Sara Gmuer «Achtzehnter Stock», hanserblau

Eine alleinerziehende Mutter mit ihrem kranken Kind in einem Hochhaus in einer Berliner Platte. Eine Frau vor dem Absturz ins Nichts. «Achtzehnter Stock» ist ein hartes Stück Gegenwart, erzählt von einem gehetzten Leben, mit dem niemand tauschen will, das man tunlichst ausblendet. Wäre dieser Roman Musik, wäre sie laut, schmerzhaft verzerrter Sound.

Wanda wohnt im achtzehnten Stock eines Hochhauses, ein schimmliges Loch, von dem ihr Onkel, der ihr die Wohnung vermietet, behauptet, es sei ein Juwel. Aber das Hochhaus ist ein Ort der Gestrandeten, der Gescheiterten, der Zurückgelassenen, der Resignierten. Für Wanda kein Zuhause, kein Ort, an dem sie sich wohl fühlt. Kein Zuhause, das Wanda sich für ihre fünfjährige Tochter Karlie wünscht. Und doch alles, was sie kriegen kann. „Kriegen“ ist dabei mehr als wörtlich zu verstehen. Für Wanda ist Leben ein Kampf, ein Krieg. Zum einen lebt Wanda mit dem Selbstverständnis, eine Schauspielerin zu sein, auch wenn es schon Monate her ist, seit ihrem letzten Werbefilm. Zum andern wird in der Scheinwelt des Film der Reichtum, dieses Gefühl, man müsse nur wollen, dann erreiche man seine Ziele schon, mit aller Dekadenz zelebriert. Da ist kein Platz für eine Frau mit Kind, für eine alleinerziehnde Mutter, für jemanden wie Wanda, der weder auf Familie noch ein intaktes Betreuungssystem zählen kann. Zum andern die immer grösser werdende finanzielle Not, dieses Gefühl, immer tiefer in ein Loch zu fallen, aus dem es keine Chance mehr gibt, aus eigener Kraft an den glatten Wänden wieder hochzukommen.

Ich habe genug gesehen. Wir müssen weg.

Sara Gmür «Achtzehnter Stock», hanserblau, 2025, 224 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-446-28278-0

Und dann wird auch noch Karlie krank, liegt apathisch auf dem durchgesessenen Sofa und tropft aus den Ohren. Ausgerechnet jetzt, wo ein Angebot winkt, ein Casting, das Wanda aus der Scheisse hieven soll. Da ist zwar ihre Nachbarin mit ihrer Tochter Aylin, die sie immer wieder mal fragt, ob sie auf Karlie aufpassen kann. Aber Aylins Mama spiegelt ihr ziemlich unverblümt, was sie von der Welt hält, in die Wanda um jeden Preis zurückkehren will. Die Situation spitzt sich so sehr zu, dass Wanda mit Karlie von Praxis zu Praxis rennt und sich die Katastrophe zu einem Drama auszuweiten beginnt. Ein Drama, für das man am Set, an dem man ihr tatsächlich eine Rolle anbietet, keinen Platz hat. Alleinerziehende Schauspielerinnen mit kranken Kindern ohne Betreuungsnetz haben keinen Platz in einem Berufsfeld, das weder klare Arbeitszeiten noch Ausfälle, familiäre Notfälle tolerieren will.

Niemand ist frei. Es entscheiden immer die anderen, was man wert ist.

„Achtzehnter Stock“ ist ein schonungsloser Roman. Der Höllentripp einer Frau, einer Mutter, die zwischen Welten zerrissen wird, die in beiden Welten abzustürzen droht, über deren Leben sich ein Sturm zusammenbraut, aus dem es unmöglich scheint zu fliehen, erst recht mit einem kranken Kind. Es ist ein Roman, der die Situation vieler Frauen erzählt, die auf sich selbst gestellt in den Zwängen der Gesellschaft, im Spagat zwischen Erziehungs- und Erwerbsarbeit bis zur Selbstaufgabe abrackern. Von fehlenden Vätern, von Männern, die nur bis zur eigenen Nasenspitze denken und handeln und einer Gesellschaft, die zwar Familie auf ein Podest setzt, aber nicht bereit ist, Berufs-, Betreuungs- und Gesundheitssystem so zu ordnen, dass alleinerziehende Mütter nicht durch die Maschen fallen.

Man vererbt nicht nur Geld, man vererbt auch Armut.

Literatur ist ein Spiegel der Gesellschaft. Dieser Roman ganz bestimmt. Und der Roman überzeugt auch sprachlich. Was Sara Gmuer in ihrer Geschichte erzählt, spiegelt sich in der Sprache, im rauhen Ton, in den Beschreibungen der Szenerien. Das Hochhaus in einer Berliner Platte ist nicht nur ein Funkloch im Netz, auch ein Funkloch im Bewusstsein der Allgemeinheit, zumindest derer, die auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Sara Gmuer hat einen aussergewöhnlich berührenden Roman geschrieben, kein Mutmacher, aber ein fühlbar schmerzender Stich in die Gegenwart, der der Traum wichtiger ist als die Realität.

