«Witzig und bissig, kurz und prägnant. Gleichsam verspielt und bodenständig, taktvoll und frech. Und ungeheuer lautverliebt und deutungsreich.» Das ist die Lyrik von Isabella Krainer. Zusammen mit der jungen Illustratorin Lea Le performten die beiden aus den Tiefen des menschlichen Seins.
Isabella Krainer lebt und wirkt seit Jahrzehnten in der Steiermark. Ihre Lyrik, erzählt sie, wurde nicht Lyrik, weil sie beabsichtigte, solche zu schreiben, sondern weil Menschen, die ihre Texte lasen, irgendwann meinten: «Isabella, du schreibst Lyrik.» Und genau das spürt man den Texten der Dichterin an. Ihre Lyrik ist ihre Auseinandersetzung mit sich selbst, ihrer Geschichte, ihrer Umgebung, der Welt. Ihre Lyrik ist der Versuch einer Antwort, einer Entgegnung, einer Erklärung. Aber sehr oft auch ein Gegenentwurf, ein Dagegenhalten.
Isabella Krainers Lyrik entspringt nicht so sehr den Kopf; ihre ganze Person, all die Erfahrungen, die sie im engen Austausch mit den Menschen ihrer Umgebung macht, wirken durch die Texte hindurch. Und so sehr die Texte körperlich werden, so sehr entspringen sie der Weisheit und Klugheit einer Frau, die mit ihrem Blick in die Tiefen des Menschseins nicht dort aufhört, wo die vermeintliche Rücksicht beginnt.
Die Tatsache, dass Lyrik den Geist und das Sehen öffnet, legt auch nahe, diese Textform und ihre Darbietung mit anderen künstlerischen Ausdrucksformen zusammenzubringen. Dabei war die Kombination, das Zusammenspiel von Lyrik und Illustration gleichermassen Wagnis und Experiment.
Lea Le, eben erst mit seinem Förderbeitrag des Kantons Thurgau ausgezeichnet und schon länger zeichnende Kraft im und ums Literaturhaus Thurgau, arbeitet seit zwei Jahren als selbstständige Illustratorin in ihrem Atelier in St. Gallen. Angeregt durch die kraftvollen Texte Isabella Krainers entstand die Idee, die beiden Künstlerinnen auf der Bühne zusammentreffen zu lassen.
«Es war Liebe auf den ersten Blick», erzählte Isabella Krainer während eines Gesprächs, «wir trafen uns eigentlich nur einmal via Zoom zu einem gegenseitigen Beschnuppern und wussten schon nach den ersten Augenblicken, dass dieses Experiment mehr als einmalig werden würde.»
Was die BesucherInnen an diesem Abend im Literaturhaus Thurgau geboten bekamen, war eine ganz besondere Art der Performance. Als würde man durch ein überdimensionales Bilder- und Textbuch des Lebens blättern, «von der Wiege bis zur Bahre». Man wurde Zeuge einer Verinnerlichung.
«mein lyrikband hat ecken, kanten und blaue flecken. kurz, er ist vom leben gezeichnet. obwohl bereits 2020 veröffentlicht, liest sich „vom kaputtgehen“ wie pandemie. dass sich das eine oder andere gedicht dennoch herausnimmt, den ernst des lebens auszulachen, hat mit trotz zu tun. viel mehr aber, mit der unbändigen freude daran, abenteuer zu erleben. und genau das war die zusammenarbeit mit lea le, deren illustrationen am 26. april 2022, im kult-bau in st. gallen zum ersten mal meine sprache sprechen durften. lyrik & illustration, eine performance, deren experimenteller charakter in keinem passenderen rahmen zur geltung gekommen wäre. dass unsere performance am 28. april 2022 im literaturhaus thurgau noch einmal, gestärkt durch positive rückmeldungen und die abenteuerlust des publikums wirken konnte, war fast schon kitschig. denn plötzlich war sie da, die magie. ließ gedichte aufatmen und zeichnete sie mit leben aus. und auch die tage, die ich in der gästewohnung des literaturhauses verbringen durfte, hatten einen zauber inne. hätte lea auch diese illustriert, wäre selbst die bleistiftzeichnung bunt geworden. gallus, herzlichen dank! deine liebe zur literatur macht aus bühnen sehnsuchtsorte.» Isabella Krainer
«Was für ein Abenteuer das war. Der Stressschweiss hat sich sowas von gelohnt!» Lea Le
Zur Information: Am 8. Juli wird diese Reihe der experimentellen Performance weitergehen: Die Schriftstellerin und Dichterin Simone Lappert wird für einen Tag mit dem Musiker Andi Bissig im Literaturhaus arbeiten. Beide werden sich an diesem Tag zum ersten Mal schöpferisch miteinander «auseinandersetzen». Am Abend dannpräsentieren die beiden, was auch den Tag entstanden ist.
Zusammen mit der St. Galler Illustratorin Lea Le performt die steirische Lyrikerin Isabella Krainer. Lyrik und Illustration formen Bilder, treten in Austausch, erwidern und befragen sich. Kunstformen begegnen sich!
von wegen
vater war dafür sagte nur deswegen
verwegen
mutter fragte wofür dachte nur weswegen
verlegen
krieg vor der tür kämpfe nur entlegen
von wegen
An einem ganz normalen Leben entlang, von Zeugung, Schwangerschaft und Geburt über Familienleben und Schulzeit bis zur Entwicklung von Geschlechterrollen, zu unvermeidlichen Kontakten mit politischer Wirklichkeit und zum Ringen um Mitmenschlichkeit spannt Isabella Krainer den Bogen einer österreichischen Jedermensch-Biografie. Immer weit am Rand der Komfortzone – oder schon jenseits davon – bewegen sich die Figuren, fühlen sich nicht zugehörig und gehindert am Weiterkommen.
Die österreichische Lebenswirklichkeit dringt in die Sprache dieser Gedichte, in der Krainer – unentwegt ihr enormes Sprachbewusstsein beweisend – mit Mundartelementen Heimatgefühl erzeugt, das sie mit Doppeldeutigkeiten und Konnotationen, kleinen Verschiebungen aber gleich wieder ungemütlich gestaltet. Alltägliches bekommt eine neue Bedeutung, Bekanntes wird überraschend anders, Erwartungen werden unterlaufen, Wörter treffen bis in den Kern.
