Ralf Bruggmann «Cindy und Bert», Plattform Gegenzauber

Da ist dieser Teebeutel. Es ist zu bezweifeln, dass es viele gute Geschichten gibt, die mit einem Teebeutel beginnen. Doch einerseits ist es auch zu bezweifeln, dass diese Geschichte eine gute Geschichte ist. Und andererseits steht der Teebeutel nicht am Anfang der Geschichte, sondern mittendrin, und vielleicht sogar schon kurz vor dem Ende. Cindy ist sich diesbezüglich nicht sicher, aber sie hat eine Ahnung.

Cindy fragt sich, wie der Teebeutel dorthin gekommen ist. Cindy fragt sich viele Dinge, unter anderem fragt sich Cindy, warum sie sich so viele Dinge fragt, und sie fragt sich, warum sie so oft keine Antwort kennt. Manchmal denkt Cindy, dass sie dumm sei, doch dann erinnert sie sich an die Titelmusik der Sesamstraße, sie singt im Kopf mit, Der, die, das – wer, wie, was – wieso, weshalb, warum – wer nicht fragt, bleibt dumm, und Cindy weiß dann zwar noch immer nicht genau, ob sie dumm ist, aber sie ist sich sicher, dass sie es nicht bleiben will, wenn sie es denn wäre, darum fragt sie sich weiterhin viele Dinge.

Der Teebeutel liegt mitten auf dem Tisch in der Küche von Bert, und eigentlich wollte Cindy nur ein Glas Wasser trinken, denn sie hatte Durst und einen pelzigen Belag auf der Zunge, doch jetzt steht sie da und starrt auf den Teebeutel, als läge in ihm ein elementares Rätsel der Weltgeschichte, und Wasser getrunken hat sie noch immer nicht.

Dass sie in der Küche von Bert steht, liegt daran, dass sie zuvor im Bett von Bert lag, und dass sie im Bett von Bert lag, lag vor allem am Alkohol. Sie hatte wohl angenommen, der Sex mit Bert könnte das Loch füllen, das sich in ihr so unbeirrbar auszubreiten schien, doch eigentlich war es vor allem der Alkohol, der dieses Loch füllte. Bert war nett, Bert war auch ein wenig hübsch, außerdem hatte er eine gute Körperhaltung und gepflegte Finger, doch darüber hinaus war er nichts Besonderes, aber nichts Besonderes war immer noch besser als nichts, hatte sich Cindy gedacht und war mit ihm mitgegangen.

Die Wohnung war gepflegt und sauber, eher lieblos eingerichtet, wie ein Hotelzimmer, nur ohne Bibel in der Schublade. An einer Wand hing ein Bild von Mahatma Gandhi, und das hatte Cindy ein wenig beruhigt, weil Menschen, die sich Bilder von guten Menschen an die Wand hängten, grundsätzlich keine schlechten Menschen sein konnten. Bert erzählte, was er beruflich machte, aber Cindy hat es vergessen. Wahrscheinlich war sie gerade mit dem Bild von Mahatma Gandhi beschäftigt, als Bert von seiner Arbeit berichtete.

Ich will dich ficken, hatte Bert irgendwann in beinahe sachlichem Ton gesagt, daran erinnert sie sich noch, und sie erinnert sich auch daran, dass sie ihm mit einem Schulterzucken geantwortet hatte. An den Sex erinnert sie sich hingegen kaum mehr. Bert hatte komische Geräusche gemacht, gerade so, als hätte er Schmerzen oder Angst oder beides, aber womöglich war er auch einfach vergnügt. Als er einschlief, war sie noch sehr weit von einem Orgasmus entfernt, aber auch darauf hatte sie wohl nur mit einem Schulterzucken reagiert, und nach einigen Minuten war sie ebenfalls eingeschlafen.

Und jetzt steht sie eben vor diesem Teebeutel, einem gebrauchten Teebeutel, der offensichtlich schon seit Tagen auf dem Tisch in der Küche von Bert liegt, denn die wenigen Teetropfen, die ihm noch entronnen waren, haben längst einen trockenen braunen Ring um den Teebeutel gebildet, um die Inszenierung aufzuwerten, und als Cindy den Teebeutel leicht mit dem Finger berührt, ist sie erstaunt, wie hart er sich anfühlt. Als sie ein Kind war, hatte sie eine Maus als Haustier, die Maus hieß Felix, und als Felix starb, fühlte sich sein Körper ganz ähnlich an wie der Teebeutel auf dem Tisch in der Küche von Bert. Sie begrub Felix damals im Garten und ist jetzt umso mehr irritiert, dass Bert den toten Teebeutel einfach auf dem Küchentisch liegen lässt.

Früher gab es ein Schlagerduo namens Cindy & Bert. Das fiel ihr sofort ein, als Bert seinen Namen nannte, und Cindy musste lachen, woraufhin Bert wohl dachte, sie fände seinen Namen lustig. Er kannte Cindy & Bert offensichtlich nicht, denn als sie ihrerseits sagte, wie sie heißt, nickte er lediglich. Der größte Erfolg von Cindy & Bert war das Lied Immer wieder sonntags, und jetzt steht Cindy vor dem Teebeutel in Berts Küche, es ist Sonntag, sie hat keine Meinung zu Cindy & Bert, doch sie ist sich sicher, dass sie kein Interesse daran hat, zwischen sich und dem Bert im Bett ein verbindendes & entstehen zu lassen.

Cindy trinkt endlich einen Schluck Wasser, dann noch einen. Dann betrachtet sie erneut den Teebeutel. Es ist einer jener Teebeutel, deren Etikett mit hübschen Sinnsprüchen versehen sind, mit denen man sein Leben und die Welt verbessern kann. Sie dreht das Etikett des Teebeutels zu sich hin und liest. Sich an jedem Moment zu erfreuen – das ist der Sinn des Lebens. Cindy lächelt, obwohl sie es gar nicht witzig findet, und das Lächeln ist so bitter, dass sie gleich nochmals einen Schluck Wasser trinken muss.