© Sara Gmuer

Interview

Ein Roman auf der Schattenseite vieler Lebensträume. Und dass dabei ausgerechnet ein Kind zur scheinbaren Ursache aller Not wird, schmerzt. Wanda, ihre Protagonistin, ist in ihrer Zerrissenheit gefangen. Ich behaupte nicht, dass Männer, Väter ebenso davon betroffen sind, aber was fehlt an Struktur und Gesellschaft, dass Muttersein nicht zur Armutsfalle wird? 
Es fehlt an finanzieller Absicherung, flexibler Betreuung und gesellschaftlicher Akzeptanz für Frauen, die mehr wollen als „nur“  funktionieren. Es bräuchte einen anderen Blick auf Mutterschaft. Ein System, das nicht erwartet, dass Mütter ihre Träume kleinhalten. 
Wanda will Mutter sein und ihre Karriere verfolgen, aber ihr Umfeld hält das für naiv oder egoistisch. Das Problem sind nicht die Kinder. Es sind die Strukturen drumherum. 

Wanda will raus, raus aus der versifften Wohnung im achtzehnten Stock, raus aus dem Quartier der Verlierer und Gestrandeten, obwohl genau dort das ist, was nicht an Status und Geld gebunden ist. Ist Wanda ein Opfer ihres Lebenstraums? Warum hat man es geschafft, wenn Geld keine Rolle mehr spielt? 
Wanda ist kein Opfer ihres Lebenstraums – sie kämpft für ihn, weil er ihre einzige Chance ist, aus der Platte rauszukommen. Erfolg bedeutet für sie nicht nur Anerkennung, sondern vor allem finanzielle Sicherheit. Es geschafft zu haben, heisst für Wanda, sich nicht mehr jeden Tag fragen zu müssen, ob sie die Miete bezahlen kann. Geld ist für sie kein Luxus, sondern die Voraussetzung, um selbst zu entscheiden, wie sie leben will. 

© Sara Gmuer

Die Welten zwischen Plattenbau und Filmglamour könnten grösser nicht sein. Sie kennen beide Seiten. In der Welt des Films scheint es für die Unberechenbarkeit eines Familienlebens, des Mutterseins keinen Platz zu haben. Weil sich Wanda in ihrer Not für ihr Kind und gegen Termine entscheidet, ist die Rache an ihr vernichtend. Spiegelt das die Welt des Films? 
Es gibt viele Berufe, in denen für die Unberechenbarkeit des Mutterseins wenig Platz ist. Die Filmbranche ist da keine Ausnahme. In Wandas Fall kann ich die Produktion sogar nachvollziehen. Drehs sind eng getaktet, es hängen viele Menschen und viel Geld daran. Wenn eine Newcomerin plötzlich nicht ans Handy geht, würde ich sie wahrscheinlich auch ersetzen. Gleichzeitig zeigt das genau das Problem: Die Strukturen sind nicht darauf ausgelegt, dass jemand auch nur kurz ausfallen könnte, schon gar nicht eine junge Mutter ohne Status. In Wandas Welt ist kein Spielraum für Fehler oder persönliche Krisen. Wer nicht liefert, ist raus. 

Wanda bekommt dann doch eine Rolle. Aber man macht aus ihr eine Leerstelle. Sie erscheint weder im Abspann der aufgeführten Mitwirkenden, man lässt sie draussen bei der Promotion des Films. Um jene Rolle entsteht in der Folge ein Geheimnis und daraus so etwas wie ein Hype. Wanda will eine Rolle spielen. Ist dieses Wollen mehrdeutig zu verstehen? 
Ja, Wandas Wollen ist definitiv mehrdeutig. Sie will eine Rolle spielen – im Film, aber auch im Leben. Es geht um mehr als nur die Schauspielerei. Sie will sichtbar sein, Teil von etwas Grösserem. Sie will ernst genommen werden. 

„Achtzehnter Stock“ ist ein Roman über all jene Mütter, die es irgendwie alleine schaffen müssen. Ein Roman über den drohenden Verlust von Lebensträumen. Ich unterrichte 13jährige Kinder. Wenn ich sie frage, was dereinst ihr Platz im Leben sein könnte, staune ich nicht schlecht. Von Bescheidenheit keine Spur. Interpretieren wir unser Leben, unser Dasein nicht allzu sehr als Wettkampf, als Streit um jenen kleinen Platz an der Spitze der Pyramide?
Ich glaube, die meisten verlieren ihre Lebensträume erst später, mit 13 sind grosse Träume noch ganz normal und ich finde, man sollte sie sich bewahren. 
Wanda kämpft nicht um die Spitze der Pyramide, sie kämpft darum, unabhängig zu sein und ihr Leben so zu leben, wie sie es will. Für sie ist Erfolg kein Statussymbol, sondern das Ticket raus aus der Platte. 

© Sara Gmuer

Sara Gmuer, 1980 in Locarno geboren, zog nach ihrem Abschluss an der Filmschauspielschule Zürich nach Deutschland. Sie stand für Dominik Graf und Die Ärzte vor der Kamera und als Rapperin auf der Bühne. Sie schrieb Songs, textete für Agenturen und fand dabei ihre ganz eigene Stimme. 2020 erschien bei orange-press ihr Debüt «Karizma», Lovestory, Hiphop-Video und Roadmovie in den Strassen von Berlin. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in Berlin.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Urban Ruths 

Julia Phillips «Cascadia», hanserblau

Eine todkranke Mutter mit ihren beiden erwachsenen Töchtern auf einer Insel im Nordwesten der USA. Sie sind arm und mit jedem Jahrring werden die Hoffnungen kleiner. In einer Mischung aus Trotz und Verzweiflung stellen sie sich dem Kampf ums Überleben – und einem Grizzly.