„Dass Lyrik grösstes Vergnügen bereiten kann, trotzdem jene Schärfe und Würze birgt, die der Lyrik in ihrer Konzentration eigen ist und doch kunstvoll, gewieft und vielschichtig daherkommt, das beweist Isabella Krainer in ihrem ersten bei Limbus erschienen Gedichtband.“ Gallus Frei-Tomic, literaturblatt.ch, 2020
manchmal
manchmal möchten möhren eingesetzt vielleicht auch zu höchstleistungen angetrieben oder mehr noch wegen medial produzierter minderwertigkeitskomplexe karotten genannt und überhaupt attraktiver werden
Isabella Krainer, geboren 1974 in Kärnten, verfasst Lyrik und Prosa und macht gern Theater. Bis 2017 lebte sie in Tirol, aktuell in der Steiermark und pendelt zwischen Politsprech und Dialektlandschaft. 2016 wurde sie mit dem Hilde-Zach-Förderstipendium der Stadt Innsbruck ausgezeichnet. Im Rahmen des stubenrein-Festivals (steirischerherbst’19) las sie aus ihren Gedichten. Als Murauer Bezirksschreiberin sammelt sie Zuschreibungen von der Straße auf und verarbeitet, was Frauen abverlangt wird, von A bis Z.
Lea Le (1995) lebt und arbeitet in St. Gallen als selbständige Illustratorin, Event- und Comiczeichnerin. 2022 Förderbeitrag des Kantons Thurgau Instagram
Edith war schon immer ein aufgewecktes Mädchen. Mit zehn entdeckte sie die wunderbare Welt des Scherenschnitts, mit elf beherrschte sie den Lockruf des Tungara-Froschs und im Jahr darauf gab sie vor, Schweizerin zu sein, weil diese verstärkt unter dem prämenstruellen Syndrom zu leiden hätten.
Da ihre Sportlehrerin an Derartiges gewöhnt war, begrüßte sie die Schülerin regelmäßig mit einem sarkastischen „Grüezi“ im Turnsaal. Für Edith ein Grund mehr, beim Völkerball nicht mehr zu kooperieren.
Die Idee, den Sportunterricht gegen wöchentliche Besuche im Altersheim einzutauschen, kam Edith mit dreizehn. Nachdem ihr die betagten Leute zuflüsterten, dass es hier nicht darum gehe, Gefangene zu machen, kam sie zu dem Schluss, nie an einem echteren Ort gewesen zu sein. Was keine Flügel hatte, konnte tatsächlich nicht fliegen. Und was zu stinken hatte, stank.
Als Edith die Alten zum letzten Mal besuchte, um sie danach wieder sich selbst zu überlassen, war die Pubertät amtlich.
Isabella Krainer, geboren 1974 in Kärnten, schreibt & macht, was sie will. Ihre Arbeiten pendeln zwischen Politsprech und Dialektlandschaft. Die Autorin lebt in Neumarkt in der Steiermark. Aktuell arbeitet sie an ihrem ersten Roman. „Heiliger Zorn“ wurde 2021 mit einem Arbeitsstipendium des Landes Kärnten bedacht. «Vom Kaputtgehen», ihr erster Lyrikband, erschien im März 2020 im Limbus-Verlag. 2019 erhielt sie für „Vom Kaputtgehen“ das Finalisierungsstipendium literarischer Projekte des Landes Kärnten. 2016 wurde sie mit dem Hilde-Zach-Literaturförderstipendium der Stadt Innsbruck ausgezeichnet.
Die Kinder im Dorf hatten alle braune und grüne Augen, ich war die Einzige mit klarem Blau im Blick. Das hatte ich von meinem Vater geerbt. Die Augen und den englischen Nachnamen. Darüber verlor ich aber kein Wort. Es hätte nur weiteren Anlass zu Spott gegeben. Es hieß, dass nur die Stadtkinder blaue Augen hätten, das käme vom vielen Waschen. Man schrieb den Städtern einen regelrechten Reinlichkeitsfimmel zu. Gut, was meine Mutter betraf, stimmte das vielleicht. Ich war davon aber sicherlich nicht betroffen. Dass die Kinder selbst jeden Morgen das Gesicht in kaltes Brunnenwasser tauchten, kam ihnen dabei wohl nicht in den Sinn. „Blaue Augen, blaues Blut“, lästerten sie, wenn sie mich wieder einmal des Stalles verwiesen, weil eine Kuh kalbte oder ein neuer Stier dabei war, sich einzuleben. Das Umfeld wäre zu gefährlich für mich. Sie hatten nicht ganz Unrecht damit. Es war nicht nur einmal passiert, dass ein Tier ausgebüchst war, durch die Bretterwand gekracht, schon in den ersten Tagen. Die Restaurationsarbeiten waren schnell geschehen. Die neue Wand hielt aber nicht mehr aus, als die zuvor zerstörte. Es gab nur eine Box mit Stangen aus Metall, speziell für Neuankünfte, was normalerweise ausreichend war. Es kamen nicht oft neue Tiere ins Dorf. Die Gutshöfe mussten Geld zusammenlegen, um sich qualitatives Neuvieh leisten zu können. Man teilte sich die Stallarbeit und das Futter. Meine Tante Mila erzählte, sie wäre einmal fast niedergetrampelt worden, hatte sich gerade noch ins Haus retten können, bevor ein junger Stier durch den Garten gerast war. Die Beete waren im Eimer und das übermütige Tier kaum einzufangen. Sogar die Kühe rannten vor ihm davon, er war ihnen wohl nicht ganz geheuer. „Ziemlich umtriebig, der gute Bursche“, bestätigte auch mein Onkel. Einige Kühe wurden trächtig. Sie waren wohl doch dem Charme des Stieres erlegen, befand ich. Mila schüttelte zweifelnd den Kopf, schwieg aber.
Katharina J. Ferner, 1991 geboren, lebt als Poetin und Performerin in Salzburg. Sie ist Redaktionsmitglied der Literaturzeitschrift &Radieschen sowie der österreichischen Dialektzeitschrift Morgenschtean. 2016–2019 Mitbetreuung der Lesereihe ADIDO (Anno-Dialekt-Donnerstag) in Wien. 2017 Stadtschreiberin in Hausach (D), 2019 Lyrikstipendium am Schriftstellerhaus Stuttgart. Bei Limbus erschien ihr vielbeachtetes Lyrikdebüt «nur einmal fliegenpilz zum frühstück» (2019) und der Roman «Der Anbeginn».
