Sandra Hughes «Kopflos», sommerliche Krimigeschichte, Plattform Gegenzauber

«Alex Breitenstein, Kriminalpolizei Basel-Stadt. Frau Vogel?»
Heidi blinzelte in den blauen Himmel. Sie konnte das Gesicht des Herrn Breitenstein nicht erkennen, bloß einen schwarzen Umriss vor der Sonne. 
«Bleiben Sie ruhig liegen.»
Herr Breitenstein ging neben Heidi in die Hocke. Ein netter Mann. Keiner, der eine alte Dame schikanieren wollte. Heidi hatte sich auf ihrem Liegestuhl niedergelassen, noch immer schockiert von den Ereignissen des Morgens. 
«Die Bademeisterin hat mich an Sie verwiesen. Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?»
Natürlich. Für Fragen war Heidi bereit. 
«Sie haben heute früh das Gartenbad betreten. Was ist passiert? Erzählen Sie möglichst genau.»
Oh, es hatte lange vor dem Betreten des Gartenbades begonnen. Aber Heidi konnte sich gerne auf einen Teil der Geschichte beschränken, und der ging so: Heidi war heute ins Tram Linie 2 gestiegen und bis zur Station Eglisee gefahren, wie sie es jeden zweiten Mittwoch in der Früh im Sommer tat, wenn die Sonne schien. An jedem zweiten Mittwoch im Monat hatte sie sich einen Morgen ganz für sich allein erkämpft. Er dauerte drei Stunden. Jeweils um elf Uhr brach sie zurück nach Hause auf, um ihrem Mann eine warme Mahlzeit aufzutischen. Ihr Mann bestand darauf. Eine warme Mahlzeit am Mittag musste sein, mit Suppe. Selbstverständlich alles selbst gekocht. Bloß einmal hatte Heidi es gewagt, ihm ein Stück Käsekuchen von der Migros vorzusetzen. Immer wieder hatte sie versucht, ihm Spiegeleier schmackhaft zu machen, die er sich selbst anbraten konnte. Sie hatte Eintöpfe zubereitet, einfach zum Aufwärmen. Vergeblich. Ihr Mann wollte, dass Heidi für ihn da war, jeden Mittag. 
«Wie schön, Frau Vogel», sagte Herr Breitenstein. «Aber wir waren beim Gartenbad.»
Genau. Heute früh also hatte Heidi um neun Uhr den Eingangsbereich des Gartenbad Eglisee betreten und einen Eintritt gelöst. Nach der Kasse bog sie wie immer rechts ab ins Frauenbad. Das Frauenbad war ihre Glücksinsel. Von Saisonbeginn bis September kam sie jeden zweiten Mittwochmorgen hierher, wenn die Sonne schien. Der einzige Ort, an den ihr Mann ihr nicht folgen konnte. Hier musste sie seinen bösen Blick nicht sehen, wenn das Salz auf dem Tisch fehlte, der Brokkoli zu weich gegart war. Immer fehlte etwas, und egal, was Heidi tat, es genügte nie. Wenn Heidi redete, war es dummes Zeug, und wenn sie schwieg, griff er sie mit bös gemeinten Sätzen an. Er kommentierte jeden Handgriff von Heidi, nichts führte sie korrekt aus. Er quälte sie seit seiner Pensionierung, das Eheleben davor schien Heidi im Rückblick wie ein Zuckerschlecken. Die Sprüche von früher waren Streicheleinheiten im Vergleich. Wohin Heidi in der Dreizimmerwohnung ging, dahin verfolgte er sie. Er legte an, einen verbalen Pfeil nach dem anderen, und zielte präzise. Jeder Schuss ein Treffer in Heidis Herz. Heidi wappnete sich mit dicker Haut, verschloss ihre Ohren, übte eigene Bosheiten ein, damit sie zurückschiessen konnte. Keine Strategie taugte. Nichts half. 
«Also eine schwierige Ehe», sagte Herr Breitenstein. «Aber konzentrieren Sie sich bitte, Frau Vogel. Das Frauenbad.» 
Nach der Kasse war Heidi rechts ab ins Frauenbad abgebogen. Wie schön es war, frühmorgens hier zu sein. Noch bevor die Musliminnen und die alten Baslerinnen eintrafen. Sie führten gegeneinander Krieg, Burkiniträgerinnen gegen Barbusige, umkreist von Wächterinnen mit Kampfstiefeln und Schlagstöcken. Die einen zählten fremde Haare im Wasser. Die anderen machten sich breit, feierten Picknickorgien und beschimpften Bademeister, bloss weil sie Männer waren.
«Frauen», sagte Herr Breitenstein. Er hatte sich neben Heidis Liegestuhl auf dem Rasen niedergelassen. «Kommen Sie zur Sache, Frau Vogel. Konzentrieren Sie sich!»
Heidi ertappte ihn bei einem verächtlichen Blick auf ihre nackten Brüste. Ihre knapp achtzigjährigen Körperteile, von den Spuren des Lebens gezeichnet und in Würde gealtert, hatte niemand so zu behandeln. Das ließ sie den Herrn Breitenstein auch gleich wissen. Genau so wenig wie es niemandem zustand, ihre Speckrollen rund um Bauch und Hüfte zu verachten. Sie waren die schönste Verwandlung von Mokkatorten, Meringue und Sauerbraten, die Heidi in stiller Verzweiflung während all der Stunden in ihrer kleinen Küche schuf. Immer dann, wenn ihr Mann drohte, sich aus dem Fenster zu stürzen, falls sie ihn schon wieder allein zu Hause zurückließ, um mit einer Freundin zu spazieren. Heidi ertappte sich wiederholt bei der Hoffnung, dass er verschwunden war, wenn sie auf Kommando um sechzehn Uhr mit Kaffee und Kuchen aus der Küche trat. Aber er war immer da. 
«Frau Vogel. Kommen Sie endlich zum Punkt!»
Herr Breitenstein schaute jetzt so böse wie Heidis Mann. Es fehlte bloß noch, dass er einen Vortrag dazu hielt, wie dumm Heidi war. Also: Sie wollte heute früh schwimmen, wie immer als Erste. Sie platzierte ihren Liegestuhl auf dem gewohnten Platz. Dann stieg sie die Stufen hinunter ins Schwimmbecken, ließ sich ins kühle Wasser gleiten, schwamm eine Länge hin und eine Länge zurück. Für den Ausstieg suchte sie mit den Zehen nach der untersten Stufe, ganz sachte, weil man sich an der harten Kante stoßen konnte. Heidis Augen waren nicht mehr die besten. Aber fühlen, das konnte sie noch. Sie tastete sich also vor, um sicheren Tritt zu fassen. Da spürte sie unter ihrer Fußsohle etwas, einen Widerstand, der zugleich weich war. Glitschig und klebrig in einem. Ihr Fuß zuckte zurück, aber zu spät. Sie hatte diesen – Heidi blieb das Wort in der Kehle stecken – diese Sache unter ihrem Gewicht zerquetscht. 
«Zerquetscht?» Breitensteins Gesicht war nun ganz nah bei Heidi. «Und danach?»
Danach hatte Heidi geschrien. Ihr Schrei gellte über das gesamte Areal und weit ins Kleinbasel. Auch die Angestellten vom Familienbad drüben kamen angerannt, um gemeinsam ins Wasser zu starren, das nun von rosaroten Schlieren getrübt war. Es folgten vielstimmiges Entsetzen und nüchterne Mutmassungen. Nach viel Gerede kam es der Bademeisterin in den Sinn, den Zugang zum Frauenbad zu sperren, die 117 anzurufen und im Laufschritt ein Netz holen zu gehen. Heidi war schneller als die Bademeisterin. Sie beugte sich vornüber, griff tief ins Wasser und holte diesen – diese Sache – aus dem Becken. 
«Sie haben ihn angefasst?» Herrn Breitenstein flossen Schweißbäche übers Gesicht. «Zuerst treten sie ihn halb zu Brei, und danach befingern Sie ihn?»
Es tat Heidi leid. Ehrlich. 
«Sie haben wertvolle Hinweise auf den Tathergang verwässert!»
Heidi schaute zum Schwimmbecken hinüber und unterdrückte ein Kichern. Tatsächlich. 
«Herrgott, Frau Vogel!» Herr Breitenstein war aufgesprungen. «Denken Sie das nächste Mal, bevor Sie handeln!»
Heidi sah ihm nach, wie er über den Rasen davoneilte, das Handy am Ohr. Herr Breitenstein musste jetzt das Opfer finden, zu dem Heidis Fundobjekt gehörte. Heidi musste ihm beipflichten: Sie hatte gehandelt, ohne nachzudenken. Kopflos, wie ihr Mann gesagt hätte. Heidi hatte schon lange keinen Kopf mehr, wenn es nach ihrem Mann ging. Aber ihr Mann irrte sich, sie hatte noch einen Kopf. Heidi hatte bloß kein Herz mehr. Sie lehnte sich im Liegestuhl zurück, schaute in den blauen Himmel hoch und dann zur Uhr, deren silberne Zeiger in der Sonne glänzten. 
Heute würde Heidi nicht um elf Uhr nach Hause aufbrechen, um ihrem Mann eine warme Mahlzeit samt Suppe aufzutischen. Auch keine Mokkatorten, Meringue und Sauerbraten würde sie mehr still in ihrer kleinen Küche schaffen. Heute blieb Heidi auf ihrer Glücksinsel liegen. Morgen würde sie wiederkommen und übermorgen auch. Immer wenn die Sonne schien und mit ihrer Wärme dazu beitrug, den zerfetzten Klumpen in Heidis Brust wieder zu einem Herzen zusammenzusetzen.

«Mord in der Badi. Sommerliche Krimigeschichten aus der Schweiz», herausgegeben von Miriam Kunz, Atlantis Verlag, 2023, 176 Seiten, CHF ca. 22.90, ISBN 978-3-7152-5513-2

Sandra Hughes, geboren 1966, wuchs in Luzern auf und lebt mit ihrer Familie in Allschwil bei Basel. Bisher erschienen die Romane «Lee Gustavo» (2006), «Maus im Kopf» (2009), «Zimmer 307» (2012) und «Fallen» (2016). Bei Kampa sind bisher 3 Krimis um Tschopp & Bianchi erschienen. Mit der Polizistin Emma Tschopp teilt sie die Vorliebe für Bistecca (saignant) und Blauschimmelkäse. Neben Krimis und Romanen schreibt Sandra Hughes auch für Kinder. 2013 erhielt sie den Kulturpreis des Kantons Basel-Landschaft für Literatur, 2017/2018 das Atelierstipendium der Landis & Gyr Stiftung für Schweizer Kulturschaffende in London.