Sie öffnet alle Schränke in der Küche, zieht Schubladen heraus und schiebt sie wieder hinein, bis sie endlich findet, was sie sucht. Sie stellt die kleine Schachtel auf den Tisch, öffnet den Deckel und nimmt einen Teebeutel nach dem anderen hinaus. Fein säuberlich legt sie alle Teebeutel vor sich hin, breitet die gesamte Weisheit auf engstem Raum aus und liest sich dann durch das teebeutelphilosophische Schlaraffenland.

Allen zu dienen, das ist die Kunst, glücklich zu sein. Mach dir selbst und anderen Mut. Wenn wir ganz bei uns selbst sind, sind wir Liebe. Lebe deine Stärken. Geh nur Wege mit Herz. Sei ein Teil der Antwort auf die Probleme dieser Welt. Lebe mit Respekt vor dir selbst und anderen. Schätze die Person, die du bist. Lerne in Stille, dir selbst zuzuhören. Lass dein Verhalten für sich sprechen. Mitgefühl bringt Verständnis. Sei freundlich zu dir selbst. Löse ein Problem und hundert andere verschwinden. Dankbarkeit schenkt viele neue Möglichkeiten. Leben ist Teilen. Geduld zahlt sich aus. Im Vergeben zeigt sich Größe. Hab Mut, deiner Intuition zu folgen. Sei stolz darauf, wer du bist. Manchmal verschwindet alles Komplizierte, wenn ein neuer Morgen erwacht.

Cindy lässt den letzten Teebeutel sinken. Sie zuckt mit den Schultern, starrt auf die gesammelten Sinnsprüche. Dann denkt sie, dass es Zeit ist, allmählich zu verschwinden, am besten, bevor auch für Bert ein neuer Morgen erwacht. Sie sammelt die Teebeutel ein, verstaut alle bis auf einen wieder in der Schachtel und stellt diese zurück in den Schrank. Den gebrauchten Teebeutel lässt sie auf dem Tisch liegen, denn jene Geschichte ist tatsächlich zu Ende. Den ungebrauchten Teebeutel nimmt sie mit.

Ralf Bruggmann, 1977, ist in Herisau in der Schweiz aufgewachsen und lebt heute mit seiner Familie in Speicher. Neben seiner Tätigkeit als Texter in einer Werbeagentur schreibt er Textfragmente, kurze und lange Geschichten und realisiert Literaturprojekte. Zahlreiche Texte sind auf disputnik.com zu finden. 2016 gewann er den Jury- und Publikumspreis beim Schreibwettbewerb «Literaturland» des Amts für Kultur des Kantons Appenzell Ausserrhoden. Neben Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften erschien 2017 der Prosaband «Hornhaut» in der Edition Outbird. Mit «delfin» erschien im Sepätsommer 2024 im orte Verlag sein erster gedruckter Roman. Zuvor veröffentlichte Ralf das fragmentarische Romanexperiment «Nita verschwindet» im Internet.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Andreas Butz

Alexandra von Arx «Hundsteinhüttenbuchrandnotizen», orte

Ein Büchlein im Taschenformat. Ein Büchlein, das in möglichst viele Taschen gehört, weil Alexandra von Arx alle StädterInnen und HeimwehberglerInnen mitnehmen kann. Ein paar Wochen, einen Sommer hinauf in die Hundsteinhütte zwischen Säntis und Hohem Kasten. Ein literarisches Kleinod, auch wenn der Einband kuhfladenbraun ist. 

Man fährt mit dem Postauto bis zum appenzellischen Brülisau, dem letzten Dorf unter dem Hohen Kasten, einem der beiden markanten Berggipfel in den ostschweizer Voralpen. Von dort steigt man zu Fuss vorbei am Sämtisersee zweieinhalb Stunden bis zur Hundsteinhütte hinauf, einer SAC-Hütte (Schweizer Alpen-Club), hoch über dem Fälensee, dem vielleicht mythischsten der drei Alpsteinseen.

Dorthin lockte es die Schriftstellerin Alexandra von Arx, als sie noch als Wahlbeobachterin im ukrainischen Kiew arbeitete. Ein Inserat, das eine „flinke, belastbare und teamfähige“ Mitarbeiterin suchte. Von Kiew in den Alpstein, von einer Dreimillionenmetropole ins Appenzeller Hinterland, hinter sieben Berge, von politischer Aktualität in eine Realität gewordene Idylle. Und wenn eine Beobachterin, die ihr Tun gleich mehrfach zum Beruf macht, dies unternimmt, dann mit Stift und Leerbuch. Vielleicht nicht mit ausgesprochener, aber mit unterschwelliger, letztlich nicht zu verleugnender Absicht.

Die Hütte liegt auf 1554 m und bietet über vierzig Schlafplätze. Als Hütte wohlverstanden nicht in Doppel- und Einzelzimmern mit Sprudelbad und Regendusche, sondern verteilt in drei „Massenschläge“. Der Hüttenwart kocht und backt, die Mann- und Frauschaft schenkt aus, serviert, putzt, räumt auf, holt Nachschub aus dem Tal. Viele Hände für müde und hungrige WandererInnen. Da wird die Verteilung der 44 Schlafplätze schon zu einem kniffligen Tetrispuzzle, kombiniert mit vegetarischen, veganen oder fleischessenden Besuchern, Angemeldeten, Nichterschienenen in Stosszeiten zu wahren Herkulessaufgaben

Alexandra von Arx «Hundsteinhüttenbuchrandnotizen», orte, 2020, 128 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-85830-274-8

Die „Hundsteinhüttenbuchrandnotizen“ sind aber viel mehr als das Konzentrat eines Tagbuchs, eines Skizzenbuchs für literarische Szenen. Alexandra von Arx hält sich mit aller Absicht ganz im Hintergrund. Wenn es um sie als Person geht, dann stets witzig, würzig und mit Selbstironie. Das zeigt sich, wenn sie sich als Oltnerin vom appenzeller Dialekt umgarnen lässt, einem Dialekt, der selbst in dem kleinräumigen Kanton nicht immer aus allen Winkeln gleich tönt und klingt.