Katharina J. Ferners Roman „Der Anbeginn“ ist ein starkes Stück über keimendes Leben und den Tod, über archetypische Figuren und fiebrige Innenwelten, über vermeintliche Realitäten und flirrende Zwischenwelten. Wer sich gerne von Literatur bezaubern lässt, ist mit diesem Roman reich beschenkt!
Ein Mädchen wächst auf in einem Dorf, das aus der Zeit gefallen ist. Die Szenerie des Romans erinnert an einen langen Traum, eine Zwischenwirklichkeit, an eine Welt, die immer gleich durch die Jahrhunderte getragen wird, in der Tote nicht verschwinden, Lebende umso mehr, wo der Fährmann der Grenzer ist, in der das Matriarchat zur Selbstverständlichkeit wird. Katharina J. Ferner zeichnet eine Welt, die keiner Zeit unterworfen ist, die aber in jedem von uns lebt, weil sie weit über den Traum hinaus in unsere Wirklichkeit hineinspielt. Eine archaische Welt, die sich der Logik, der Ratio lächelnd entzieht. Wer „Der Anbeginn“ liest, lässt sich ein in eine Welt, die in ihrer Gültigkeit in jedem von uns steckt, von der wir uns aber immer schneller und immer weiter entfernen. „Der Anbeginn“ ist märchenhaft aber kein Märchen. Der Roman erzählt von den Urkräften des Lebens, von Geburt und Tod, von Liebe und Leidenschaft, von der Suche und vom Finden.
„Nur weil ich tot bin, heisst das noch lange nicht, dass ich auch so aussehen muss.“
Ein Dorf an einem Fluss, nicht weit vom Meer. Während eine Tochter geboren wird, stirbt die Grossmutter. Der Vater ist Maler. Das Kind wächst mit Farbe und Pinsel auf, weiss, dass jene Wirklichkeiten, die gemalt sind, ebenso wirklich sein können, wie jene ausserhalb des Ateliers ihres Vaters. So wie die Grossmutter Wirklichkeit bleibt, obwohl sie der Fährmann geholt hatte. Das Mädchen wächst auf mit Mutter und Vater, mit den zwei Schwestern der Mutter, Ida und Ada, in einem Dorf mit der Bäckerin Svenja, mit anderen Kindern unter denen sie schon bald eine Sonderstellung einnimmt. Man begegnet ihr mit Respekt, so wie sie selbst allem und jedem mit Respekt begegnet. So wie sie den Tieren, selbst den Spinnen in ihrem Zimmer mit Respekt begegnet, sie an ihrem Leben teilnehmen lässt. Die Wiese, der Wald, der Fluss ist genauso ihr Zuhause, wie das Zimmer im Haus ihrer Künstlereltern, das Dorf, die Menschen genauso ihr Körper wie der ihrige.
Das Leben im Dorf ist eines in den Traditionen, in Regeln, die das Zusammenleben geschaffen hat. Eine Welt, die in immer grösserem Kontrast zur Welt in der wir leben gesehen werden muss. Katharina J. Ferner malt auf grosse dreidimensionale Leinwände, schafft eine Tiefenwirkung, die mich einsaugt, die mich fasziniert. Sie schafft, was sonst nur Träume vermögen und tut dies mit traumwandlerischer Sicherheit, mit faszinierender Selbstverständlichkeit.
„Vater malte mir eine Sonnenblumeum den Nabel herum, die Blätter waren so gross, dass sie mir bis zu den Rippen hinauf reichten.“
Dieses Dorf ist eine Zwischenwelt. Ein Dorf, das mit der Natur eins ist. Menschen, die sich als Teil dieser Welt sehen und sie nicht unterwerfen. Hier manifestiert sich die Natur nicht als Gegenüber des Menschen. In „Der Anbeginn“ nistet sich die Natur bis in die Haare der Protagonistin ein. „Der Anbeginn“ ist so rätselhaft wie das Leben selbst, wie die Geburt und der Tod, das Leben und das Sterben. Wer diesen Roman liest, die Geschichte dieser jungen Frau, die Geschichte dieses Dorfes jenseits des grossen Flusses, der begibt sich in eine Art Tagtraum, eine von Farben und Gerüchen satte Welt.
Interview mit Katharina J. Ferner:
Was hat dich bewogen, deinen Roman in einer Art Zwischenwelt anzusiedeln Die Zwischenwelt hat mehrere Beweggründe. Einerseits bin ich selbst grosser Fan von Erzählkulturen, die eine Tradition des Mystischen, der Märchen und des Surrealismus in der Literatur pflegen. Im deutschsprachigen Raum wird oftmals nicht über vermeintliche Grenzen hinauserzählt, was ich persönlich schade finde. Die Fülle der Geschichten, die so gesponnen werden können und das Eintauchen ins Fantastische eröffnen mir so zusätzlich zur Handlung auch eine poetischere Sprache. Auf der anderen Seite hängt die Entscheidung mit der Figurenkonstellation zusammen. Ohne eine Zwischenwelt kann die klassisch angelegte Figur des Fährmanns nicht mit dieser Selbstverständlichkeit existieren. Und somit verlören auch die Figuren, die auf ihm aufbauen, an Glaubwürdigkeit und blieben bloss als Hirngespinste der Ich-Erzählerin vorhanden.
Ist es, als würden sich in deinem Roman die Frauen dem Leben zuwenden und die Männer dem Leben eher abwenden? Weder noch. Die Frauen halten die Fäden in der Hand. Sie begrüssen das Leben zur selben Zeit, wie sie einen Tod beklagen, insofern würde ich nicht sagen, dass sie sich dem Leben konkret zuwenden. Die Männer sind bei den Todesritualen nicht dabei, weder bei der Verabschiedung der Verstorbenen noch bei der alljährlichen Schlachtung. Sie weichen dem Tod eher aus. Er ist kein Thema, das sie ständig beschäftigt und begleitet, während er bei den Frauen andauernd präsent ist.
Dein Roman ist von einer tiefen Weiblichkeit durchsetzt. Nicht dass sie mich stört! Ganz im Gegenteil! Es ist nur, als ob so einen Roman in dieser Art nur eine Frau schreiben könnte. Ich bin von dieser Weiblichkeit ebenso fasziniert wie verunsichert. Faszination und Verunsicherung, die gepaart beinah Schwindel erzeugen. Schreibst du dich von der Realität weg? Ich nehme das durchaus als Kompliment und denke es ist mir gelungen, viele Themen anzusprechen, die natürlich mit dem Frausein unmittelbar zusammenhängen, wie beispielsweise der Zyklus. Es gibt zwar keine Aufklärung in diesem Dorf, dennoch gibt es ein strenges Gefüge zwischen Männern und Frauen, das auch mit der körperlichen Wandlung und dem Alter zu tun hat. Die Konsequenzen die daraus entstehen, funktionieren im Roman anders, vielleicht gewagter.