Sandra Hughes verfasste beim Schweizerischen Jugendschriftwerk SJW auch zwei preisgekrönte Erstlese- und Vorlesebüchlein:

 

 

 

 

 

Beitragsbild © Kampa Verlag/Sven Schnyder

Rebekka Salm «1943», Auszug aus einer noch unveröffentlichten Arbeit, Plattform Gegenzauber

Vor dem Zugfenster lagen Äcker, nackte Sträucher und Bäume, vereinzelte Häuser und Ställe mit eingefallenen Ziegeldächern, wie in besseren Zeiten hingeworfen und dann vergessen. Alles schien mit Mehlstaub überzogen. In zwei Wochen war Weihnachten. Ihre Schwägerin Lieke hatte Emma angeboten, die Feiertage bei ihr zu verbringen. Doch Emma wusste, dass Lieke kaum genug für sich und die Kinder hatte.
Nicht genug Geld.
Nicht genug Kraft.
Sie sah Bahnhofsgebäude vorbeiziehen, ohne Rauchwolken an den Schornsteinen, als hielten sie den ganzen Winter durch den Atem an. Bahnübergänge mit hochgezogenen Schranken verharrten im lautlosen Gruss an den Führer. Krähen flogen auf. Träge schoben sie sich in den bleiernen Himmel über ihnen. Und obwohl die Vögel in Bewegung waren, schien die Welt leblos, eingefroren wie das Bild auf der Leinwand, wenn der Film riss.
Cees und Emma hatten sich im Kino kennengelernt.
Emma hatte sich an einem Sonntagnachmittag im September mit einer Freundin im Ufa-Kino am Rembrandtplein mit den samtroten Sitzen und dem abgebröckelten Stuck an der Decke verabredet. Es lief «Hauptsache glücklich» mit Hans Rühmann. Ein durchwegs banaler Film. Gerade als die beiden Hauptdarsteller erfuhren, dass die von ihnen erst geliehene und dann verlorene Brosche ein Vermögen wert war, fror das Bild auf der Leinwand ein und die Lichter im Saal gingen an.
«Wussten Sie, dass jedes Mal, wenn der Film reisst, er durch das Kleben ein Stückchen kürzer wird?»
Der Mann, der Emma angesprochen hatte, sass zu ihrer Linken. Er war so gross, dass sie sofort Mitleid hatte, mit der Person, die das Pech hatte, den Platz hinter ihm erwischt zu haben. Seine Haare waren blond und millimeterkurz geschnitten, die Augen blau. Die Schneidezähne standen schief und wenn er schluckte, hüpfte sein Adamsapfel lustig auf und ab. Die Schuhe, die kaum Platz fanden zwischen den Sitzreihen, waren zerkratzt und an zwei Stellen blitzen die Socken durchs aufgeplatzte Leder.
«Und wie oft muss dieser Film noch reissen, bis er verschwindet?», fragte Emma nun ihrerseits. Der Fremde lachte und hielt ihr die Hand hin. Elf Monate später hatten sie geheiratet. Nur sie beiden und die Trauzeugen, Cees Schwester Lieke und Emmas Bruder Willem.
Emma zog den Goldring aus ihrer Manteltasche, der an einem Haken neben dem Fenster hing. Sie probierte ihn an all ihren Fingern an. Das Material war kühl und abweisend, wie es auch Cees gewesen war, als sie sich im Krematorium an der Pienemanstraat von ihm verabschiedet hatte.
Sie konnte die Gravur auf der Innenseite des Rings lesen, ohne ihn vom Zeigfinger abstreifen zu müssen. «Vor altjid» stand darin. «Für immer». Und das Datum ihrer Hochzeit. Natürlich hatte Emma gewusst, dass «Für immer» lediglich eine Metapher für eine sehr lange Zeitdauer war. Fünfzig Jahre. Vielleicht mehr. Aber dreizehn Monate, da war sich Emma sicher, war weit entfernt von einer Ewigkeit. Sie fühlte sich betrogen. Von Gott. Nicht dass Emma an ihn glaubte, aber für einen Irrtum in dieser Grössenordnung konnte dennoch niemand anders verantwortlich sein als er.
Sie griff ein weiteres Mal in die Manteltasche und fischte Foto und Postkarte raus. Das Foto zeigte Cees und war im Jahr ihrer Hochzeit entstanden, als sie mit den Fahrrädern zur Karger Seenplatte gefahren waren. Cees hatte die Unterarme auf den Lenker gestützt, im Mundwinkel ein Grashalm. Das Haar etwas länger als bei ihrem ersten Treffen, vom Fahrtwind zerzaust. Die Augen direkt auf die Kamera gerichtet, einen Hunger im Blick. Hunger auf sie.
Hunger auf das Leben, das vor ihm lag.
Cees war nicht satt geworden.
Je mehr Emma sich zu erinnern versuchte, an die vielen Details, die alle zusammen Cees ausgemacht hatten, umso weniger gelang es ihr. Er war zu einem dunklen Fleck vor ihrem inneren Auge geworden. Ganz so, als hätte sie ihn zu lange im Gegenlicht betrachtet und dann den Blick auf den Schnee vor dem Zugfenster gerichtet. Mit jedem Meter, den sie sie sich ratternd von Cees entfernte, sah sie die Umrisse der Leerstelle, die er hinterliess, deutlicher.
Distanz schaffte Klarheit.
Heilung verschaffte sie nicht.
Ihr gebrochenes Herz rief mit jedem Schlag nach Cees wie ein kaputtes Morsegerät.
Emma hatte ihn einäschern lassen. Bei der Beerdigung hatte es geregnet wie aus Kübeln. Sie war mit ihrer Schwägerin am Grab gestanden. Beide hatten sie sich an ihre Schirme geklammert, in der Hoffnung, sie mögen ihnen Halt vor dem Ertrinken bieten. Emmas Bruder war zu dieser Zeit bereits im Untergrund und schrieb für die Widerstandszeitung «Het Parool». Ob er noch lebte oder nicht, Emma wusste es nicht. Nur mit einem Koffer war sie danach zu Lieke und den drei Kindern gezogen. Der Jüngste konnte noch nicht einmal laufen. Ihr Mann, ein jüdischer Kaufmann, war bereits Monate zuvor in Richtung Schweiz geflohen. Noch immer wartete Lieke auf eine Nachricht von ihm. Täglich stand sie am Fenster, gab vor, die Gardinen zu richten, die Nippes auf dem Fensterbrett neu zu arrangieren. Jeden Tag war der Briefträger an ihrer Haustür vorbeigegangen, unbeeindruckt vom regelmässigen Faltenwurf des Wohnzimmervorhangs oder der exakten Ausrichtung der Häkeldeckchen.
Emma hatte sich bei Lieke ins Wohnzimmer gesetzt, auf den Sessel aus grünem Samt und mit den schwarzlackierten Armstützen. Dort hatte sie ihre ganze Kraft darauf verwendet, nicht auseinanderzubrechen.
Sie spürte die Risse, die sich unter ihrer Haut über den ganzen Körper zogen, sich mehrfach kreuzten über der Brust. Die Bruchkanten rieben sich an ihrem Fleisch, machten sie wund, so dass jede Berührung, jede Umarmung ihren Schmerz vergrösserte. Sie sprach nur, wenn man sie etwas fragte, weinte nur, wenn niemand in der Nähe war. Das Ticken der Wanduhr mit den goldenen Zeigern, die im Wohnzimmer über dem Buffet aus Walnussholz hing, waren die Sprossen, an denen sie sich aus der Dunkelheit hinaus zurück ins Leben hangelte.
Tick-tick-tick.
Jeden Tag aufs Neue. Nur um nachts wieder ins Bodenlose zu fallen. Sie war eine Art weiblicher Sisyphos. Mit dem Unterschied, dass sie dem Tod kein Schnippchen geschlagen hatte, sondern der Tod ihr.
Ab und zu spielte sie mit den Kindern. Doch wenn sie ehrlich war, ertrug sie den Anblick der drei Buben kaum. Mit ihren hellblonden kurzen Haaren und den blauen Augen erinnerten sie Emma zu sehr an Cees. Ruben, der älteste, schien sogar die schiefe Zahnstellung seines Onkels geerbt zu haben. Auch sie hatten Kinder gewollt. Emma zwei, Cees drei. Sobald der Krieg vorbei war, so war der Plan gewesen, wollten sie ihre Koffer packen und nach Frankreich fahren. Sie wollte nach Paris, den Eiffelturm besteigen, durch den Louvre schlendern und unter herausgedrehten Markisen Milchkaffee trinken und dabei den Tauben zusehen, die von der Schönheit der Stadt unbeeindruckt nach den Krumen zwischen den Pflastersteinen pickten. Cees wollte in die Bretagne, gegen den Wind der Küste entlangwandern, Weissbrot in Sud tunken, in dem Muscheln mit weit aufgerissenen Mündern lagen und den Schiffen zusehen, wie sie schrumpften und in die Naht schlüpften, die Himmel und Erde am äussersten Ende der Welt zusammenhielt.
Italien hatte bereits kapituliert, Mussolini war in Gefangenschaft. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis auch Hitler von den Alliierten besiegt und Europa befriedet werden würde. Und dann würden sie losziehen, Emma und Cees. Für immer war eine lange Zeit, da liess sich eine ordentliche Reise machen. Und danach eben Kinder. Zwei oder drei.
Gott hatte anders entschieden.
Dieser Gott, der anstelle eines Herzens ein harter Laib Brot in der Brust hatte.
Sie glättete den wollenen Rock und kniff die Augen zusammen. Nicht weinen. Die ältere Dame auf der anderen Seite des Gangs blickte schon wieder von ihrer Zeitung hoch und warf Emma missbilligende Blicke zu. Der Stoff hinter ihrem Kopf, der das Polster vor Abnutzung schützte, war so zerknittert wie ihr mürrisches Gesicht.
Draussen zerteilte Schneeregen den Himmel von oben links nach unten rechts. Die Flocken am Fenster konnten sich nicht halten, ergaben sich der Wärme, die aus dem Zugabteil zu ihnen herausdrückte und rutschten weg, hinterliessen nichts als feuchte Spuren auf Emmas Spiegelbild.
Ein Tropfen fiel auf die Postkarte auf ihrem Schoss.
Sie war von Beatrix. Auf der Vorderseite das Bild einer Holzbrücke, die über einen Fluss führte, dahinter ein Kirchturm, der über Häuserdächer ragte.
Berge waren nirgends zu sehen. Emma hatte immer geglaubt, dass die Schweiz aus nichts als Berge bestehe. Und aus Tälern zwischen den Bergen.
Beatrix war eine Freundin ihrer Mutter. Als Kind waren die beiden in Leiden in dieselbe Schulklasse gegangen und anschliessend hatten sie im gleichen Betrieb eine Ausbildung zur Damenschneiderin gemacht. Beatrix war die Trauzeugin gewesen, als Emmas Eltern geheiratet hatten. Anfangs der zwanziger Jahre war sie dann ihrem Ehemann, einem Geschichtsprofessor, in die Schweiz gefolgt. Emma hatte Beatrix danach nur noch einmal gesehen, an der Beerdigung ihrer Mutter. Da war Deutschland gerade in Polen einmarschiert.
Nach Cees Tod hatte Emma ihr einen Brief geschrieben. Die Antwort hatte der Briefträger vor wenigen Tagen in Liekes Briefschlitz in der Haustür geschoben. Liekes hatte geweint.
Aus Freude, dass Emma einen Weg nach draussen offenstand.
Aus Enttäuschung, dass die Postkarte nicht den Namen ihres Mannes als Absender trug.

Rebekka Salm, wohnhaft in Olten, studierte Islamwissenschaften und Geschichte in Basel und Bern, arbeitet als Texterin und Erwachsenenbildnerin im Migrationsbereich und ist Mutter einer Tochter. Publikationen in verschiedenen Literaturformaten, 2019 gewann sie den Schreibwettbewerb des Schweizer Schriftstellerwegs. Ihre Siegergeschichte ist im Buch «Das Schaukelpferd in Bichsels Garten» (2021) erschienen. 2022 erschien bei Knapp ihr Debüt «Die Dinge beim Namen«. 2023 erhielt sie von den Kantonen Baselland und Solothurn je den Förderpreis Literatur. 

