Dana Grigorcea «Marieta»

Marieta war eine feine Dame aus Bukarest – Anwältin, wie ich von meiner Grosstante wusste –, und sie besass eine Ferienwohnung, Zaun an Zaun mit uns. Als ihr Mann erkrankte, erbarmt sie sich seiner, obwohl er sie ein Leben lang belogen und betrogen hatte. Das vertraute Marieta der schönen Frau des Zwerges an. Sie verliess also alles und zog mit ihrem Mann in das Ferienhaus hier „an der frischen Luft“. Sie war ihm ergeben, wie das ganze Leben schon, und bestand darauf, ihn ganz allein zu pflegen. „Eine junge Pflegerin ist das letzte, was wir jetzt brauchen“, sagte sie ihm.
Man sah sie im Salatbeet und bei den Kartoffeln, mit grosser Sonnenbrille und Hut, oder dann Tee trinkend, Sessel an Sessel mit ihrem Mann, an sonnigen und nicht ganz so sonnigen und dann schattigen Stellen im Garten; sie setzte die Rattansessel um, fast schon stündlich, „ein bisschen Abwechslung braucht man im Leben“, sagte sie ihm. Einmal die Woche fuhr sie in die Stadt, nach Bukarest, um Medikamente zu besorgen, berufliche Anfragen abzulehnen und die Wäsche von einer Haushälterin ihres Vertrauens waschen und bügeln zu lassen – sie schleppte stets einen schrankgrossen Koffer mit sich –, denn sie hatte selber nie einen Haushalt geführt, und auch wenn sie jetzt darauf brannte, solches zu tun, galt es, Prioritäten zu setzen.
Wie schlimm es um ihren prekären Haushalt stand, wurde sichtbar, als ein Baum heranwuchs mitten in ihrer Wohnung.
„Wollt ihr ihn sehen?“ fragte sie jeden, mit dem sie sich am Zaun unterhielt, und sie unterhielt sich liebend gern „am Zaun“, wie so viele Leute auf dem Land, legte sich eigens dafür eine entspannte Pose zu, breitbeinig, den Arm in die Hüfte gestützt, den anderen am Zaun angelehnt: „Schauen Sie bitte nicht auf meine Nägel, ich komme von den Kartoffeln.“
Der Baum sei eines Tages einfach da gewesen, in Kindesgrösse, sie habe ein Dokument gesucht in einer Schublade und dabei so einiges herumgeschoben, den Schrank und einen Kleiderständer, „stellen Sie sich vor“; ob man sich denn mit Bäumen auskenne? Es könnte sich hier um einen Maulbeerbaum handeln oder einen Kirschbaum, ja, zweifellos. Und jeder folgte natürlich ihrer Einladung. Wer hatte das schon erlebt damals, dass ein Baum wuchs in der Wohnung? In einer noblen Ferienwohnung dazu; dass ein Sprössling durchs gewichste Parkett spriesst, „ein Wunder der Natur!“
Auch mich hat sie eingeladen, den Baum zu sehen. „Sprich doch mit ihr“, hatte mich meine Grosstante ermutigt, „sprich einfach mit ihr, dann wird sie dich bestimmt einladen!“ Und so kam es auch. Ich war so aufgeregt und darauf bedacht, den guten Eindruck, den Madame Marieta stetig erwähnte von mir zu haben, weiterhin zu bestätigen, dass ich gar nicht richtig hinschaute, in der dunklen Ecke ihres Zimmers, und vielleicht hätte ich auch so nichts gesehen, bedenkt man, dass ich länger draussen gewesen war, in der Mittagssonne, und es dunkel war im Haus. „Siehst du es?“ fragte sie, und ich nickte erschrocken. Sie lachte und zupfte mich am Arm. „So wie du muss auch ich dreingeschaut haben, als ich es entdeckte.“