Erzielen beim Fussballmatch zwischen Heiden und Gais beide Mannschaften ein Tor, so tönt dies etwa so: „Heede – Gees, ees – ees“

Es sind nicht nur die Feinheiten der Sprache, denen die Autorin nachspürt, denn in diesen Feinheiten liegt auch das Wesen eines Menschen. Landschaft, Geschichte, Tradition wirken hinein in eine Sprache. Und vielleicht prallen die Gegensätze nirgends intensiver und gleichzeitig schöpferischer aneinander als im Appenzellerland. Mag sein, dass die Landschaft etwas von der Sehnsucht nach Idylle stillt. Mag sein, dass das Appenzellerland wie keine andere Gegend die Idylle zu einem erfolgreichen Geschäftsmodell machen konnte. Alexandra von Arx malt diese Idylle nicht aus, betreibt keine naive Brauchtumskunst. Sie taucht ein in ein Leben, das abseits ist von all dem, was die meisten von uns kennen. Ein Leben, dass die Hüttenidylle erst möglich macht, ein Leben im Schweiss ihres Angesichts, ein Leben zwischen Kuhfladen und Facebookpost.

Warum ein solches Buch lesen? Weil Alexandra von Arx mich mitnimmt an einen wunderschönen Ort. Ich spüre die Majestätik des Alpsteins. Weil sich Alexandra von Arx nicht produziert, sondern mit viel Liebe und Empathie schildert, was hängen bleibt. Weil sie der Bissigkeit und Entblössung widersteht. Und weil alles in franzhohlerischen Witz getaucht ist, der sich nie auf Kosten anderer in Szene setzt.

Wer das Büchlein auf dem Nachhauseweg von der Arbeit aus seiner Tasche oder Jacke zieht, um ein paar Seiten zu lesen, bei dem fängt der Feierabend früher an – mit Sicherheit!

Alexandra von Arx ist 1972 in Olten geboren und aufgewachsen. Nach Abschluss ihres Studiums der Rechtswissenschaften spezialisierte sie sich auf Menschenrechtsfragen und wurde 2011 in den Schweizerischen Expertenpool für zivile Friedensförderung aufgenommen. Seither ist sie als internationale Wahlbeobachterin tätig. Seit sie 2016 einen Schreibwettbewerb der LiteraTour Stadt Olten gewonnen hat und mit dem Text «OlteNetlO» auf dem Schweizer Schriftstellerweg vertreten ist, widmet sie sich intensiv dem Schreiben. Der Kanton Solothurn hat sie 2018 mit dem Förderpreis für Literatur ausgezeichnet.

Webseite der Autorin

Webseite der Hundsteinhütte

Rezension von «Ein Hauch Pink» mit Interview auf literaturblatt.ch

Beitragsbilder © Peter Ehrbar, Hüttenwart Hundsteinhütte

Arja Lobsiger mit STORIES im Theater 111

Die junge CH-Autorin Arja Lobsiger las zusammen mit dem Musikerduo STORIES, mit Christin Berger und Dominic Doppler aus ihrem im Orte-Verlag erschienen Roman «Jonas bleibt». Auch wenn die Konkurrenz in St. Gallen mit einer Lesung von Franz Hohler hart war, fand sich ein feines Publikum für einen bezaubernden Abend im kleinen Theater 111. Ein Abend, der Grenzen sprengte!

Arja Lobsiger, geboren 1985, Schriftstellerin und Lehrerin, veröffentlichte Essays, Gedichte und Kurzgeschichten. Ihr Debüt-Roman „Jonas bleibt“ erhielt viel Beachtung in der Presse. «Ein berührender Roman über drei Menschen auf der Suche nach ihrem Weg aus der vermeintlichen Ausweglosigkeit. Der tragische Unfall eines Jungen verändert die Familie, und das Gefüge droht auseinanderzubrechen. Die Schwester fühlt sich am Tod des Bruders mitschuldig, die Mutter fällt in eine Depression, und der Vater verfängt sich in Wünschen und Vorwürfen. Eines Tages bricht die Mutter auf und sucht ihr Glück auf einer Insel im Mittelmeer. Taugt dieser Ort als Paradies ohne Erinnerungen?»

„Wortklang“, das Zusammenwirken von Literatur (Programm: Gallus Frei, literaturblatt.ch) und Musik (Christian Berger: Saiteninstrumente und Dominic Doppler: Percussion) definiert an sechs Abenden die Begegnung zwischen Wort und Klang, zwischen Literatur und Musik neu. Das Gegensätzliche verschmilzt und lässt Harmonisches in Spannungen um Aussagen ringen. Jeder Abend ein Unikat und einmaliges Erlebnis, das Hörerinnen und Hörer begeistern soll!

«Vielen Dank Gallus für die Einladung zu diesem wunderbaren Wort-Klang-Abend im gemütlichen Theater 111 in St. Gallen! Es war ein einzigartiges, unvergessliches Erlebnis, mit Dominic Doppler und Christian Berger auf der Bühne zu stehen und meine Worte in ihren Klangteppich zu weben. Dieser Teppich gab meinem Text einen neuen Rhythmus, andere Pausen, betonte Passagen und schuf eine Atmosphäre, in welcher die Worte zum Klingen gebracht wurden. Ganz gemäss dem Motto: Wort-Klang Klang-Wort.» Arja Lobsiger

Fotos © Philipp Neff, schliff.ch

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Nächste Veranstaltung:

Freitag, 26. Oktober, 2018, 19.30 Uhr, außer Programm in der Galerie Bleisch, Arbon:
Michelle Steinbeck („Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch“) liest aus Prosa und Poesie.
Michelle Steinbeck, 1990 geboren, ist Redaktorin der Fabrikzeitung (Rote Fabrik, Zürich), Veranstalterin und Mitglied von „Babelsprech, junge deutschsprachige Lyrik“. Sie veröffentlichte Prosa, Lyrik und Szenen in Sammelbänden, Heften, im Rundfunk und auf Theaterbühnen. «Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch» war ihr erster Roman, mit dem sie 2016 sowohl für den Schweizer wie für den Deutschen Buchpreis nominiert war. Michelle Steinbeck stellt zusammen mit dem Musikerduo Christian Berger und Dominic Doppler Gedichte und Kurzprosa aus ihrem frisch erschienen Gedichtband «Eingesperrte Vögel singen mehr» (Voland & Quist) vor.