Dein Vater malt. Du malst auch, dichtend und erzählend. Das Mädchen, die junge Frau in deinem Roman, wächst auch in einem Künstlerhaus auf. Was hat der Duft von Terpentin mit dir gemacht? Der Terpentingeruch hat tatsächlich keinen Ursprung in meinem Elternhaus, sondern in meiner Schulzeit. Bevor ich zu Literatur wechselte, belegte ich dort Bildnerische Gestaltung als Hauptfach. Im Roman fällt der Künstlervater ziemlich aus der Reihe, in einem Dorf, das auf Selbstversorgung angewiesen ist. Aber er gibt seiner Tochter seine Farben mit auf den Weg, damit sie sich die Welt ausmalen kann – genau so, wie ich es ja vielleicht auch mache. Früher habe ich viel fotografiert auf Reisen, nun notiere ich, sammle und (ver-)dichte.
Ich lernte dich an einer Lesung von Michael Stavarič kennen. Auch ein Schriftsteller, der es eindrücklich versteht, auf grossen Leinwänden kolossale Bilder zu erzeugen. Was bedeutet es dir, mit anderen AutorInnen zusammen schöpferisch zu sein, wo doch viele deiner ArtgenossInnen als EinzelgängerInnen gelten? Da hast du mich natürlich bei einer Lesung kennengelernt, von dem Menschen, der mich textlich schon am längsten und intensivsten begleitet. Mittlerweile verfolge ich vermehrt Kooperationen sowohl mit AutorInnen, als auch mit KünstlerInnen anderer Genres. Für mich bringen sie Inspiration, Wertschätzung, stärken das Vertrauen in die eigene Arbeit, fundierte Kritik. Manchmal hart erarbeitete, manchmal beflügelnde Geschenke. Und in diesem Jahr speziell sichern sie mir das eigene psychische Überleben. Grundsätzlich pflege und schätze ich aber Alleingänge ebenso. Gerade deswegen liebe ich das Konzept von Aufenthaltsstipendien.
Katharina J. Ferner, 1991 geboren, lebt als Poetin und Performerin in Salzburg. Sie ist Redaktionsmitglied der Literaturzeitschrift &Radieschen sowie der österreichischen Dialektzeitschrift Morgenschtean. 2016–2019 Mitbetreuung der Lesereihe ADIDO (Anno-Dialekt-Donnerstag) in Wien. 2017 Stadtschreiberin in Hausach (D), 2019 Lyrikstipendium am Schriftstellerhaus Stuttgart. Bei Limbus erschien ihr vielbeachtetes Lyrikdebüt «nur einmal fliegenpilz zum frühstück» (2019).
Eins ist Schwarm und Schwarm ist eins Unter den Flossen raue Rampen so steigen Beigezeiten abertausend Glasaalkinder über ihre Sohlengleiten Wir haben Oberwasser
Räderschlagend mahlt und wendet ein Mühlenstein das Dreistromland
Im Mäanderbecken schwankt der Spiegel
Doppelhelix formt den Turmfischpass Stromaufwärts Archimedes Kronenhaupt Kann die Wanderlinge singen hören Ich halte eine Muschel an mein Ohr Effervo. Aqua. Laborare.
Mit Laufwasser leise tröpfelnd Hingetreten Auf was sich an den Stufen staut
Fällt was gesammelt in den Schacht
II. Windfrequenzen
Schlag auf Schlag trifft Uns ein Schatten Schneisen in den Vogelflug Ein Windmühlband am Hügelrand Der Kampf beginnt
Grün klagt grün Und nichts wird grüner Strukturelle Festigkeit
Das letzte Opfer ist die Landschaft
Wucht und Unwucht hängt sich an die Rotorblätter Altersmüder Großwindräder Viertel des Jahrhunderts später Wenn ein Schild bestimmt Neglegere. Vento intermisso.
Unhörbar kommt ein Schall gekrochen Wir halten fest An Nichts das bleibt
Alles steht hier nur zur Pacht
III. Lichtvolten
Eins in einer Milliarde Härchen auf deinem feinen Nacken Glühwurmenden in der Abendstunde wenn du auf den Schindeln kniest Der Winkel stimmt
Faltergleich hebt und senkt ein Sonnenwind die neuen Flügel
Der Tag verebbt in kurzen Wellen
Metall zieht sich durch Metall Du stehst frei Hand auf meinem Giebel und drehst dem Wetterhahn eine Zauberformel in sein Ohr Iridie, Platina, lucescit!
Die Zukunft ist aus Sand gebaut mit Sonnenhonig prall die blauen Waben
Auf jeden Morgen folgt die Tracht
Cornelia Travnicek, geboren 1987, lebt in Niederösterreich. Studium der Sinologie und Informatik, arbeitet als Researcher in einem Zentrum für Virtual Reality und Visualisierung. Für ihre literarischen Arbeiten wurde sie vielfach ausgezeichnet. 2012 erschien mit grossem Erfolg ihr Debütroman «Chucks», der 2015 verfilmt wurde. Nach dem Roman «Junge Hunde» (2015) und dem Gedichtband «Parablüh» erschien 2019 ihr erstes Kinderbuch «Zwei dabei» (illustriert von Birgitta Heiskel).
Dass Lyrik grösstes Vergnügen bereiten kann, trotzdem jene Schärfe und Würze birgt, die der Lyrik in ihrer Konzentration eigen ist und doch kunstvoll, gewieft und vielschichtig daherkommt, das beweist Isabella Krainer in ihrem ersten bei Limbus erschienen Band „Vom Kaputtgehen“.
von wegen
vater war dafür sagte nur deswegen
verwegen
mutter fragte wofür dachte nur weswegen
verlegen
krieg vor der tür kämpfe nur entlegen
von wegen
Wie an manchen Abenden wollte ich meiner Frau vor dem Schlafengehen noch ein paar Gedichte vorlesen. Immer liegt ein Gedichtband auf meinem Nachttisch. Nicht dass ich nur vor dem Einschlafen Gedichte lese. Aber sie blenden noch einmal ein Licht in meine Seele. Und manche Lichter wirken bis in die Nacht hinein.