Nunmehr hielt Marieta nichts mehr auf dem Rattansessel, so ganz ohne ihren Mann; immer öfter stand sie auf und ging ins Haus, um nach dem Bäumchen zu schauen. „Was meinst du, dass es ist?“, soll sie ihren Mann öfters gefragt haben, aber der gab keine Antwort, und Marieta soll ihm da seine Krankheit verübelt haben, zumindest soll sie der schönen Frau des Zwerges gesagt haben, dass sich ihr Mann eine zu ihm „allzu passende“ Krankheit gewählt hatte, eine, die seine Charakterfehler als körperliche Gebrechen weiterführe. Und dennoch war sie ihm weiterhin treu ergeben und bereit, alles mit ihm zu teilen.
„Es ist ein Kirschbaum!“ verkündete sie ihm freudestrahlend, ihm und allen Nachbarn, und sie sprach von „unserem Kirschbaum“ und streichelte die lahme Hand ihres Gatten und setzte ihn im Garten um, beim kleinsten Windstoss setzte sie ihn um; und diese Geschäftigkeit liess sie sehr jung wirken – wie alt mochte sie damals gewesen sein? Ich weiss noch, wie ich ihre Kleider schön fand, geblümte Petticoats, wie man sie in ihrer Jugend getragen hatte, mit Punkten oder farbig bedruckt mit Obstmotiven. Die Madame lachte und war sehr vergnügt; sie habe es eigentlich im Gefühl gehabt, dass es ein Kirschbaum werden würde, ein Kirschbaum! Man stelle sich das vor!
Und dann beschloss die Madame, eine Lücke zu schlagen ins Dach, damit der Baum Licht bekomme und gut wachsen könne.
Der neue Bauplan wurde so schnell umgesetzt, dass nur wenige Nachbarn etwas davon mitbekamen, das natürlich mit Ausnahme derer, die zum Vorhaben beitrugen, selbsternannte Baumeister, die ansonsten Schichten schoben in der Papierfabrik; es ist nicht klar, wer was zu verantworten hatte, denn die Madame sprach ihren Baumeistern drein, stieg aufs Dach mit einer Küchenschürze über dem Kleid und einem Tuch um Kopf und Gesicht, wie eine Beduinin sah sie aus, und hämmerte mit, genau dort, wo andere gerade aufgehört hatten zu hämmern.
Und als alles fertig war, hatte der Baum Licht und Raum. Aber nach einigen Wochen stürzte das Dach ein. Es stürzte ein mitten in der Nacht, über Marietas Mann, den man aber wieder ausgrub und der ausser ein paar Kratzern keinen Schaden genommen hatte, zumindest dem Anschein nach, weil er wegen seiner Krankheit, über die man nichts Genaues wusste, ohnehin kaum sprach und meistens nur benommen lächelte.
Der Kirschbaum brach zwar entzwei, aber er wurde zusammengebunden, und bei dieser Gelegenheit auch gepfropft von der schönen Frau des Zwerges. Ich sah das Bäumchen zwischen den Trümmern, endlich sah ich es, und es mag wohl eine Verklärung der Erinnerung sein, dass ich es in der leuchtenden Abenddämmerung sah. Seine Ästchen glühten verheissungsvoll, ganz wie die knallroten Baukräne gegen den Bukarester Himmel.
Die Nachricht vom Dacheinsturz schien Marieta nicht aufzuwühlen, ihr Mann und das Bäumchen seien ja wohlauf, das Geschehene ein willkommener Ansporn, um mit der Arbeit anzufangen am ohnehin sanierungsbedürftigem Haus.
Als sie aus Bukarest zurückkehrte, Tage später, berief sie die selbsternannten Baumeister ein und beauftragte sie mit der Errichtung einer kleinen Holzbaracke mit Blechdach, drei Mal so gross wie die winzige Plumpsklohütte im Garten hinter den Salatbeeten, die sie nun ebenfalls hegen wollte. In der neu errichteten Holzbaracke zwängte sie ihre Matratzen und Decken und auch ihren Mann hinein, den sie lachend „Prinzessin auf der Erbse“ nannte. Und dann riss sie das Haus nieder – sie erledigte das fast ganz allein, zu delikat war ihr die Arbeit erschienen, so nah am Bäumchen.