«Ihre Gedichte und Geschichten sind ungezähmt, störrisch und kunstvoll arrangiert. Sie drücken und jucken, schreien mal schrill und flüstern mal leise, sie erzählen Märchen, schöne wie schauderhafte, und sie führen ein stets aufmerksam blickendes Ich sowie jede Menge groteskes Personal auf die Bühne der Literatur.

Es fühlt sich an wie im freien Fall

Im Tagblatt vom 5. September war folgender Bericht von Mirjam Bächtold zu lesen. Grund genug, um am kommenden Samstag die musikalische Lesung mit Arja Lobsiger und dem Duo STORIES im Theater 111 in St. Gallen zu besuchen. Mehr Informationen unter christianberger.ch!

Arja Lobsiger «Das grüne Haus», am 8. September Gast im Theater 111, St. Gallen

Sina hat also recht gehabt: Hier am Ende eines Forstwegs befindet sich das grüne Haus. Es steht leicht schief, als wolle es sich an einen der Bäume lehnen. Ich schätze, es ist etwa fünfzig Quadratmeter gross und hat Baujahr siebenundsechzig. So genau weiss ich das natürlich nicht. Aber ich mag es, Dinge mit Zahlen zu beschreiben. Immer wenn ich jemand kennenlerne, überlege ich als erstes, wie alt und gross diese Person ist. Ist es eine unsympathische Frau, schätze ich, wie schwer sie ist. Es hat sich schon oft später herausgestellt, dass ich richtig lag. Wind rauscht durch die Bäume. Ich fühle mich beobachtet.
Das rostige Gartentor quietscht, als ich es öffne. Unsicher schaue ich mich um. Eine Amsel raschelt im Laub. Ich frage mich: „Warum braucht es mitten im Wald ein Gartentor?“ Wahrscheinlich war es früher ein Wochenendhaus für Städter, die nicht von ihren Gewohnheiten abweichen konnten. Aber jetzt wohnt hier Jannik. Um den Garten hat er sich bisher nicht gekümmert. Es ist ein Wald im Wald. Das Haus sieht nicht bewohnt aus. Hat sich Sina vielleicht doch geirrt? Dann entdecke ich neben der Tür den blauen Aschenbecher. Er überquillt vor Kippen.
Fünfhundertdreiundsiebzig Mal habe ich in den vergangenen Jahren diesen blauen Aschenbecher, der auf unserem Balkon stand, geleert. Ich hasse Zigarettengestank, aber geküsst habe ich Jannik trotzdem. Auch wenn ich zu Beginn unserer Beziehung behauptet hatte, ich würde ihn nicht küssen, wenn er geraucht hat. Damals habe ich gedacht, mich damit interessant zu machen. Unbemerkt hat sich dann mein Bestreben, interessant für Jannik zu sein, davongeschlichen.
Ich trete näher ans Haus heran und schaue durchs Fenster neben der Tür. Ich weiss, Jannik ist nicht da. Ein Anruf in seinem Büro hat genügt. Trotzdem habe ich das Gefühl, seinen Blick auf meinem Rücken zu spüren. Durchs Fenster kann ich nicht viel erkennen, weil es im Haus dunkel ist. Aber ich sehe einige vertraute Möbel.
Ich lege die Hand auf die Türklinke, zittere leicht. Meinen schnellen Herzschlag spüre ich im ganzen Körper. Ich versuche, mich daran zu erinnern, weshalb ich hergekommen bin. Tatsächlich gibt mir das die nötige Entschlossenheit. Ich drücke die Klinke. Die Tür öffnet sich. Typisch Jannik. Trotzdem bin ich überrascht.
Im Haus ist es kühler als draussen und es riecht nach Schatten und Laub. Der Holzboden knarrt. Auf dem Tisch steht einsam eine Tasse. Etwa ein Deziliter Kaffee ist noch drin. Mir fällt auf, dass es der Rest eines Milchkaffees ist. Jannik aber trinkt seinen Kaffee schwarz. Er sagte immer: „Schwarzer Kaffee passt zu meinem Humor.“ Die Wahrheit ist, dass er eine Laktoseintoleranz hat. Was mich nicht erstaunte hatte, als er es mir erzählte. Janniks Haut ist weiss und weich wie Vollrahm. Ich finde es immer wieder faszinierend, wie der Körper das Verhalten des Menschen regiert.
Ich nehme einen Schluck aus der Tasse. Der Kaffee schmeckt sauer und ist kalt. Ich suche den Tassenrand nach Spuren von Lippenstift ab. Nichts. „Vielleicht hat Jannik für sich laktosefreie Milch gekauft?“, überlege ich weiter. Aber das kann ich mir nicht vorstellen. Jannik ist ein Alles-oder-Nichts-Typ. Das wird sich nicht geändert haben, trotz Umzug in den Wald. Auch dazu, bin ich überzeugt, hat ihn diese Lebenseinstellung getrieben. Gleich zu Beginn unserer Beziehung hat er gesagt: „Solange wir es gut zusammen haben, bleibe ich bei dir.“ Den Folgesatz hat er zwar nie ausgesprochen, aber ich weiss, dass dieser für ihn viel wichtiger gewesen ist.
Ich bemerke, dass ich mich am Griff der Kaffeetasse festklammere und meine Knöchel schon ganz weiss geworden sind. Gerade als ich die Tasse wieder an ihren Platz zurückstellen will, entdecke ich den Kaffeering auf dem Tisch. Ich stelle sie nicht mehr dorthin zurück.
Die zwei Holzstühle haben wir gemeinsam gekauft. Zwei gleiche Holzstühle stehen in unserer alten Wohnung. Über der einen Stuhllehne hängt Janniks blaue Trainingsjacke.
An der Wand steht ein altes Ledersofa, auf dem eine zusammengefaltete Militärwolldecke liegt. Unsere Sofadecke hat er nie so ordentlich zusammengefaltet. Mir ist etwas schwindlig und ich zittere. Ich versuche, mich zu beruhigen und rede mir ein, dass es wegen der Kälte ist.
Das Klingeln eines Telefons durchbricht die Stille. Erschrocken öffne ich die Augen, schaue mich um und fühle mich ertappt. Das Klingeln ist laut und schrill. Ich habe das Gefühl, es klingelt durch den ganzen Wald. Es hört nicht auf.
Rasch stehe ich auf, entdecke neben dem Eingang der Küche ein schwarzes, altes Wandtelefon mit Wählscheibe. Ich strecke meine Hand nach dem Hörer aus. Gerade noch rechzeitig besinne ich mich aber: Ich habe keine Ahnung, wer hier anruft. Und was soll ich denn sagen?
Ich lasse das Telefon ausklingeln. Was macht Jannik, wenn ein Baum auf die Freileitung fällt? Neben dem Telefon hängt eine Liste mit zwölf Nummern. Ich entdecke einige Namen aus unserem Freundeskreis, ein paar seiner Bürokollegen, seine Eltern und Valerie. Ich kenne keine Valerie und Jannik hat mir nie von ihr erzählt.
Meine Telefonnummer steht nicht auf der Liste. Ich nehme den Hörer ab, wähle meine Nummer. Das Handy klingelt in meiner Tasche und ich lege den Hörer zurück. Später werde ich die Nummer abspeichern. Ich schaue mich weiter im Wohnzimmer um. Die dunkle Holzdecke wirkt erdrückend. Die Möbel sehen aus, als stammten sie vom Trödelmarkt. Der staubige Fernseher steht auf einer niedrigen Backsteinmauer. Keine Deko, nichts, was den Raum schöner macht. Nur der grüne Kachelofen neben dem Sofa strahlt eine gewisse Eleganz aus. Auf dem Bücherregal steht die Hälfte der Bücher, die mein Regal so leer erscheinen lässt. Ich zähle zweiundvierzig Stück und studiere dabei die Bücherrücken, suche mir drei Romane aus. Sie verschwinden in meiner Tasche. Die Lücken, die sie im Regal hinterlassen, bleiben.
In der kleinen Einzeiler-Küche sehe ich nichts Neues. Auch sie stammt aus den Sechzigern. Das Erstaunlichste ist eine Teekanne auf dem Herd, die als Vase dient.
Auch hier gibt es kein Bild, kein Foto, keine Erinnerung. Ich frage mich, ob Jannik mich, uns bereits vergessen hat. Ich schaue aus dem Fenster. Kein Blick in die Ferne. Nur Eichen- und Fichtenstämme. Vermisst er nicht die Menschen?
Ich gehe weiter ins Schlafzimmer. Unser Doppelbett füllt fast den ganzen Raum aus. Nur für einen Kleiderschrank, gibt es noch Platz. Auf der zerwühlten Bettdecke liegt Janniks Laptop. Die zwei Kopfkissen sehen durchlegen aus. Ich bin mir sicher, in diesem Bett hat Jannik letzte Nacht nicht allein geschlafen. Ob Valerie hier gewesen ist?
Ich öffne den Kleiderschrank, entdecke nichts Auffälliges. Keine Frauenkleider. Ich schiebe den Laptop und die Decke zur Seite. Auch auf dem Bett keine Spuren. Jannik aber spüre ich in diesem Raum ganz deutlich. Ich lege mich ins Bett, atme tief ein und rieche nicht nur ihn, sondern auch mich. Alles ist wieder da. Die Stille ist laut.
Ich stehe auf, lasse meinen Abdruck auf der Matratze zurück und gehe hinaus. Draussen scheint die Sonne und ich lasse die Haustür offen stehen. Das Gartentor schliesse ich hinter mir.

