weil er nicht muß. Müßte er sich benehmen, könnte er es allerdings auch nicht, und zwar weil er nicht will. Aber wollte er sich benehmen, dann könnte er es, auch wenn er’s nicht müßte.
BESOBRASIE. Ungestalt, Formlosigkeit, Schande und Häßlichkeit. Davon gibt es in Rußland viel, aber auch außerhalb; aber vor allem innerhalb. Sagen wir, deine Frau hat dich verlassen, aber nicht einfach so, sondern sie hat den Schmuck deiner Großmutter mitgenommen, aber nicht einfach mitgenommen, sondern verkauft und mit dem Geld einen Anwalt bezahlt, aber keinen einfachen, sondern mit Beziehungen, und der hat Alimente durchgesetzt, und nun suhlt sich die Frau auf den Malediven im Sand und schlürft Mojitos und hat sich sogar Großmutters Schmuck zurückgekauft: wie fühlst du dich da? Und, sagen wir, gleichzeitig ist auch noch Krieg irgendwo im Kaukasus. Besobrasie.
BIRKEN. Weißt du, Bruder, Birken gibt es nur in Rußland. In den unendlichen heimatlichen Wei- ten, die es auch nur in Rußland gibt. Du sagst, es gibt woanders auch Birken? Das weiß ich doch, du Esel. Es gibt auch woanders Birken. Aber eben nicht solche Birken. Das hier sind schlanke, hochgewachsene Birken, wie im Lied, Birken- mädchen sind das. Verstehst du? Es sind unsere Birken. Hör mir auf mit deinem woanders, du profaner Kerl. Es gibt nur hier russische Birken, nirgends sonst. Und warum? Weil es woanders die heimatlichen Weiten nicht gibt, Bruder, dar- um gibt es auch nicht die russischen Birken.
BLINYS Russische Pfannkuchen. Singular: Blin; Plural: Bliny. Blinys ist die Mehrzahl von Bliny. Bliny wiederum ist die Mehrzahl von Blin. Schon dadurch sind Blinys sehr demokratisch. Darüber hinaus sind sie aber noch rund, sodaß man von jeder Seite gleich gut abbeißen kann. Sehr demokratisch. Aber das ist noch nicht einmal alles. Zusätzlich kann man sie mit allem möglichen befüllen, mit Schmand, mit Pastete, mit Marmelade, mit Kaviar, sogar mit deutscher Mettwurst oder amerikanischer Erdnußbutter. Ja, das ist alles möglich. Und das ist noch immer nicht alles. Blinys schmecken allen gleich gut, ob du aus Jakutien kommst, aus Mordwinien oder Baschkirien, ob du Holzfäller bist oder Leiter der Nationalbank, ob Patriot oder Staatsfeind. Ja, sogar dem Staatsfeind schmeckt es. Blinys sind reine demokratische Materie. Nur geplättet.
BORSCHTSCH. Borschtsch muß man schlürfen. Richtig mit Geräusch. Deshalb heißt er auch so: Borschtsch. Vorher muß man ihn allerdings kochen. Dazu braucht man Herzblut, Geduld und Rote Beete, von allem etwa gleichviel. Am Ende gibt man Schmand hinzu. Man schmeißt ihn, schleudert, schmettert ihn richtig in den Suppenteller. Deshalb heißt er auch Schmand.
BREITE DER SEELE. Die deutsche Seele ist in ihren Maßen konstant. Mit der russischen Seele verhält es sich ganz anders. Nicht an jeder Stelle ist die russische Seele gleich breit. Oft kommt es einfach darauf an, wie sie gerade liegt. So kann sie sich wider jedes Erwarten plötzlich als außerordentlich breit erweisen oder umgekehrt. Das ist das Geheimnis ihrer Breite.
(Die wiedergegebenen Texte sind nur die jene unter den Anfangsbuchstaben A und B!)
Alexander Estis wurde 1986 in einer jüdischen Künstlerfamilie in Moskau geboren; hier erhielt er eine Ausbildung an Kunstschulen und bei Moskauer Künstlern. Seit 2016 lebt er als freier Autor in Aarau. Alexander Estis arbeitet vorwiegend in literarischen Kleinformen (Kürzestprosa, Aphoristik, Glossen, szenische Miniaturen, Epigramme und lyrische Fragmente). Seine Texte werden in Anthologien und Zeitschriften (u.a. Sinn und Form, Lichtungen, Entwürfe) sowie als eigenständige Sammlungen publiziert. Ausserdem verfaßt er Essays, Glossen und Kolumnen (NZZ, Frankfurter Rundschau, Berner Zeitung, The European, Unabhängige Moskauer Zeitung u.a.). Für seine Texte erhielt er mehrfach Auszeichnungen und Stipendien, zuletzt den Rolf-Bossert-Gedächtnispreis. 2020–2021 ist er Lydia-Eymann-Stipendiat in Langenthal (Schweiz).
Alexander Estis «Handwörterbuch der russischen Seele. Für den täglichen Privatgebrauch in deutschen Haushalten», Parasitenpresse Köln, 2021, mit Zeichnungen von Lydia Schulgina 70 Seiten, CHF 19.00, ISBN: 978-3-947676-70-5
Was ist der Unterschied zwischen Babuschka und Matrjoschka? Warum gibt es nur in Rußland richtige Birken? Wo gelangt man hin, wenn man mit der Transsibirischen Eisenbahn fährt? Warum hat die Balalaika nur drei Saiten? Worin besteht die Aufgabe des FSB? Welcher Kaviar schmeckt besser – roter oder schwarzer? Warum ist Putin fast wie Puschkin? Und vor allem: Weshalb ist die russische Seele so breit? Wer sich diese und ähnliche Fragen schon einmal gestellt hat, wird im »Handwörterbuch der russischen Seele« von Alexander Estis fündig werden – aber keine Antworten erhalten.
Es war an meinem zehnten oder elften Geburtstag, als mein Vater bei meiner Geburtstagsfeier, die in einem Garten stattfand, auf einen Baum kletterte. Als er oben war, rief er: „Ich bin ein Vogel!“ Dann begann er zu pfeifen und zu zwitschern. Meine Freunde fanden das lustig, ich nicht. Mein Vater bewegte die Arme, als ob sie Flügel wären. Dabei fiel er fast vom Baum. Meine Freunde lachten, ich nicht. „Komm sofort herunter!“, rief ich. Als er endlich wieder unten war, sagte ich: „Wenn du noch einmal lustig bist, dann bringe ich mich um.“ Er hat nicht aufgehört, lustig zu sein. Und ich lebe immer noch.