Ich sehe noch, wie sie um die staubige Mauer herumlief, eine Küchenschürze über dem geblümten Sommerkleid, und mit einem kleinen Hammer gegen die Backsteine hämmerte; ein leises, unstetes Hämmern, sie hämmerte an alle Backsteine, die noch aufeinander standen, und dann hämmerte sie vorsichtig den Mörtel weg und wusch die Backsteine einzeln in einem kleinen Eimer. Ich mochte diesen Geruch, der sich aus ihrem Hof erhob, zusammen mit dem kalten Staub. Es roch erdig und nass, wie nach einem Frühlingsregen auf dem Land.
Ich begann, Madame Marieta öfter zu besuchen; und sie setzte mich in ihrer Nähe auf einen Campingstuhl, ich hatte eine Tasse Tee in der Hand, und wir führten angenehme Konversationen, worüber, habe ich vergessen, aber sie waren angenehm, und wir lachten viel dabei, denn Madame hatte einen feinen Humor, und ich weiss noch, wie sie damals anfing zu rauchen, insgeheim, beim kleinsten Geräusch aus der Holzbaracke schnippte sie die brennende Zigarette über den Zaun auf die Strasse und nahm kurzerhand ihr Hämmern auf, sie hämmerte leise und mit kleinen Gesten, als würde sie häkeln.
Auch andere Nachbarn kamen vorbei, meine Grosstante oder die schöne Frau des Zwerges erschienen öfter; und sie sassen auf den Campingstühlen und tranken Tee, während Madame leise weiterhämmerte und jede von Zeit zu Zeit angebotene Hilfe auf ihre sanfte, aber strikte Art ablehnte, „das ist doch nicht viel, ihr macht euch nur schmutzig.“
Irgendwann, und das unerwartet, war das ganze Haus weg und der Hof so geräumig, wie man es nie vermutet hätte.
Und Marietas Mann, der anfangs noch auf einem Sessel im Garten sass oder mit vorsichtigen Schritten zum Plumpsklo ging hinter die Salatbeete, kam gar nicht mehr heraus aus der Baracke. „Bleib drin, Lieber“ hatte ihn die Madame all die Jahre gemahnt, „wir haben hier überall eine Baustelle.“
Weil man ihn nicht mehr sah, vergass man ihn; die Erinnerung an ihn kam erst auf, als sich die Madame eine Heizung in die Baracke einbauen liess, nachdem ihr Mann im langen Winter zuvor so gefroren hatte, dass, ihrer Aussage nach, seine Finger und Zehen zunächst blau geworden und dann schnell abgefallen seien.
Hierzu muss ich sagen, dass ich die Madame nur in den Sommerferien erlebte und jeden Sommer nach der Fortsetzung ihrer Geschichte verlangte, so dass manche zum Zeitpunkt des Erzählens weiter zurückliegende Details der Geschichte – wie die mit den schnell abgefallenen Fingern und Zehen – weniger bannten als unmittelbar Erlebtes, etwa Madames kluges Verhandeln mit den Baumeistern um eine Heizung, die sie am Ende fast umsonst bekam.
In jenem Sommer war der Kirschbaum schon an die zwei Meter hoch gewachsen, und wir tranken unseren Tee auf den Campingstühlen in seinem Schatten, Madame Marieta, meine Grosstante, die schöne Frau des Zwerges und ich. Beim kleinsten Windstoss rauschten die Blätter wie Schellenringe. Marieta rauchte und liess dann die Hand mit der brennenden Zigarette hinter die Rücklehne hängen, eine Geste, die mir als Pubertierender ungemein imponierte. Beim Weggehen waren sich meine Grosstante und die schöne Frau des Zwerges stets darüber einig, dass Marieta eine feine und besonnene Frau war, wie es kaum noch welche gebe.
Ein oder zwei Jahre später zog Marieta nach Bukarest. Sie kam nie wieder zurück, ich glaube, ihr Mann war gestorben. Ihr Neffe zog hier ein dreistöckiges Ferienhaus hoch.