Arja Lobsiger, geboren 1985, Schriftstellerin und  Lehrerin, lebt in Nidau (Schweiz). Sie studierte am Literaturinstitut in Biel. Anschliessend absolvierte sie an der Pädagogischen Hochschule Bern die Ausbildung zur Sekundarlehrerin. Arja Lobsiger veröffentlichte Essays, Gedichte und Kurzgeschichten in Zeitschriften und schrieb für den Zürcher Tagesanzeiger einen Literaturblog. Sie ist Gewinnerin verschiedener Literaturwettbewerbe, unter anderem des Berner Kurzgeschichtenwettbewerbs. Für ihren Debüt-Roman „Jonas bleibt« erhielt sie mehrere Förderbeiträge von Berner Gemeinden, der Erziehungsdirektion des Kantons Bern sowie Migros Kulturprozent.

Arja Lobsiger liest in der Reihe Wortklang – Klangwort am Samstag, den 8. September 2018, um 20 Uhr im Theater 111, St. Gallen: «Jonas bleibt», Ein berührender Roman über drei Menschen auf der Suche nach ihrem Weg aus der vermeintlichen Ausweglosigkeit. Der tragische Unfall eines Jungen verändert die Familie, und das Gefüge droht auseinanderzubrechen. Die Schwester fühlt sich am Tod des Bruders mitschuldig, die Mutter fällt in eine Depression, und der Vater verfängt sich in Wünschen und Vorwürfen. Eines Tages bricht die Mutter auf und sucht ihr Glück auf einer Insel im Mittelmeer. Taugt dieser Ort als Paradies ohne Erinnerungen?

Beitragsbild © Carmen Wueest

Arja Lobsiger „Jonas bleibt“, Orte Verlag

Als Finn starb, wurde alles anders. Etna, seine Schwester, hüllt sich in Schwarz, so wie Jonas sein Vater sich in sein Schweigen. Und Alice, Finns Mutter, zieht sich zurück, zuerst in ihr Innerstes, dann auf eine Vulkaninsel im Meer. So nah wie möglich an die Erinnerung und so weit weg wie möglich von der Gegenwart.