Kuh spielen
Im Schwimmbad trafen wir Freunde von mir, die sich zu uns setzten. „Wer spielt mit mir Kuh?“, fragte mein Vater plötzlich in die Runde. Meine Mutter und ich sahen uns an. „Wie geht das?“, fragte einer meiner Freunde, und mein Vater antwortete: „Auf allen vieren durch die Wiese gehen, immer wieder laut muhen, mit dem Mund Gras zupfen, blöd in die Luft schauen …“, und nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: „und mit dem Schwanz die Fliegen vertreiben!“ Daraufhin musste er selbst am meisten lachen.
Die bissige Banane
Einmal waren zwei Freunde von mir zu Besuch, die auch mit uns zu Abend aßen. Es gab Würstel mit Senf und Ketchup. Nach dem Essen gingen meine Freunde und ich ins Wohnzimmer, um dort fernzusehen. Plötzlich stürmte mein Vater mit einer geschälten Banane in der Hand ins Zimmer und rief: „Hilfe, die Banane hat mich gebissen! Au weh, au weh, tut das weh!“ In ein Ende der geschälten Banane hatte er einen geöffneten Mund, das heißt, ein aufgerissenes Maul hineingeschnitten, an dem sich etwas Ketchup befand. Und auch auf dem linken Unterarm, in den ihn die Banane gebissen hatte, war Ketchup. Mein Vater zeigte auf die Wunde an seinem linken Unterarm und wiederholte mit schmerzverzerrtem Gesicht: „Die Banane hat mich gebissen! Böse Banane! Ganz ganz bö-se Ba-na-ne!“ Später im Bett soll ich zu ihm gesagt haben, er sei „deppert, ultradeppert und sogar ultraschalldeppert“.
Lumpi
Irgendwann trieb mein Vater in einem Geschäft für Zauberartikel eine ganz besondere Hundeleine auf. Sie war verstärkt, in ihrem Inneren musste sich ein dickerer Draht befunden haben oder so etwas, an ihrem Ende war ein Hundegeschirr angebracht. Wenn man die Leine entsprechend hielt, sah es aus, als ob ein unsichtbarer Hund an der Leine wäre – eine beeindruckende, fast perfekte Illusion. Mein Vater war begeistert von dieser Hundeleine. Dem unsichtbaren Hund gaben wir den Namen Lumpi. „Lumpi ist ein Traumhund!“, sagte mein Vater. „Er bellt nicht, er haart nicht, er braucht nichts zu fressen und zu trinken, er beschwert sich nicht, jagt keinen Katzen nach, kackt nicht auf den Gehsteig, nicht einmal Gassi gehen muss man mit ihm.“ Auch ich war eine Zeitlang begeistert von Lumpi. Auf unseren Spaziergängen wurden wir immer wieder auf unseren unsichtbaren Hund angesprochen, was oft recht unterhaltsam war. Kinder kamen gelaufen, interessierten sich für Lumpi, der auch recht laut knurren konnte, wenn mein Vater Lust hatte zu knurren.
Die Erbse
Meine Eltern und ich saßen in einem Gastgarten beim Essen. Auf meinem Teller befanden sich Fleisch mit Reis, Kohlsprossen und Erbsen. Während ich es mir schmecken ließ, sagte meine Vater plötzlich: „Die Erbsen sind die kleinen Brüder der Kohlsprossen.“ Ich korrigierte ihn: „Nein, es sind ihre Kinder!“ „Brüder!“ „Kinder!“ „Brüder!“ „Kinder!“ … Meine Mutter mischte sich ein und rief: „Ruhe!“ „Nur eins noch“, sagte mein Vater: „Egal, ob die Erbsen die Brüder oder die Kinder der Kohlsprossen sind, keine von ihnen wird überleben!“ Kurz darauf sagte er: „Doch, eine schon!“ und wischte mit dem Messer eine Erbse vom Teller, so dass sie auf die Erde fiel. Meine Mutter verdrehte die Augen, worauf er mit Unschuldsmine sagte: „Ich bin mit dem Messer ausgerutscht!“ Da musste ich so lachen, dass ich einen regelrechten Lachkrampf bekam. Ich konnte sehen, wie sich mein Vater darüber freute. Und auch meine Mutter musste jetzt lachen. Dann setzte mein Vater noch eins drauf. Er trat mit dem Schuh auf die Erbse und sagte bedauernd: „Nein, leider, auch sie überlebt nicht. Das Leben ist hart! Hart wie eine Schuhsohle.“
(Alle Texte mit spezieller Erlaubnis zur Veröffentlichungen aus «Mein Vater, der Vogel»)
Christian Futscher «Mein Vater, der Vogel», Czernin, 2021, 160 Seiten CHF 30.90, ISBN 978-3-7076-0728-4
Christian Futscher, geboren 1960 in Feldkirch, Studium der Germanistik, lebt seit 1986 in Wien, wo er u. a. Pächter eines Stadtheurigen war. 1998 erfolglose Teilnahme beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt, dafür 2006 Publikumspreis bei der «Nacht der schlechten Texte» in Villach. 2008 Gewinner des Dresdner Lyrikpreises. 2014 österr.-ungarisches Austauschstipendium. Seit 2010 Verfasser von Schulhausromanen mit Schulklassen. 2015 Aufenthaltsstipendium in Schloss Wartholz und 2016 in Winterthur.