Dana Grigorcea, geboren 1979 in Bukarest, studierte Deutsche und Niederländische Philologie in Bukarest und Brüssel. Mit einem Auszug aus dem Roman «Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit» wurde Dana Grigorcea in Klagenfurt beim Ingeborg Bachmann-­Wettbewerb 2015 mit dem 3sat-­Preis ausgezeichnet. Ihr Erstling «Baba Rada. Das Leben ist vergänglich wie die Kopfhaare» ist im Oktober 2015 ebenfalls im Dörlemann Verlag neu erschienen. Nach Jahren in Deutschland und Österreich lebt sie mit Mann und Kindern in Zürich.

«Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen» auf literaturblatt.ch

Dana Grigorcea liest am 3. November im Theater 111 in St. Gallen mit dem Musikerduo «Stories»!

gezeichnet von Lea Frei am Wortlaut-Literaturfestival St. Gallen 2018

„Sodeli“, und dann wars vorbei, das 10. WORTLAUT-Literaturfestival St. Gallen

Auch wenn die Kälte noch immer im Schatten hockte und grosse grauschwarze Schneeberge mitten in der Stadt Saft liessen, war es neben der Sonne die Literatur, die am letzten Märzwochenende mein Herz erwärmte. Noch bevor an meinem Fenster zuhause der knorrige Aprikosenbaum zu blühen beginnt, schlug die Literatur aus, machte das Wort laut.

Die Zeichnungen, die diesen Text begleiten, sind von der Illustratorin Lea Frei, mit der ich an den kommenden Solothurner Literaturtagen die Veranstaltungen sowohl textlich wie zeichnerisch begleiten werde. Über die Resultate dieses spannenden Unternehmens wird auf literaturblatt.ch informiert.

Im Stundentakt schob sich Höhepunkt an Höhepunkt. Im grossen Saal im Waaghaus, fast versteckt im Splügeneck, mit Pastis in der Hauptpost, lautstark im Palace und der Grabenhalle. Da auch ich mich nicht zerreissen kann, war die Wahl zwischen „Laut“, „Luise“, „Rinks“ und „Lechts“, den vier zur Tradition und St. Galler Spezialität gewordenen Veranstaltungsreihen schnell gefällt. Von Tabea Steiner und Joachim Bitter souverän begleitet und moderiert, lauschte ich der Reihe „Luise“. Sechs Autorinnen und Autoren, die mit ihren Büchern eindrücklich bewiesen, dass Literatur fast alles kann; bezaubern, unterhalten, aufrütteln, verunsichern, beglücken und faszinieren!

Sechs Bücher, die es unbedingt zu lesen lohnt:

Auch in seinem zweiten Band zu den „Menschlichen Regungen“ von Tim Krohn begleitet mich bekanntes Personal aus dem ersten Band „Herr Brechbühl sucht eine Katze“. Herr Brechbühl wohnt noch immer alleine im Erdgeschoss eines Zürcher Mietshauses, wo ihm das kleine Mädchen aus der vierten Etage den Vorschlag macht, mit ihrer Familie die Wohnung zu tauschen, weil ihre Mutter im vierten Stockwerk keine Katze haben wolle. Er brauche die Wohnung im Erdgeschoss, die so praktisch wäre, doch gar nicht dringend, er könne ja auch ein paar Treppen weiter oben alt werden und sterben. Aber Herr Brechbühl will nicht in die vierte Etage, aber vielleicht eine Katze. Und auf der Suche nach einer solchen findet er Samira, eine Frau, die aus der Raupe Brechbühl einen Schmetterling zu machen versteht. Eine Frau, die Brechbühl nicht nur aus seinem Panzer schält, ihn regelrecht ins Leben zieht, in eines mit Geistern, Zeichen, Räucherstäbchen und Gestalten aus dem Reich der Toten. „Erich Wyss übt den freien Fall“ ist ein Roman, der köstlich unterhält, geschrieben von einem Autor, der nicht einfach mit menschlichen Regungen spielt, sondern meisterlich konstruiert und fabuliert.

Jens Steiner hält der Gesellschaft einen Spiegel vor Augen. Auch ihrer Augenwischerei, wenn man sich mit einem Ranking der Recycelns den uneingeschränkten Konsum zu erleichtern versucht, um all jene Leerstellen, die das immerwährende Entsorgen bringt, möglichst schnell wieder mit „Neuem“ aufzufüllen. „Mein Leben als Hoffnungsträger“ ist aber mehr als ein Abenteuerroman auf einem Recyclinghof. Philipp, der junge Mann, der sich dort anstellen lässt, ist, so angepasst sein Leben und Tun an jenem Ort scheint, ein „Verweigerer“. Einer, der sich dem Würgegriff von Leistung, Besitz und Fortschritt verschliesst und verweigert, der einen Kampf auszustehen hat mit sich selbst und seiner Umgebung. Jens Steiner leuchtet das Kleinräumige aus.