Sam und Elena, zwei Schwesterm, leben zusammen mit ihrer kranken Mutter in Kaskadien, einem Landstrich im Nordwesten der USA, der sich bis in die kanadische Provinz British Columbia zieht. Eine Sehnsuchtsgegend vieler Touristen, die Insel San Juan, nahe der kanadischen Grenze, zwischen den Grossstädten Vancouver und Seattle, ein Ort, an dem Mensch und Natur noch immer im Gleichgewicht nebeneinander zu existieren scheinen; unberührte Landstriche, grenzenloser Himmel, Orcas. Aber für Sam und ihre ältere Schwester Elena ist die Insel alles andere als das Paradies oder jener Ort, an dem sie bleiben wollen. Gemeinsam schmieden sie Pläne. Wenn dereinst die Krankheit ihrer Mutter ein Ende haben wird, werden sie das Haus verkaufen und mit dem Erlös irgendwo weit weg ein neues Leben beginnen, weil das, worin sie stecken, nur ein schmaler, enger Durchgang sein kann, dessen Licht am Ende des Tunnels leicht vernebeln kann.

So paradiesisch die Kindheit war, so unendlich die Möglichkeiten damals schienen, so sehr sind sie in die Pflichten rund um ihre Mutter eingebettet, in die immer grösser werdenen Sorgen um ihre finanzielle Lage, obwohl sie beide arbeiten, Sam als Snackverkäuferin auf eine Fähre und Eliane auf einem nahen Golfplatz. Ihre Mutter, krank geworden durch giftige Dämpfe in der Kosmetikindustrie, liegt in ihrem Zimmer, überlebt nur durch technische Hilfsmittel, muss immer wieder zum Arzt gefahren werden, ist nicht krankenversichert und hat längst Abschied genommen von jeglicher Art Hoffnung, ausser vor der Zuwendung ihrer beiden Töchter.

«Nichts war so gekommen, wie sie es sich vorgestellt hatte.»

Julia Phillips «Cascadia», hanserblau, 2024, aus dem Englischen von Pociao und Roberto de Hollanda, 272 Seiten, CHF, ca. 33.90, ISBN 978-3-446-28153-0

Es scheint alles festgefahren zu sein. Sam und Elena leben im Schattenwurf zwischen dem drohenden Tod ihrer Mutter, der Aufschiebung aller möglichen Zukunft und der Bedrohung einer immer misslicheren wirschaftlichen Lage, die sich mit der Pandemie nur noch zugespitzt hatte. Sie beide verschliessen sich immer mehr, ebenso ihre Mutter, bei der der Fernseher das einzige Tor zu einer Welt geworden ist, die sich längst verschloss. Ihrer Mutter sind die beiden jungen Frauen der letzte Halt und den Schwestern blockiert die Krankheit ihrer Mutter alles, was Hoffnung bedeutet, auch die Hoffnung auf ein eigenes Leben, auf Liebe, eine Zukunft.

Bis ein Bär auftaucht, Elena ihn neben der Fähre, auf der sie arbeitet, im Meer schwimmen sieht. Bis sie auf der Veranda ihres Hauses den riesigen Rücken eines Bären sehen, dieser sich am Haus zu schaffen macht, hier und dort eine Duftmarke setzt, man Gerüchte zu hören bekommt, Tiere seien gerissen worden, man könne sich nicht mehr sicher sein, schon gar nicht zu Fuss. Bis sich die Zeitung und die Behörden melden und eine Frau, Madeline, eine Biologin, man erst kaum glaubt, dass es sich um einen Grizzly handeln soll, sich Elena seltsam faszieniert und angezogen fühlt und Sam spürt, dass da etwas lauert, was mehr als bloss Bedrohung sein könnte.

«Der Bär hatte sie an den Rand einer Katastrophe geführt und sie dann verschont – was für ein Geschenk! Seine Präsenz: gewaltig, unvorstellbar, ein furchterregender, heiliger Anblick.»

Während Sam, die Perspektive, aus der die Geschichte erzählt wird, sich und ihr sowieso schon arg fragiles Familiengefüge mehr und mehr bedroht sieht, sich die letzten Hoffnungen zerschlagen könnten, öffnet sich Elena einem Wesen, das mit seiner unvorhersehbaren Art, seiner Wildheit und Kraft alles symbolisiert und in strotzendes Leben verwandelt, was ihr in ihrer Enge fehlt. Während Sam sich trotzig rüstet, entschwindet Elena in einer beinahe entrückten Anbetung an ein Wesen, dass sich nicht fassen lässt. Was sich während der Lektüre abzeichnet, trifft ein; die Mutter stirbt, der Bär packt zu und nichts ist mehr so, wie es sich Sam über die letzten Jahre ausgemalt hatte. Das kleine Licht am Ende des Tunnels flackert bedrohlich.

Julia Phillips verwebt Geschichten, Stimmungen ineinander. Es gelingt ihr meisterhaft, das Geschehen mit einem grossen Mass an Sinnlichkeit aufzuladen, man scheint den Bären förmlich zu riechen. Aber das ist auch die Bedrohung, die Hilflosigkeit in Armut und Existenzängsten, die Trotzigkeit, die der Hoffnungslosigkeit entspringt, die Angst vor Einmischung und unsensiblen Behörden. „Cascadien“ ist ebenso Millieustudie wie Familienroman, Sozialdrama und ultimative Konfrontation. Da die Realität von Armut und Krankheit, hier das Archaische der Natur, dort das Märchenhafte, die Hoffnung auf Erlösung in einem Roman, der einem bis zur letzten Seite atemlos lesen lässt.

