Artur Klinaŭ, Schriftsteller, Architekt, einer der wichtigsten Künstler Weissrusslands ist Stipendiat der Kulturstiftung des Kantons Thurgau, lebt und arbeitet während zweier Monate im Literaturhaus Thurgau. Zusammen mit Moderator Ulrich Schmid, Professor an der HSG und der Vorleserin Rebecca C. Schnyder, las und diskutierte er auf der Bühne des Literaturhauses Thurgau.
Artur Klinaŭ bezeichnet seine Aufenthalte im Ausland, ausserhalb seiner Heimat Weissrussland, nicht als Exil, sondern als Durchgangsreise. Auch wenn es unmöglich scheint, in nächster Zeit gefahrlos in seine Heimat zurückzukehren, verströmt Artur Klinaŭ ungeheure Zuversicht, erst recht, weil er seinen klaren Blick nicht verliert und es versteht, auf dem Boden einer ernüchternden Realität die Hoffnung nicht zu verlieren.
Offener Künstler in einer Diktatur zu sein, ist schwierig genug. Wenn Drohung und Verfolgung, Inhaftierung und Folter zur Tagesordnung werden, wird es immer schwieriger. Bis zu den Massenprotesten in Weissrussland 2020 war es im kleinen Kreis noch möglich, sich kritisch dem Regime gegenüber zu zeigen. Seit der blutigen Niederschlagung dieser Proteste aber hat sich das geändert. Für einen einzigen, falschen Satz kann man im Gefängnis landen.
Artur Klinaŭ nennt den weissrussischen Diktator Alexander Lukaschenka in seinem Buch „Acht Tage Revolution. Ein dokumentarisches Journal aus Minsk“ kein einziges Mal mit seinem Namen, bloss Batka. Sein Buch ist Auseinandersetzung und Abrechnung zugleich, ein Versuch der Einordnung, ein Protokoll der Suche nach seiner für Tage verschwundenen Tochter. Artur Klinaŭ ist davon überzeugt, dass eine Revolution in Weissrussland in der gegenwärtigen Lage aussichtslos wäre. Viele Stimmen im Land sind zwar laut, aber nur die wenigsten haben einen „Plan“, wie eine Zukunft in einem ganz anderen System aussehen müsste, allen voran die Opposition unter Swetlana Tichanowskaja, wo mit Slogans den Menschen in diesem leidgeprüften Land nur der „Kopf verdreht“ wird. Russland würde einen „aufmüpfigen“ Nachbarn sofort schlucken, zumal Weissrussland sich nicht dagegenstellen könnte, auch wenn viele in der protestierenden Masse aufrichtig beseelt waren von den Ideen einer Revolution.
Die Verhaftungen in Weissrussland sind willkürlich, die Gefängnisse voll, die Justiz systemgesteuert, Verurteilungen ein Hohn. Erfahren musste das auch Ales Beliazki, Menschenrechter und Friedensnobelpreisträger, der mehrfach festgenommen, immer wieder verurteilt und inhaftiert wurde. Nicht nur die Gassen im Regierungsviertel der Hauptstadt Minsk sind Sackgassen. Artur Klinaŭ nennt selbst die Architektur in seiner Hauptstadt, eine Retortenstadt, die nach dem 2. Weltkrieg fast vollkommen zerstört war, kafkaesk, „Realität in permanenter Katastrophe“, mit totalitärer Struktur, ohne jeden Raum für Individualität. Diktator Alexander Lukaschenka sträubt sich gegen jede Veränderung, eine Tatsache, die sich bis in die staatsgestützte Kunst spiegelt.
Der Abend mit Artur Klinaŭ hinterliess ein beklemmendes Gefühl, etwas Lähmendes. Bei mir nicht zuletzt darum, weil sich kaum jemand in der Schweiz bewusst ist, wie privilegiert ein Leben hier ist, in einem Land, in dem man sich über Nichtigkeiten echauffieren kann.
Der Abend war auch ein Gedenken an all jene, die in Diktaturen auf der ganzen Welt ihr Leben nicht leben können, weil ihnen mit Knüppeln diktiert wird.