In „Max“ lässt sich Markus Orths Zeit mit Erzählen. Er hangelt sich nicht von einem zu nächsten Cliffhanger, die man als Leser unbedingt aufgelöst haben will. „Max“ ist aber auch mehr als eine Künstlerbiographie über den Maler Max Ernst, ein Buch, das vergöttert und verehrt, einen Künstler auf einen steinernen Sockel hebt. „Max“ ist ein Sittengemälde einer verrückten Zeit, über einen „verrückten“, aber keineswegs entrückten Künstler. Sechs mit den Musen seines Lebens überschriebene Kapitel, sechs Frauen, die ein wildes Leben begleiteten. Vor Beginn seines Romanprojekts habe er nicht mehr als zwei, drei Bilder des Künstlers gekannt. Erst durch die Auseinandersetzung über einen Schreibauftrag wurde er der Fülle gewahr, die das Leben und Schaffen Max Ernsts ausmachte. Markus Orths las jene Szene aus seinem Roman, als der Medizinstudent Max Ernst an einer Ausstellung in einer Nervenheilanstalt mit Werken von Insassen Henrik begegnet, einem Mann, der aus Brot Plastiken formt, die immer und immer wieder die Auseinandersetzung mit einem übermächtigen Vater zeigen. Max Ernst geht nach Haute und schreibt: „Ich werde malen, sonst nichts!“

Wazlaw, ein nicht mehr junger Mann, ein Heimatloser, ein Arbeitsmigrant, folgt dem Drift, immer auf der Suche, einer unendlichen Heimatsuche. Ein Leben, das in der Schwebe bleibt, ein Roman, bei dem vieles in der Schwebe bleibt, keine einfache Geschichte, so wie das Leben nie einfach ist. Ein Bohren in tiefe Schichten, in die Sedimente des Lebens. Anja Kampanns grosse Kunst ist die Sprache, das, was sie in ihrem ebenfalls bei Hanser erschienen Gedichtband „Proben von Stein und Licht“ (Als wären die Gedichte Gesteinsproben des darauf folgenden Romans!) aufs eindrücklichste bewies. Eine Sprache, die sich dem chronologischen Erzählen verschliesst, viel mehr sein will als das Nacherzählen einer Idee, einer Geschichte. Es sind Bilder, die durch alle Sinne dringen, klar gezeichnet und doch mehr als nur abbildend. „Wie hoch die Wasser steigen“ ist ein Buch, das man nicht in allem zu verstehen baucht, genau so, wie man Schostakowitsch niemals als Ganzes verstehen kann. Es ist, als stünde man ganz nah an einem riesigen Gemälde. Man sieht Farben, Punkte und Linien, den Pinselstrich und weiss, das nichts dem Zufall überlassen wurde. Erst in der Distanz, mit der Dauer des langsamen Lesens wird das Ganze sichtbar, das viel mehr ist als eine Geschichte.

Fast voll war der Saal bei Dana Grigorcea! Sympathien stürmten wie Fruchtfliegen auf die Frau mit den Fingernägeln im gleichen Rot wie das schmale Büchlein, das von so viel Leidenschaft erzählt. Nach dem letzten Roman „Das primäre Gefühl von Schuldlosigkeit“, einem Stadtroman, einem Roman über Herkunft, episodisch erzählt, war es die Lust auf eine Liebesgeschichte mit viel „Zug“, eine Geschichte, die in Zürich spielt. Auch ein Experiment, ob die gewonnenen Leser/innen ihrer letzten beiden Romane, die miteinander verwandt sind, ihr mit einer Liebesgeschichte folgen würden. „Schreiben am Scheitern vorbei.“ „Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen“, eine Tänzerin, die den Zenit ihres Erfolgs bereits überschritten hat, die einst mehr war, als sie zu erhoffen gewagt hatte, eine Ballerina. Eine Liebe zu einem Fremden, einem verheirateten Kurden, einem Mann, der sich sonst nicht in ihren Kreisen bewegt. Eine scheinbar leichtfüssige Novelle „in einer der schönsten Städte der Welt, mit freundlichen, sorglos wirkenden Menschen“.