Julia Phillips, geboren 1988, lebt mit ihrer Familie in Brooklyn, New York. Ihr gefeiertes Debüt «Das Verschwinden der Erde» (2021) war ein SPIEGEL-Bestseller. Die Autorin schreibt u.a. für die New York Times, The Atlantic und The Paris Review und unterrichtet am Randolph College.

Webseite der Autorin

Pociao (Sylvia de Hollanda) übersetzte u.a. Paul Bowles, William S. Burroughs und Evelyn Waugh und gewann 2017 den Don DeLillo-Übersetzungswettbewerb.

Roberto de Hollanda übersetzte u.a. Almudena Grandes, Jack Kerouac und Eugenio Fuentes.

Beitragsbild © Nina Subin

«Wir machen Schluss mit allem und beginnen mit nichts von vorne.» (6)

Lieber Bär

Vielleicht beschreibt der 1719 erstmals erschienene Roman “Robinson Crusoe“ von Daniel Defoe mit dem heute seltsam anmutenden Originaltitel The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe of York, Mariner: Who lived Eight and Twenty Years, all alone in an un-inhabited Island on the Coast of America, near the Mouth of the Great River of Oroonoque; Having been cast on Shore by Shipwreck, wherein all the Men perished but himself. With An Account how he was at last as strangely deliver’d by Pirates. Written by Himself. („Das Leben und die seltsamen überraschenden Abenteuer des Robinson Crusoe aus York, Seemann, der achtundzwanzig Jahre allein auf einer unbewohnten Insel an der Küste von Amerika lebte, in der Nähe der Mündung des grossen Flusses Orinoco; durch einen Schiffbruch an Land gespült, bei dem alle außer ihm ums Leben kamen. Mit einer Aufzeichnung, wie er endlich seltsam durch Piraten befreit wurde. Geschrieben von ihm selbst.“) nicht nur einfach ein Abenteuer, sondern die Sehnsucht des Menschen nach einem echten, wahren, unmittelbaren, naturverbundenen Leben. Damals wie heute scheint Fortschritt eine stetige Entfernung von der Natur zu sein, eine immer grösser werdende Entfernung und Entfremdung.

Keine Kunstrichtung wie die Literatur versteht es so sehr, uns Menschen in einen Zustand zu versetzen, der uns aus unserem Leben, unserem Umfeld herausreisst, manchmal vielleicht sogar nachhaltig. Ich könnte eine ganze Reihe Bücher aufzählen, die mich in meinem Menschsein unmittelbar beeinflussten. Filme und Musik berauschen. Aber weil mich Bücher viel länger, über Tage oder gar Wochen begleiten, ist ihre Wirkung eine ganz andere. Ich bin überzeugt, dass ich als Vielleser ein anderer geworden bin, als der, der ich ohne die Literatur geworden wäre. Literatur wirkt unterschwellig, nicht wie ein halbstündiges Sonnenbad mit anschliessendem Sonnenbrand, sondern wie ein langer, guter Traum.

H. D. Thoreau «Walden oder Leben in den Wäldern», Diogenes Taschenbuch, 2007, übersetzt von Emma Emmerich, 352 Seiten, CHF ca. 17.90, ISBN 978-3-257-20019-5

Als Henry David Thoreau 1854 seinen zeitlich befristeten Ausstieg aus seinem Alltag, sein zurückgezogenes und reduziertes Leben in einer Blockhütte im Wald in seinem Buch „Walden“ veröffentlichte, wurde er zu einem der Begründer des Nature Writing. Eine Bewegung weit über die Literatur hinaus. Dass Nature Writing zu einem eigentlichen Bedürnis geworden ist, zeigt sich im durchschlagenden Erfolg der Schriftstellerin und Buchgestalterin Judith Schalansky, die mit ihrer Herausgeberschaft der „Naturkunden“ bei Matthes & Seitz nicht nur einen wirtschaftlichen Überraschungserfolg landete, sondern auf dem deutschsprachigen Büchermarkt eine regelrechte Welle von hochwertigen Naturbüchern mit literarischem Anspruch verursachte.

Delia Owens «Der Gesang der Flusskrebse», hanserblau, 2019, übersetzt aus dem Englischen von Ulrike Wasel, Klaus Timmermann, 464 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-446-26419-9

Aber auch Romane der Gegenwart spielen mit der Sehnsucht des Menschen nach unberührter Natur, Naturverbundenheit, den Auswirkungen von Klimaveränderungen und menschlicher Zerstörungen. Dass der Roman „Der Gesang der Flusskrebse“ von Delia Owens 2023 zu den bestverkauften Büchern gehörte, ist nicht nur der erzählten Liebesgeschichte und der überwältigen Kulisse zu verdanken. Delia Owens beschreibt eine junge Frau, die ganz mit der Natur lebt, die die einzige Liebe ohne Schmerz in der Natur findet. Ein Roman, der Sehnsüchte stillt und weckt.

Douna Loup «Verwildern»
Limmat, 2024, übersetzt von Steven Wyss, 152 Seiten, CHF ca. 30.–, ISBN 978-3-03926-070-6

Vor wenigen Tagen las ich „Verwildern“, die deutsche Übersetzung des Romans „Les Printemps sauvages“ von Douna Loup. Die Geschichte einer jungen Frau, die sich aus ihrem kleinen Paradies am Rande eines Sees vertrieben fühlt und auf die Suche machen muss, auf die Suche nach ihrem Bruder, ihrem Vater, sich selbst. Aber Douna Loup gelingt in ihrer fast märchenhaften Geschichte etwas, was in der Literatur nur ganz selten passiert. In ihrem Roman ist die Natur nicht bloss Kulisse. Sie schreibt nicht einfach eine Geschichte in sie hinein. “Verwildern“ ist auch als Schreibkonzept ganz wörtlich zu nehmen. Douna Loup schreibt aus der Natur heraus. Geschichte und Figuren treten nicht aus ihr heraus. Sie sind ineinander verschlungen. Die eigentliche Geschichte «verwildert». Ein betörendes Buch.