Lukas Bärfuss: Belarus. 207000 Quadratkilometer, damit ungefähr viermal so gross wie die Schweiz. 9,4 Millionen Einwohner. Die Hauptstadt Minsk. Auf dem Index der menschlichen Entwicklung steht das Land auf Rang 53 von etwa 170. Unabhängigkeit seit 1991. Das erste Staatsoberhaupt Stanislau Schuschkewitsch ist im Mai 2022 gestorben. Seit 1994 ist Aliaksandr Lukaschenka an der Macht. Bei der Präsidentschaftswahl 2020 abgewählt, trotzdem an der Macht geblieben. Danach Proteste, Revolution, brutale Unterdrückung. Man geht von 33000 Verhaftungen aus. Und immer noch sollen mehr als 800 politische Häftlinge in den Gefängnissen sitzen.
Eine der Verhafteten war auch Marta, Artur Klinaŭs Tochter. Artur Klinaŭ ist Autor, Architekt, Architekturhistoriker, im deutschsprachigen Raum zuerst bekannt geworden mit einem Porträt der Sonnenstadt der Träume: «Minsk». Ein Buch, das tief in die europäische Geschichte führt, in den Traum des neuen Menschen, in den Stalinismus, in die Killing Fields.
Sie sind Herausgeber. Sie haben sich ein Künstlerdorf aufgebaut, und Sie haben gerade ein Buch publiziert «Acht Tage Revolution». Ein dokumentarisches Journal aus Minsk. Aber bevor wir über all diese Dinge reden, erlauben Sie mir zuerst eine persönliche Frage. Sie sind 1965 geboren. Wie war Ihre Kindheit? Wo sind Sie zur Schule gegangen? Aus welcher Familie stammen Sie? Was war Ihre intellektuelle, geistige Entwicklung?
Artur Klinaŭ: Ich hatte eine glückliche sowjetische Kindheit. Wie ich es in «Minsk. Sonnenstadt der Träume» beschreibe, bin ich in einem Land des Glücks und in einer Stadt des Glücks geboren. Und das war die Wahrheit, weil wir aufrichtig daran geglaubt haben, dass wir in dem besten, schönsten, fantastischsten Land leben.
In diesem Buch gibt es zwei Linien. Die eine Linie ist die Geschichte des kleinen Jungen, der eben im Land des Glücks aufwächst – und es geht dem Jungen da wirklich gut. Und die andere Linie, das ist die desselben Jungen als Erwachsener, der diese Stadt mit einer ganz anderen kritischen Optik betrachtet und feststellen muss, dass im Hintergrund des Glücks etwas ganz anderes war. Hinter der Schönheit, die sich als Dekoration entpuppt, findet er das Leid und die Schrecken der Realität.
Ich komme aus einer einfachen Familie: Mein Vater war Künstler, und zwar ein antisowjetischer. Er konnte gar nichts mit der sowjetischen Macht anfangen, und sein Dissidententum hat er in gewissem Sinne an mich vererbt.
Die Mutter war eine Kommunistin, eine leidenschaftliche dazu. Sie trat auf Parteitagen auf, hatte einen Posten inne, keinen hohen, aber immerhin. In dieser Familie einer Kommunistin und eines Antisowjetschiks verbrachte ich also meine glückliche Kindheit.
Lukas Bärfuss: Ich hatte bei meiner Frage natürlich einen kleinen Hintergedanken. Es ging mir vor allem um die Frage, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt. Und vielleicht kann ich das kurz auffächern: Es gibt die Behauptung, dass es am 24. Februar 2022 eine Zeitenwende gegeben habe, dass seither alles verändert sei. Und viele, wenn nicht alle Gewissheiten, die wir auf der politischen Ebene hatten und auf der wirtschaftlichen oder geostrategischen, nicht mehr gültig seien. Wie erleben Sie diese Veränderung in der westlichen Gesellschaft? Ich habe den Eindruck, dass Sie einen Vorsprung haben, dass Sie sehr viel früher diese Desillusionierung über das wahre Wesen der Diktatur und von Putin hatten.
Und noch eine kleine Ergänzung: Es gibt natürlich einen Zusammenhang zwischen der Situation in Belarus, Russland und der Ukraine. Wir können das nur in der Gesamtheit begreifen. Das ist das eine. Und das andere: Man spricht häufig von diesen Ländern als »in Osteuropa liegend«. Aber sie sind natürlich sehr zentral für die europäische Geschichte.