Und zuletzt Nicol Ljubić. 1977 brennt Hartmut Gründler lichterloh. Ein Mann, der über lange Zeit unauffällig zur Untermiete im Haus der Familie Kelsterberg lebt. Eine Geschichte zum einen aus der Perspektive des zehnjährigen Sohnes der Familie und Jahrzehnte später aus der Rückschau desselben bei den Besuchen bei einer alt gewordenen Mutter. Damals, 1977, war Hanno Kelsterberg nicht nur Zeuge zunehmender Radikalisierung im Protest Hartmut Gründlers, sondern Zeuge einer «tektonischen Verschiebung» innerhalb der Familie, einer schmerzhaften Entfremdung der Eltern, der Emanzipation seiner Mutter, dem Abfallen seines Vaters. Drei Jahrzehnte später besucht Hanno seine greise Mutter. Die Katastrophe von Fukushima ist für die Mutter keine Keule einer falschen Atompolitik, sondern logische Konsequenz und damit lang erwartete Bestätigung für den Kampf Hartmut Gründlers, eines verkannten Messias. „Ein Mensch brennt“ ist provokant und mit politischem Ausrufezeichen geschrieben über ein vergessenes Kapitel deutscher Geschichte.

 

 

 

 

Den Organisierenden meinen grossen Dank und tiefen Respekt. Vor allem Joachim Bitter, Mitinitiant, Moderator und Literaturfreund aus Leidenschaft!

Dana Grigorcea „Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen“, Dörlemann

Eine Novelle über den Beginn einer Liebe. Die transformierte Geschichte Anton Tschechows „Die Dame mit dem Hündchen“, die er 1899 schrieb, in die Gegenwart, nach Zürich versetzt. Eine zufällige Begegnung, die offenlässt, ob es ein grosser Beginn oder schon das leise Ende ist.

Ein warmer Frühlingstag am See. Hungrig nach Sonne und Wärme sitzen die Menschen in Cafés und spazieren an der Seepromenade. An einem der Tische treffen sich Anna, die Ballerina, mit ihrem Hündchen und Gürkan, der Gärtner. Sie verheiratet mit einem Arzt, er, ein Kurde, vor vielen Jahren mit seiner Familie aus der Türkei in die Schweiz gezogen. Sie beide in einer Atempause. Entgegen ihren Gewohnheiten wird aus der Zufälligkeit ein gemeinsamer Spaziergang, bei dem Anna nicht nur zuhört. Gürkan fasziniert; sein Gesicht, seine Stimme und die scheue Art, die ihn von den sonstigen Avancen anderer Männer abhebt. Anna fühlt sich hingezogen, nicht nur weil er jünger als sie zu sein scheint. Sie treffen sich wieder, immer wieder, fast jeden Tag. Gürkan entschuldigt sich für seine Küsse. Während er sich immer tiefer in den Zwist mit seinem Gewissen manövriert, treibt es Anna immer offensichtlicher hin, ihre Leidenschaft für diesen Mann in die Öffentlichkeit zu tragen. Während es Gürkan zu zerreissen droht, provoziert sie immer offensiver das Schicksal. Etwas, was auch ihr Mann spürt und die Umgebung an Ihrem Arbeitsplatz. So sehr, dass sie unverhofft zu einem vielleicht letzten Engagement als Primaballerina kommt. Noch einmal eine Hauptrolle. Gürkan droht in seinem inneren Zwist zu versinken, während der Stern Annas noch einmal alles überstrahlen soll.

Und trotzdem; Anna fragt sich „War sie denn wirklich verliebt?“ Ein Mann nur Mittel zum Zweck? Ein Spiel? Irgendwann taucht Anna am Wohnort Gürkans auf, in einer Gegend mit Wohnblöcken. Einmal provoziert sie ein Treffen mit ihm und seiner Frau auf einem Flohmarkt in seinem Wohnort. Ein Treffen, das ihr zu gefallen scheint, während es ihn in Panik versetzt.

“Die Dame mit dem Hündchen“ von Anton Tschechow ins Jetzt versetzt. Die Gewichte sind vertauscht und doch bleibt in der Novelle von Dana Grigorcea viel vom Liebreiz Tschechows Novelle. Eine Lektüre für einen Abend. Als hätte ein Musiker ein Stück neu arrangiert. Die Liebe zweier Menschen, die zur Lüge zwingt.