Ich bin gespannt auf deine Meinung!



Liebe Grüsse
Gallus

***

«Um jedoch auf meinen neuen Gefährten zurückzukommen, so gefiel mir dieser ausserordentlich» Daniel Defoe, Robinson Crusoe

Lieber Gallus

Dein letztes Schreiben hat mich erreicht, als ich am Packen war für eine Schiffsreise von Berlin nach Rügen. Zufall? Ich hatte die Lektüre von Lutz Seilers erstem Roman «Kruso» begonnen, um ihn auf dem Schiff fertigzulesen. Obgenannter Satz steht als Motiv vor dem Beginn.

Die Sehnsucht des Menschen nach einem wahren naturverbundenen Leben, die Entstehung des Nature Writing und die Beeinflussung der LeserInnen durch Bücher im Vergleich mit Musik sprichst du in deinem Schreiben an. Du erwähnst Daniel Defoe, Henry David Thoreau, Judith Schalansky, Delia Owens und Douna Loup.

Lutz Seiler «Kruso», Suhrkamp, 2014, 484 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-518-42447-6

Du forderst mich wieder einmal heraus, was ich sehr schätze, und ich habe viel nachgedacht. Dies unter dem Einfluss von «Kruso», der Geschichte einer ausserordentlichen Männerfreundschaft unter ausserordentlichen historischen Bedingungen, dies auf einer Insel in der Ostsee, ich selbst auf einem Schiff nach Rügen. Dabei konnte ich gut erahnen, was es bedeutet, in einem Land «gefangen» fern das unerreichbare «Land der Freiheit» zu erblicken. Nach der Wende und dem Verlust seiner Freundin sucht der Protagonist Edgar auf dem wilden Eiland zu sich selbst. Inseldasein, Wind, Wetter und Wellengang spielen eine wichtige Rolle, Nature Writing? Jedenfalls ein grossartiges Buch in einer poetischen Sprache.

Die Wirkung von Literatur und Musik sind für mich gleichwertig prägend und nachhaltig wirkend. Mich haben in den siebziger Jahren sowohl die Romane von Dostojewski als auch die Sinfonien von Bruckner stark beeinflusst. Bis heute beschäftige ich mich immer wieder mit beiden. Auf unserer Reise erlebten wir in Peenemünde (mir bisher unbekannt) eine Führung und ein Konzert in der Industriehalle bei der Heeresversuchsanstalt der Wehrmacht. Nicht «nur» Rausch, sondern ein unvergessliches, nachhaltiges Ereignis. Wort, Bild und Musik ergänzten sich fantastisch, diese Botschaft wirkt noch lange weiter.

An die Hoffnung ist ein Gedicht von Friedrich Hölderlin, das von Hanns Eisler vertont wurde. Hier sind die ersten Zeilen:

O Hoffnung! Holde, gütiggeschäftige!
Die du das Haus der Trauernden nicht verschmähst,
Und gerne dienend, zwischen Sterblichen waltest,
Wo bist du? Wenig lebt’ ich; doch atmet kalt
Mein Abend schon.

Die Versuchsanstalten Peenemünde waren von 1936-1945 das grösste militärische Forschungszentrum Europas. Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge mussten hier unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten und sind zu Tausenden verstorben. Lieder von Schubert, Eisler, Weber u.a. verbunden mit gesprochenen Texten von den damaligen Forschern und ArbeiterInnen wurden von einer Sängerin mit Klavierbegleitung tief bewegend vorgetragen, mit Bildern vom Krieg ergänzt. Sprache und Musik auf höchstem Niveau.

Barbara Berg, Sopran und David Santos, Klavier

Zuhause wartete das Buch «Verwildern» von Douna Loup auf mich. Obwohl müde von der Reise und sehr angesprochen vom Cover, begann ich die Lektüre. Wow! Eine neue Reise beginnt, unmittelbar bin ich in einer magisch-sinnlichen Welt. Wieder einmal hast du eine Rosine aus dem Literatur-Kuchen gepickt! Ich habe das erste Kapitel gelesen, bin hell begeistert. Und sie kommt nach Leukerbad! Wahrlich betörend. Gerne lese ich morgen weiter und freue mich auf die baldige gemeinsame Begegnung mit dieser Autorin in Leukerbad.

«Man muss durch den Abend wandeln und daran glauben, dass der Tag und das Morgengrauen kommen werden, man muss hinaus in die Nacht brüllen und den Mond lieben.»

Herzlich

Bär

Lea Draeger «Wenn ich euch verraten könnte», hanserblau

Über eine Seele, die Krebs hat

Fremd im eigenen Körper: In Lea Draegers Debütroman «Wenn ich euch verraten könnte» hört eine Dreizehnjährige aus Protest auf zu essen. Im Krankenhaus beginnt sie, ihre Familiengeschichte zu schreiben.

Gastbeitrag von Dario Schmid. Dario Schmid studiert Deutsche Philologie und Französistik an der Universität Basel. 

