Charles Lewinsky «Der Halbbart», Diogenes #SchweizerBuchpreis 20/3

Charles Lewinsky ist ein exzellenter Geschichtenerzähler. Sein neuester Streich «Der Halbbart» ist eine wahre Fundgrube hunderter Geschichten, die der Schriftsteller zu einem grossen, epischen Ganzen verbindet. Die Shortlist des Schweizer Buchpreises hat ihn schon zum dritten Mal.

«Erzählen ist wie Seichen: Wenn man einmal damit angefangen hat, ist es schwer, wieder aufzuhören.»

Anfang des 14. Jahrhunderts schwelt ein Streit zwischen dem Kloster Einsiedeln und den Bauern, die Land und Wälder des Klosters bewirtschaften. Und weil das Kloster unter der Schirmherrschaft der Habsburger steht, wird aus dem konfliktreichen Nebeneinander ein Konflikt, der das Potenzial gehabt hätte, sich zu einer Katastrophe auszuwachsen. Glücklicherweise sind die Habsburger aber so sehr mit sich und der Nachfolge nach dem Tod Heinrich VII beschäftigt, dass der Marchenstreit erst 2 Jahre nach den Geschehnissen, die im Buch beschrieben werden, zur Schlacht bei Morgarten führen.

Warum erzählt Charles Lewinsky eine Geschichte, die um 1313 spielt? Mag sein, dass ihn eine Zeit lockte, die im «eidgenössischen» Bewusstsein über Jahrhunderte allzu sehr verklärt wurde, durch männliches Heldentum aufgeblasen und durch staats- und kulturhistorische Glorie bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Mag sein, dass der Protagonist Sebi ein Geschichtensammler ist und zu einem Geschichtenerzähler werden will und das Geschichtenerzählen damals noch aus fast nur mündlicher Überlieferung bestand. Das Volk konnte weder lesen noch schreiben. Und Geschichten trösteten oft genug über das eigene sorgenvolle Leben, kalte Winternächte und angstvolle Abende.
Aber vielleicht ist jene Zeit vor 700 Jahren der unsrigen gar nicht so fremd. Man hatte Angst vor fremden Mächten. Zwischen Wahrheit und Fiktion zu unterscheiden war damals nicht einfacher als heute. Oft genug und gut genug erzählt wurden und werden Unwahrheiten zu Wahrheiten. Die Angst, damals der Teufel, heute Teufelszeug, war allgegenwärtig und Klassenbewusstsein Grund genug, dass niemand seine Privilegien opfern wollte.

«Ein Gerücht muss nicht wahr sein, um seine Wirkung zu tun, es muss nur geglaubt werden.»

Charles Lewinsky «Der Halbbart», Diogenes, 2020, 688 Seiten, CHF 35.00, ISBN 978-3-257-07136-8

Der begnadete Geschichtenerzähler Charles Lewinsky erzählt die Geschichte des begnadeten Geschichtenerzählers Eusebius, Sebi, und die eines Mannes, der im gleichen Dorf wie Sebi auf seiner langen Flucht strandet. Alle nennen ihn nur Halbbart, ein Mann, dessen eine Gesichts- und Körperhälfte verbrannt und verkrustet ist, der aus einem alten Leben floh, der viel mehr weiss als fast alle im Dorf und der einen prallvollen Sack an Geheimnissen mit sich herumträgt. Geheimnisse, die Sebi und ich als Leser nur ganz langsam, häppchenweise erfahren. Halbbart schleppt ein Trauma mit sich, das Trauma einer Verbrennung, vieler schrecklicher Tode, das Trauma eines lauernden Feindes.

Sebi hats nicht einfach. Er ist der Jüngste in der Familie. An Mutter und Vater kann er sich kaum erinnern, höchstens aus den Erzählungen – und seine beiden grossen Brüder sind im Umgang mit ihm alles andere als zimperlich. Schnell ist klar; Sebi ist ein «Finöggel» und für die Arbeit auf dem Feld nicht zu gebrauchen. Auch nicht als Gehilfe des Totengräbers und nicht einmal im Kloster, in der Hoffnung, dereinst lesen und schreiben zu lernen. Schliesslich wird er zum Gesellen der Teufels-Anneli, einer umherziehenden Geschichtenerzählerin. Sebi wird das, wonach er sich sehnt, auch wenn er immer zwischen den Fronten bleibt.

«Wenn der Schnee klafterhoch liegt, kann ein Vogelschiss genügen, um eine Lawine auszulösen.»