Beitragsbild © Timo Orubolo

Cornelius Müller «Heimat – ein Reisetagebuch», Plattform Gegenzauber

Es gibt keinen ruhigeren Ort für einen Spaziergang als das Neubaugebiet um achtzehn Uhr dreißig. Die Häuser stehen in Zehnerblöcken, weißer Putz, schwarze Dachziegel. Wer es ausgefallen mag, versieht die Fassade mit einem Farbstreifen auf halber Höhe. Fetzig, so muss der Auftrag gelautet haben, fetzig soll es aussehen. Man kann sie riechen, die fetzige Farbe, so wie man den Rasen, den Asphalt, die freigelegte Erde aus den Baugruben riecht. 
Noch sind die Hecken nicht hoch genug, noch lassen sich hinter den Glasfronten die frischen Familien beobachten. Die Kinder mit geraden Rücken und baumelnden Beinen, die Eltern mit großen Gesten am Herumreichen, hier die Butter, dort der Landschinken, gern schneid ich dir noch eine Scheibe vom Brot ab, ist das nicht toll, aus dem Holzofen, nein, schmieren musst du es schon selbst. Im Garten davor steht der Spielturm aus dem Baumarkt, der alles hat, wirklich alles: Schaukel, Rutsche, Klettergriffe, Häuschen, Sandkasten. Warmes Abendlicht legt sich über den Holzkoloss. Irgendwo piepst ein Marderschreckgerät. Eine Perserkatze huscht über den Gehweg, das Fell noch kurz, auch sie eine Neuanschaffung. Ein Elektroauto surrt in seine Einfahrt. Daneben stehen die Jungbäume Spalier, an Pfähle geknotet, so wachsen sie gerade. Die Straßen heißen Bertolt Brecht, Theodor Fontane und Friedrich Schiller.

Was macht eigentlich Anna Blum? Immer wieder treibt mich die Frage um während meines Besuchs in Dornhan. Anna war das strohblonde Mädchen, lebhaft und auf eine meist gute Weise frech, das den Jungs aus der Realschule Paroli bot, wenn die in der großen Pause zu uns Grundschülern rüberkamen. Sie hatte denselben Schulweg wie ich und ab und zu war ich wohl ein bisschen verliebt, wenn sie vor ihrem Haus unter dem Straßenschild wartete, damit wir zusammen gehen konnten. 
Das erste Mal fahre ich auf dem Weg vom Bahnhof daran vorbei, als mein Vater mich vom Bahnhof abholt. Später noch einmal mit dem Fahrrad. Irgendwann fällt mir auf: Ich nehme immer denselben Weg, obwohl es viele andere gäbe. Da ist das schicksalhafte Gefühl, dass ich ihr begegnen werde. Dort vor ihrer Einfahrt, vielleicht sogar unter dem Straßenschild. Oder später, beim Laufen mit dem Hund. Da bin ich mir fast sicher, dass sie mir gleich entgegenkommen wird, und dann werde ich sagen: „Anna Blum! Mensch, wie geht’s dir, Anna Blum? Und was machst du eigentlich mittlerweile?“ Wir werden ein paar Sätze wechseln und uns gutmütig zulächeln und wieder unserer Wege gehen, und ich werde denken: Ah ja, das macht sie also! 
Am Samstagabend treffe ich im Spitz, der speckigen Stammkneipe neben der Kreissparkasse, den Chrisi und den Jerke. Chrisi hat zwar immer noch seine Tunnelohrringe, ist aber mittlerweile nach Stuttgart gezogen und hat bei seinem Arbeitgeber vier Tage Homeoffice pro Woche rausgehandelt. Jerke hat das Abi abgebrochen, dann ein FSJ gemacht, dann ein Informatik-Studium abgebrochen, jetzt aber eine Ausbildung zum Jugendbetreuer in Stuttgart begonnen, wo alles super ist bis auf den Nachbarn. Der ist ein richtiges Arschloch, das in seinen Beschwerde-Mails an die Hausverwaltung die verschiedenen Geräusche, die er um halb eins gehört haben will, nach Typen sortiert aufzählt: Möbelrücken, mehrstimmige Unterhaltungen, Türquietschen, lautes Gelächter. 
Wir trinken Weinschorle und Pils und den ganzen Standardkram. Darüber vergessen wir das Championsleague-Finale, das die restlichen Kneipengäste an den Fernseher fesselt. Einer nach dem anderen packen wir die alten Geschichten auf den Tisch. Die Europatour mit der Jungschar. Die Partys bei Chrisi im Keller mit Billigvodka und miesem Tomorrowland-Techno. Überhaupt die Partys. Auf den Grillplätzen, in den Bauwägen, den Turnhallen und den Festzelten, und nichts anderes zählte als dabei zu sein, dabei so hart und so lange wie möglich. Dabei, damit man sich am Montag erzählen konnte, wie der Luca am Straßenrand eingepennt oder der so und so sich die Ina geklärt hatte. 
Irgendwann spät am Abend, wir sitzen angetrunken und zugekifft am Kneipentisch und träumen von den Zeiten, in denen der Spitz noch Bockwurst mit Senf verkaufte, sagt Jerke: „Leute, wisst ihr, was ich mich immer wieder frag, wenn ich daheim aufm Bett lieg und an früher zurückdenk?“
„Ne Digger, was denn?“
„Was macht eigentlich Anna Blum?“

Bei Oma und Opa ist neben der Klopapierrolle jetzt ein Haltegriff in die Fliesen geschraubt. Auf der Kloschlüssel liegt ein sperriger weißer Aufsatz. Oma plant ihre Tage so, dass sie nur einmal die Treppe runtersteigen muss. Am Dienstagmorgen, bevor der Mann vom Pflegedienst kommt, frühstücken wir deshalb im Schlafzimmer. Sie im Sessel, Opa und ich auf der Bettkante. Opa zieht das Rouleau hoch. Ein breiter Streifen Morgenlicht fällt auf den Teppichboden. 
„Ich mag das ja nicht, wenn man hier so reingucken kann ohne den Rollo.“
„Och Alida, nun lass doch mal gut sein. Hier guckt doch niemand rein, was haben die denn davon.»
„Ja. Aber ich muss denn nachher auch sehn, dass ich rechtzeitig fertig bin, bevor der Mann von der Pflege kommt.“
„Alida. Der kommt um zehn Uhr. Das ist noch über eine Stunde, das wird uns ja wohl reichen.“
Die Löffel klimpern in den Müslischalen, dann Oma, wie zu sich selbst: „Ich mag das einfach nicht leiden, Termine am Morgen.“
Später auf der Terrasse herrscht konzentriertes Schweigen. Augen zusammenkneifen hinter Lesebrillen. Opa mit der Lokalpolitik, Oma mit dem ADAC-Prospekt. Bis vor einem Jahr waren es hier Oma, Opa, Tante Anne, Onkel Carl. Der Doppelhaustraum, dann der Unfall. Um eins holt Anne Carl aus dem Pflegeheim. Die Sportsonnenbrille und die Kappe sitzen schief. Er gibt ein dünnes „Moin!“ von sich und legt eine Reihe Schneide- und Eckzähne frei. Gemeinsam hieven wir ihn die Rampe von der Garage zur Terrasse herauf, dann rollt Anne ihn an seinen Platz im Schatten der Markise. Sie rückt die Kappe und die Sonnenbrille zurecht, schiebt ihm ein Kissen unter die Hände. 
„Alles gut, Carl?“, frage ich.
„Ne!“, sagt er. 
Oma hat derweil einen Bericht über die Mecklenburgische Seenplatte entdeckt.
„Ach, wenn ich all die Urlaubsorte sehe, da möchte man glatt nochmal reisen.“ Ihre Stimme wackelt verdächtig. Opa bedient sich seiner altbewährten Abwehrstrategie, ein bisschen Humor hat noch niemandem geschadet: „Ja, da musst du das wie Friedel machen, die war da überall schon.“
Friedel sitzt im Altersheim und schaut dort allabendlich ihre Reisereportagen. Seit einem halben Jahr lässt eine fortschreitende Makuladegeneration ihr Sichtfeld verschwimmen. Wenn die Stimme aus dem Off sagt, dass die Mecklenburgische Seenplatte aus über tausend Seen besteht, die durch ein engmaschiges Netz aus Flüssen, Bachläufen und Kanälen verbunden sind, sieht Friedel auf dem Fernseher grüne, braune und blaue Schlieren; den Rest ergänzt ihr Gedächtnis.
Abends, nachdem Oma die Reise Richtung Bett angetreten und Opa sich, „Ou, jetzt kommt mein Barnaby!“, vor den Fernseher gesetzt hat, sitze ich mit Anne auf der Terrasse. Wir trinken Whiskey Sour. 
„Das ist anders geworden, das ist wirklich alles ganz anders geworden. In den letzten zwei Jahren, da hat sich das alles verändert hier bei uns. Willst du noch einen?“ 
Wir diskutieren das Mischverhältnis und die Familiengeschichte und den Sternenhimmel und das Flugverhalten der Fledermäuse. Anne schenkt nach.

Cornelius Müller studiert Psychologie an der Universität Konstanz mit einem Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes. Er veröffentlicht Kurzgeschichten im Konstanzer NUN-Magazin und hat im Laufe seines Studiums diverse Schreibseminare besucht, zuletzt die Schreibakademie Kurzgeschichte bei Hanns-Josef Ortheil. Im Rahmen seines Projekts „Heimat – ein Reisetagebuch“ sammelt er Eindrücke, die zwischen seinem Studienort, seinem Heimatdorf im Schwarzwald und dem Wohnort seiner Großeltern an der Nordseeküste pendeln.

Beitragsbild © privat

Walle Sayer „Die Spätauslese des Gesehenen – vier Gedichte“, Plattform Gegenzauber

Litanei

Auch Wurstfinger haben ihre Feinmotorik.
Auch die verrauchte Stammkneipe ist Fakultät.
Auch Friedhofsbänkchen oder Mauervorsprung bieten Logenplätze.
Auch der Katzenradius um den heißen Brei zeichnet eine Umlaufbahn.
Auch die Einkaufsliste des Alleinstehenden ließe sich deklamieren.
Auch Geld verschwenden sei mitunter eine Art, es zu verachten.
Auch Schlafsack und Fallschirm sind entfernte Verwandte.
Auch die kahle Glühbirne an der Zimmerdecke wäre ein Gestirn.
Auch ein herumgereichter Plastikbecher könnte als Kelch dienen. 
Auch den Sichtschutz aus Klarheit kann es geben. 

 

Steht, stand, gestanden

                                      Das ist eine Geschichte, dieser eine Satz.
                                              Peter Bichsel

Auf dem Podest einer Gartenmauer, 
unter dunkel aufziehenden Regenwolken,
steht da in sich verstummt ein Karton 
voll aussortierter Kinderbücher.

Die Erschöpfung stand am Küchentisch,
hielt inne und starrte in den Strudelteig,
schloß für einen Moment die Augen,
als könne man auch so untergehen.

Mit dem Einläuten der letzten Runde ist einer auf-
gestanden und klopfte, bevor er ging,
mit seinen hellen Fingerknöcheln
dreimal auf die Tischplatte.