Ich versuchte es mit dem neuen Gedichtband einer bekannten Autorin, der die Rezeption meist zu Füssen liegt. Die Gedichte aber prallten ab, trotz der glänzenden Verpackung. Wir lagen beide ziemlich ratlos in den Laken. So stand ich noch einmal auf und holte ein neues Buch aus der Bibliothek, eines aus dem Regal der «wartenden Bücher».
Was dann passierte, als ich mich wieder unter die Decke begeben hatte, in der Hoffnung, meine Frau sei noch nicht in den Schlaf hinüber gerutscht, gab es noch nie. Zum einen lachte meine Frau während des Vortrages immer wieder laut auf, zum andern reihte sich Gedicht an Gedicht. Bei den Mundart-Gedichten der geborenen Kärntnerin las meine Frau, ebenfalls Kärntnerin.
Es wurde spät und wir mussten ihr Buch vorsätzlich weglegen, um nicht gleich an einem Abend den ganzen Spass in grossen Schlucken zu geniessen. Isabella Krainers Werk ist es Wert, in kleinen Portionen zu verkosten.
manchmal
manchmal möchten möhren eingesetzt vielleicht auch zu höchstleistungen angetrieben oder mehr noch wegen medial produzierter minderwertigkeitskomplexe karotten genannt und überhaupt attraktiver werden
Die Dichterin mäandert in Alltäglichkeiten, Situationen mit viel Wiedererkennung, durch ein ganzes Leben, einen ganzen Kosmos. Ihre Lyrik ist direkt und ungekünstelt, nicht verkopft und alles andere als unzugänglich. Manchmal schliessen sich ganze Geschichten auf, Szenerien, die neben und zwischen den Zeilen ein Vielfaches von dem entfalten, was die knappe Dichtkunst der Schriftstellerin auszeichnet.
Witzig und bissig, kurz und prägnant. Gleichsam verspielt und bodenständig, taktvoll und frech. Und ungeheuer lautverliebt und deutungsreich. Und wenn sich dann auch noch eines ihrer Gedichte reimt, dann ist es, als würde sie noch einen draufgeben, als packe sie der sprachliche Übermut.
selbst ort gedanken
ich ist ein ort
an den ich gehe
wenn ich bleibe wer ich bin
Und ganz nebenbei; Wer den Limbus Verlag noch nicht entdeckt hat, der sollte sich einmal Zeit nehmen, sich auf dessen Webseite zu tummeln. Neben all den literarischen Leckerbissen – was für schöne Bücher! Gewisse Verlage haben es geschafft, im Erscheinungsbild ihrer Bücher einen Wiedererkennungseffekt zu generieren. Das schafft Limbus mit einem Teil seiner Veröffentlichungen, vornehmlich mit seiner Lyrik, genauso. Ein vielsinniges Bucherlebnis!
(die hier veröffentlichten Gedichte aus Isabella Krainer Gedichtband «Vom Kaputtgehen» mit freundlicher Genehmigung des Verlags)
Isabella Krainer, geboren 1974 in Kärnten, verfasst Lyrik und Prosa und macht gern Theater. Bis 2017 lebte sie in Tirol, aktuell in der Steiermark und pendelt zwischen Politsprech und Dialektlandschaft. 2016 wurde sie mit dem Hilde-Zach-Förderstipendium der Stadt Innsbruck ausgezeichnet. Im Rahmen des stubenrein-Festivals (steirischerherbst’19) las sie aus ihren Gedichten. Als Murauer Bezirksschreiberin sammelt sie Zuschreibungen von der Straße auf und verarbeitet, was Frauen abverlangt wird, von A bis Z.
Was tun, wenn man mit einem Mal merkt, dass die Welt, von der man glaubte, sie sei es, man kenne sie, kenne sich in ihr aus, nicht die ist, an die man mit Standfestigkeit glaubte? Was tun, wenn sich hinter der Einsicht ein Abgrund öffnet, wenn man die Türe, die man öffnete, nicht mehr zu schliessen ist. In der schmalen Erzählung von Wolfgang Hermann spiegelt sich die geballte Wucht einer Ernüchterung.
Walter ist Polizist in einer Kleinstadt auf der österreichischen Seite des Rheintals. Wenn er nicht auf seinem Posten sitzt und den Blick über das pulsierende Leben seiner Stadt schweifen lassen kann, steht er am liebsten seinen Mann in der Trommel, auf der wichtigsten Kreuzung der Stadt auf einer rot-weiss karierten Trommel, den Verkehr weisend, regulierend, den Strom von Nord nach Süd und umgekehrt, das grosse Brausen dirigierend. Er hat es gar zu einer gewissen Berühmtheit gebracht, denn die halbe Stadt scheint ihn auf seinem Podest zu grüssen. Dort lenkt er den Fluss, gibt der Anarchie eine Richtung. Auch zuhause geht alles seine geregelten Bahnen; seine Frau erblüht an seiner Seite und weiss, wo ihr Platz ist. Die Tochter und der Sohn sind nicht infiziert von den langmähnigen, bunt gekleideten Hippies, die sich auf einer nahen Alp, der Lichtheimat, dem Geistigen und Kosmischen zuwenden, wenn auch mit allerhand Kraut.
Die Stadt ist ruhig. Und doch spürt Walter, dass der Frieden an den Rändern wegzubrechen droht. Zum einen ist es Herr Hummel, der Mann, der ihm wie die Sonne morgens und abends Sicherheit gab, dass die Normalität, das Stetige die Konstante in seinem Leben sein wird. Eines Morgens erscheint Herr Hummel nicht mehr, spaziert nicht mehr in seiner absoluten Regelmässigkeit an der Polizeiwache vorbei, bleibt nicht nur für einen oder zwei Tage aus, sondern verschwindet von der Strasse. Zum andern führt ihn Pflichtbewusstsein und die Sorge um Herrn Hummels Sohn per Dienstweg bis hinauf zum Lichtheimat. Dorthin, wo die Strassen längst aufhören, in ein Haus, dass sich mit seinen BewohnerInnen allen Regeln der Normalität zu entziehen versucht. Ausgerechnet an jenem Tag dampft und raucht das Haus aus allen Poren. Walter, der Polizist trinkt einen Tee, isst einen Keks. Und bricht weg.