Doch, Charles Lewinsky kann es. Er kann es mit übersprudelnder Vielfalt, mit einer Authentizität, die mir als Leser das Gefühl gibt, Charles Lewinsky hätte den unerschöpflichen Quell aller Phantasie gefunden. Und wer wie ich die Vielfalt, den Fleiss, und die unbestreitbaren Qualitäten des Tausendsassas kennt, würde ihm am liebsten den Titel «Sir» verleihen. Ein Roman über die Macht von Geschichten und die Wertlosigkeit so mancher Wahrheit. Heute wie früher – es wird munter erfunden, nicht nur aus Spass und Not, sondern strategisch. Dass aus Erfindung Lüge wird, ist auch keine Erscheinung der Gegenwart, nicht einmal die Schwierigkeit, das eine vom andern zu unterscheiden. Der Unterschied liegt im Bewusstsein des «Konsumenten», der aus der Lüge den Hass extrahiert.
Aber dem neuen Roman scheint trotz aller Üppigkeit und Fabulierkunst etwas zu fehlen; beiden Protagonisten scheint das Blut in den Adern nicht warm genug zu fliessen. Weder der junge Geschichtenerzähler noch der Halbbart, der zum Erfinder der Halbbarte (Hellebarde) wird, schlüpft einem während der 680 Seiten Lektüre unter die Haut. Es reiht sich Geschichte an Geschichte, Bild an Bild, Clou an Clou (was der Serienschreiber vorzüglich beherrscht). Aber mir wird nicht warm. Schade.

Charles Lewinsky, 1946 in Zürich geboren, ist seit 1980 freier Schriftsteller. International berühmt wurde er mit seinem Roman «Melnitz». Er gewann zahlreiche Preise, darunter den französischen Prix du meilleur livre étranger. Sein jüngster Roman «Der Halbbart» hat es auf die Shortlist des Deutschen und auf die Shortlist des Schweizer Buchpreises geschafft. Sein Werk erscheint in 14 Sprachen. Charles Lewinsky lebt im Sommer in Vereux (Frankreich) und im Winter in Zürich.

Illustrationen © leafrei.com

Die Shortlist ist da! #SchweizerBuchpreis 20/2

Die Mischung hätte illustrer nicht sein können. Eine Mischung, die es in sich hat. Charles Lewinsky gehört seit Jahrzehnten zu den Grossen im deutschsprachigen Literaturhimmel. Die Ostschweizerinnen Dorothee Elmiger und Anna Stern zählen noch immer zu den Geheimtipps. Tom Kummer weiss sich zu inszenieren, nicht erst seit dem Klagenfurter Wettlesen. Und Karl Rühmann? Karl Rühmann ist die Überraschung!

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Charles Lewinsky «Der Halbhart», Diogenes
Charles Lewinsky ist das Schwergewicht unter den Nominierten. Nur schon deshalb, weil er bereits zweimal unter den Nominierten zum Schweizer Buchpreis sass: 2011 mit seinem Roman «Gerron» und 2016 mit dem Roman «Andersen». Auch im Wettbewerb zum Deutschen Buchpreis stand und steht sein Name schon auf der Liste. Aber ein Wettbewerb soll überraschen! Charles Lewinsky ist einer der Namen, den man längst für seine literarischen Verdienste hätte adeln sollen. Wäre ich König, hätte ich dem Schriftsteller, Drehbuch-, Theater- und Hörspielautor, Musical- und Songtexter schon längst für sein Lebenswerk den Titel «Sir» verliehen. Charles Lewinsky ist eine Grossmacht, ein Tausendsassa, ein Schriftsteller, der sich stets neu erfindet.
Rezension von «Der Stotterer» (2019) auf literaturblatt.ch

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Dorothee Elmiger «Aus der Zuckerfabrik», Hanser
Dorothee Elmigers neues Buch ist kein Roman. Dorothee Elmiger versucht mit «Aus der Zuckerfabrik» die Welt zu verstehen, nimmt mich mit ihrem Buch mit auf ihre Kopfreise in die Tiefen des Denkens. Mit ihrem dritten Buch erscheint sie zusammen mit Charles Lewinsky nicht nur auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises, sondern auch auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2020. Erinnern wir uns an «Tauben fliegen auf» der Schweizerin Melinda Nadj Abonji. 2010 gewann sie mit ihrem zweiten Roman sowohl den Deutschen wie den Schweizer Buchpreis. Und Dorothee Elmiger hätte mit Sicherheit das Zeug dazu, es Melinda Nadj Abonji gleich zu tun. «Elmiger ist Dichterin, Historikerin, Analytikerin, Theoretikerin und begnadete Erzählerin in einem», schreibt die Presse.