Artur Klinaŭ: Die Zeitenwende, von der heute so oft die Rede ist, muss man natürlich perspektivisch betrachten. Das war und bleibt ein Prozess, während dessen es einige Wendepunkte gibt. Wann dieser Prozess im Kopf von Putin bzw. in seinem System entstand, kann nur er selbst wissen. Ich weiss aber noch, wann ich diese Wende gespürt habe.
Es gab einige Stationen. Zu den ersten kann man zum Beispiel die Münchner Rede von Putin 2007 zählen, oder den Krieg in Georgien. Ich habe aber die Zeitenwende am deutlichsten 2014, mit der Okkupation der Krim und dem Krieg im Donbass gespürt.
Ich kann mich sogar sehr genau an diese Nacht erinnern. Das war im Frühling 2014. Auf einer Duma-Sitzung wurde der Beschluss verabschiedet, dass russische Truppen auch ausserhalb von Russland eingesetzt werden können. Da war mir klar: Die Welt wird nie mehr so wie früher sein. Die neue Epoche bedeutet die Rückkehr der Ordnung, in der keine Normen mehr gelten, keine Vereinbarungen, sondern nur das Recht des Stärkeren. Eine Katastrophe.
Vor diesen Ereignissen haben wir in dem Gefühl gelebt: Lukaschenkas System ist nicht gut, aber auch nicht auf Dauer. Irgendwann geht das vorbei. Und Belarus hat eine Zukunft.
Aber die Ereignisse im Donbass und auf der Krim vermittelten mir das Gefühl: Belarus ist als Nächstes dran nach der Ukraine.
Diese Erfahrung des Bruchs war sehr schwer für mich, das war eine echte existentielle Krise. Ich konnte gar nichts schreiben, da ich verstand, dass all meine Sujets im früheren, friedlichen Leben geblieben waren. Alles kippte um. So habe ich ein Haus in einem verlassenen Dorf gekauft und begann das Künstlerdorf Kaptaruny aufzubauen. Das war eine Art Flucht für mich. Ich wollte vor dem Krieg fliehen, was mir aber nicht gelungen ist.
Lukas Bärfuss: Waren Sie damals alleine mit diesem Bewusstsein, mit diesem Wissen, mit diesen Einschätzungen? Oder war das eine verbreitete Ansicht über die Zeit?
Artur Klinaŭ: Ich denke, das haben alle gespürt. Selbst die belarussische Macht hat das gespürt. Zum ersten Mal haben Sie damals ernsthafte Versuche unternommen, sich mit dem Westen anzufreunden und gewisse Garantien vom Westen zu bekommen. Und eine Zeit lang lief das gut. Belarus driftete nach und nach in Richtung Europa und das war ein sehr positiver Prozess. Dann kam dieser Prozess zum Stillstand 2020, mit der Revolution in Belarus.
Das ist kein einfaches und kein eindeutiges Thema. Vielleicht enttäusche ich jetzt viele, aber ich muss sagen, dass ich dieser Revolution von Anfang an mit grosser Skepsis entgegenblickte. Zu risikoreich war die Situation für das Land. Ich wusste, das wird kein gutes Ende nehmen. Erst jetzt wird deutlich, dass das ebenso zu dem grossen Plan des Kremls gehörte.
Lukas Bärfuss: Ich möchte noch kurz einen Schritt zurückgehen: Sie haben gesagt, dass es ein Bewusstsein gab 2014, dass sich etwas verändert hat, sogar in der belarussischen Führung. Wollen wir jetzt versuchen, das extrem komplizierte Verhältnis vom Regime in Belarus zu jenem in Moskau noch ein bisschen zu erörtern?
Artur Klinaŭ: Das ist ein sehr komplexes Thema, die Beziehungen zwischen Belarus und Russland. Man muss vor allem sagen, dass die Gefahr einer Vereinnahmung, auch vor 2014 schon da war. Allerdings waren die Methoden damals anders. Da hat man eine Inkorporierung durch politische Vereinbarungen und durch Wirtschaft angestrebt. 2014 entstand die Gefahr, dass die Inkorporierung ohne jeglichen rechtlichen Rahmen verläuft, als direkte Annexion. Belarus musste die ganze Zeit vor dem Maul des Raubtiers balancieren.