«Walter oder die ganze Welt» ist die Geschichte einer Vertreibung aus dem Paradies. Auch wenn Walter keinen Apfel vom Baum der Erkenntnis isst, sondern nur einen Keks. Obwohl Walter weiss, dass sein Sündenfall wie jener der Urmutter Eva nicht vorsätzlich war, für einen Polizisten nicht unwichtig, er nie und nimmer zurück in jenen Rausch des absoluten Kontrollverlusts will, ist nichts mehr, wie es einmal war. Aber auch er selbst. Das merkt auch seine Frau, merkt seine Umgebung, sogar die Menschen in den Autos, die auf der Kreuzung an der Trommel, auf der Walter den Verkehr mit leer gewordenem Gesicht zu lenken vorgibt, die an ihm plötzlich ungegrüsst vorbeifahren. Mit einem Mal ist klar, dass die kleine Ordnung, von der Walter glaubte, er sei der Wächter, von einer grossen Unordnung bedroht wird, dass das Fundament seines Lebens, seiner Existenz bloss vor Kulissen gebaut war. Kulissen, dünnwandig, hohl, seine Illusion.
Wolfgang Hermann schreibt sich nicht in die Personen hinein, schlüpft nicht in seine Protagonisten, leuchtet nicht aus. Wolfgang Hermann schreibt aus den Protagonisten hinaus. Obwohl nicht in der Ich-Form geschrieben schafft es der Autor, mich als Leser durch die Augen am Untergang einer Welt teilzuhaben. Einer grossen Ernüchterung, der im Kleinen oder Grossen alle Erdbewohner ausgesetzt sind. Der grossen Feststellung, dass alles doch anders ist, als man es sich im Laufe eines Lebens zusammengeschustert hat. Dass die kleine Stadt im Rheintal eben doch nicht der Nabel der Welt ist, nachdem man irgendwann feststellt, das sich die Erde nicht um einen selbst dreht. Dass Ruhe und Gleichförmigkeit mehr als trügerisch sind. Dass alte Strukturen selbst nach einem Neuanfang nach dem 2. Weltkrieg nicht einfach zu wirken aufhören. Dass die eigene Wahrheit nicht allgemeingültig ist.
Wolfgang Hermanns schmales Buch ist alles andere als schmalbrüstig. Zwar leicht und witzig erzählt, aber um die grossen Themen und Fragen des Lebens kreisend. Ein literarisches Kleinod, wunderbar gestaltet und herausgegeben vom kleinen Limbus Verlag, bei dem es sich lohnt, auf der Webseite zu stöbern!
Interview mit Wolfgang Hermann
Die Selbstzweifel Ihres sympathischen Protagonisten gipfeln in der Frage, ob er den eigentlich überhaupt zum Polizisten tauge. Ganz offensichtlich werden nicht alle Menschen von Selbstzweifeln bedrängt. Ist das der Unterschied zwischen Politik und Kunst? PolitikerInnen, je mächtiger, desto freier von Selbstzweifeln? KünsterInnen, je schöpferischer desto näher am permanenten Selbstzweifel? Zum Politiker taugt, wer keine Selbstzweifel kennt. Feinnervige, zurückhaltende Menschen haben in der Politik nichts verloren, sie werden dort aufgerieben. Man werfe einen Blick auf die neuen Bulldozer-Politiker, die unsere Zeit bestimmen: da ist keine Selbstreflexion zu erwarten. Und viel Gutes auch nicht. Ein schöpferischer Mensch hingegen weiss, dass er mit seiner Arbeit auf einem Drahtseil tanzt. Und wenn er genau hinsieht, fehlt sogar das Seil, er arbeitet in der Luft.
Wer durch irgend eine Tür der Erkenntnis geht, weiss, dass es kein Zurück gibt. Ist das beschönigende, verklärende Erinnern die Sehnsucht nach dem Paradies? Ich habe in meinem Buch keine Idylle geschaffen. Der harmlos zärtliche Tonfall trügt: Die jungen Menschen in der Vorarlberger Kleinstadt der Siebzigerjahre sehen sich einer kalten, abweisenden Welt gegenüber, die ihnen keine Chance lässt, als sich anzupassen. Es gibt keinen Raum für sie ausser den der Resignation. Und einige von ihnen gehen daran zugrunde. Polizist Walter ist liebevoll tollpatschig gezeichnet, aber die Realität der Kleinstadt und des kleinen Landes ist trüb und steckt noch fest im alten überkommenen Denken aus der NS-Zeit.
Walter, der mehr als ein halbes Leben lang glaubte, er sei es, der dirigiere, mit Sicherheit auf der rot-weiss gestreiften Trommel in der Kreuzung in seiner Polizistenuniform, muss einsehen, dass er eigentlich nur reagiert. Und das nicht einmal in der Gegenwart, sondern fast nur auf die Auswirkungen der Vergangenheit, einer modrigen Vergangenheit. Die Stadt, die Sie beschreiben, ist «Ihre» Stadt. Ist Schreiben, Dichten, ein Teil Ihrer Sehnsucht, wenigstens ein ganz kleines Stück zu «dirigieren»? Mit dieser Geschichte habe ich mich auch selbst „behandelt“, denn ich war ja einer dieser verlorenen jungen Menschen damals in der kalten Stadt. Wahrscheinlich ist Schreiben meistens Selbstbe- und -verhandlung. Es ist die Chance, die Vergangenheit neu zu gestalten, ein wenig menschlicher und weicher.
Walter wird von der Zeit, vom Leben überrollt. Hätte er auch Lehrer, Pfarrer oder Goldschmied sein können? Was reizte Sie am Polizisten, der als literarisches Personal sonst nur für den Krimi geeignet scheint. Polizist Walter war eine Legende im Dornbirn der Siebzigerjahre. Er dirigierte das Orchester der Autofahrer auf unverwechselbare Art, redete mit jedem einzelnen Autofahrer, vor allem aber mit sich selbst. Er ist ein fester Bestandteil meiner Kindheit. Ich wollte schon lange über ihn schreiben. Natürlich ist alles erfunden, aber den Polizisten Walter gab es wirklich.
Ist das «Fremdhässig-sein», das auf der Welt wie ein Virus zu wüten scheint, in einer funktionierenden Gesellschaft unüberwindbar? Die Zuwanderer trugen fremdes «Häss», das bedeutet im Dornbirner Dialekt Kleidung, hat also nichts mit Hass zu tun. Der steigt freilich in unserer Gegenwart in bedenklichem Masse. Ich fürchte, ich habe dagegen kein Rezept. Die Literatur führt ohnedies ein Dasein in der Nische.