Ich sah den leuchtenden Schweif eines Kometen, der nur im Abstand eines Menschenlebens erscheint, sah ihn viele Male, bis er mir zum Gefährten wurde, mir keinen Schrecken einflösste wie jenen, die an Omen glaubten. Ich sah den Himmel, als er noch so hoch war, dass Götter darin leben konnten, und ich sah diese Götter ausziehen aus dem Himmel nach und nach, einem Allmächtigen platzmachend erst, bis auch dieser ausziehen musste, sodass der Himmel nun leer ist. Ich sah die Berge, als sie noch keine Namen trugen, als niemand daran dachte, sie zu besteigen, und ich sah diese Berge nach und nach bezwungen werden, auch jene, die als heilig galten. Ich sah in der Wüste einen Mann auf einer Säule stehen, sah ihn auf dieser Säule verharren für Jahre, und der Mann antwortete auf meine Frage, warum er das tue, er wolle sich nicht in Versuchung führen, er entsage dem Weltlichen, um das Himmlische zu erlangen. Ich sah die Meere, als sie noch weit waren, als sie noch als unüberwindbar galten, als in ihnen noch Leviathan und Cetus lauerten darauf, die Seefahrer hinabzureissen, sah diese Kreaturen schrumpfen und schliesslich verschwinden von den Meereskarten, ich sah Schiffe auslaufen in diese Meere, und ich sah sie zurückkommen tief im Wasser liegend und betörend duftend. Ich sah Menschen sich so sehr fürchten vor dem Tod, dass sie behaupteten, es gäbe den Tod nicht, hörte sie sagen, das Leben ginge nach dem Sterben weiter bis in die Ewigkeit. Ich sah Menschen sich so sehr fürchten vor dem Leben, dass sie ihre Körper aufschnitten, ihre Körper aufhängten, ihre Körper wegwarfen in Schluchten und in Flüsse. Ich sah Menschen sich so sehr fürchten vor dem Verlust eines andern Menschen, dass sie behaupteten, dass das Leiden, das einem der Verlust eines andern Menschen verursache, schlecht sei, dass man niemanden so sehr lieben dürfe, dass sein Verlust einem Leiden verursachen könnte. Ich sah einen Mann brennen, angezündet von denen, die nicht glauben wollten, dass jeder Stern am Himmel eine Sonne sei, und dass um jeden dieser Sterne Planeten kreisten. Ich sah Frauen brennen, viele Frauen, denen man vorwarf, Nadeln in Milch gezaubert zu haben, ich kenne den Geruch von brennendem Haar, von schmelzender Haut, ich kenne den Anblick von Gesichtern, die in Flammen verkohlen. Ich sah Frauen sich die Zähne schwärzen, sah sie sich die Zähne weissen, die Haare lang tragen oder kurz, sah sie all diese Dinge tun im Namen der Schönheit. Ich sah Tiere, die als heilig galten, und deren Tötung bestraft wurde, und ich sah dieselben Tiere bezeichnet als schmutzig und nichtswürdig, und sah ihre Tötung gefeiert von vielen Menschen. Ich sah die Menschen Gesetze aufstellen, wen man lieben durfte und wen nicht, sah sie die eine Liebe erheben zum Höchsten, was es gebe, die andere Liebe als teuflisch verbannen. Ich sah die Menschen Dinge schaffen, die ihnen die Arbeit erleichterten auf dem Felde, sah sie Maschinen schaffen, die sich bewegten wie sie selbst,aber nicht aussahen wie sie selbst, ich sah die Menschen Fabriken errichten, welche die Bedürfnisse der Menschen befriedigen sollten, und ich sah sie Fabriken errichten, die Menschen vernichteten.
All das sah ich mit meinen eigenen Augen, aber niemand glaubt mir, dass ich all das gesehen habe.
Lukas Maisel «Buch der geträumten Inseln», Rowohlt, 2020, 272 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-498-00202-2
Lukas Maisel, geboren 1987 in Zürich, machte eine Lehre zum Drucker. Bald merkte er, dass er Bücher lieber schreiben als drucken würde und studierte am Literaturinstitut in Biel. Für das Manuskript «Buch der geträumten Inseln» erhielt er 2017 einen Werkbeitrag des Kantons Aargau und 2019 einen Förderpreis des Kantons Solothurn.
Eine von X.’ vielen Reisen auf dem afrikanischen Kontinent führte ihn – vermutlich 2014 – in die burundische Hauptstadt Bujumbura. Ich weiss nicht genau, was er dort machte. Manchmal frage ich mich, was er in solch abgelegenen Orten eigentlich suchte. War er für den Geheimdienst unterwegs? Bei dieser Reise allerdings war eher das Gegenteil der Fall. Er wurde beschattet, aber entkam den Agenten.
Er war wie so oft als Journalist eingereist, was auch seltsam ist, weil es die Formalitäten verkomplizierte, und er ja nichts schrieb. Er wäre einfacher als Tourist gekommen. Viele Journalisten reisen der Einfachheit halber lediglich mit einem Touristenvisum, was mit Risiken verbunden ist. Warum machte er es umgekehrt? In Ländern wie Burundi werden ausländische Reporter routinemässig überwacht. War es für ihn eine Art Spass zu versuchen, die Verfolger abzuhängen?
Er stieg zuerst im gediegenen Hotel Roca ab, wo oft Korrespondenten und internationale Delegationen unterkommen. Die Räume sind verwanzt, Telefon und Internet werden überwacht. Er besuchte gelegentlich ein billiges, schummriges Restaurant und beobachtete, dass zwei Agenten draussen, auf der anderen Strassenseite, warteten. Die Toiletten befanden sich im Hinterhof des Restaurants. Bei einer kleinen Inspektion stellte er fest, dass von dort ein schmaler Durchgang zum Innenhof des Nachbarhauses führte. Von dort wiederum gab es einen Ausgang auf ein Seitensträsschen, das weiter ins dichtbevölkerte Quartier und zu einem kleinen, überdachten Markt ging. Bei seinem vierten oder fünften Besuch der Imbissbude haute er durch diesen Hinterausgang ab. „Double-door“ nennt man dieses Manöver im Gangsterslang. Er verschwand im Labyrinth des Viertels.
Er hatte kein Gepäck mehr im Roca-Hotel. Das war bereits am Busbahnhof deponiert. Er zog ins Botanica-Hotel in Downtown um. Man hatte ihm gesagt, dort müsse man keinen Pass vorweisen. So würden auch die Behörden nicht erfahren, wo er war.
Er erschrak zwar, als die Frau am Empfang (es war eher eine Abstellkammer) ihm sagte, er solle seinen Pass nachher dem Chef geben, der komme in einer Stunde. Er versuchte, dem Chef auszuweichen. Aber als er ihm dann später am Abend doch über den Weg lief und an das kleine Pult beordert wurde, merkte er, dass der Chef davon ausging, er habe den Pass bereits der Frau gezeigt (oder zumindest so tat, um den offiziellen Schein zu wahren).