Eine Familienkatastrophe: Etna spaziert im Winter zusammen mit ihrem kleinen Bruder Finn am Fluss. Das Wasser ist gefroren. Spuren ziehen sich über das Eis. Und während sich Etna schon über die Böschung weg vom Fluss bewegt, traut sich Finn doch auf die glatte Schicht. Etna hört nichts, nicht das Knacken, nicht den Schrei, das Rufen. Nur weil er ihr nicht folgt, geht sie zurück und sieht nur das Loch im Eis. Finn taucht nicht wieder auf. Das Loch bleibt. Das Loch in der Familie. Etna ringt mit Schuldgefühlen, Finns Mutter mit unendlicher Trauer und Depression und Jonas, der Vater, nicht nur mit dem Tod seines Sohnes, sondern mit dem Zerbrechen seiner Familie. Was geschieht, wenn ein Kind stirbt? Was muss geschehen, wenn ein Kind stirbt? Arja Lobsigers Erstling ist ein feinfühliger Roman über den Einschlag eines Kometen, wenn nichts mehr dort ist, wo es einmal war, wenn Schäden irreparabel sind, wenn das, was zurückbleibt, ein Trümmerfeld bleibt. Arja Lobsiger hat sich für ihren ersten Roman einen schweren Stoff ausgesucht. Einen Stoff, an dem man leicht scheitern könnte. Dann, wenn sie darin ertrunken wäre, wenn sie die nötige Distanz nicht gefunden hätte. Aber Arja Lobsiger gelingt ein eindringlicher Roman über den Verlust. Nicht nur vom Verlust eines Lebens, eines Kindes, sondern vom Verlust einer Liebe, vom Verlust von Nähe und vom Verlust von Eltern. Denn so wie Alice und Jonas ihren Jüngsten verlieren, verliert Etna ihren Bruder und ihre Eltern. Jonas verliert Alice und Alice den Boden unter den Füssen.

Arja Lobsiger erzählt in zwei Strängen. Jonas sitzt im leer gewordenen Haus. Es soll abgerissen werden. Jonas ist längst aus dem Leben gerutscht. Er wartet auf den Tag, an dem er aus seinem Haus verschwinden soll, die Bagger die Mauern niederreissen werden. Das Haus, in dem alles geblieben ist, auch wenn die meisten Zimmer leergeräumt sind. Einziger Begleiter ist ein Fuchs in seinem über und über verwilderten Garten. Ein Fuchs, den er zu füttern beginnt, während er zu essen vergisst.

„In der Dunkelheit, die sie umgab, hatte Alice gespürt, wie die Lava an der Oberfläche abkühlte und erstarrte.“

Auf der andern Seite Alice, die es eines Tages an der Seite ihres Mannes nicht mehr aushielt und aus dem Haus, aus ihrem Zimmer mit den violetten (liturgische Farbe für „Übergang“ und „Verwandlung“) Vorhängen schlich. Ohne Nachricht, nicht einmal an ihre Tochter Etna, setzt sie sich ab auf eine italienische Vulkaninsel. Jene Insel, auf der sie einst als Familie zusammen mit ihren Eltern die glücklichsten Ferien verbrachte. Es ist kein Neubeginn. Alice wünscht sich auf dem Rücken des Vulkans den Ausbruch, der sich nicht einstellen will. Ein Kind in ihren leeren Bauch. Einen Sinn zurück in ihr Leben.

Ich mag dieses Buch und seine Autorin für den Mut. Nicht nur weil sie sich ohne Rührseeligkeit an dieses schwere Thema wagte, sondern weil die Sprache und der Erzählton dem Geschehen Bedeutsamkeit geben. Weil Arja Lobsiger nicht alles ausleuchtet, Interpretationsspielraum lässt. Weil die Ränder offen bleiben, ihr Personal im Buch neben Alice und Jonas wie nachts vorbeifahrende Autos in einen „Spielraum“ leuchten.

Ein Interview mit Arja Lobsiger:

Eine ganze Familie wird durch einen Strudel in ein Loch gezogen. Es gibt kein Zurück. War während des Schreibens von Anfang an klar, dass es für niemanden eine Rettung geben konnte?
Die Figuren wurden während dem Schreibprozess vom Strudel erfasst. Welche Auswirkungen der Tod eines Familienmitglieds haben kann, war mir jedoch bewusst. Für mich gibt es aber durchaus eine Rettung. Aus der Familiendynamik auszubrechen ist manchmal traurigerweise die einzige Lösung.

„Jonas bleibt“ in einem Haus, das abgebrochen wird. Er lebt weiter im Wissen, dass er gehen müsste, lebt aber in Wahrheit so, als gäbe es diesen einen Termin nicht. Ein starkes Bild. Auch ein Bild für den Zustand der Welt?
Ja, auf jeden Fall. Dem Ohnmachtsgefühl wird oft mit Ignoranz begegnet oder eben lieber nicht begegnet. Das erlebe ich als Lehrerin immer wieder im vergleichbar kleinen Kosmos Familie und im Grossen bei den Themen Umweltverschmutzung oder Flüchtlinge.

Alice, Finns Mutter, reisst sich aus ihrem dunkeln Zimmer und fährt auf eine Vulkaninsel im Mittelmeer. Auf der einen Seite eine Flucht, auf der andern Seite eine Ankunft an einem Sehnsuchtsort. Es brodelt im Inselgrund viel mehr als im kalt gewordenen Bauch Alices. Jonas bleibt auch auf seiner Insel. Finn ist im Wasser untergegangen. Muss man sich retten? Niemand stellt sich!
Jede Figur versucht auf ihre Art, den Tod zu verarbeiten und sich dem zu stellen, was ist. Für Alice ist ein radikaler Schritt der einzige Weg, aus den erstarrten Strukturen des Systems und der dumpfen Trauer auszubrechen. Auf Konfrontation versucht Etna zu gehen. Zu bleiben scheint in dieser Geschichte keine Lösung zu sein, auch für Jonas nicht.

Und dann der Fuchs, der in Jonas verwilderten Garten lebt, den er mit jenen Fleischstücken füttert, die eigentlich für ihn gedacht sind. Der Fuchs wird in dem Mass zutraulich, wie Jonas immer schwächer wird. Ein Werden, das Sie fast nur mit Innenwelten beschreiben. Wann kam im Schreiben der Fuchs ins Spiel?
Der Fuchs tauchte relativ früh im Schreibprozess in Jonas Garten auf. Mir war damals jedoch noch nicht klar, welche Rolle er einnehmen wird. Eigentlich war er nur als einmaliger Besucher eingeplant. Dann hat er sich immer wieder in den Garten und somit in die Geschichte geschlichen.