Dabei hatte Belarus nie so viel Potenzial, sich zu wehren, wie es mit der Ukraine der Fall ist. Auch wenn das unglaublich schwer ist, aber die Ukraine hat eine Chance, der russischen Expansion Widerstand zu leisten. Im Fall von Belarus ist diese Chance gar nicht gegeben. Das Land ist 16 Mal kleiner als Russland, die Eroberung wäre blitzschnell gegangen.
Der einzige Weg, den ich für Belarus sah, war der Weg einer Evolution, einer schrittweisen Bewegung Richtung Westen. Nach und nach. Und deswegen war ich sehr skeptisch, als die Revolution 2020 kam, weil ich an die schrittweise Annäherung an den Westen geglaubt habe, eine Annäherung auf allen Ebenen, auf der Regierungsebene, auf der gesellschaftlichen Ebene etc.
Die belarussische Revolution hatte gar keine Chance, zu gewinnen. Auch wenn wir uns hypothetisch vorstellen, dass das Regime gefallen wäre, wären die russischen Truppen doch einmarschiert.
Lukas Bärfuss: Aber es gab ja diese Wahlfälschung und das war nicht die erste Wahlfälschung. Und die Repressionen waren ja auch nichts Neues. Was ist in diesem August 2020 passiert? Was ist dann passiert, dass die Menschen in Belarus diese Situation nicht mehr akzeptiert haben, wie bei den Wahlen zuvor? Was war in diesem Moment anders, dass das zu dieser Revolution gekommen ist?
Artur Klinaŭ: Wenn es um die belarussische Revolution geht, ist es notwendig, zwei Linien auseinanderzuhalten. Zum einen das Szenario, das vom Kreml bzw. von kremlnahen Kreisen inspiriert wurde, eine Art gelenkte, kontrollierte Revolution. Und die zweite Linie bilden die Ereignisse nach den Wahlen, die keiner Kontrolle unterlagen, und die Reaktion auf die Gewalt waren.
Es ist schwer, darüber zu sprechen, weil es in der Revolution natürlich viele Menschen gab, die ganz aufrichtig dabei waren, die sich von der Macht sehr gekränkt fühlten und empört waren. Auch wenn sie die Gefahr seitens Russlands sahen, konnten sie nicht schweigen, sie mussten auf die Strasse gehen.
Aber im Frühjahr 2020 war es für mich offensichtlich, dass der Kreml eine Destabilisierung in Belarus anstrebt. Er wollte die Annäherung von Belarus an den Westen unterwandern und das Land fest an Moskau binden. Aber nicht alles ist gelungen. Der Aufstand an sich konnte wie gesagt vom Kreml nicht kontrolliert werden. All die Zusammenhänge sind sehr komplex und verwoben.
Das war ein klassisches Schema, das seit Jahrtausenden von Imperien benutzt wird. Das Prinzip heisst »teile und herrsche«. Der Kreml wollte sowohl die belarussische Gesellschaft als auch die Macht schwächen, um diese Territorien an die ehemalige Metropole zu binden.
Lukas Bärfuss: Erlauben Sie mir einen ganz kurzen Ausflug in ein mir persönlich sehr am Herzen liegendes Terrain, nämlich die Sprache. Sie beschreiben sehr anschaulich, was mit der Sprache in einer Diktatur passiert. Die Sprache der Diktatur selbst. Welche Funktion hat die Sprache in einem solchen Moment? In einem solchen Regime? In einer solchen revolutionären Situation?
Artur Klinaŭ: Ich hatte das Glück, sozusagen in zwei totalitären Systemen zu leben. Und ich kann sagen, dass die Sprache des sowjetischen Systems sich sehr unterscheidet von der Sprache des modernen diktatorischen Systems. Die Sprache des sowjetischen Systems war sehr schlicht, sie hat sich vereinfacht bis zu einer Leere. Ich denke an die Parolen, die wir an den Hausmauern hatten, zum Beispiel »Wir sind für den Frieden auf der ganzen Welt« oder »Unser Ziel ist Kommunismus«. Das war eine sehr arme Sprache.