Wolfgang Hermann, geboren 1961 in Bregenz, studierte Philosophie und Germanistik in Wien. Lebte längere Zeit in Berlin, Paris und in der Provence sowie von 1996 bis 1998 als Universitätslektor in Tokyo. Zahlreiche Preise, u. a. Anton-Wildgans-Preis 2006, Förderpreis zum Österreichischen Staatspreis 2007; zahlreiche Buchveröffentlichungen, unter anderem «Abschied ohne Ende» (2012), «Die Kunst des unterirdischen Fliegens» (2015) und «Herr Faustini bleibt zu Hause» (2016). Bei Limbus: «Paris Berlin New York» (Neuauflage als Limbus Preziose 2015), «Konstruktion einer Stadt» (2009), «Schatten auf dem Weg durch den Bernsteinwald» (2013), «Die letzten Gesänge» (2015) und «Das japanische Fährtenbuch» (2017).
In Bernsteinlicht eingefangene Momente, Augenblicke. Wer Wolfgang Hermanns Gedichte liest, erinnert sich an sich selbst, an Vertrautes, wird überrascht von der Klarheit seines Sehens. Wolfgang Hermanns Lyrik ist klar, bildreich, grosse Sprachkunst in leisen Tönen.
Bei Romanen ist es ein schlechtes Zeichen, wenn ein Buch lange liegen bleibt, wenn das eingeschobene Lesezeichen nur ganz langsam nach hinten rutscht, wenn es zuweilen unter anderen Büchern verschwindet, wenn man es nur ganz kurz in die Hand nimmt, abends vor dem Schlafen, das Buch in den Händen auf die Decke sinkt, nicht weil ich mich dem Schlaf ergebe, sondern weil ich zwischen letztem Gedicht und dem Wegdriften in den Schlaf dem nachhängen will, was der Dichter in sanften Tönen in die Stille zeichnete.
Reif und prall das leben im quellenden Gras
auf dampfenden Wiesen
unterm langsamen Sommerlicht
Hauch zwischen den Dingen
Hauch im Baum
Hauch um Tor und Tisch
auch mich durchfliesst Hauch
öffnet in mir eine Hand
ist es das, das Älterwerden
Als ginge man in tiefer Freundschaft zusammen mit Wolfgang Hermann durch die Landschaft. Eine stille Zwiesprache mit einem Dichter, der mich sehend macht. Keine verkopfte, verquere, schwer entschlüsselbare Lyrik. Keine Ausschweifungen, sondern schlichte Konzentrate.
Tief drang ich in den Wald
mir gingen Augen auf und unter
in der Tasche mein Schlüssel
ich vergass ihn
vergass mein Leben in der Stadt
war nur Hauch nur
ein Schlüssel in meiner Tasche.
Zarte Sprachgebilde eines Dichters, der in die Dinge hineinsieht, durch sie hindurch, der sich in die Zeit ziehen lässt, weit hinter die Oberflächlichkeit sieht. Ich las die Gedichte laut, manche immer wieder, die einen anderen Ohren vor, um nachzuprüfen, wie tief die Sprache dringt. Und manchmal spüre ich auch den Schmerz, das Erspüren des Verlusts.
Der Tod errichtet eine Mauer, damit wir auf ihr
balancieren.
Versuche über die Mauer des Todes zu springen.
Die Stimmen der Nacht sind ohne Körper. Sie
sind Schmetterlinge der Nacht, leichter als das
Geflecht der Luft.
… und so ganz nebenbei: Wunderschöne Bücher, auch die Erzählbände von Wolfgang Hermann, aus dem Limbus Verlag von Bernd Schuchter und Merle Rüdisser in Innsbruck!
Wolfgang Hermann, geboren 1961 in Bregenz, studierte Philosophie und Germanistik in Wien. Lebte längere Zeit in Berlin, Paris und in der Provence sowie von 1996 bis 1998 als Universitätslektor in Tokyo. Zahlreiche Preise, u. a. Anton-Wildgans-Preis 2006, Förderpreis zum Österreichischen Staatspreis 2007; zahlreiche Buchveröffentlichungen, unter anderem „Abschied ohne Ende“ (2012), „Die Kunst des unterirdischen Fliegens“ (2015) und „Herr Faustini bleibt zu Hause“ (2016). Bei Limbus: „Paris Berlin New York“ (erstmals erschienen 1992, Neuauflage 2008, als Limbus Preziose 2015), „Konstruktion einer Stadt“ (2009) und „Die letzten Gesänge“ (2015).
Zum dritten Mal stellten sich Lyrikerinnen und Lyriker am ersten Märzwochenende einem interessierten Publikum im Aargauer Literaturhaus in Lenzburg. Vom Jahrgang 1989 bis 1938 bot das Lyrikfestival «Neonfische» nicht nur ein breites Spektrum, sondern auch manchen Kontrast, vom freien Assoziieren im Takt einer Schlagzeugs bis zu kühner «Wortkartographie». Nicht bloss die Neonfische als Süsswasserfische glitzerten. Das Biotop Lyrik zeigte sich in allen Farben und Schattierungen.
Neonfische sind keine Einzeltiere. Auch wenn sich die Schwarmbildung im Aargauer Literaturhaus in Grenzen hielt, macht Lyrik und diese Art von Begegnung deutlich, wie sehr Lyrik ein Gegenüber benötigt. In Werkstattgesprächen von jeweils drei Lyriker/innen und einer Moderation stellen sich die Schreibenden auch dem Publikum. Sie geben Einblicke in Entstehungsprozesse, Gedanken und Bilder, die mir sonst verschlossen bleiben. Sie stellen sich, auch mit dem Risiko, dass ich als Zuhörer sehr genau spüre, ob Wellen aufeinanderprallen oder ineinander übergehen. Eine ungemein spannende Art, den Autor/innen und ihren Texten zu begegnen. Erst recht, weil sich die Organisation des Festivals sehr darum bemüht, es dem Zuhörer möglichst einfach zu machen, in der Fülle der Texte nicht unterzugehen.
Werkstattgespräche sind Fenster, die aufgestossen werden. Vielleicht ein Gegensatz zu Romanautor/innen. So zerbrechlich Lyrik manchmal zu sein scheint, Lyriker/innen sind es nicht. Ich erinnere mich an ein Autorengespräch zwischen den Schriftstellern Zora del Buono und Matthias Zschokke: eine überaus vorsichtige und zaghafte Annäherung mit latenter Sprengkraft. Es ist, als ob Lyrik sich viel weniger mit dem eigenen Ich beschäftigt. Dichtung ist Musik, Komposition, zu der man findet oder auch nicht. Viel weniger Nabelschau.