 

Begegnungsstätte

Durch einfallendes
Straßenlampenlicht erhellt,
im Halbdunkel von Praxisräumen,
in einem dämmernden Gemeindesaal,
dies aufatmende Stilleben,
nachdem der abendliche Gesprächskreis
aufgelöst wurde, gegangen ist,
rundum die Stühle zurückließ,
die jetzt alleingelassen 
sich auf sich selbst gesetzt haben,
mit ihren müden Lehnen,
den schwebenden Sitzflächen,
ihrem ersten Schattenentwurf,
ein eigenes Zentrum bilden, 
sich konstituierten,
aber nichts erwidern,
nichts entgegnen,
keine knifflige Antwort wüßten
auf die ungestellte Frage,
einander nur groß anschweigen 
in ihrer Verbliebenheit.

 

Die Spätauslese des Gesehenen

Der morgens schon vollgestellte Parkplatz vorm Amtsgericht.
Der Neubau einer Freikirche, die dastand als Gebetsfiliale.
Ein Toupetträger, dem man ansah, daß er ein Toupet trug.
Das aufgebrochene Geheimfach eines verweinten Gesichtes.
Etwas Zentrierendes, wie eine stillende Mutter im Raum.
Das einzige Grab in der Reihe, das von Bienen angeflogen wurde.
Das stotternde Fahrschulauto, das am Kapellenberg das Anfahren übte.
Die Mauer, als träte sie hinter den Schatten zurück, den sie warf.
Inmitten des nicht abgeräumten Tisches: die Grazie eines Weinglases.
Die abgenutzte Zahnbürste, die deinen Blick erwiderte.
Vertrocknete Mäusekötel in einer Werkzeugkiste.
Der Schnullerabdruck um den Babymund.

 

Walle Sayer, 1960 in Bierlingen bei Tübingen geboren, lebt in Horb am Neckar und schreibt Gedichte und Prosa. Veröffentlichungen seit 1984. Seit 1994, seit dem legendären Erfolg seiner Prosa «Kohlrabenweißes», erscheinen seine Bücher in enger verlegerischer Zusammenarbeit mit Hubert Klöpfer. Zuletzt erschienen „Mitbringsel“ (2019 ), „Nichts, nur“ (2021) und „Das Zusammenfalten der Zeit“ (2022).
Walle Sayer erhielt über die Jahre namhafte Stipendien und Auszeichnungen, u. a. den Berthold-Auerbach-Preis, den Thaddäus-Troll-Preis, den Basler und den Gerlinger Lyrikpreis, 2020/21 das Jahresstipendium des Deutschen Literaturfonds. Er ist Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller und im Deutschen PEN.

Beitragsbild © Charly Kuball

Walter Fabian Schmid «Die Lost Places zucken noch», Plattform Gegenzauber

TOKAMAK

Du hast unseren Frieden in den Vorhof
gepflanzt. Abgesteckte Beete. Wie Kammern,
aus denen unbekannte Namen flimmern.

Wir Auferstandenen steigen weiter und weiter auf.

An den Rändern schwarzer Löcher verglühen
unsere Herzen. Nur Plasma. Energie
für unsere Kinder, die nie mehr kommen.
Die nie diese Wärme spüren. 150 Millionen
Grad. Gemessen in der Zeit,
die wir als Menschen verbrachten.

 

AUCH TOURISTEN VERSTRÖMTEN WÄRME

Im Sonnenbrand der Winteräpfel
warfen die Meere Blasen,
verbrühten die Gletscher und
verdampften an der Himmelskruste.

Wir sassen in unseren Autos
und bestaunten die Feuer.

»Was für ein Postkartenmotiv!«

Auf halbem Weg ging die Sendung verloren.
Auch unsere Restsouvenirs gingen zu Bruch.

Tollpatschig fielen die Felswände um.
Berge besuchten uns öfter
im Tal. Die Gäste fuhren schon früher
mit E-Bikes dem Sturz entgegen.

Im Winter legte sich Frost
über das Magma. Ein roter
Spiegel voller Risse,
die blicken liessen
auf die eingeschmolzenen
Feldspaten abgewanderter Bauern.

 

WIR TRUGEN DÜNNERE HÄUTE

Seen schwitzten das Klima aus.
Wälder nur qualmende Stummel.

»Wer verträgt schon diese Gluten?«

Sommerfrischler bestiegen ausgekühlte Halden.
Ihr Schweiss schwemmte Fahrbahnen frei
für Aschetransporter. »Feinstes Karbon!«

Die Staublungen der Erdhörnchen keuchten.
Schwer scharrten sie alte Apparate aus.
iPhones auf Stand-by. Ein Beistand
für grausame Bilder.

Wir zählten die Baumringe unter den Augen,
als die Schattenseite der Äpfel schon brannte.

Die Luft trug einen reizenden Feststoff
aus und wir schlüpften in dünnere Häute.

 

MAN HÄNGTE UNS EINFACH SO AB

In unseren Stuben lagen die
Leitungen blank.

Aus Dielen rieselten Schritte.
Wege, die sich wie Frassgänge
in unser Holz gekerbt hatten.

Erinnerung legte sich
nur noch den Tieren in die Instinkte.

Dem Marder, der nach den Kabeln schürfte,
um am versiegten Stromfluss zu lecken.

Vom Berghang rollten
verlorene Echos, krochen durch
Röhren unserer Fernseher,
die niemand mehr reparierte.

Abgehängt hinterliessen auch wir
nur die hellen Flecken auf der Tapete.

 

WIR WURDEN ZU STAUB,
AUS DEM WIR UNS MACHTEN

Im Herbst kam den Feldern
das Suppenkraut hoch.

Mit schiefem Kreuz
humpelten Alte zur Kirche.

Der Mief holte sich noch einmal Luft
von entlaufenen Kindern.

Wir aber waren schon abgefahren
mit unseren Zweitaktern und
holten die Auferstandenen
unmöglich ein.

 

(Die wiedergegebenen Gedichte sind aus «Die Lost Places zucken noch», edition offenes feld. Dortmund 2023.)

Walter Fabian Schmid, geboren 1983 in Regen, ist Schweizer und Deutscher und lebt im Kanton Bern. Er studierte Diplom-Germanistik in Bamberg, arbeitete als Redaktor, Literaturvermittler und Texter. Er erhielt den Calwer-Hermann-Hesse-Preis 2010 als Mitredaktor der Literaturzeitschrift poet, war nominiert für den Leonce-und-Lena-Preis 2011 und 2015 sowie den open mike 2014 und den Dresdner Lyrikpreis 2020. Gemeinsam mit Tristan Marquardt gründete er die Lesereihe «meine drei lyrischen ichs».

Beitragsbild © Sascha Kokot

Thomas Kunst «Irische Traumung. Ein Küstenspiel», Plattform Gegenzauber

I

Geduckter Rauch

Trafen sich ein Mann.
Trafen sich und hatten nur den Namen bei. Ihm Düren.
Trafen sich in dieser hochbegabten Steppe aus kurz
Geschorener Musik. Wie das klingt. Frag Ihm doch.
Ihm seine Augen, ich beginne immer mit den
Augen, wirkten, aber waren braun und
Zerstritten.
Als hätte
Ihm
In einer verschärften Situation
Die Brille zu lange auf –
Behalten. (Siehst du.) Die enge Allee
Durch den stahlblonden Heimat ist eine
Verschorfte Situation. Da passen zwei März Ärzte
Ohne Schwestern nebeneinander. Warum ausgerechnet
Zwei. Das kann ich dir sofort sagen, weil du nur so, schon von
Weitem mit Mitte rechnest. Heimat kannst du schon auswendig
Lernen, sobald sie nur über Wörter verfügt, die
Freiwillig bei dir bleiben. Draußen, aber nicht unbedingt, zerriss der
Schnee. Ich wusste, dass du nur Gas lachst, die blasse Allee in einer
Angenehmenen Stadt, von der links und 
Rechts Flammen ab –
Gehen. Pass doch auf, wo du hin 
Trittst, Kleiner, das
Schöne Feuer.
Zuerst ist es ganz sacht und spielt mit dir Mutter, Vater,
Mitte. Dann ist es ganz Mitte und spielt mit dir Mutter, Vater,
Feuer. Ist die Asche schon fertig. Wie lange braucht
Ihr denn noch. Einsblondundachtzig. Das müsste doch in
Einem Land zu machen sein, auch wenn es
Hier nicht ganz für die sieben Winden reicht, aber vier,
Dürre, flache würden sich schon auf –
Treiben lassen. Einer davon hat Strandgut geatmet, ein wenig
Schaum, ein wenig Flaschen –
Rost. Dieser wäre Ihm sicher der liebste. Ich habe das
Land nicht im Reim erstickt. Dabei ersticke ich
Es gar nicht so gern. Ihm hat es so gewollt.
Trafen sich ein Mann.
Trafen sich und hatten nur den Namen bei. Ihm Düren.
Trafen sich in dieser kurzbegabten Steppe aus hoch –
Geschorener Musik.

 

II

Ihrisches Crescendo

Trafen sich eine Frau.
Trafen sich und hatten nur den Namen bei. Ihr Belwas.
Trafen sich in dieser hochgesteppten Musik aus kurz –
Geschorener Begabung. Ich habe das Land nicht
Im Reim erstickt. Dabei ersticke ich es gar nicht so
Gern. Ihm hat es so gewollt. Ihr hat es so
Gewollt. Schaum, 
Elektrischer Süden rückt von den Rändern nach 
Innen, Lehn –
Sucht bleibt unser Ledergewächs, das Lager
Hinauf, frisch
Gerissene Ängste ändern die Sätze 
Auf, was ist
Schon eher zu Ende (sag an) als kaum zu
Beginnen, Belwas.
Ihr hatte ihr glänzendes Haar, ich beginne immer mit dem
Haar, aus frischen Kastanien gezogen. Weiß lag noch Mehl
Auf dem Nabel. Ihrs Monat war der Oktober, geflochten aus Segel –
Bekleideten Stürmen und den Überresten der Stranddorn –
Kolonnen. Ihrs Heirat war folgerichtig mit dem Tag zusammen –
Gefallen, da sie sich entschlossen hatte, allein zu
Lieben. Doch nun trug sie einmal den Ring. Und das
War schon immer so. Ihr hatte darauf bestanden, 
Ihren Mann nicht weiter zu erwähnen. Ich hatte
Ihrs Schmerzen längst begriffen und willigte ein, natürlich
Auch, um ihr, als Figur weiter folgen zu dürfen, ihr, der von
Vornherein nichts anderes übrigblieb, sie bis ins
Feinste auszukosten, die Technik des Scheiterns,
Belwas, wenn du das durch –
Hältst, finde ich dich zum Kosten. Schmerz gegen
Schmerz ergibt irgendwann weit hinten an der Küste
Einen neutralen Aufprall. In Ihrs Fall war es anders, sie
Konnte nicht schwimmen, und das machte sich
Ihr zunutze. Nach drei Tagen wurde
Ihr, an den Strand geworfen, gefunden. Weiß platzte
Der Schaum auf dem Nabel. 
Trafen sich eine Frau.
Trafen sich und hatten nur den Namen bei. Ihr Belwas.
Trafen sich in dieser hoch –
Begabten Steppe aus kurz –
Geschorener Musik. Frag Ihm doch. Frag
Ihr doch.