X. hatte Benoît in einem Klub namens „Arena“ kennen gelernt. Sie waren in einer Sitzgruppe am Rand eines Pools miteinander ins Gespräch gekommen. Mit dabei war ein älterer Franzose. X. hatte ihn gefragt, woher komme, und er antwortete, er lebe aus dem Koffer. Es stellte sich heraus, dass er Burundi seit Jahrzehnten kannte, wie auch viele andere afrikanische Länder. Über seine Tätigkeit wollte er nicht allzu viel preisgeben. „Sagen wir, ich bin Consultant.“ Auf X.’ Nachfrage sagte er: «Ich arbeite regional.» Er stellte sich auch nicht mit Namen vor. Irgendwann erhob er sich mit seinem Whiskyglas und sagte: „Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen. Falls jemand nach mir fragt – wir sind uns nie begegnet“ – und verschwand in der tropischen Nacht. Es hörte sich an wie aus einem schlechten Film, aber er meinte es ernst. Da blieben nur noch Benoît und X. übrig. Es war Benoît, der ihm das „Botanica“ empfahl und nebenbei erwähnte, man müsse dort keinen Pass vorzeigen. Er schwärmte ihm von Vanessa vor, einer Burunderin, in die er sich verliebt hatte. Eigentlich wollte er sie an diesem Abend ein letztes Mal treffen, aber seit 24 Stunden nahm sie das Telefon nicht mehr ab. Benoît war verwirrt, er konnte sich ihr Verhalten nicht erklären. Hatte sie ihr Handy verloren, wollte sie nichts mehr mit ihm zu tun haben, oder war etwas Schlimmes passiert? Die Stunde seiner Abreise näherte sich, und er geriet immer mehr in Panik. Kurz vor der Fahrt an den Flughafen meldete sie sich, aber es war zu spät für ein Treffen. Benoît gab X. 200 Dollar und ihre Telefonnummer. Sie sollte später am Abend vorbeikommen, und X. würde ihr das Geld aushändigen.
X. wartete im «Botanica»-Hotel auf sie, im kleinen Restaurant des Innenhofs. Gegen elf Uhr nachts tauchte sie auf. Sie war nachlässig gekleidet und schmutzig, aber X. verstand sofort, warum Benoît so fasziniert von ihr war. Ihre Augen leuchteten, eine fast sichtbare Aura ging von ihr aus. Sie wollte nicht, dass X. ihr das Geld im Restaurant gab. Er ging zur Rezeptionistin, die eingezwängt hinter dem Eisenpult sass, und liess sich den Schlüssel geben. Die Decke war so niedrig, dass ihr der Ventilator bei einem brüsken Aufstehen die Haare wegrasiert hätte. Sie reichte ihm den Schlüssel für Zimmer Nr. 7. Das war das Zimmer von Benoît. Offensichtlich verwechselte sie ihn mit ihm, vielleicht, weil Benoît auch schon mit Vanessa hier gewesen war. In diesem Moment erst merkte er, dass es tatsächlich eine entfernte Ähnlichkeit zwischen ihm und Benoît gab. Darüber hinaus hatten Afrikaner oft Mühe, weisse Gesichter auseinanderzuhalten, so wie es Europäern oft auch umgekehrt mit ihnen ergeht. X. liess sich nichts anmerken und ging mir ihr in Benoît ehemaliges und jetzt leeres Zimmer. Sie erzählte ihm, dass sie verhaftet worden sei und eine Nacht im Gefängnis hinter sich hatte. Das Telefon hatte man ihr abgenommen, deshalb verpasste sie Benoîts viele Anrufe. Sie hatte Benoît nichts von ihrer Verhaftung erzählt, sie schämte sich. Nun, sagte sie, wolle sie so rasch als möglich nach Hause, um sich zu duschen und sich umzuziehen. X. sagte ihr, sie könne schon hier ein Bad nehmen, wenn sie wolle. Sie blickte ihn stumm und erstaunt an und lachte dann. Bevor sie ging, lud X. sie für den nächsten Tag zum Mittagessen ein. Er begleitete sie hinaus und hielt ein Taxi für sie an. Als er zurückkam, war niemand mehr an der Rezeption. Er schnappte sich seinen Schlüssel und brachte seine Sachen ins Zimmer Nr. 7. Am nächsten Morgen begrüsste ihn die Rezeptionistin mit „Bonjour Monsieur Benoît“.
Vanessa erschien tatsächlich zum Mittagessen. Sie gönnten sich in der Pergola des Hotels Stachelschwein mit Kochbananen und eine Flasche eisgekühlten Rosé. Nachher landeten sie im Bett. Sie setzte sich rittlings auf ihn und schlug ihm mit der Hand auf den Hintern, wenn er nachliess, und mit den Füssen auf die Oberschenkel, als ob er ein Pferd wäre und sie ihm die Sporen gäbe. Ein schlechtes Gewissen hatte er nicht. Er beendete gewissermassen für Benoît, was dieser angefangen hatte. Er brachte die Sache zu Ende, aber er machte es für ihn, in seinem Namen.
Am Abend gab sie ihm einige Texte, eine Art Tagebuch, die sie Benoît versprochen hatte. X. war neugierig auf ihren Inhalt, öffnete sie jedoch nicht und übergab sie, wieder in Europa, Benoît. Dass er mit ihr im Bett gewesen war, verschwieg er.
Was er allerdings nicht wusste: Vanessa erzählte Benoît alles, der X. jedoch nichts davon sagte. Dafür erzählte Benoît es mir, nach X.’ Verschwinden.
***
Ich ertappe mich bei der Fantasie, nach Bujumbura zu reisen und die Geschichte weiterzuführen. Ich könnte mich als Benoît oder als X. ausgeben (ich habe noch einen seiner Passports). Ich würde im selben Hotel Botanica absteigen, im selben Zimmer Nr. 7, und Vanessa anrufen. Ich kenne ihre Nummer (die bestimmt längst nicht mehr funktioniert – ich vergesse, wie viele Jahre das schon her ist! X. meinte manchmal auch, er könne irgendwohin zurückkehren und nahtlos dort weitermachen. Das ist eine Illusion, und wie viel mehr, wenn ich dort weitermachen will, wo jemand anders aufgehört hat. X. allerdings würde sagen: Natürlich kann ich in die Haut einer fremden Person schlüpfen – ich mache es dauernd! Und natürlich kann ich die Zeit austricksen – auch das tun wir unaufhörlich, ohne es zu merken).
(Der vorliegende Text ist ein bisher unveröffentlichter Auszug aus der entstehenden Erzählung «Tod eines Tricksters».)
David Signers acht Erzählungen in «Dead End» kreisen um biografische Wendepunkte, an denen bisher geregelte Existenzen aus den Fugen geraten. Eben noch im Alltag verhaftet, finden sich die Protagonisten plötzlich an fremden, düsteren Orten wieder. In Situationen, die sie überfordern. Oder in denen ihr Leben zu einem jähen Ende kommt. Dead End. Signer schickt in seinem Erzählband weisse, europäische Männer im mittleren Alter ins Verderben. Ob in Varanasi oder in Zürich, alle jagen verlorenen Träumen und unstillbaren Sehnsüchten hinterher, neben denen die Fassaden der bürgerlichen Leben zu Staub zerfallen.