Es ist eine Geschichte über krebskranke Seelen und zerstörte Körper. Über gewalttätige Väter und sexuelle Übergriffe. Über Integration und Verrat. Über Streit, Strafe und Schweigen. Während die Ärzte darum bemüht sind, das Mädchen wieder gesund zu machen, bricht dieses mit seinem Schreiben das Schweigen. Jeder ihrer Einträge beginnt mit Über – und so erfährt man immer mehr über die generationenübergreifenden Abgründe einer Familie, die von dem Vater bestimmt ist.

«Es gibt keine Geschichten, die von den Frauen in meiner Familie geschrieben wurden. Es gibt nur die Geschichte, die der Vater geschrieben hat.»

Der Vater – das ist zunächst der Urgrossvater des Mädchens, der Suizid begeht, danach ihr Grossvater. Der Vater steht aber auch für die patriarchalen Strukturen, die sich von Generation zu Generation durch die Familie ziehen: Zu Hause gelten die Gesetze des Vaters. Da ist der Vater der Grossmutter, der seine Frau mit Worten, die Töchter mit dem Gürtel schlägt, ihre Körper nach fremden Küssen absucht – und mit seinen Fingern prüft, ob sich der dunkle Schlund geöffnet hatte. Da ist der ebenfalls schlagende Vater der Mutter, der seiner siebenjährigen Tochter zeigt, wie sie ihm als gute Frau sanft über die Haare streichen musste und als böse Frau die Beine zu spreizen hatte.

Der Vater der Dreizehnjährigen hingegen ist anders – er wird von seiner Frau betrogen und zieht sich im Dachboden zurück; er hat Angst, dass man ihn verlässt. Verlassen fühlt sich das Mädchen auch von seiner Mutter, die Scham und Fremde bedeutet: Die schöne Frau, die meist nur geschminkt aus dem Haus geht, zieht die Blicke anderer Männer auf sich; ihre Aussprache und ihr Pelzmantel verraten die tschechische Herkunft. Die Tochter aber will nicht auffallen, sie will normal sein – sie will nicht, dass ihre Mutter ihre Mutter ist. Einmal nimmt die Mutter ihre beiden Kinder mit zu einer Affäre. Zehn Jahre später sprechen diese über das Ereignis – und dann ist nichts mehr, wie es mal war.

All dies prägt das junge Mädchen: Zurück bleibt eine Jugendliche, die schweigt, hungert, in der Psychiatrie landet – und sich ritzt. Eine Jugendliche, die sich fremd in ihrer Familie und im eigenen Körper fühlt. Eine Jugendliche, die ihre Schönheit verliert und hässlich wird – und im Krankenhaus wieder schön werden soll.

«Ich werde irgendwann aus dem Krankenhaus entlassen. Ich werde nach Hause gehen, und alles wird so sein, wie es war. Ich meine, bevor ich hässlich wurde. Ich weiss, dass alle das erwarten.»

Lea Draeger «Wenn ich euch verraten könnte», hanserblau, 2022, 288 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-446-27286-6

Unter dem Vorwand, zeichnen zu wollen, erhält sie Stift sowie Papier und beginnt zu schreiben. So entsteht aus dem Schreiben über die familiäre Vergangenheit und den Beschreibungen zu ihrem Aufenthalt im Spital nach und nach eine Zeichnung, die das Jetzt und das Geschehene vereint. Ein kompositorisches Wechselspiel, das für Spannung und Abwechslung sorgt, aufgrund der ähnlichen oder gar identischen Verwandschaftsbezeichnungen und der vielen Spitznamen beim Lesen aber auch Konzentration erfordert.

Die Debütantin Lea Draeger präsentiert ein knapp 290-seitiges eindringliches Sprachwerk: Mit einfachen, aber passenden Worten malt diese lebendig wirkende, teils grässlich intensive Bilder. Die sprachlich schönen Sätze legen sich über die hässlichen Themen – sie sind die Schminke, die gleichzeitig be- und aufdeckt. Die schönen Sätze machen den hässlichen Stoff erträglicher. Und so huscht einem beim Lesen, trotzt der inhaltlichen Schwere, immer mal wieder ein leichtfüssiges Lächeln über das Gesicht.

Ein inhaltlich aufwühlender und wortgelungener Roman, der sich manchmal aber auch in Details verliert. Wer sich davon nicht einschüchtern lässt, darf sich auf eine Lektüre freuen, die ganz schön hässlich ist – aber auch hässlich schön.

(Dieser Text entstand im Rahmen eines Seminars zur Literaturkritik im Frühjahr 2022 an der Uni Basel, Seminarleitung: Daniel Graf, Literaturkritiker beim Republik Magazin.)

Lea Draeger studierte Schauspiel an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ in Leipzig. Sie arbeitet als Schauspielerin, Autorin und bildende Künstlerin. Seit 2015 spielt sie im Ensemble des Berliner Maxim Gorki Theaters, davor unter anderem am Schauspielhaus Bochum und der Schaubühne Berlin. Ihre bildnerischen Arbeiten wurden im 4. Berliner Herbstsalon, der Sammlung Friedrichshof und im Van Abbemuseum Eindhoven ausgestellt.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Kristin Rosenhahn

Alem Grabovac «Das achte Kind», Hanser

Alem Grabovac ergründet in seinem Debüt „Das achte Kind“ die Geheimnisse seiner Familien. Seiner Familien? Alem wächst als Sohn einer kroatischen Mutter und eines bosnischen Vaters bei einer deutschen Pflegefamilie auf. Zwischen zwei Welten, zwei Familien, eine Kindheit und Jugend lang mit dem Mythos eines unglücklich verstorbenen Vaters.