Herausgegeben vom Dörlemann Verlag in Zürich, einem Verlag, der sich in ganz besonderer Weise um das gute und schöne Buch bemüht. Ein Verlag, der der Novelle „Die Dame mir dem maghrebinischen Hündchen“ mit viel Mut schon jetzt das Kleid eines „kleinen“ Klassikers gibt. Mit Sicherheit ein Geschenk an die Stadt Zürich. Ein Buch wie ein Spaziergang im Frühling am See.

Dana Grigorcea liest im Rahmen der von Christian Berger und mir organisierten Lesereihe mit jungen Schweizer Autorinnen am Samstag, den 3. November 2018, 20 Uhr, im Theater 111, in St. Gallen. Für weitere Informationen klicken Sie hier.

Dana Grigorcea, geboren 1979 in Bukarest, studierte Deutsche und Niederländische Philologie in Bukarest und Brüssel. Mit einem Auszug aus dem Roman „Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit“ wurde Dana Grigorcea in Klagenfurt beim Ingeborg Bachmann-­Wettbewerb 2015 mit dem 3sat-­Preis ausgezeichnet. Ihr Erstling „Baba Rada. Das Leben ist vergänglich wie die Kopfhaare“ ist im Oktober 2015 ebenfalls im Dörlemann Verlag erschienen. Nach Jahren in Deutschland und Österreich lebt sie mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Perikles Monioudis, und Kindern in Zürich.

Drei Tipps aus dem Koffer!

Nach drei Tagen literarischem Dauerfeuer bleibt die Frage, was geblieben ist, was bleiben wird, was überrascht hat und Lust auf mehr machte. Man spürte das Bemühen der Festivalleitung, frischen Wind und frisches Blut zuzulassen, die Bühnen aufzutun, sich selbst und den Besuchern zu beweisen, dass der Literaturbetrieb kein in sich geschlossener Club ist.

Auch wenn Terézia Mora, die Preisträgerin des diesjährigen Solothurner Literaturpreises und «herausragende Autorin des 21. Jahrhunderts» bei einem Gespräch meinte, Literaturtage wie diese seien schon eine schweizer Spezialität. Nur schon wegen seiner Grösse und der schieren Masse an Schreibenden sei in Deutschland eine vergleichbare Veranstaltung unmöglich. So sind die Solothurner Literaturtage alles; ein «Familientreffen», bei dem man höflich beiseite rückt, wenn sich Peter Bichsel an den langen Tisch vor dem Restaurant Kreuz setzt, grosse Bühne, wenn Autoren wie Terézia Mora, Alex Capus oder Franzobel lesen oder Bühne für fast alle, die sich trauen, auch wenn dann kaum jemand zuhört.

In meinem Koffer, den ich voller wieder mit nach Hause trug, sind drei Überraschungen, drei Bücher, die ich noch nicht gelesen habe, die mich aber nach Lesungen und Gesprächen nicht nur neugierig machen, von denen ich jetzt schon weiss, dass sie mich überzeugen werden.

«Seit ich fort bin» von Henriette Vásárhelyi   Mirjam packt ihre Koffer. Sie reist zur Hochzeit ihres Bruders, zurück in ihre Heimatstadt. Mit im Gepäck fahren viele Erinnerungen, Erinnerungen an Verlorenes, Erinnerungen, die Mirjam nicht loslassen. Erinnerungen an eine Freundin, die sie verlor, Erinnerungen an eine Heimat, ein Land, das es so nicht mehr gibt. «Der Schmerz ist nicht der, dass es gute und schlechte Erinnerungen gibt, sondern dass man sie nicht wirklich teilen kann.» Ein Roman über eine Freundschaft, die Spuren in Tagebüchern zurückliess, über zwei Menschen, die sich im Sumpf der Erinnerungen verloren, obwohl sie sich zu retten versuchten. Ungeheuer stark in ihrer Sprache! Mehr als der Beweis dafür, dass der Platz auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises mit ihrem Debütroman «immeer» kein Zufall war. Beide Romane sind im Dörlemann Verlag Zürich erschienen, dem «Verlag des Jahres 2017»