Der Roman beginnt und endet mit einem Blick in die Ferne. Kennen Sie diese Sehnsucht nach einer Flucht hinaus oder ganz in sich hinein auch in Ihrer eigenen Welt?
Ja, ich kenne die Sehnsucht nach dem Entdecken von unbekannten Orten und liebe es, zu reisen. Man könnte sagen, es ist eine Flucht, für mich ist es aber eine Reise zu mir selbst. Nirgendwo werde ich so stark mit mir konfrontiert wie ausserhalb gewohnter Abläufe und Systeme. Der Blick von der Ferne auf die Heimat und das eigene Leben wird ein anderer.

Vielen Dank für die Antworten. Danke für Ihre spannenden Fragen, die mir in dieser Art noch nicht begegnet sind. Für mich ist es erstaunlich, wie Sie meinen Roman erfasst und verstanden haben, das zeugt von einem aussergewöhnlichen Gespür für Geschichten. Mich berührt das. Sie haben mir auch neue Perspektiven auf meinen Roman eröffnet.

Arja Lobsiger, geboren 1985, lebt in Nidau (Schweiz). Sie studierte am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel Literarisches Schreiben und schloss ihr Studium 2009 mit dem Bachelor of Arts in Creative Writing ab. Anschliessend absolvierte sie an der Pädagogischen Hochschule Bern die Ausbildung zur Sekundarlehrerin. Arja Lobsiger veröffentlichte Essays und Kurzgeschichten in Zeitschriften und schrieb für den Zürcher Tages-Anzeiger einen Literaturblog. Sie ist Gewinnerin von Literaturwettbewerben, unter anderem des Berner Kurzgeschichtenwettbewerbs.

Webseite der Autorin

Titelfoto: Sandra Kottonau

Christine Fischer «Der Zweifel, der Jubel, das Staunen», orte-Verlag

Kein Roman, keine Erzählung, kein Gedicht. Vielleicht philosophische Prosa. Ganz sicher Gedanken über die Hintergründe der Dinge, die abgewandten Seiten, die Unterböden, auf denen wir stehen, die aber fast immer unsichtbar sind. Ein Büchlein wie ein Brevier. Aber nicht so einfach hingebetet, keine Litanei, keine Allgemeinheiten.

Christine Fischer interessiert sich für Innenwelten. In ihren Büchern beschreibt sie Menschen in ihren Zweifeln, Abgründen, geht ihnen ganz nah. Dieses Büchlein blickt von Innen nach Aussen. Es bildet ab, was die Autorin denkt, fühlt und sieht; Das Denken um die Welt, das Fühlen einer Empfindsamen, das Sehen einer Frau, die weit über den eigenen Nabel, die eigene Nasenspitze hinaussieht. Fast hundert kurze und kürzeste Gedankenfenster mit den Kapitelüberschriften «Anrufungen», «Mutmassungen», «Anfechtungen», «Behauptungen», «Bedachtsamkeiten», «Begründungen» und «Lobpreisungen». Begriffe, die aus der Zeit gefallen scheinen, für die es sonst keine Verwendung mehr zu geben scheint. Ein Büchlein, das in der Buchhandlung in kein Regal passt, nicht zu Lyrik, nicht zu den Ratgebern, kein Reiseführer. Aber genau das ist es, was den Reiz dieses Büchleins ausmacht. Christine Fischer muss nichts mehr beweisen. Am allerwenigsten, dass sie schreiben kann, dass sie denken kann, dass Sprache ein Instrument ist, das ebenso Klang wie Wirkung erzeugt.

Das rosa Büchlein (Die Farbe vertrage ich auch in diesem Fall nur schlecht. Keine Ahnung, wie der Verlag zu dieser Farbe kommen konnte! Kein Deut von einer rosa Brille! Auch kein Wohlfühlbüchlein!) lag ein paar Tage auf meinem Nachttischchen. Christine Fischers kleine Texte begleiteten mich in die Nacht, an den Schlaf heran, dort, wo Gedanken sich freimachen. Einmal nahm ich das Büchlein mit in den Zug, las darin im Stehen gleich neben der Tür, weil der Zug so voll war. Irgendwann spürte ich die Blicke auf mir und dem kleinen rosa Büchlein. Nicht nur die Farbe verunsichert, manchmal tun es auch die Texte. Sie beschwört die Müdigkeit, bei ihr zu bleiben, den Zorn und die Fäulnis. Sie mutmasst, ob es tote Dinge wirklich gibt, was Pflanzen täten, wenn sie Wetterprognosen lesen würden. Christine Fischer nimmt die Nacht ins Visier, weiss, dass sie Nacht am Gürtel ein Messer trägt, mit dem sie Taue kappt, die einem mit dem Ufer der Gewissheit verbinden.
Kaum ein Text tut, was Morgenbetrachtungen tun. Sie schützen nicht, klären nicht, trösten nicht und beschwichtigen nicht. Sie rütteln und trotzen, sie zerren und stossen. Christine Fischer mischt sich ein, tut dies mit Poesie und Sprachgewalt.

behauptungen, Jan Kaeser

Die Graphit-Zeichnungen wurden vom St. Galler Künstler Jan Kaeser eigens für dieses Buch erstellt. Er liess sich von den Texten «erschüttern und erregen». Diese inneren Bewegungen habe er gleich einem Seismographen während des Lesens direkt mit dem Graphitstift auf Papier übertragen. Im Buch sind Ausschnitte davon abgebildet. Die beiden Künstler verbindet eine jahrzehntelange Freundschaft. Etwas, das spürbar wird, wenn man sich auf Zeichnungen und Texte einlässt.