David Signer, geboren 1964, promovierter Ethnologe, hat mehrere Jahre in Afrika verbracht. Er ist Autor des zum Standardwerk gewordenen Buches «Die Ökonomie der Hexerei oder Warum es in Afrika keine Wolkenkratzer gibt» über die Auswirkungen der Hexerei auf die wirtschaftliche Entwicklung Afrikas. Von 2016 – 2020 lebte er als NZZ-Afrikakorrespondent in Senegal, seit 2020 wohnt er in Chicago und berichtet für die NZZ aus Amerika und Kanada. Zuletzt erschienen von ihm die Erzählungen «Dead End» (Lector Books, 2017) und der Roman «Die nackten Inseln (Salis, 2010).
Im Herbst erscheint von ihm im NZZ Libro-Verlag das Buch «Afrikanische Aufbrüche. Wie mutige Menschen auf einem schwierigen Kontinent ihre Träume verwirklichen».
Sie kam zu spät, die anderen hatten schon mit dem Essen begonnen. Es war nur noch ein Platz frei, zwischen einem Mann und einer Frau. Wenn die Frau lächelte, wirkte es, als würde sie eine Übung durchführen, deren Ablauf sie beherrschte, an deren Sinn sie aber zweifelte. Der Mann war zierlich mit strähnig blondem Kinderhaar und schnurgeradem Scheitel. Auf dem Tisch standen große Schüsseln mit Miesmuscheln, jemand füllte ihren Teller, ein anderer ihr Glas. „Entschuldigung“, sagte sie nochmals, aber außer dem Mann neben ihr schien es niemand zu hören. Er sagte, „angenommen“, und hob sein Weinglas. „Pavel.“ „Mona“, sagte sie. Dann tranken sie.
Es ging um Politik, den Flüchtlingsstrom, der sich durch Mexiko zog, eine Wanderung von zweitausend Menschen. Viertausend, korrigierte einer. Und da kommen noch mehr, versprach ein anderer. „Da war diese Mutter“, erzählte die Frau, die Mona schräg gegenüber saß. Ein beeindruckender Afro über einem ebenmäßigen Gesicht, irgendwie kostbar, dachte Mona, wie eine dieser kunstvoll geschnitzten Holzmasken. „An einem Seil kletterte sie von der Brücke auf ein Floß, um den Grenzfluss zu überqueren. Und ihr hinterher ihre Kinder, ganz fassungslos vor Angst.“ „Habe ich auch gesehen“, warf jemand vom anderen Tischende ein. „Und dann das Interview mit ihr!“ „Ja“, sagte die Frau. „Als der Reporter zu ihr sagt: Trump schickt Militär an die Grenzen, und sie nur entgegnet: Gott hat das letzte Wort, nicht Trump.“ „Zu flüchten, ist so unvernünftig. Aber zu bleiben auch“, sagte ein Mann mit grauen, millimeterkurzen Haaren. Er trug eine dickrandige Brille, wie sie vor einigen Jahren modern gewesen war. Ein asketisches Gesicht, schmaler Clark Gable Schnurrbart. Bestimmt Künstler, tippte Mona, vielleicht bekannt. Oder verkannt. Auf jeden Fall der Älteste hier. Sie zählte lautlos die Anwesenden, mit Felix, dem Gastgeber, waren sie dreizehn. Die dreizehnte Fee, dachte sie. Die zu spät kam. Wütend, weil für sie kein goldener Teller mehr da war. „Das ist es, was Trump nicht kapiert“, fuhr der Künstler fort. „Dass seine Härte gegen die Verzweiflung nichts ausrichten wird.“ „Ist das ein Krieg?“, fragte die Frau neben Mona. „Eine Invasion?“ „Da hat wohl jemand zu viel Fox News gesehen“, sagte Pavel verächtlich. Muscheln durchreichen. Die Weinflasche. Das Klirren der leeren Muschelschalen, als sie zurück in die Schüssel geschoben wurden. Die Teller behalten, das Besteck auch, die Spülmaschine streikt, ihr versteht?, zustimmendes Nicken, dann erhoben sich zwei, nahmen die Schüsseln mit, gingen mit Felix in die Küche, Mona hörte sie lachen. „Pavel“, sagte sie. „Ist das tschechisch?“ „Korrekt“, sagte Pavel. „Der Kleine. Das passt doch.“ „Mona… Vielleicht von Mönch abgeleitet?“ „Und? Passt das? Lebst du mönchisch?“ „Ach je.“ Mona lachte. „Kommt vor.“ „Selbst schuld.“ Pavel klang plötzlich gelangweilt. „Du lebst nur einmal, kleine Nonne. Denk dran.“ Der nächste Gang. Kalbsfilet durchreichen. Die Schüssel mit Kartoffeln, klein und rund und gelb. Erbsen. Bohnen. Ein Sonntagsessen. Das Gespräch war inzwischen zur Kunst gewechselt. Eine Ausstellung in der Bronx. Die Kunstsammlung von König Charles dem Ersten. Tizian, Holbein, Tintoretto, you name it. An der Wand der Lebenslauf des Königs, mit 49 hingerichtet, und davor neun Kinder, von denen nur eines älter als 35 wurde. „Wenn du in den ersten Raum kommst, ist es wie in einem Albtraum: all die weißen Männer mit ihren Halskrausen und strengen Blicken, die dich anstarren.“ Die Frau neben Mona verzog angewidert das Gesicht. „Starrst nicht viel eher du sie an?“, fragte ein Mann, den Mona bisher noch nicht bemerkt hatte. Sie musste sich vorbeugen, um ihn zu sehen: Vollbart, braune, etwas zu eng stehende Augen, nicht viel älter als sie, achtundzwanzig vielleicht, der oberste Knopf des weißen Hemdes geschlossen, was ihm etwas Verklemmtes gab. „Das eine schließt das andere nicht aus“, sagte die Frau. Mona schätzte sie auf Ende dreißig. Sie hatte etwas Kindliches an sich, stupsnasig im Profil. Sie stocherte in den Erbsen herum, stach dann und wann ein paar auf, ihre Stimme klang fast trotzig. Kim Jong-Un. Der Islam. Natürlich sei der Koran nicht gewalttätiger als die Bibel. Du sprichst vom Alten Testament? Weil beim Neuen sieht das dann doch etwas anders aus. Okay, aber wer war nicht alles Christ. Truman, Reagan, Bush, Trump. Oha. Jemand erzählte von einem neuen Gesellschaftsspiel, das natürlich nicht neu war, sondern genau wie Wahrheit oder Pflicht. Das hatte Mona schon mit ihren Freundinnen gespielt. Also: Was ist für dich persönlich Erfolg? Spaß am Beruf. Die Liebe. Taxifahren in Manhattan. Wie bescheiden! Eine eigene Wohnung. Die Privatschule für die Kinder. Das war der Mann mit den grauen Haaren gewesen, offenbar der einzige mit Kindern, da niemand darauf reagierte. Das charakterlich Mieseste, was du in letzter Zeit gemacht hast. Meine Mutter ausgeladen. Einen Kollegen gemobbt – aber hey, er hatte es verdient, glaubt mir. Wählt niemand die Pflicht? Was ist die denn? Alles außer Telefonscherze! Küsse eine der anwesenden Personen. Partner ausgenommen. „Ich überleg’s mir noch“, sagte der bärtige Mann. „Und du, was hast du Schlimmes getrieben?