«Tram 83» von Fiston Mwanza Mujila   Der Autor ist 1981 in Kongo geboren und lebt seit 2009 in Graz, wo er afrikanische Literatur an der Universität unterrichtet. Fiston Mwanza Mujila nennt seinen ersten Roman «ein Buch über die Liebe und die Einsamkeit». Eine heruntergekommene afrikanische Grossstadt, in der jeder nur das eine Ziel hat; möglichst schnell viel Geld machen, egal wie. «Tram 83» ist der einzige Nachtclub in der Stadt, die Bühne seiner Geschichte. Ein Schmelztiegel, eine Hölle, ein Pulverfass, ein Nabelloch, wo sich zwischen Verlierern und Gewinnern, Profiteuren und Prostituierten, Ex-Kindersoldaten und Studenten zwei ungleiche Freunde wiedertreffen; Lucien, der Schriftsteller und Requiem, der Gauner. Auf der Bühne des Solothurner Stadttheaters spielte, sprach, schrie, lachte und sang der Autor seinen Text. So ganz anders als die teils steifen Wasserglaslesungen, die sich zur Pflichtübung reduzierten. Fiston Mwanza Mujila lebte seinen Text, machte sich zum Instrument, stülpte sein Inneres nach Aussen, an diesem Nachmittag nur duch ein Saxophon besänftigt.

«Das Floss der Medusa» von Franzobel   8. Juli 1816: Vor der afrikanischen Westküste werden 15 von ursprünglich 147 Menschen, die nach einer Schiffskatastrophe auf einem 20 Meter langen Floss überlebten in ein rettendes Schiff geborgen. Nach zwei grauenhafte Wochen, langes, unsägliches Leiden und Sterben. Franzobel selbst ist eine Landratte, nicht nur weil Österreich an kein Meer mehr grenzt, aber fasziniert vom Schrecken und Ekel, von Extremsituationen, wenn Grenzen gezogen werden, Gruppen sich gegenseitig bedrohen und über sich herfallen, wenn hinter Fassaden der Moral, die Situation zu kippen beginnt. Fast unglaublich ist die Tatsache, dass der Stoff auf den Schriftsteller Franzobel zu warten schien und verstörend, weil nichts am Schrecken der Geschichte erfunden werden muss, denn alles ist durch zwei Überlebende der Schiffskatastrophe historisch verbürgt. Gewartet hat der Stoff, weil der Schrecken und die Brutalität der Geschehnisse nur durch die Überzeichnung ins Groteske zu ertragen sind. Etwas, das Franzobel als Fähigkeit auf den Leib geschnitten ist.
Der Skandal ist nicht, dass die Überlebenden aus purer Verzweiflung auf dem Floss das Fleisch der Leichen assen, sondern, dass schon nach 50 Stunden genau jene Moral unterging, die die europäischen Siedler nach Afrika bringen sollten. Wer überlebt ein solches Drama? Welcher Typ Mensch? Ist es der Charakter oder schlicht die Aufgabe eines Menschen, so wie auf dem zurückgebliebenen Wrack des Schiffes, auf dem drei Matrosen überlebten, zwei dem Wahnsinn verfielen und der dritte bei Sinnen blieb, weil er die Verrückten an den Masten band und es sich zur Aufgabe machte, sie nicht sterben zu lassen.
Franzobel fabuliert lustvoll, virtuos und üppig, sich an den Szenen erlabend, stets mit dem Blick des Betrachters aus dem 21. Jahrhundert. Franzobel suhlt sich in Gerüchen, dem Gestank auf dem Schiff, den Leiden der Passagiere. Zugedröhnt von Wohlleiblichkeit wühlt Franzobel in der menschlichen Hinfälligkeit. Ekel, Schreck und Katastrophe sind nur durch Humor zu ertragen. «Humor ist die einzige wahre Religion der Ungläubigen.»
Man kann Franzobels «Das Floss der Medusa» als Abenteuer- oder Katastrophenroman lesen. Genauso gut aber auch als Allegorie auf unsere Zeit. Ein pralles Buch, vielleicht Franzobels Opus magnum.

Titelfoto: „Dokumente“ ©️ Philipp Frei