 

III

Verwaschene Grafschaft

Traf sich eine Mann und ein Frau.
Traf sich und hatte nur den Namen bei. Ihm Düren. Ihr 
Belwas.
Der golfene Strom hatte seine flache Wärme ins Land
Gespült und das Januarmittel aufgeheizt auf sieben Komma sieben 
Grad, so dass Sich selbst hier, in dieser 
Abgeraschelten, bröckeligen Gegend Palme
Und Rhododendron als zarte Requisiten entfalten konnten, was sich als
Äußerst günstig erwies, denn dieser subtropische Hauch hatte die
Beiden Toten ein wenig grün betastet. Verwesung ist doch auch nichts
Anderes als nachlassende Kondition. Ihm hatte ein aschfahles Gesicht. Ich
Beginne immer mit Asche. Ihrs Körper hatte die ausgeschlafene Form fleisch –
Farbenen Wassers. Ich beginne immer mit Wasser. Nur, dass sie nicht weinte, schien
Ihren Körper noch zusammenzuhalten. Es ist natürlich einfach, zwei
Verendete Körper leger in dieselbe Landschaft zu streuen. Ich hatte ziemlich
Genau darauf geachtet, dass es sich dabei um eine Region
Handelte, so wie die Grafschaft Galway, die ziemlich dünn besiedelt
War, so dass ich einigermaßen sicher sein konnte, nicht in die Lage zu
Geraten, ländliche Bauern und deren Hütten skizzieren zu müssen, sobald
Es Ihm und Ihr darauf anlegten, auf etwas Lebendiges zuzuhalten. Obwohl
Eine schon vor Jahren verlassene Lehmmauer doch auch etwas
Hat. Dass sich Ihm und Ihr vorher noch nie gesehen hatten, blieb erstmal
Ihre einzige Verwandtschaft. Doch was willst du mit zwei Menschen
Anfangen, die frieren, Hunger haben, doch keine Hütte aus ungefähr gleich –
Langem Holz. Hier ist ein Hochlandrind zum Umwickeln. Hier
Sind die Beeren. Hier sind neun besonders eng stehende
Bäume. Bevor ich die Beiden jedoch sich näherkommen
Ließ in der geölten Mechanik der Küste, nahm ich von
Schafen, nahm von den Schultern und Säften, das, was sich eignet zur
Scham. Jetzt bist du dran, Düren. Darf ich Sie zu einem Fell
Einladen. Darf ich Sie zu den Beeren einladen. Darf ich Sie zu den
Neun besonders eng stehenden Bäumen einladen. Am Ende solcher
Sätze, die auch immer in einen Dschungel von nicht –
Gesagten Sätzen münden, die jedoch nie den gemeinsamen
Kern preisgeben, am Ende solcher Sätze entzündete sich immer
Beinahe das schmale Fest des Fleisches. Ein wenig zuckten
Die Lenden auf, in ihrer deutlichen, ledernen
Sprache. Jetzt bist du dran, Belwas. Ihr sagte zwar
Nichts. Ihr berührte zart mit dem Ellenbogen
Ihms Kinn.

 

IV

Tage ja Monatelahm

trug ständig das Meer die gleichen Klänge nach innen, vor
Die Hütte aus ungefähr gleichlangem Holz.
Die neun besonders eng stehenden Bäume hatten Ihm und
Ihr mit Schlamm und Steinwerk höhergezogen, so dass keine
Behaarten Sterne mehr dazwischenfahren konnten, nur die Geräusche
Gestrandeter Seevögel hatten noch gute Aussichten eingelassen zu
Werden. Düren hatte mit Feuer, das Feuer habe ich ihnen zukommen
Lassen, falls es Fragen gibt, Düren hatte mit Feuer einen majestätischen Stamm
Gehöhlt, den er in den frühen Stunden der kaum behinderten Sonne zum
Fischen benutzte, bis das Netz, das Netz habe ich ihnen zukommen lassen, falls 
Es Fragen gibt, bis das Netz gefüllt war mit beweglichem Bronzebesteck. Belwas
Hatte in Ihms Abwesenheit ihr glänzendes Haar zu weichen, fließenden Kastanien
Geflochten, die langsam und feucht auf die Lenden zu –
Strömten. Den ganzen Tag nur die braune See, der Regen roh und in Würfel
Geschnitten. So hielt die Insel ihren genauen
Unterricht ab. Düren, nach vorn, an die Tafel, an welche denn
Sonst. Hat ein Wort wie Heimat, wenn es dich ständig in einer beengenden
Situation betrifft, nicht auch außerhalb solcher Zustände seine
Neutrale Geschlossenheit. Sind nicht die Worte selbst zu 
Einem Täuschungsobjekt einer nicht eingestandenen, einer
Verhinderten Liebe geworden, runtergehandelt zu dem Preis, für etwas
Anderes nur Schmiere zu stehen. Erst wenn die Scham zerrissen,
Zuckend vor unseren Füßen liegt, krümmt sich die Sprache
Zurück in ihren tierisch zarten Zustand, gehört so noch
Enger an die Zähne. Die wesende Geburt des Herbstes, beige faulten
Die Bäume ineinander über, hatte es längst bewiesen, selbst die Liebe war
Nur eine Schlichtungsform der Neugier. Jetzt, nach überstandenen Monaten
Der Ähnlichkeit, hielt ich es für angebracht, ihm und ihr eine gleich –
Mäßige und bedächtige Zerstörung der Insel durch das Wasser vorzu –
Schlagen. Ihms und Ihrs Reaktionen darauf waren diesem
Traurigen Programm angemessen. Belwas löste ihre erstaunlichen Kastanien 
Zu einem allmählichen Wasser. Golf, Rhododendron und eine
Schon vor Jahren verlassene Lehmmauer hatten sich in feinen
Fasern verbunden. Auch wenn es hier nicht ganz
Für die sieben Winde reicht. Aber vier dürre, flache
Würden sich schon auftreiben lassen. Und es kam wie ein trockenes, hoch –
Triftiges Gas, das in den feinen Fasern ein zittriges Sirren
Erzeugte und beim Berühren das Wasser
Verähnelte in eine starre, elektrische
Weide. Tage ja monatelahm trug ständig das Meer die gleichen
Klänge nach Hütte, vor die Holz aus ungefähr gleich –
Langem Innen. Jetzt bist du dran, Ihm. Darf ich Sie zu den nass
Gewordenen Beeren einladen. Darf ich sich zu den neun besonders eng
Unter Wasser stehenden Bäumen einladen. Darf ich dich in das Fell
Tun. Ein wenig zuckten die Lenden auf, in ihrer
Deutlichen, ledernen Sprache. Sehgestöber, Sanddornperlen von der Schnur
Gelassen, Schlamm und Steinwerk in weicher
Veränderung, Geräusche aufgespülter Seevögel, nur, dass 
Sie nicht weinte, schien Ihrs Körper noch zusammenzu –
Halten. Es gelang ihr nicht mehr, ihm zu zeigen, wie sehr
Sich über ihnen die See schloss. Das gefiel ihm an
Ihr. Und ihr machte es Spaß, Ihm nicht zeigen zu
Müssen, wie sehr sich über ihnen die See schloss.
(Dürwas)

(Veröffentlicht in «Die Verteilung des Lächelns bei Gegenwehr» (Gedichte und Texte 1986-1988, Connewitzer Verlagsbuchhandlung, Leipzig))

Thomas Kunst „Zandschower Klinken“, Suhrkamp, 254 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-518-42992-1

Thomas Kunst wurde am 09.06.1965 in Stralsund geboren. Nach dem Abitur studierte Thomas Kunst zunächst 3 Monate Pädagogik in Leipzig und ist seit 1987 als Bibliotheksassistent der Deutschen Nationalbibliothek tätig. Er schreibt Gedichte und Romane. Kunst debütierte 1991 bei Reclam Leipzig mit dem Buch »Besorg noch für das Segel die Chaussee. Gedichte und eine Erzählung«. Bislang sind 20 Einzeltiteln veröffentlicht worden. 2021 war er mit seinem Roman «Zandschofer Klinken» auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis. 2023 überreichte man ihm den Kleist-Preis. 2024 wir bei Suhrkamp sein neuer Gedichtband «Wü» erscheinen.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Franziska Reck

Martin R. Dean «Spiegelungen», Plattform Gegenzauber

Längst behandeln wir von der schreibenden Zunft Franz Kafka, seine Familienkonflikte, seine Autoritätskämpfe, seine Hochzeitsvorbereitungen, seine Diäten und seine Sorgen wie eine Heiligengeschichte, an der es nichts mehr zu zweifeln und hinterfragen gibt und die, mit welchen Anpassungen auch immer, zum Vorbild für unsere eigene Schriftstellervita geworden ist. Kafka ist unser schillernder Gott in Menschengestalt und damit jemand, den er selber in einem seiner Romane, zum Beispiel im «Prozess», hätte erfinden können.

Matthias Nawrat stellte sich für ein Gruppenfoto neben mich. Bist du wirklich so gross?, fragte ich erstaunt. Alle lachten über meine Frage, was hätte er denn sagen sollen? Er entgegnete, dass ihm seine Grösse unangenehm sei. Ich konterte und sagte zu meiner eigenen Überraschung, dass er mich an einen Scheinriesen, an Herrn Tur Tur aus „Jim Knopf“ erinnere und mir dieser Riese immer sehr sympathisch gewesen sei. – Tags darauf grub ich das Kinderbuch im Keller wieder aus und las es noch einmal durch. Erst da fiel mir der Grund auf, warum mir, nach über sechzig Jahren, das Kinderbuch noch immer in Erinnerung geblieben ist. Wegen Jim Knopf, der damals einer der ganz wenigen farbigen Helden in Kinderlektüren war. Und deswegen muss er ja auch auf die Suche nach seiner Herkunft gehen.

Versailles: die noch immer faszinierende Pracht der Gartenanlagen, jetzt von einem barocken Disneylandsound unterlegt, kontrastierte schon damals auf groteske Weise mit der Figur des Sonnenkönigs, der sich kaum mehr ernähren konnte. Einen Bandwurm im Magen, riss ihm der Leibarzt sämtliche Zähne aus und den halben Kiefer weg, sodass er seine Nahrung nur noch als Brei zu sich nehmen konnte. Während der Adel liebessüchtig durch die Bosquets flanierte, furzte und kotzte der König ununterbrochen, weil er an Blähungen und Durchfall litt. Gesundheit ist immer ein Derivat der Macht, der Macht über sich selber. Die Defizienzen des Königs konterkarierten jedoch die pompösen Anlagen, die den Horizont mit dem Himmel vermählten. Was erzählt uns besser von der Hohlheit des Pompösen, als dieser von seinen Leibärzten zugrunde gerichtete Popanz: an ihm war nur seine Position wichtig. Die physischen Bedingungen dieser Position musste cachiert werden, so wie Jahrhunderte später Mitterand trotz seines starken Krebsleidens als Präsident nur regieren konnte, indem er sein Krebsleiden verbarg. Während die Gärtner wie Le Notre die Natur mittels oktogonalem Teich, Bosquets, sternförmig angelegten Wegen und Statuen zum schönen Erlebnis machten, frass die erste Natur sich durch den maroden Leib des Despoten und höhlte ihn aus. Er muss gestunken haben wie der Sumpf, der Versailles ursprünglich war, bevor es für den schönen Schein trockengelegt wurde.

Paris, Café de Flore: ein leerer Ort, wo man sich nicht mehr «trifft». So wie die Öffentlichkeit im Internet die reale «Öffentlichkeit» diffundiert hat, so gibt es auch immer weniger Orte, wo «man» sich trifft, wo also die verschiedenen Schichten, Charaktere und Segmente gesellschaftlichen Lebens zusammenkommen. Der Kellner, der, das Tablett mit zwei vollen Gläsern, einer Karaffe und einem Tellerchen in der freien Hand, den Tisch säubert, verrichtet seine Kunst heute vor amerikanischen Touristen und saudiarabischen Emporkömmlingen, die wenig von der Schwerkraft französischen Porzellans wissen.