Die Sprache des neuen Totalitarismus ist ganz anders. Sie muss sich in dem Zeitalter der Information behaupten, wo es viel Infomüll gibt, den diese Sprache zu übertönen hat. Sie ist nicht mehr in einem leeren Raum. Nun gibt es Werbung, soziale Netzwerke etc. Deswegen muss sie andere Methoden nutzen. Eine von denen ist zum Beispiel der Rückgriff auf eine einfache und starke Emotion, und zwar auf Hass. Die Sprache des neuen Totalitarismus ist die Sprache des Hasses. Sie versucht, die Gegenseite zu entmenschlichen. Dabei können diese Gegenseite alle sein: Frauen, Feministinnen, Homosexuelle, Nationalisten, Imperialisten, Ukrainer – alle werden in einen Topf geworden. Wer nicht zu der Sekte gehört, ist auf der Gegenseite, er wird gehasst.
Das macht einen grossen Unterschied zur Sprache der Sowjetunion. Die Sowjetunion war zwar auch belagert von Feinden, aber da ging es eher um Verachtung, als um Hass, und man hatte ein gewisses Mitgefühl mit den Arbeitern in westlichen Ländern, die unter den Imperialisten leiden mussten. Der Hass war konkret gerichtet gegen die Haie des Imperialismus, aber nicht gegen alle Menschen.
Ein weiteres wichtiges Merkmal der neuen Sprache des Totalitarismus ist, dass sie paradox ist. Sie operiert die ganze Zeit mit sehr paradoxen Aussagen wie zum Beispiel »Frieden ist Krieg«, »Das Gute ist das Böse«, »Das Schwarze ist das Weisse« und so weiter.
Lukas Bärfuss: Wo haben wir das gelesen? In welchem Buch? Bei George Orwell, oder?
Artur Klinaŭ: Ja, genau.
Lukas Bärfuss: Was mich immer wieder beschäftigt, ist die Vorstellung, dass Sie in all diesen Jahren ganz unmittelbar und sehr direkt diese Diktatur an ihrem Leibe zu spüren bekamen… Wie behält man sich die Autorität über das eigene Denken? Wie gelingt Ihnen diese Luzidität und diese Genauigkeit?
Artur Klinaŭ: Das ist ein Problem. Im damaligen totalitären System, das in einer gewissen informationellen Leere war, brauchte man keine laute Stimme, um gehört zu werden, auch ein Flüstern war zu hören. Jetzt, in diesem informellen Durcheinander, in diesem Infomüll ist es sehr schwierig für einen Autor, so laut zu schreien, dass er gehört wird. Deswegen spielt ein Schriftsteller jetzt eine viel geringere Rolle. Auch wenn es gelingt, in dieser Situation zu schreien, gibt es keinerlei Garantie, dass man von den Menschen gehört wird, an die man sich wendet. Von den »kompetenten Organen«, dem Geheimdienst, aber schon. Selbst in diesem Infomüll verfolgen sie sehr genau, wer da was geschrieben, wer da was geflüstert hat. Im digitalen Zeitalter ist es sehr einfach, eine Gesellschaft zu kontrollieren.
Lukas Bärfuss: Es ist immer wieder erschreckend, lieber Artur Klinaŭ, wie lehrreich die Gespräche mit ihnen sind. Und ich würde wirklich gerne über den Hass und über die Methoden dieses Hasses, mit Ihnen reden. Aber ich kann nicht aus diesem Gespräch hinausgehen, ohne über das Exil gesprochen zu haben. Die Erfahrung des Exils ist der menschlichen Geschichte eingeschrieben. Sie ist Teil der Literatur. Sie ist auch sogar Teil der christlichen Heilsgeschichte, Abraham und Ovid, und Büchner in Zürich, und Else Lasker-Schüler in Zürich, und ewige Schande über diese Stadt und über die Fremdenpolizei in diesem Kanton. Wir schulden den Exilierten viel, aber das wird ihnen in ihrem Alltag nur wenig helfen. Und meine Frage ist: Wie ist Ihre Situation zurzeit?
Artur Klinaŭ: Ich halte mich nicht für einen Exilierten. Wenn es um mich geht, sage ich, ich bin auf einer kreativen Dienstreise. Ich möchte unbedingt zurück und habe das auch vor. Vor allen Dingen, weil ich dort das Künstlerdorf Kaptaruny habe, das ich gar nicht für lange Zeit verlassen kann.
Aber es ist im Moment schwierig, sich in der Welt zu befinden, egal wo man ist, in Belarus oder hier, weil man diese Katastrophe sieht. Und man fühlt sich nicht imstande, irgendwas dagegen zu unternehmen. Man fühlt sich ohnmächtig und diese Ohnmacht paralysiert und demoralisiert.