Ein Interview:

Deine Texte in deinem Buch machen ganz und gar nicht den Eindruck, als hättest du sie in eine Ordnung gebracht, Titel dazugeschrieben und sie so zu einer Einheit gemacht. Wie entstand dieses Buch? War da ein Plan, eine Absicht?
Wie so oft beim Schreiben, entstand der Anfang zufällig. Ein Schriftstellerkollege hatte mir gesagt, dass ich an den Anfang meiner Texte oft eine Behauptung stelle. Gut, dachte ich mir, so behaupte ich nun absichtlich! Und da ich in jener Zeit oft an Betten von Sterbenden wachte und ein ganz neues Verhältnis zur «Nacht» entwickelte, stelle ich als erstes Behauptungen zur Nacht auf. Nicht alle meine Gedanken konnte ich dort subsumieren, also suchte ich nach weiteren «Klarsichtmäppchen», in denen ich meine Gedanken und Überlegungen zur Wahrnehmung der Welt unterbringen konnte. Um diese Einheiten gegeneinander noch besser abzugrenzen, wählte ich für jede eine besondere sprachliche Form, vom Duktus her oder grammatikalisch, beispielsweise den Konjunktiv bei den «Mutmassungen», die biblisch anmutende Sprache bei den Textfragmenten über die Liebe in den «Begründungen», oder den immer gleichen Anfang wie bei den «Lobpreisungen». Es liegt also durchaus einiges an formalen Überlegungen und Strukturarbeit in dieser Textsammlung. Ich bekam so richtig Freude daran, subtilere Gedankengänge zu beschreiben und nach geeigneten Titeln, Wörtern, Bildern dafür zu suchen. «Subtleties», hiess der Arbeitstitel, also Subtilitäten, denn ich wusste ja auch nicht genau, was hier im Entstehen begriffen war und wie es zu betiteln wäre. Bis heute tue ich mich schwer zu erklären, was diese Sammlung enthält. «Federwolken», das war auch so ein geheimer, vorläufiger Titel. Dieser Titel weist darauf hin, wie dieses Buch entstand: Zwar aus dem Blauen hinaus sich Textwölckchen und Wölckchen entwickelnd, seine Form suchend und findend, ordentliche Reihen bildend – und sich dem Zugriff entziehend, vorläufig, flüchtig.

anfechtungen, Jan Kaeser

Wie entstanden die einzelnen Texte?
Wie bereits oben beschrieben, gab es eine initiale Sammlung von «Behauptungen zur Nacht», die aber ziemlich sofort nach weiteren Unterkapiteln rief. So entstanden parallel kurze Niederschriften auf Notizzetteln, die ich dann in der wachsenden Zahl von Titel Unterschlupf fanden, aber erst, nachdem sie sprachlich entsprechend gekämmt worden waren. Das ganze Konglomerat entstand über einen Zeitraum von etwa 4 Monaten. Ideen, Gedanken und ganze Sätze springen mich oft an im Halbwachzustand (Aufwachen, Einschlafen, Dösen), beim Spazieren oder beim Zugfahren, auch Abwaschen oder Staubsagen sind tolle Ideenbegünstiger. Der diskursive Geist muss abgelenkt werden, dann entsteht Raum für Subtileres, für «Federwolken». Ich glaube, dass jeder Mensch sich laufend ganz viele Gedanken macht zum Leben und seinen Erscheinungen, aber diese Gedanken vielleicht nicht erhascht oder sie ganz einfach nicht aufschreibt.

Die Texte lassen tief blicken, zeigen viel von dir. Wieviel Scham spielte bei der Auswahl der Texte?
Ich glaube, ich liess mich leiten vom Anspruch der Wahrhaftigkeit. Wird man ihm gerecht, ist man geschützt von Gefühlen der Scham, der Entblössung. Es gelangt dann das zur Gestalt, was Gestalt annehmen will und muss. Nicht im Sinne einer Sendung oder Mission, sondern als Ausdruck von Erkenntnissen, die mehr kollektiver als subjektiver Natur sind. Also kein Erfinden, sondern eher ein Beschreiben von tieferen Schichten der Wahrnehmung, dem eigentlich Unnennbaren. Dies als Versuch, der durchaus auch scheitern oder irren darf. 

Irgendwie erweckt dieses Buch den Eindruck, als wäre da drin Resümee, ein Statement zur Gegenwart und Zukunft. Was wünschst du dir?
Ich glaube nicht, dass man Erkenntnisse zusammenfassen kann – jedes Leben ist

mutmassungen, Jan Kaeser

ein «work in progress», alles andere wäre niederschmetternd. Für mich sind diese Texte Verlautbarungen aus dem gegenwärtigen Moment heraus. Schon ein Tag oder auch nur eine Stunde später würde es wohl anders tönen. Aber natürlich steht da Vergangenheit dahinter, erlebte Geschichte, all das, was man Lebenserfahrung nennt, aber auch Nachdenken, Nachspüren und die Lust am Spiel. Zukunftsweisend möchte und kann ich nicht sein, doch ich wünsche mir, dass wir die Gegenwart in ihrer unglaublichen Vielfalt und Feinheit besser durchdringen, uns von ihr nicht nur bedrücken, sondern auch bezaubern lassen und es ab und zu wagen, eine «Lobpreisung» zu formulieren. Dies tut unserem ernsthaften Bemühen um die Welt und ihren Fortbestand keinen Abbruch, im Gegenteil.

Christine Fischer, vielen Dank für die aufschlussreichen Antworten.

Christine Fischer, 1952 in Triengen LU geboren, studierte Logopädie am Heilpädagogischen Institut der Universität Freiburg. Sie wohnt in St. Gallen und ist als Sprachtherapeutin tätig. Veröffentlichung der Bücher «Eisland» (1992), «Lange Zeit» (1994), «Augenstille» (1999), «Solo für vier Stimmen» (2003), «Von Wind und Wellen, Haut und Haar» (2004), «Vögel, die mit Wolken reisen» (2005) und «Nachruf auf eine Insel» (2009). Ausgezeichnet mit verschiedenen Förder- und Werkpreisen.

Buchvernissage «Der Zweifel, der Jubel, das Staunen» von Christine Fischer, Donnerstag, 26.Okt. 2017, 19.00, Raum für Literatur, Hauptpost St. Gallen. Veranstalter: kleinaberfein, St. Gallen, Musik: Maya Homburger, Violine. Graphit-Zeichnungen: Jan Kaeser, Kunstschaffender. Lesung, Präsentation, Apéro, Bücherverkauf, Gespräch.

Webseite der Schriftstellerin

Webseite des Künstlers Jan Kaeser