Sizilien, Bagheria: Kaum ein anderer hat den Wahnsinn einer aus den Fugen geratenen Barock-Welt besser dargestellt als der Fürst von Pallagonia mit seinen irren Figuren. Zur Bestätigung meiner überwältigenden Eindrücke lese ich Goethes Italienisches Tagebuch. Goethe musste den Wahnsinn abwehren, in sich zähmen, er musste sich gegen das Kranke zur Wehr setzen, deshalb lästert er über den Stil des Fürsten von Bagheria.

Im Übrigen empfinde ich sein Reisebuch als Wohltat. Die Lektüre zwingt mich, langsamer werden. Goethe notiert nicht nur, was ihm begegnet, er will immer auch herausfinden, wie etwas zustande kommt und funktioniert und das macht seinen Reisebericht spannend.

In Bagheria bin ich plötzlich nicht mehr sicher, ob ich nicht schon einmal da gewesen bin. Könnte es sei, dass ich die Stellen im «Guaynaknoten» (1995) nur aus der Fantasie geschrieben habe? Oder war ich da und das Geschriebene hat sich an die Stelle des Erlebten gesetzt? Unabweisbar ist, dass es mir immer weniger gelingt, Geschriebenes und Erlebtes auseinander zu halten. Für meine Umgebung ist das ein Ärgernis, für mich ein Glück.

Was unterscheidet selber gemachte Fotos, zum Beispiel das Ablichten einer Sehenswürdigkeit, von den Fotos, die für Reiseführer oder für Postkarten gemacht wurden? Ich glaube, es ist die Versicherung, gegen jedes Vergessen einmal selber an diesem Ort gewesen zu sein, diesen Ort mit eigenen Augen gesehen zu haben. Auch wenn sich weder die «Schönheit» noch das damalige Verzaubertsein von diesem Ort in das Bild, das einem Jahre später wieder in die Hand fällt, retten liess, so wird vielleicht doch ein Spurenelement der Sehnsucht wieder wach, das einen damals überhaupt zum Schiessen der Foto veranlasst hat.

Das Grab von Chateaubriand befindet sich einige hundert Meter vor St. Malo auf der Ile de Grand Bré. Ein klobiges Kreuz, eingefasst von Quadersteinen. Zu lesen ist: «Un grand écrivain français a voulu reposer ici pour n’y entendre que le vent et la mer. Passant respecte sa dernière volonté». Darüber hinaus trägt das Grab keine Inschrift, auch keinen Namen.

Es ist eine bemerkenswerte Geste eines Schriftstellers, seinen Namen zu verschweigen, wo andere Stiftungen gründen und auch sonst keine Mühe scheuen, ihren lächerlichen Ruhm in die Ewigkeit zu transportieren, andere ihren Namen posthum durch Agenten oder Familienangehörige verbreitet sehen wollen. Keiner von ihnen nimmt den Tod so ernst wie Chateaubriand, der für mich dadurch eine besondere Würde gewinnt.    

Zum Fest des runden Geburtstags hat die Schriftstellerkoryphäe seine Freunde ausgewechselt. Sein Ruhm, durch ein wachsendes Alter vermehrt, soll jetzt auf den Nachwuchs und die Betriebslieblinge strahlen, auf dass er sich bei ihnen am besten vermehre. Schliesslich ist er der letzte seiner Generation und seine Worte verwandeln diejenigen, die jetzt mit ihm am Tisch sitzen dürfen, automatisch in Jünger. Unter denen, die ihn feiern sollen, sitzen einige der Jüngsten auf der Bühne, die ihn kaum kennen und deren Namen auch er bisher nicht kannte. Nun feiern sie ihn, ohne seine Werke gelesen zu haben: sie feiern eine Filiation. Die Jungen stimmen Elogen auf ihn an und sonnen sich in seinem Glanz, derweil die alten Freunde, am Katzentisch versammelt, stumm das Glas an die Lippen führen.

Ich treffe einen zehn Jahre älteren Kollegen, der mir von einem Schriftstellertreffen in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts erzählt. Als er damals vor versammelter Runde von seinem Kritiker-Erfolg berichtete, sein neuestes Buch war gerade im «Spiegel» besprochen worden, habe ihn ein Kollege umgehend zum Boxkampf herausgefordert. Er aber habe abgelehnt. Da sei der Kollege, wohl aus Verdruss, wie wild um ihn herumgetänzelt und habe ihm, da er den Kampf nicht habe annehmen wollen, die Lippe blutig geschlagen. Bei einer anderen Gelegenheit, einem Suhrkamp Empfang, sei Max Frisch hereingeschneit. Er habe sich kurz zu ihm gesetzt, habe fünf Minuten Small Talk gemacht, danach sei er aufgestanden und habe, sich von allen verabschiedend, jedem ein Zündholzschächtelchen in die Hand gedrückt, auf dem der Name Max Frisch gestanden habe.

Die dritte Erzählung dreht sich um Dürrenmatt, dem er an einer Tagung gegenübergesessen sei. Dürrenmatt aber habe gar nicht mit ihm reden wollen, sondern sei einzig auf einige Frauen konzentriert gewesen, die ihn umsorgten. Am nächsten Morgen sei er mit Dürrenmatt am Frühstückstisch gesessen. Noch immer habe Dürrenmatt nichts von ihm wissen wollen und habe ihn die ganze Zeit mit «lieber Herr Laederach» angeredet. Zuhause habe er dann alle Bücher von Dürrenmatt aus dem Regal genommen und in die Abfalltonne geschmissen.

Wilhelm Genazino ist einer, der in seinen Aufzeichnungen («Der Traum des Beobachters») immer wieder über die Genese von Erfolg, den Staus von Ruhm und das Prekäre der Schriftstellerexistenz nachdenkt. Ist er mir darin nicht ein Vorbild? – Gerade dazu taugt Genazino nicht, nicht einmal posthum. Denn seine Sache war nie die Idolisierung, sondern die kluge Hinterfragung solcher Mechanismen, die letztlich alle literaturfeindlich sind. Literatur ist ein Infragestellen, ist Hinwendung und nicht Anbetung. So kann er mir kein «Vorbild» sein; aber darf ich mich denn getrauen, ihn einen «Gefährten» zu nennen?

Über einen Lyriker, mit dem ich seit der Schulzeit befreundet bin, würde ich Folgendes sagen: er ist konsequent ins Freie geschritten und unter Himmeln und in Wäldern verloren gegangen. Er hat alle Leiderfahrung in Sprache gegossen. (Dabei staune ich, dass man so auf der Kante leben kann.)

F., ein Student der Biologie, so wird in der Runde erzählt, brachte die Frauen, mit denen er schlief, jeweils mit einem einzigen Satz zum Orgasmus. Niemand kannte den Satz, nur die Frauen, aber die schwiegen. Als er den Satz auf einen Zettel schrieb und den Frauen mitgab, wollte keine Frau mehr mit ihm schlafen. Schliesslich wurde seine Schrift unleserlich und der Satz verlor seine Wirkung.

Der Selbstbehauptungskampf von Autoren und Autorinnen übertrifft oft das gewohnte Mass, weil er immer existenziell ist. In Laufe meines Lebens bin ich vielerlei Arten begegnet, mit der Verzweiflung fertig zu werden. Da war der Grosschriftsteller im Exil, dessen Familie mich umarmte, als ich mich bewundernd zeigte, aber darauf wartete, dass sich meine Bewunderung auch auszahlte. Da war der Alkoholiker in Berlin, der immer zynischer und bösartiger wurde, je mehr er trank- und seine Konkurrenten regelrecht rhetorisch kleinhackte. Da war einer, der hatte seinen Kragen hochgeschlagen und mimte den Unnahbaren; man musste sich zuerst mit seiner Entourage anfreunden, um mit ihm bekannt zu werden. Da war der Umgängliche, der sofort alles verstand, der Mistergesundermenschenverstand, der aber gegenüber den anderen Darstellungsgiganten als der grösste gelten wollte. Und da war zuletzt noch der eidgenössische Bescheidenheitsapostel, der zum Lobgesang auf seine Bescheidenheit einlud. Irgendwo in diesem Reigen bin auch ich verortet. –Warum aber mimen wir Schreibende sosehr die Politiker, die Mächtigen und Dummen dieser Welt? Weil wir uns nicht eingestehen können, zu den Machtlosen zu gehören?   

Nachdem ich meinen Roman, nach vier Jahren Arbeit, beendet hatte, verweilte ich, wie eine vergessene Zimmerpflanze, noch immer in der kreativen Zone und formulierte weiter Phantomsätze. Eine Maschine, die weiterläuft, obwohl sie keinen Auftrag mehr hat. Mit Schrecken stellte ich fest, dass das Buch Wochen, Monate und Jahre meines Lebens verschlungen, meinen Alltag geknebelt und meine Neugier manipuliert hatte. Was zurückblieb, in Form eines Buches, war die harte Substanz gekelterten Lebens, haltbar bis auf Weiteres.

Ohne zu ahnen, wie tief ich in die Vermischungen eindringen würde, besuchte ich das Wohn- und Schreibhaus des ehemaligen Senegalesischen Präsidenten Leopold Sédar Senghor in Dakar. Ein Guide führte mich in die privaten Gemächer, die mit Möbel aus den siebziger Jahren ausgestattet waren, schwarze Holztischchen, Marmorböden, eine mit senfgelbem Stoff überzogene Polstergruppe, die mit der afrikanischen Malerei an den Wänden überraschend gut harmonierte. Keinesfalls prunkvoll oder einschüchternd, sondern nüchtern und stilvoll präsentierte sich hier die Macht und das Schlafzimmer des Präsidenten war eine überraschende Verschmelzung von afrikanischen Accessoires mit dem Bauhausstil.

Der Guide, der als Leibwächter des Präsidenten sowohl für dessen leibliche Sicherheit wie für sein seelisches Wohl zuständig gewesen sein muss, führte uns, während er die tragische Geschichte des verunglückten Präsidentensohnes erzählte, ins Schreibzimmer, ins Zentrum der Macht: vor dem hufeisenförmigen hölzernen Schreibtisch des Präsidenten, der zugleich ein Schriftsteller war, standen Bücher und lagen Stösse von Zeitschriften, und an der gegenüberliegenden ockerroten Wand, unweit einer imposanten Holzmaske und im Blick des Schreibenden, entdeckte ich die Werke von Georg Trakl und Rainer Maria Rilke, die beide auch zu meinen Lieblingsautoren zählen.

Durch das Fenster, in dem sich ein Teil der Bibliothek spiegelte, sah ich draussen die senegalesischen Orangenverkäufer barfuss die staubige Strasse auf und ab gehen und nach Käufern Ausschau halten. Am Schreibtisch, stellte ich mir vor, studierte der Präsident die Gedichte Trakls und Rilkes in der Originalsprache und liess wohl den einen oder anderen Gedanken in seine Theorie der Négritude einfliessen. Dann sah ich den Präsidenten zur Feder greifen und jene Rede verfassen, die er auf Einladung des österreichischen Bundeskanzlers Bruno Kreisky 1977 zur Eröffnung der Salzburger Festspiele halten würde: Österreich als Ausdruck der Weltkultur.