Alem Grabovac erzählt die Geschichte von Alem Grabovac, nennt dessen Geburtsmoment auf die Minute genau am 2. Januar 1974 um 17.13 Uhr. Damit gibt Alem Grabovac seinem Roman jene dokumentarische Note, die die Diskussion um Fiktion oder Realität vorwegnimmt. Vielleicht ist das auch Alem Grabovac Art an seine Lebensgeschichten heranzugehen, weil Alem Grabovac Journalist ist, den Fakten verbunden. Ob dem Roman diese Nähe gut tut, lässt sich schwer beurteilen. Zumindest ist die Sprache seines Romans eine ebenso dokumentarische, weniger eine literarische. Alem Grabovac zeichnet auf. Da ist in nur ganz wenigen Szenen, dann wenn über dem Dokumentarischen die Emotion heller zu leuchten beginnt, jenes Momentum erkennbar, wo die Sprache über die Szenerie hinauswächst. Aber das tut dem Buch keinen Abbruch. Vielleicht hätte man „Das achte Kind“ nicht als Roman deklarieren müssen. Aber eine blosse Reportage ist das Buch dann doch bei weitem nicht.

Alem Grabovac «Das achte Kind», hanserblau, 2021, 256 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-446-26796-1

Was diese Geschichte eines Mannes, der in zwei Familien gross und sozialisiert wurde, in einer kroatisch-bosnischen Familie, die gegen Armut und versteinerte Strukturen zu kämpfen hatte und einer urdeutschen, die hinter der Rechtschaffenheit den Alp einer braunen Gesinnung zu verbergen hatte, ausmacht, sind seine Gegensätze, die Kontraste, die Grund genug hätten sein können, ein Leben scheitern zu lassen. Alems Mutter Smilja heiratet einen Säufer und Kleinkriminellen. Und weil sie das Geld der Familie einbringen muss, ganztags arbeitet und ihrem Mann den kleinen Sohn nicht anvertrauen kann, gibt sie den kleinen Alem in die Pflegefamilie Behrens, als achtes und letztes Kind. Zuerst nur an den Wochentagen und als die Situation zwischen Smilja und ihrem Mann, Alems Vater immer und immer länger mehr eskaliert, dann nur noch in den langen Sommerferien, wo Alem gegen seinen Willen die Tage an der Seite seiner Mutter durchstehen muss. Männliche Gewalt, Saufexsesse, Lügen und permanente Angst prägen Alems Leben mit seiner Mutter. Aber auch das Leben in der Pflegefamilie leidet unter einem Alp, denn Robert, der Vater, der meistens in seiner Kammer sitzt und für Motorradmagazine schreibt, ist alles andere als zurückhaltend, wenn es darum geht, seiner Sympathie für braune Gesinnung und Verehrung für die nationalsozialistische Vergangenheit Luft zu machen. Was Alem als Knabe bewundert, Roberts Liebe für Panzer, Robert vernarbtes Loch an dessen Schulter, Roberts «glorreiche» Vergangenheit als Soldat bei der Wehrmacht wird mehr zu einer übel riechenden Schlangengrube, der sich Alem immer weniger entziehen kann.

Und doch ist „Das achte Kind“ nicht einfach eine Milieugeschichte nach dem Muster „Ein Mann will nach oben“. So wie die Gesellschaft im ehemaligen Jugoslawien nach dem Tod Titos auseinanderbricht, der einstige Vielvölkerstaat, den Tito zum Musterstaat erklärte und in den Jahren 1991 bis 1999 in einen wirren Krieg versinkt, so kämpfen Familien und Ehen an den steinernen Strukturen einer männerdominierten Gesellschaft. Und so wie sich die Gesellschaft in den 80ern und 90ern in Deutschland das Mäntelchen der Rechtschaffenheit und des immerwährenden Fortschritts jeden Abend zufrieden einbürstet, so tief verborgen sitzt die Lüge und die Unfähigkeit, der Wahrheit ins Gesicht zu schauen. Alem wächst in genau diesen Kräften auf, in Kräften, die die einen zerreissen und den anderen alles abfordern, um nicht unterzugehen.

„Das achte Kind“ ist eine offene und direkte Analyse einer Gegenwart, die allzu leicht verborgen bleibt.

Alem Grabovac, 1974 in Würzburg geboren. Mutter Kroatin. Vater Bosnier. Er hat in München, London und Berlin Soziologie, Politologie und Psychologie studiert und lebt mit seiner Familie in Berlin. Als freier Autor schreibt er unter anderem für Die Zeit, Welt, taz.

 

Beitragsbild © Paula Winkler

Beatrix Kramlovsky «Fanny oder Das weiße Land», hanserblau

Es steht geschrieben, dass der erste Weltkrieg von 1914 bis 1918 dauerte, vier Jahre. Das mag für Politiker und Diplomaten stimmen, von Kriegserklärung bis bedingungsloser Kapitulation. Aber ein Krieg beginnt lange vorher und endet vielleicht erst dann, wenn sich niemand mehr mit eigenen Erinnerungen darauf besinnen kann. Wenn jene Generation gestorben ist, die die Narben des Krieges durch ein ganzes Leben zu schleppen hatte. Beatrix Kramlovsky macht Erinnerung weit auf!