Für Belarus ist das eine existenzielle Katastrophe. In der Ukraine ist die Lage ganz schwer, da herrscht Krieg, aber die Ukrainer haben eine Vision von der Zukunft, sie haben eine Zukunft. Sie wissen, wohin sie gehen.
In Belarus haben wir das nicht. In Belarus haben wir eine Sackgasse. Es gibt keine Vision von der Zukunft. Alle Wege sind zu. Das ist nicht nur eine politische, sondern auch eine moralische Katastrophe. Belarussen werden als Co-Aggressoren gebrandmarkt. Dabei ist Belarus viel mehr Geisel und Opfer als Aggressor.
Um in dieser Situation nicht wahnsinnig, nicht alkoholsüchtig zu werden, sich nicht aufzuhängen, nicht depressiv zu werden, brauche ich einen gewissen Rahmen. Mir hilft, wenn ich mir ein grosses neues Projekt überlege, in das ich eintauchen und in dem ich überleben kann. So war es 2014 mit Kaptaruny. Jetzt schreibe ich an einem grossen Buch. Vielleicht wird es sogar eine Reihe sein. Das ist eine Forschungsarbeit über Imperien, über die Ideen, die in Imperien herrschen, über die Machtverhältnisse, über die Grundlagen der Macht in Imperien.
Lukas Bärfuss: Wie reich ein Gespräch ist, sieht man immer daran, wie unerlöst man bleibt, wenn die Zeit aufgebraucht ist. Und da sind wir jetzt. Ich finde, Sie sollten sich beeilen mit diesem Buch. Ich will es nämlich lesen. Ich bin sehr dankbar, dass Sie Zeit hatten, auf Ihrer kreativen Dienstreise auch einen Zwischenstopp in Zürich zu machen. Ich habe das Gefühl, es warten noch 100000 Fragen und wir sollten das fortsetzen und warum eigentlich auch nicht in Kaptaruny?
Artur Klinaŭ: Ich hoffe sehr, dass wir das bereits in einem Jahr bei unserem Festival Literature Intermarium tun können.
(Das Gespräch fand am 5. Mai 2022 im Literaturhaus Zürich statt und war eine Kooperationsveranstaltung mit dem Slawischen Seminar der Universität Zürich und der Hochschule der Künste Bern. Die schriftliche Fassung ist ein Vorabdruck aus dem im Frühjahr 2023 erscheinenden Themenheft «Befragung am Nullpunkt. Unabhängige Kultur in Belarus zwischen Repression und Aufbruch», hg. von Iryna Herasimovich, Nadine Menzel und Nina Weller.)
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Artur Klinaŭ, geboren 1965, Schriftsteller und Architekt, gilt als einer der wichtigsten Künstler seines Landes und lebt gegenwärtig im Exil. Er ist Stipendiat der Kulturstiftung des Kantons Thurgau 2022.
Lukas Bärfuss, geboren 1971 in Thun, ist Dramatiker, Romancier und Publizist. Lukas Bärfuss ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und lebt in Zürich. Am 23. Februar ist Lukas Bärfuss Gast im Literaturhaus Thurgau.
Iryna Herasimovich wurde 1978 in Minsk geboren und ist seit 2009 freiberufliche Übersetzerin. Seit 2018 kuratiert sie den übersetzerischen Teil des Forums «Literature Intermarium» im Künstlerdorf Kaptaruny. Sie arbeitet auch als Dramaturgin und Kuratorin im Bereich bildende Kunst und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.
«Das schöne Gottlieben und eure liebe Gesellschaft geht mir nicht aus dem Kopf – überall schwärme ich davon.» Norbert Scheuer
«Danke für Wortraum und Seewind und Weitsicht und Wein, danke fürs Klangexperiment und einen Ort zum Wiederkehren. Schönste Bühne weitumher.» Simone Lappert
«Besonders schön war es, im Bodmanhaus aus dem Buch zu lesen, das zu guten Teilen auch dort entstanden war. Geschrieben im leeren Haus, vorgelesen vor vollen Rängen, vor Menschen, die seit langer Zeit wieder einmal ihre Gesichter zeigen durften.» Peter Stamm