Zum Beispiel Cornelia Travnicek, die sich in ihrem jüngsten Gedichtband «Parablüh» mit der autobiografischen Lyrik der Amerikanerin Sylvia Plath (1932–1963) auseinandersetzte, deren Bücher in den 1960er- und 1970er-Jahren zur Kultliteratur wurden und Silvia Plath zu einer Symbolfigur der Frauenbewegung machten. Zu Gedichten in Sylvia Plaths Band «Der Koloss» hat Cornelia Travnicek im «Nachglanz» der Lektüre eigene Gedichte geschrieben. So entstand ein «Monolog mit Sivia», eine intensive Auseinandersetzung mit einer Dichterin, in deren Werk Cornelia Travnicek regelrecht eintauchte. Gedichte, die die Welt der Autorin mitnehmen und zuweilen auch politische Töne anschlagen.
Cornelia Travnicek, geboren 1987, lebt in Niederösterreich. Sie studierte an der Universität Wien Sinologie und Informatik und arbeitet als Researcher in einem Zentrum für Virtual Reality und Visualisierung. Für ihre literarischen Arbeiten wurde sie vielfach ausgezeichnet, u. a. für ihr Romandebüt Chucks (2012). 2012 erhielt sie den Publikumspreis bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt für einen Auszug aus ihrem Roman Junge Hunde (2015),
Parablüh
1.
Der Boden verfestigt sich unter ihrem Tritt
Der Kohl gibt seinen Geruch frei in der Sonne
In den Wimpern des Hundes, ein Insekt, sich verfangen
Im Staub des Weges ein zurückgelassenes Bein
Bereits trockener Knochen, ein Stück Fell
Ein Kokon dreht sich als Windspiel, wiegt
Die träumende Raupe
Der Hund nimmt den Hasenfuss zwischen die Beisser, hält ihn als Stöckchen
Hält ihn ihr hin, als ein Angebot, das sie nicht ausschlagen kann
2.
Hier haben sich ein Fuchs und eine Hase
Gute Nacht gesagt. Die kleinen Raubvögel stehen
Schräg unter dem Licht. Das Kind
Taumelt auf der Spur eines Falters, blind
Für Haar und Gebein. Dunkles Blau
Spannt der Abend über ihre Köpfe. Paraplui
Sagt die Mutter: Dunkles Blau auch zwischen Regen
Und sie. Parablüh sagt das Kind und pflanzt
Schirme in die Landschaft.
aus „Parablüh. Monolog mit Silvia“, Limbus
Mirko Bonné ist noch bis Ende März 2018 Residenzgast im Atelier Müllerhaus des Aargauer Literaturhauses in Lenzburg. Im kommenden Herbst erscheint im Schöffling Verlag, sein, wie er sagt, letzter Gedichtband unter dem Titel «Wimpern und Asche». Eine Gedichtsammlung aus vielen Jahren unter 12 thematisch eng gefassten Kapiteln. Viele Kindheitserinnerungen, die der Autor zurückholt, Klangbilder in verschiedensten Tonlagen. Erinnerungen, die ausgelöst werden durch Bilder der Gegenwart, weltöffnende Einblicke in eine damals paradiesisch erscheinende Kindheit. Mirko Bonné, der vielen als bedeutender Romancier bekannt ist und im vergangenen Jahr mit «Lichter als der Tag» für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde, ist ein sensibler Beobachter mit erfrischendem Schalk in seinem Schreiben.
Mirko Bonné, geboren 1965 in Tegernsee, lebt in Hamburg. Neben Übersetzungen von u. a. Sherwood Anderson, Robert Creeley, E. E. Cummings, Emily Dickinson, John Keats, Grace Paley und William Butler Yeats veröffentlichte er bislang fünf Romane und fünf Gedichtbände sowie Aufsätze und Reisejournale.
Das trabende Gras
Es stimmt, auch ich
war mal im glücklichen Garten.
Nur bin ich mir nicht sicher, wo das war
und ob meine Grosseltern mir so ersparten,
Schrecken zu sehen,
vielleicht für ein Jahr.
Es war der Sommer,
als ich auf den Bäumen las.
Ich kletterte in die Wipfel, fühlte mich frei,
und wenn es leuchtete, im trabenden Gras,
mein Lieblingsgesicht,
war mir alles einerlei
Für Nadia Küchenmeister
aus „Wimpern und Asche“, Herbst 2018 bei Schöffling
Oder Jürg Halter, der nicht nur in seiner Lyrik, sondern auch im Werkstattgespräch Witz versprüht und nicht mit Seitenhieben an den «gossen Bruder» spart: «Lyrik ist und bleibt Kleinkunst, während Romane Gegenstand einer ganzen Industrie sind.» Jürg Halters Gedichte sind nicht zuletzt gesellschaftspolitische Statements. Das, was er schon als Kutti MC als Kunstfigur in der Rap-Szene begonnen hatte und in seinen eigenwilligen Performance-Auftritten weiterführt.
Jürg Halter, 1980 in Bern geboren, absolvierte ein Studium der Bildenden Künste an der Hochschule der Künste Bern. Jürg Halter ist Schriftsteller, Musiker und Performancekünstler. Er gehört zu den bekanntesten Schweizer Autoren seiner Generation und zählt zu den Pionieren der neuen deutschsprachigen Spoken-Word-Szene. Zahlreiche Buch- und CD-Veröffentlichungen. Auftritte in Europa, Afrika, den USA, Russland und Japan. Zuletzt erschienen: «Wir fürchten das Ende der Musik», Gedichte (Wallstein, 2014) und «Das 48-Stunden-Gedicht»
Erdwissenschaften
Sie versinkt in ihrem Sitz
wie ein Stein im Wasser;
geht unter wie eine
zu leise gestellte Frage.
Alles ist ein Sinken
zum Erdmittelpunkt
und zurück in Millionen
von Jahren und …
in allen Religionen gibt es
eigentlich nur einen Gott,
den der Schwerkraft.
Oder weshalb werfen sich
Gläubige auf den Boden
anstatt in die Luft zu springen?
aus «Wir fürchten das Ende der Musik», Wallstein 2014
Weitere Autor/innen waren: Meret Gut, Kathrin Schmidt, Joachim Sartorius, Robert Schindel, Raphael Urweider, Klaus Merz, Tim Holland und Frédéric Wandelère. Vielen Dank an die Festivalorganisatorinnen, allen voran Bettina Spoerri, die mit grosser Souveränität durch das Festival führte.