Ein maschinengeschriebenes Manuskript eines ehemaligen Berufssoldaten der österreich-ungarischen Armee findet den Weg zu Beatrix Kramloswsky. Nicht bloss ein Aufhänger, um eine Geschichte zu erzählen, sondern die real niedergeschriebenen Erinnerungen eines Mannes, der während des ersten Weltkriegs in russische Gefangenschaft gerät, und erst sechs Jahre später den Weg bis zurück zu seiner Familie in Wien fand. Die Geschichte eines Mannes, den Freundschaft und seine besonderen Fähigkeiten mit Pinsel, Stift und Schnitzmesser davor bewahrten, eines der vielen namenlosen Opfer zu werden, deren Knochen man irgendwo in Sibirien verscharrte.

Was als Typoskript für Enkelinnen und Enkel gedacht war, ist als „Fanny oder Das weisse Land“ eine in einen Roman gewandelte Geschichte eines Mannes, die in Erinnerung ruft, was den Menschen angesichts hoffnungsloser Umstände und unüberwindbarer Distanzen aufrecht erhalten kann. Eine Geschichte, die sich mit jeder kriegerischen Auseinandersetzung wiederholt, weil es nicht die Politiker, nicht die Privilegierten sind, die die Folgen eines Krieges auszubaden haben, seien die Kriege weltumspannend oder regional und kaum im öffentlichen Interesse, sondern die „kleinen Leute“.

Beatrix Kramlovsky «Fanny oder Das weisse Land», hanserblau, 2020, 272 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-446-26797-8

Karl und Fanny sind kleine Leute. Karl ist Berufssoldat. Nicht weil er Freude am Drill hätte oder als Held für die österreich-ungarische Monarchie aufsteigen möchte, sondern weil ihn sein Vater überredet, die Sicherheit einer militärischen Laufbahn zu wählen, statt jene eines brotlosen Künstlers. Und Fanny, die aus ganz einfachen Verhältnissen stammt, weiss ganz genau, dass man sie an der Seite eines Offiziers nie akzeptieren wird. Es reicht nicht einmal das Geld, um zu heiraten, obwohl mit dem kleinen Max die drei zu einer Familie werden. Doch Karl wird in den Krieg geschickt und findet sich als Kriegsgefangener wieder in Chabarowsk, nicht weit vom Japanischen Meer, am äussersten Zipfel Sibiriens, viele tausend Kilometer weg von Familie und Heimatstadt Wien.

Karl hat Glück im Unglück. Er ist unverletzt, zumindest äusserlich und kann im gleichen Lager seinen jüngeren Bruder Viktor in die Arme nehmen. Die beiden schliessen mit vier anderen Männern eine tiefe Freundschaft, eine Bande, die hoffen lässt, dass ein Fluchtversuch aus dem Lager erfolgreich werden kann. Chabarowsk liegt in den unsäglichen Weiten Sibiriens, eine Flucht quer durch den asiatischen Kontinent nur deshalb eine Option, weil das langsame Sterben im Lager mit seiner unstillbaren Sehnsucht hin zu seiner Familie nicht vereinbar ist.
„Fanny oder Das weisse Land“ ist die Geschichte dieser endlos scheinenden Odyssee Richtung Westen. Die Geschichte von vier Männern, die durch Freundschaft zu einer Art Familie werden, trennbar nur durch den Tod und durch die Hoffnung unterwegs ein neues Zuhause zu finden. Eine Reise zu Fuss, mit dem Zug, auf Karren durch die endlosen Weiten und Wirren eines Kontinents, der sich alles andere als menschenfreundlich zeigen kann.

Vielleicht ist ein Grund, warum Beatrix Kramlovsky die Geschichte dieses Mannes zu ihrer Geschichte machte, der Umstand, dass sie beide malen. Karl, der einstige Soldat und die Autorin selbst, die ihre Bilder immer wieder in Ausstellungen präsentiert. Karl und seine Freunde hätten die Reise niemals überlebt, wenn ihnen ihre Fähigkeiten nicht immer wieder Sonderbehandlungen ermöglichten; im Lager mit dem Schnitzen von Spielzeugfiguren, in den Dörfern Sibiriens mit Karls Zeichnungen und einmal gar mit einem Wandgemälde bei einer Mennonitengemeinde oder in den Gefängnissen als Porträtist. 

Mag sein, dass der Roman empfindlich nah an die Grenzen allzu pastellener Töne rutscht, dass der Roman das Gewicht einer Verantwortung mit sich trägt, jener eines „Erbes“ jener Familie gegenüber, die das Manuskript der Autorin anvertraute. Karl bleibt zu gut, scheint nie wirklich zu zweifeln, die Liebe zu seiner Fanny trotzt allem. Doch lohnt die Lektüre alleweil, denn sie provoziert die Frage, was denn wichtig sein muss im Leben, um dort zu überleben, wo der Tod zum allgegenwärtig sichtbaren Begleiter wird.

© privat

Beatrix Kramlovsky, geboren 1954 in Oberösterreich, lebt als Künstlerin und Autorin in Niederösterreich. Sie studierte Sprachen und veröffentlichte Kurzgeschichten, Gedichte und Romane. Ein Aufenthalt in Ostberlin (1987-1991) führt zu einem Publikationsverbot in der DDR. Sie wurde mit zahlreichen Preisen und Stipendien ausgezeichnet. 2019 erschien ihr Roman «Die Lichtsammlerin» bei hanserblau.

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Beitragsbild © Sandra Kottonau