 

Rezension

Martin R. Dean wurde 1955 in Menziken, Aargau, als Sohn eines aus Trinidad stammenden Vaters und einer Schweizer Mutter geboren, studierte Germanistik, Ethnologie und Philosophie an der Universität Basel, unterrichtete an der Schule für Gestaltung in Basel und am Gymnasium in Muttenz. Dean ist vielfach ausgezeichneter Buchautor. Zu seinen jüngsten Werken gehören «Warum wir zusammen sind» (2019), «Verbeugung vor Spiegeln –  über das Eigene und das Fremde» (2015) und «Falsches Quartett» (2014). Martin R. Dean lebt mit seiner Familie in Basel.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Daniel Nussbaumer

Boglárka Horváth «Begegnung mit Graf Dracul»

Da stehe ich.
Ich stehe da und wache.
Unter meinen nackten Füssen bebt die Welt.
Es ist meine Welt, die bebt.
Erschüttert vom Gedankenhauch an meine Erinnerungen.
Vom blossen Hauch nur.
Allein in der Fremde, stehe ich da.
Ich wache am Tag und … nein … des Nachts wache ich nicht.
Des Nachts gebiert mich die Erde zum Tanz
und es tanzt mich zum Rhythmus meines Herzschlags in meine Erinnerungen hinein. Meine Bilder trinken mich gierig.
Ich lasse mich verschlucken, nicht wissend, wo ich landen werde.
Bis jetzt ging es immer gut – ich kam nach jedem Tauchgang wieder zurück.
Ich tauche tief.
Kalt ist es, dann plötzlich warm.
Ströme, die sich abwechseln, während ich immer tiefer tauche und mich frage,
ob ich nicht Luft holen müsste.
Ich tauche in die Bilder meiner Ängste:
Damals
In Transylvanien.
Als Zeit noch keine Rolle spielte in meiner Welt.
Begegnete ich Graf Dracul.
Am helllichten Tag.
Auf einer steinig-staubigen Strasse kam er mir entgegen.
Nichts als eine Trauerweide in der Landschaft.
Der Wind spielte mit ihren Ästen.
Graf Dracul streifte mir mit seinem Blick die Kleider vom Leib.
Mir war, als ob ich durch seinen Blick hindurch mich selbst sah:
Nackt und bewegungslos stehe ich da.
Aus meinem Auge fliesst eine Träne Richtung Mund.
Ich schlucke sie und schmecke Blut.
Mein Blut. Sein Blut.
Eine ungeheuerliche Kraft durchfährt meinen Leib.
Die Trauerweide erzittert. Ich hätte sie ausreissen können.
Stattdessen breite ich meine Flügel aus und Flügelschlag um Flügelschlag
steige ich höher, immer höher.
Eines Raben gleich erhebe ich mich und ziehe meine Kreise,
während ich Schatten auf mich selbst werfe.
Ich geniesse den Flug.

Und dann plötzlich lande ich sanft.
Die Trauerweide nimmt mich schützend unter ihre Äste und spricht:
«Bald wirst du aufgestanden und losgegangen sein.
Deinen Leib gesäubert,
deine Wunden geleckt,
einen Fuss vor den anderen gesetzt
und deine Spuren hinterlassen haben.»
Ich nehme Abschied von der Trauerweide und stehe auf.
Der steinig-staubige Weg unter meinen nackten Füssen.
Der Blutstropfen Graf Draculs in meinem Herzen.
Da stehe ich.
Ich stehe da und wache.
Unter meinen nackten Füssen bebt die Welt.
Und ich frage mich, warum ich nackt bin und warum ich tief tauche und ob ich nicht Luft holen müsste. Dann diese Stimme, die sagt: «Lass dich verschlucken!»
Ein Rabe, der mit seinen Flügeln den Staub aufwirbelt.
Ich möchte fliegen.
Ich spüre eine Kraft, alsob ich Bäume ausreissen könnte, aber ich kann mich nicht bewegen. Ich kann weder fliegen noch tauchen. Ich komme keinen Schritt vorwärts und ich höre mich schreien.
Doch dann plötzlich lande ich sanft.
Wiegend die Strahlen
Wärmend die Wellen
Berührungen, die
Zärtlich erhellen
Meine Sinne.
Ich weiss wo ich bin
Ich kenn diesen Ort
Hier ist der Anfang
Das Leben, das Wort
Getragen, gewärmt und genährt
Mein Kind sich noch heute verzehrt
Nach mehr
Nach viel
Doch für den Moment
Liegt sie still
die Welt.

Boglárka Horváth stammt aus Siebenbürgen (Rumänien). Im Alter von sieben Jahren floh sie mit ihrer Familie nach Österreich. Sie absolvierte ihre Schauspielausbildung in Wien und Budapest. Sie studiert Dramatherapie und schreibt Texte für Theaterprojekte. Sie ist Mutter von zwei Kindern, lebt und arbeitet in St. Gallen. 

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Ana Hofmann

Beatrix Katharina Langner «Die frösche am bach», Plattform Gegenzauber

Die frösche am bach

Nachts bei den glühenden scheiten am bach
Höre ich dem zwiegespräch der frösche zu
Verschlungene lautpfade durch die stille
Wovon reden sie im wechselgesang,
Verstehen sie den dialekt des feuers,
Wie es im innern des holzes rhythmisch atmet,
Antworten sie ihm, an dem ich mich wärme,
Ein lebendiges wesen, pulsierend im takt
Der elemente, kleine sonnenkraftwerke
Die durch die graue sommernacht glimmen,
Geheimnis des lebens, keim der zerstörung

 

 

Wolken

Aus dem atem der erde
Wachsen wolken
Wächter getürmt
Im lichtgrauen halbrund
Über dem kornfeld
Taumeln die ersten kohlweisslinge
Abgesandte der wolken
Geboren aus dem
Schaum des himmels.

 

 

Am Fluss

Wind spielt mit meinen haaren,
Die von den jahren gebleicht sind
Wie das vorjährige schilf
Während ich mich betrachte
Im spiegel des flusses, der mein bild
Davonträgt auf den eiligen wellen,
Rauschen am ufer die weiden
Und im gesang der nereiden
Der göttlichen schwestern
Verrinnen ungezählt die stunden
Im antlitz der zeit.

 

Beatrix Langner, 1950 geboren, ist promovierte Germanistin, Autorin und Literaturkritikerin und lebt in Berlin. Seit 1990 zahlreiche Rundfunk-Features und Kulturreportagen für DeutschlandRadio Berlin sowie Feuilletons und Kritiken für Süddeutsche Zeitung, Neue Zürcher Zeitung, Deutschlandfunk Köln u.a. Sie veröffentlichte eine Biografie über Jean Paul (C. H. Beck), für die sie 2013 den Gleim-Literaturpreiserhielt, und ist Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland.

Rezension von «Der Vorhang» auf literaturblatt.ch

Anna Kim «Die Zähne», Plattform Gegenzauber

Gilbert träumt: Er sitzt in einem Zugabteil neben zwei Frauen. Sie stellen sich mit einer kleinen Verbeugung vor. Martha sagt, sie heißen Ida und Martha. Ida ist stumm, da sie aus ihrem Mund eine Gebirgslandschaft bläst. Sie hört nicht auf, bis alle Berggipfel vollzählig sind und die Wolken einen Himmel gebildet haben. Martha trägt eine Fellmütze auf dem Kopf. Endlich knarrt Ida: Der Arzt sagt, Sie sind ein Engel. Gilbert: Sprechen Sie mit mir? Martha wiederholt: Der Arzt sagt, Sie sind ein Engel. Sie nestelt in ihrer Handtasche, gibt ihm zwei verschlossene Briefumschläge. Er öffnet sie, beide Karten sind unbeschrieben. Ida und Martha ziehen schwarze Lederhandschuhe an. Sie nähern sich seinem Hals, drücken auf seinen Kehlkopf. Er zieht eine Bratpfanne aus der Hosentasche. Gilbert schlägt auf Idas und Marthas Köpfe. Die Pfanne gewinnt. Das Abteil verwandelt sich in einen Hotelflur. Martha ruft den Aufzug herbei. Der Aufzug stürzt ab.

An einem Sonntagmorgen, die Kopfschmerzen lagen noch im Bett, und auf den Straßen herrschte schüchterner Verkehr, schüttelte Gilbert den Traum ab, einen Wiederkehrer, und beschloss statt einer Dusche ein Sandbad zu nehmen. Er füllte die rote Plastikwanne seiner Kinder mit Vogelsand und warf sich, Rücken voran, in den Sand; die Beine und Füße wälzte er zuletzt. Anschließend schüttelte er sich so lange, bis er den Sand vollkommen losgeworden war, und lief in die Küche, wo er ein hart gekochtes Ei und eine Scheibe Toastbrot in seine Backen schob, ohne zu kauen. Im Badezimmer spuckte er die Ladung in den Wäschekorb, die Reste, die in den Zähnen und Wangen stecken geblieben waren, holte er mit den Fingern hervor und schmierte sie dazu. Er schloss den Korb und lief erneut in die Küche, wo er Kaffee aus der Kanne schleckte. Beim Hinauslaufen packte er ein paar Salamischeiben, etwas Vollkornbrot und eine Gewürzgurke in die Wangen und spie die Mischung auf die Dreckwäsche. Danach lief Gilbert in die Abstellkammer zum Schlafen, in einen dunklen Raum unter der Treppe, der wegen der Heizrohre in der Wand warm war.

Als er erwachte, waren seine Lippen zerbissen, und es war ihm kaum möglich, den Mund zu schließen. Seine Zähne waren gewachsen; Gilbert überprüfte dies mit Hilfe eines Spiegels und eines Lineals. Noch während er sie abtastete, musste er feststellen, dass sie bereits weitergewachsen waren, so beschloss er, sie an einem Tischbein abzuwetzen. Er wieselte aus der Kammer, blieb aber mit einer Wange an der Türklinke hängen. Auch die Backen hatten sich verändert, wieder griff Gilbert zum Spiegel, sie hatten sich in Hängebacken verwandelt, reichten bis zur Kinnspitze und schlabberten bei jeder Bewegung. Gilbert machte dies allerdings nichts aus, im Gegenteil: Sie gefielen ihm besser als vorher. Zufrieden ließ er sie in seinen Händen auf und ab hüpfen, als wären sie Brüste.

Es begann zu dämmern, Gilberts Magen knurrte laut und anhaltend. Auf Salami hatte er keine Lust mehr, wohl aber auf Vollkornbrot. Nach dem mühsamen Abendessen, es bestand aus Sonnenblumenkernen, die er mit seinen Zähnen und Fingern aus den Fitnessbrötchen pulte, verspürte er den Drang zu laufen. Laufen gehörte zu den Dingen, die Gilbert früher stets vermieden hatte: Nie wäre er gerannt, um einen Bus zu erwischen, und schon gar nie aus Spaß. Doch heute drängte es ihn geradezu danach zu rennen, er war besessen von dem Wunsch, die Beine zu bewegen, den Wind in den Haaren und hinter den Ohren zu spüren. Hin und wieder schlich sich der Gedanke an Sonnenblumenkerne ein, dann hielt er Ausschau nach einem weiteren Fitnessbrötchen, schließlich aber gewannen die Füße die Oberhand, und er nahm sie unter die Arme und rannte los, aus dem Haustor, die Straße hinauf zur Busstation und weiter nordwärts bis zum Ende der asphaltierten Wege; er lief auf verlassenen Schienen, die mit Gras überwuchert waren, Gras und Unkraut, rannte auf ein Wäldchen zu, über eine Wiese, und verrannte sich. Da er sich nicht entscheiden konnte, in welcher Richtung er weiterrennen sollte, rannte er auf der Stelle, nur um zu rennen. Als er ein verdächtiges Knacksen hinter sich hörte, floh er in den U-Bahn-Schacht.