“, fragte Pavel leise. Mona trank einen Schluck Wein. „Eine Freundin belogen“, sagte sie dann. „Und was ist daran schlimm?“, fragte Pavel ungläubig. „Ich lüge jeden Tag.“ Er wechselte die Tonlage, leutseliger Gesichtsausdruck: „Aber nein, Liebling, natürlich bin ich dir treu, wo denkst du hin? Meinst du etwa, dass ich in deiner Wohnung, deinem Bett…? Wie kannst du nur!“ Er zuckte mit den Schultern. „Warum muss er auch dauernd verreisen, n’est pas?“ „Bist du Schauspieler?“, fragte Mona. Sie merkte, wie sie innerlich ein Stück von ihm abrückte. „Nein.“ Er sah sie prüfend an. „Bin ich nicht.“ Apple, Facebook, Tesla. Die Nerds sind Milliardäre geworden, und die großartige Idee vom guten Konsum verpufft. Wäre ja auch zu schön gewesen, so einfach sich und gleich noch der Welt was Gutes zu tun, indem man in einen neuen Laptop investiert oder ein Bild von seinem Lunch hochlädt. Und ist euch aufgefallen, dass wir alle gleich eingerichtet sind? Sogar dann, wenn wir die Sachen vom Flohmarkt holen, damit sie schön abgeschabt aussehen. In einer Ecke steht immer auch ein Eames Chair rum. Vielleicht müsste man aufhören zu konsumieren – hinaus ins Freie, ins abgeschiedene Leben, die Glückseligkeit an frischer Luft. Hat eigentlich jemand dieses Interview mit Sean Penn gesehen? Egal, was er gesagt hat, egal was er tut: alle reden nur über seine Raucherei und dass er auf Ambiant war. Als ob er der Einzige wäre! Als ob wir uns nicht alle aufputschen und runterholen müssten. Wer hat in der letzten Woche alles Drogen konsumiert? „Okay“, sagte der Bärtige. „Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, jemanden zu küssen.“ Alle lachten, keiner hob die Hand, auch Mona nicht. Und der Bärtige blieb sitzen und küsste niemanden. Alles fake, dachte Mona. „Und du bist Deutsche?“, fragte Pavel. „Hört man das?“ „Nein. Oder vielleicht doch: ja. Aber Felix hatte dich angekündigt: seine deutsche Freundin.“ Pavel lächelte spöttisch und lieb. „Eigentlich bin ich Amerikanerin.“ Das war immer ihr Ass im Ärmel: Eigentlich bin ich Amerikanerin. Auch wenn sie ihre Staatsangehörigkeit nur dem unwahrscheinlichen Umstand zu verdanken hatte, dass ihre Eltern ein Jahr in Houston gelebt hatten, wo ihr Vater als Ingenieur beim amerikanischen Ableger des bayrischen Mutterkonzerns arbeitete und ihre Mutter, von der texanischen Sonne belebt, unerwarteter Weise doch noch einmal schwanger geworden war. Sodass nicht ihre Tochter, die zwecks Abitur in Deutschland geblieben war, sondern sie nach ihrer Rückkehr mit einem Baby dastand. Immerhin gab es Mona jetzt die Gelegenheit, in Amerika zu studieren und sich hier wie alle anderen Studenten bis zum Hals zu verschulden. Das erzählte sie Pavel. Nicht aber, dass sie sich immer nach Amerika gesehnt habe. Dass sie sich nie ganz heimisch gefühlt hatte in Deutschland. Das war zu albern, fast so sehr wie dieses dämliche Gesellschaftsspiel. „Und“, sagte Pavel. „Gefällt es dir hier?“ Er hatte jetzt nichts Spöttisches mehr an sich. Schien ganz zugewandt, nur an ihr interessiert. „Vieles“, sagte sie, „gefällt mir. Die Atmosphäre, die Uni, die anderen Studenten. Anderes verunsichert mich: ich habe den Eindruck, als könnte ich jeden Moment versagen. Manchmal fühlt es sich an, als wäre ich mitten in einem Strudel und ganz allein.“ „Das kenne ich“, sagte Pavel und Mona lächelte ihn dankbar an. Er sah nachdenklich auf seine Hände, dann sagte er: „Drogen. Mir helfen da immer Drogen.“ „Welche?“ „Ecstasy, Speed, Koks, je nachdem.“ Er zuckte mit den Schultern. „Und Sex.“ Er warf ihr einen belustigten Blick zu. „Sei nicht schockiert, kleine Nonne.“ „Keine Sorge“, erwiderte Mona. „Bin ich nicht.“ Sie nahm seinen und ihren Teller, stellte sie aufeinander, dazu die Schüssel mit den restlichen Kartoffeln und trug sie in die Küche. Der bärtige Mann stand vor dem Fenster, drehte sich kurz nach ihr um und winkte sie dann zu sich heran. „Schau mal“, sagte er leise und nickte mit dem Kinn zum Fenster. Eine Amsel saß direkt davor auf der Fensterbank, im Schnabel einen Wurm, ihr zuckender Kopf mit dem runden schwarzen Auge. „Ein Männchen“, flüsterte er. „Erkenn ich am gelben Schnabel.“ Die Amsel flog weg, und er sagte: „Wie schön, dass wir uns jetzt endlich kennen lernen.“ Mona wandte ihm ihr Gesicht zu, sodass sich ihre Nasen fast berührten. „Finde ich auch.“ „Wollen wir das Abspülen übernehmen?“ „Wie romantisch.“ Mona lachte leise. „Oh, unterschätz das nicht. Die Hände im warmen Wasser, das Reiben und Polieren. Und vielleicht kommt die Amsel noch mal zu uns, vom Spülbecken aus könnten wir sie sehen. Übrigens mag ich dein Kleid, dieses schillernde Grün, du siehst darin aus wie eine Nymphe.“ „Ich bin eine“, sagte Mona. „Geboren aus Schaum, einer Muschel entstiegen.“ Er nickte. „Jetzt, wo du’s sagst.“
Er hieß Alex. Er kam aus Michigan und studierte Medizin an der Columbia. Mit dem Schwamm rieb er die Teller sauber, dann hielt er jeden unter warmes fließendes Wasser, bevor er ihn ihr gab. Schmale lange Hände, fast wie die einer Frau, sie stellte sich vor, wie er ein Skalpell hielt, wie er Körper öffnete, wie er darin herumbastelte, geschickt und sicher und unbeeindruckt. „Nein“, sagte er. „Ich will kein Chirurg werden.“ „Sondern?“ „Frauenarzt.“ „Wie schrecklich“, sagte sie. „Diese Entzauberung, meine ich.“ „Eigentlich nicht.“ Er hielt mit dem Spülen inne und sah sie an. „Der Zauber bleibt.“ „Dann ist ja gut.“ Sie nahm den Stapel mit Tellern. „Wohin damit?“ „Kinder, Kinder, Kinder!“, rief Felix, der in die Küche kam. „Ihr seid hier doch nicht zum Arbeiten. Raus mit euch, gleich gibt’s den Nachtisch.“ Er holte eine große Glasschale mit Vanillecreme aus dem Kühlschrank. „Nein“, sagte er streng, als Mona die Schale mitnehmen wollte. „Da müssen noch Verzierungen drauf. Kirschen, Krümel, der ganze Kram, du weißt schon. Raus jetzt mit dir.“ „Schon gut“, sagte Mona. „Ich geh ja schon.“ Im Bad sah sie sich im Spiegel an. Nur wenn sie lächelte, war sie schön. Ansonsten sah sie mürrisch aus. Auf ihrem Kleid Wassertropfen in gerader Linie, wie eine Markierung. Bevor sie die Tür öffnete, wusste sie, dass Alex davor stehen würde. „Er will mir nicht seinen Platz überlassen“, sagte er. „Ich habe ihm fünfzig Dollar geboten, aber er weigert sich.“ „Hast du nicht ernsthaft“, sagte Mona. Sie hatte Lust, ihn zu küssen. „Doch.“ Alex nickte. „War das zu wenig?“ „Wahrscheinlich“, sagte sie und ging zu ihrem Platz.
Also, sagte Pavel, jetzt da sie sich in der Küche amüsiert und ihn hier allein gelassen habe, müsse er ihr offenbaren, dass sie etwas versäumt habe, einen Streit nämlich, und wofür, wenn nicht dafür, gehe man schließlich zu einem Abendessen. Der Streit sei entbrannt zwischen zwei Frauen. Er deutete unauffällig auf die Frau mit dem Afro und auf eine zierliche Blonde, die am anderen Ende des Tisches saß und von einem bulligen Glatzkopf fast verdeckt wurde. Sie war die Einzige, die wie eine Geschäftsfrau aussah: Bluse, Blazer, Goldkette, der akkurat geschnittene Pagenkopf. Sie sah klug aus, fand Mona, und so, als wisse sie das auch. „Es ging um Emanzipation“, sagte Pavel. „Um sexuelle Belästigung, gleiche Bezahlung, Frauenquote – nichts Neues unter der Sonne. Das Witzige war, dass sie eigentlich einer Meinung waren und sich dann doch anfeindeten. Oh je“, unterbrach er sich. „Da kommt dein Verehrer.“ Alex hatte eine Schale in der Hand und einen Löffel. Er sagte, „ich setz mich dazu, falls das okay ist“, und Pavel sagte: „Nur zu, wackerer Kämpe, du lässt dich ja eh nicht abhalten.“ Alex holte einen Stuhl und setzte sich so neben Mona und Pavel, dass sie einen Halbkreis bildeten. „Es ging gerade um den Streit, den ihr verpasst habt“, sagte Pavel. „Zwei Frauen, die sich wegen MeToo und all dem Scheiß anfeindeten, ganz wunderbar.“ „Warum Scheiß?“, fragte Mona. Pavel sah sie abschätzig an. „Weil’s Scheiß ist, darum. Wir steuern auf prüde Zeiten zu, das kann ich dir verraten, meine Liebe.“ „Das sagt dir deine lange Lebenserfahrung, nicht wahr?“ Mona war auf einmal wütend, es überraschte sie beinahe selbst. Bis eben hatte sie Pavels Blasiertheit noch unterhaltsam gefunden. Wie alt war er überhaupt? Fünfunddreißig, vierzig? „Da hast du wohl recht.“ Pavel ignorierte ihre Wut. „Und ich für meinen Teil muss sagen: wenn mich Kevin Spacey betatscht hätte, hätte ich mich nicht wirklich aufgeregt.“ „Aber darum geht’s doch gar nicht“, sagte Mona. „Ob es dir persönlich gefallen hätte oder nicht. Sondern ob du dich hättest wehren können, wenn du in einer abhängigen Position gewesen wärst.“ „Hör mal, Süße. Das ist doch ein Nehmen und Geben. Ich meine, schau dir doch die Frauen mal an, Titten und Ärsche, wohin man sieht, und das alles nur, weil sie sich Vorteile damit verschaffen wollen. Aber dann dieses ‚nur gucken, nicht anfassen‘, eiteitei, die Unschuld vom Lande plötzlich! Dabei ist das doch ein Tauschgeschäft, von alters her und so bekannt wie der Katechismus.“ „Und damit ist jede Belästigung, sogar wenn es dann eine Vergewaltigung wird, in Ordnung?“ Mona sah fassungslos von Pavel zu Alex. Alex aß seine Vanillecreme, ohne den Blick zu heben. „Ach, Vergewaltigung.“ Pavel schnaubte spöttisch. „Wer da nicht alles vergewaltigt worden sein will.“ Mit hoher Stimme sagte er: „Also ich bin da nur so mit ins Hotelzimmer und hab mir nix dabei gedacht und plötzlich liegt der auf mir. – Merkst du nicht, was das für ein Mist ist?“ „Dann gibt’s für dich also gar keine Vergewaltigung?“ Mona sah hilfesuchend zu Alex, der ihren Blick erwiderte und kurz eine Grimasse komischer Ratlosigkeit schnitt. „Doch“, sagte Pavel. „Klar, im Park, von irgend einem Triebtäter. Aber der Begriff wird einfach inflationär gebraucht.