Für die Zwillinge vergingen die Stunden im Hort zu langsam, die Mädchen starrten auf die große Uhr mit dem römischen Zifferblatt, hatten aber das Gefühl, die Zeiger bewegten sich nicht, tatsächlich waren sie sich nicht sicher, ob der Zeitzähler überhaupt Zeit zählen konnte. Zudem mussten sie stillsitzen, ein Buch in der Hand war alles, was ihnen gestattet war; die Beine brav übereinander geschlagen, und aus den zusammengebundenen Haaren verirrte sich keine Strähne. Die Aufpasserin war stets auf der Suche nach Briefchen, die die Mädchen einander zusteckten. Vielleicht aber, meinte der eine Zwilling, war sie nicht auf der Suche nach Briefchen, sondern dabei, ihre Nummer zu proben. Nummer, fragte der andere. Siehst du denn nicht, sagte daraufhin der eine Zwilling, dass sie eine Schlangenfrau ist?

An der Haltestelle stiegen die Zwillinge in die Tram und pressten ihre Gesichter an die Glasscheibe: Ein Luftballon versuchte dem Gartenzaun zu entkommen. Plötzlich sprang ein Mann auf die Schienen, der Schaffner zog die Notbremse, der Mann blickte sich verwirrt um und verschwand im U-Bahn-Tunnel, und die Schwestern sprangen aus dem Zug und jagten ihm hinterher.

Es roch nach Berührungen von Regen mit Welt; im Tunnel fanden sich weder Gehwege noch der rasende Wilde, nur Feuchtigkeit und die Gewissheit, dass sich Moder in den Haaren und in der Kleidung niederlässt, um für immer eingenistet zu bleiben, und doch kehrten die Zwillinge nicht um, sondern versuchten, den Mann mit den langen Wangen zu erschnuppern; es schien ihnen, als müsste er duften.

Gilbert war in einem Aufsichtsraum angekommen, in einer kleinen Kammer in einem Seitentunnel. Ein Fernseher stand auf einem Plastiktisch, die Zeitung war zusammengefaltet und hing (gerade noch) über der Lehne. Vorsichtig sah sich Gilbert um, seine Schnurrhaare auf dem Nasenrücken zuckten nicht, also schlüpfte er in den Raum, zog die Tür hinter sich zu, schlüpfte unter den Tisch und schlief ein. Vielleicht hatte es ihn danach gedrängt, aus der Wohnung zu laufen, weil er sich in den Höhlen unterhalb der Stadt sicherer fühlte. Die Dunkelheit machte ihm nicht zu schaffen, im Gegenteil, sie erleichterte das Erkennen: Die Finsternis schärfte seinen Sehsinn. Zudem konnte er endlich seinem Drang nachgehen, mit den Händen und Füßen zu graben, in der Erde zu wühlen, sich auf der Erde und in ihr zu wälzen und Dreck auf sich zu häufen, ohne gesellschaftliche Konsequenzen.

Nach dem Nickerchen begann er in den Nebenhöhlen des U-Bahnnetzes Gänge zu graben, vier Eingänge hatte er geplant, die Nestkammer sollte sich genau einen Meter unter der Erdoberfläche befinden und mit Gras ausgelegt sein, seine Fingernägel, seine Schaufeln, hatten schon begonnen, sich diesem Wunsch anzupassen, sie wuchsen sich aus zu Krallen, und die Hände zu Pfoten, etwas stärker behaart und um einiges kräftiger als zuvor. Zunehmend entfiel ihm die helle Welt, und seine Erinnerungen wurden vom Dunkel verschluckt.

Die Zwillinge hatten sich verlaufen. Seit einigen Tagen irrten sie durch das unterirdische Labyrinth und hatten es schon fast aufgegeben, an die Erdoberfläche zu gelangen, als sie an einer Abzweigung eine Abstellkammer entdeckten. Die hölzerne Tür war hinter einem Vorsprung verborgen; sie war ihnen nur aufgefallen, weil ein eigenartiger Geruch durch einen Spalt in den Tunnel strömte.

Vorsichtig spähten sie in den Raum, konnten aber im Schein des Streichholzes nicht viel erkennen. Um sicher zu gehen, dass im Inneren der Höhle niemand auf sie lauerte, blieben sie eine Weile vor der verschlossenen Tür sitzen und horchten auf verdächtige Geräusche. Erst als sie sich vergewissert hatten, dass ihr Leben nicht in Gefahr war, schlüpften sie in die Futterkammer. Eine große Auswahl an Lebensmitteln gab es nicht, sie ertasteten hauptsächlich Erdnüsse, Haselnüsse, Walnüsse, Sonnenblumenkerne und etwas weiches, fauliges Obst, außerdem tote Fliegen, Würmer und Käfer.

Die Mädchen stürzten sich auf das Essen. Im Schein des vorletzten Streichholzes beschlossen sie, an diesem Ort zu bleiben und auf den Besitzer der Fressalien zu warten; auch wenn er böse auf sie wäre, weil sie seinen Vorrat dezimiert hatten, wollten sie ihn um Hilfe bitten, er musste den Weg ins Freie kennen, vielleicht würde er sie sogar bis zur Erdoberfläche begleiten. Doch bereits nach wenigen Stunden bereuten sie ihre Entscheidung: Nichts deutete darauf hin, dass der Sammler zurückkehren würde, wahrscheinlicher war, dass er diesen Ort aufgegeben hatte, daher das verfaulte Obst und die vielen toten Insekten. Diese Kammer war nicht für die Lebenden gedacht, schoss es ihnen durch den Kopf.

Gerade, als sie sich wieder in die Finsternis wagen wollten, kam ein Schatten durch die Tür gehumpelt, stieß bei ihrem Anblick ein aufgeregtes Pfeifen aus und begann bedrohlich zu knurren.

Sein rechter Unterschenkel stand waagrecht in die Luft, Gilbert war auf seinen Beutezügen von einem Balkon gefallen. Er hatte zwar als Vierbeiner eine beachtliche Geschicklichkeit erworben, war aber gerade deswegen leichtsinnig geworden und hatte sich seine Ziele immer höher und höher gesteckt. Während er von Balkon zu Balkon gesprungen war, mehr ein Affe als ein Nager, war er abgerutscht und dabei mit einem Fuß im Geländer hängen geblieben. Also hatte er die Futtersuche abgebrochen und war in seinen Bau zurückgehinkt. Auf dem Weg in den U-Bahn-Schacht hatte er sich ständig umgesehen, er war das beklemmende Gefühl nicht losgeworden, dass sich ihm ein Raubtier näherte. Nun hatte er zwei Mädchen vor sich, denen die Finsternis sämtliche Farben von Gesicht und Kleidung gestohlen hatte: zwei Geister.

Gilbert machte es sich (so gut es ging) in seinem Nest bequem, krempelte das rechte Hosenbein hoch und untersuchte die Verletzung, die sich, von Schwärze angesteckt, ebenfalls schwarz verfärbt hatte. Das Geisterduo fragte, ob es in der Nähe ein Krankenhaus gebe, aber Gilbert hörte nicht zu, er hatte sich schon über das Bein gebeugt und begonnen, es abzubeißen.

Als er die Operation beendet hatte, reinigte er seine Zähne mit der Zunge und den Fingern. Die Schwestern, die ihm noch immer stumm gegenübersaßen, ignorierte er, akzeptierte aber die Haselnuss, die ihm Nummer Eins anbot. Nummer Zwei trug den abgetrennten Unterschenkel in den Nachbargang und stopfte ihn in einen Spalt, dann säuberte sie Gilberts Nest und streute trockenes Stroh auf die blutdurchtränkte Stelle.

Wie zahm er ist, dachten die Zwillinge, als sie ihm, wie jeden Tag, den Bauch kraulten und ihm Sonnenblumenkerne und Erdnüsse zusteckten. Ließen sie die Nuss auf der Hand, setzte er sich sogar auf ihre Hände, wobei diese vollkommen unter seinem Gesäß verschwanden. Da er sich weigerte mit ihnen zu sprechen – außer einem lauten Pfeifen kam nichts aus seinem Mund –, nannten sie ihn Hallo. Dies war das einzige Wort, auf das er reagierte. Auf die Idee, sich selbst mit Namen vorzustellen, kamen sie nicht. Es reichte ihnen, dass er wusste, wann er angesprochen war.

Sie begleiteten ihn überall hin, auch bei der Futtersuche, da er ständig das Gleichgewicht verlor und sich wunderte, wenn er umfiel. Manchmal versuchte er gar, sich mit dem Phantomfuß am Oberschenkel zu kratzen. Sein wohliger Gesichtsausdruck stand dabei ganz im Gegensatz zum Gelenk, das orientierungslos durch die Luft ruderte. Gilbert schien die Amputation vergessen zu haben, ebenso seinen Unfall; das Einzige, an das er sich erinnerte, waren gute Futterplätze und -verstecke sowie die Mädchen, die ihn mit Nüssen und Streicheleinheiten gezähmt hatten.

Aber auch die Zwillinge vergaßen; sie vergaßen, dass sie vor wenigen Tagen noch verzweifelt versucht hatten, einen Ausgang aus dem Labyrinth zu finden. Nun, da sie ihre genaue Position kannten, genossen sie Gilberts Gesellschaft und dachten gar nicht mehr daran, in ihr Zuhause zurückzukehren. An manchen Abenden wagten sie sich ohne seine Hilfe in die Oberwelt und brachten ihm einen Eimer voll Sand mit, den sie in seine Sandkiste schütteten, damit er ein Sandbad nehmen konnte. Ihr altes Leben vermissten sie nicht; an seinem Haar lasen sie den Wechsel der Jahreszeiten ab, im Oktober verlor es seine Farbe und wurde winterweiß, im Februar dunkelte es nach und wurde wieder hellbraun.

Gilbert wurde ihr Haustier und Anführer, was immer er befahl, sie folgten ihm. Er lehrte sie das Leben im Untergrund, und die Zwillinge revanchierten sich, indem sie ihm seine dreibeinige Existenz so angenehm wie möglich machten – zu angenehm, wie sich herausstellte: Er vergaß vollkommen, seine Zähne zu wetzen. So wuchsen seine unteren Nagezähne aus der Mundhöhle heraus und spiralförmig in seinen Oberkiefer, die oberen Zähne aber krümmten sich um sich selbst und durchstießen sein Kinn.

Kurz bevor Gilbert erstickte, streichelten ihn die ergrauten Zwillinge und stellten sich endlich vor. Du sollst unsere Namen erfahren, sagten sie, wir heißen Ida und Martha.

(Eine längere Fassung erschien 2017 im Erzählband „Fingerpflanzen“, Topalian & Milani)

Anna Kim wurde 1977 in Südkorea geboren, zog 1979 mit ihrer Familie nach Deutschland und schliesslich weiter nach Wien, wo die Autorin heute lebt. Im Suhrkamp Verlag erschienen zuletzt die Romane «Anatomie einer Nacht» (2012) und «Die grosse Heimkehr» (2017). Für ihr erzählerisches und essayistisches Werk erhielt sie zahlreiche Stipendien und Preise, darunter den Literaturpreis der Europäischen Union.

Illustration © leafrei.com