“ „Nein“, sagte Mona. „Nein, nein, nein.“ Sie merkte selbst, dass ihre Stimme mit jedem Nein lauter geworden war. Für einen Moment schien ihr, als verstummten die Gespräche um sie herum. Aber vielleicht kam es ihr nur so vor, weil sie ganz auf Pavel konzentriert war, und auf das, was sie sagen wollte. Pavel sah sie abwartend an, sie amüsierte ihn offensichtlich. „Eine Vergewaltigung ist eine Vergewaltigung.“ Sie bemühte sich geduldig zu klingen – geduldig und herablassend. „Sie liegt dann vor, wenn Sex an jemandem vollzogen wird, ohne dass der- oder diejenige das will.“ „Und woher weiß man immer so genau, was der andere will?“, fragte Pavel. „Jetzt stell dich nicht dumm.“ „Wenn also beide den Sex wollen, ist er okay?“ Pavel legte die Stirn in Falten und stützte sein Kinn in die Hand. Er schien sich überwinden zu müssen, um die nächste Frage zu stellen, aber etwas in seiner Stimme – diese Naivität vielleicht: zugewandt und unschuldig -, verriet Mona, dass das ganz und gar nicht so war. „Wenn es also so ist, wie es in meinem Fall war: dass jemand mit acht Jahren das erste Mal Sex hat, mit einem Vierzigjährigen, und das ganz einfach, weil beide es gerne wollen, dann ist das okay, nicht wahr?“ „Nein“, sagte Mona. Sie fühlte eine Kälte, die sich plötzlich in ihr ausbreitete, eine dumpfe Trostlosigkeit. „Nein“, wiederholte sie. „Das ist nicht okay.“ „Und warum nicht?“ „Weil das Kind“, sie sprach jetzt leise, „also du, ausgenutzt wurde: weil dein Bedürfnis nach Liebe oder Zuneigung oder was auch immer sexuell ausgenutzt wurde.“ Pavel schob sein Gesicht nah an ihres und sah sie forschend an. Sie hielt seinem Blick stand, aber sie erwiderte sein Lächeln nicht. „Mehr hast du nicht zu bieten?“, fragte Pavel. „Mehr nicht als diese Küchen-Psychologie? Und was, wenn ich dir verriete, dass ich derjenige war, der ihn bedrängte? Ganz einfach, weil ich geil auf ihn war?“ Jetzt nicht weinen, dachte Mona, und dann dachte sie, dass das lächerlich war: dass sie hier saß und um diesen Pavel – um das Kind, das er gewesen war, und vielleicht auch um ihn, wie er heute war, so freundlich und grausam und falsch – trauerte. Aber sie konnte nichts dagegen tun, dass ihr Herz sich zusammenzog bei dem Gedanken daran, wie dieses Kind sich anbiederte und benutzt wurde. „Ist ja gut“, sagte sie leise. Sie stand auf. „Du hast gewonnen.“
Sie hatte ihre Jacke vergessen, darum fror sie nun in ihrem dünnen grünen Kleid. Dem Meerjungfrauenkleid. Egal, sie würde morgen bei Felix anrufen und sich entschuldigen, dass sie einfach so gegangen war. Und irgendwann in den nächsten Wochen würde sie ihre Jacke holen gehen. Dann fiel ihr ein, dass es Duncans Jacke war, und dass sich in der Innentasche die silberne Pillendose befand, die er ihr vorsorglich überlassen hatte, bis die Prüfungen vorbei waren. „Mist“, fluchte sie, „Mist, Mist, Mist.“ Wenn sie jetzt wieder zurückging und ihre Jacke holte, würde das mehr Aufsehen erregen als ihr eiliger Aufbruch von vorhin. Und Pavel würde sie lächelnd beobachten, voll mitleidiger Verwunderung. Einen Block vor Felix’ Haus kam ihr Alex entgegen, ihre Jacke über seinem Arm. „So bekam ich wenigstens deine Adresse raus.“ Er hielt ihr die Jacke hin und sie zog sie an und tastete nach der Pillendose. „Okay“, sagte sie. Sie war immer noch wütend auf Alex, weil er sie nicht unterstützt hatte. Aber sie war auch froh, dass sie nicht zurück in Felix’ Wohnung musste. „Danke.“
Am Morgen strich Alex mit seinen langen, schmalen Fingern über ihre Hüfte und ihr Bein, und es nervte sie nicht: sie ließ sich weiter streicheln und küssen und drehte sich irgendwann zu ihm um. Ihr Schlafzimmer war ein Chaos, nicht nur seine und ihre Kleider lagen auf dem Boden, auch zwei Weinflaschen standen da, die sie mit Duncan geleert hatte, und eine Baseballkappe lag auf dem Stuhl, von der sie nicht mehr wusste, wem sie gehörte. Es war alles etwas viel im Moment, aber es war auch schön: wenn, wie jetzt, die Sonne durch das Fenster fiel und Streifen von Staub in die Luft zauberte, die so breit und massiv aussahen, als könnte man sich auf sie setzen und geradewegs in den Himmel über New York reiten. Natürlich würde man fallen. Aber für einige Momente wäre es wunderbar. Man brauchte nur Mut.
Annette Mingels, geboren 1971 in Köln, studierte Germanistik, Linguistik und Soziologie in Frankfurt, Köln, Bern und Fribourg. Promotion in Germanistik. Nach Stationen in der Schweiz, in Montclair (USA) und Hamburg lebt sie seit Mitte 2018 mit ihrem Mann Guido Mingels und den drei Kindern in San Francisco.
Rezension von «Dieses entsetzliche Glück» auf literaturblatt.ch
Nora Gomringer hat zahlreiche Lyrikbände vorgelegt und schreibt für Rundfunk und Feuilleton. Neben zahlreichen anderen Auszeichnungen sowie Aufenthaltsstipendien in Venedig, New York, Ahrenshoop, Nowosibirsk und Kyoto wurde ihr 2012 der Joachim-Ringelnatz-Preis für Lyrik zuerkannt. 2015 erhielt sie den Ingeborg-Bachmann-Preis und 2019 war sie Max-Kade-Professorin des Oberlin College and Conservatory in Ohio. Nora Gomringer lebt in Bamberg, wo sie das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia als Direktorin leitet.