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Anna Stern «das alles hier, jetzt», Elster & Salis
Anna Stern, Umweltnaturwissenschaftlerin und Autorin, schreibt sich mit jedem neu erscheinenden Buch tiefer, höher, prägnanter in die Szene. Anna Stern stellt die grossen Fragen der Zeit und die ewig grossen Fragen des Menschseins, experimentiert mit ihrem Schreiben, verbindet in ihren Büchern die verschiedensten Sparten der Kunst. Sie schreibt kompromisslos und wer Anna Stern schon einmal lesend und argumentierend erlebt hat, weiss, was es heisst, ganz für eine Sache einzustehen. Es ist längst Zeit, dass Anna Stern einen grossen Preis für ihr Schreiben verliehen bekommt. Es ist längst Zeit, dass man Anna Stern den Platz einräumt, der ihr gebührt.
Rezension von «Wild wie die Wellen des Meeres» (2018) auf literaturblatt.ch

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Tom Kummer «Von schlechten Eltern», Tropen
Tom Kummer – ein bunter Vogel, der weiss, wie Geschichten erzählt werden müssen, nicht nur weil er einst die Hollywoodstories fürs Schweizer Publikum aufbereitete, weil er ein ausgezeichneter Journalist ist, sondern weil er in seinem Schreiben zeigt, dass Dichtung und Wahrheit nicht in zwei verschiedenen Schubladen gebettet liegen. Das eine mischt sich mit dem andern, unweigerlich, ob man es wahrhaben (wieder so ein Wort) will oder nicht. Sein neuer Roman «Von schlechten Eltern», von den einen gefeiert, von den andern mit Distanz quittiert (wie könnte es bei Tom Kummer anders sein). Tom Kummers Protagonist in seinem Roman ist ein VIP-Chauffeur, der vom Flughafen nach Bern oder Zürich fährt, ein Geschichtensammler, der noch viel mehr mit sich herumschleppt, alles zwischen Himmel und Hölle.

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Karl Rühmann «Der Held», rüffer & rub
Und Karl Rühmann? Kennen sie Karl Rühmann? Karl Rühmann schrieb vor zwei Jahren den Roman «Glasmurmeln, ziegelrot», ein wunderbares Buch, das in der Öffentlichkeit niemals jene Aufmerksamkeit erreichte, die der Roman verdient hätte. Dass Karl Rühmann unter den Nominierten ist, freut mich ungemein. Und ich stelle mir seine Überraschung mit grösstem Vergnügen vor, die ihn heimsuchen wird, wenn er von seiner Nominierung erfährt! Lesen sie seinen Roman «Der Held» aus dem Verlag rüffer & rub, einem Verlag, in dem Karl Rühmann fast das ganze literarische Programm ausmacht. Ein Roman, der aus dem Internationalen Tribunal in Den Haag eine literarische Bühne macht – existenziell!
ein Interview mit Karl Rühmann auf der Verlagsseite
Rezension von «Glasmurmeln, ziegelrot» auf literaturblatt.ch

Ich bin von der Shortlist beeindruckt. Sie ist listengewordener Mut! Der Beweis dafür, wie vielfältig die Schweizer Literatur sein kann – und angesichts all derer, die sich nicht auf der Liste finden, aber das Zeug dazu absolut hätten, ein starker Jahrgang!

Illustrationen © leafrei.com

Die König antwortet! #SchweizerBuchpreis 20/1

Hinter den Kulissen des Schweizer Buchpreises erarbeitet eine fünfköpfige Jury aus der Gesamtliste der eingereichten Bücher eine Nominationsliste mit fünf Werken. Am 15. September wird die Shortlist publiziert. Aus dieser Nominationsliste bestimmt die Jury die Preisträgerin oder den Preisträger des Schweizer Buchpreises. Die Mitglieder der Jury sind in ihrer Entscheidfindung unabhängig. Als Mitglieder der Jury des Schweizer Buchpreises 2020 wurden Tommy Egger (unabhängiger Buchhändler), Daniel Graf (Feuilleton der «Republik»), Annette König (Literaturredaktion SRF), Christine Richard (Freie Kritikerin) und Hubert Thüring (Dozent für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Basel) berufen.

Interview mit Annette König, des «Buchkönigs«:

Du sitzt neu in der Jury des Schweizer Buchpreises. Ehre und Last zugleich. 84 Titel wurden eingereicht. Wie gross ist dein tatsächliches Lesepensum für den Buchpreis? Wählt man da die Bücher aus, die man schon gelesen hat? Oder musst du gar Bücher ein zweites Mal lesen, weil dich deine JurykollegInnen dazu nötigen?
Das Lesepensum ist gross. Manchmal muss man auch ein Buch zweimal lesen. Ich führe aber darüber kein Zeitkonto. Lesen ist für mich Beruf und Leidenschaft.

Liest du ein Buch aus dieser Auswahl anders als jene Bücher, die du sonst als Buchkritikerin und Buchbloggerin liest? Der Schweizer Buchpreis will den präsentierten Büchern „grösstmögliche Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit bieten“. Schielt man dann in den Schlund des öffentlichen Geschmacks?
Ich lese gleich wie immer. Genau das gilt es zu vermeiden, dass man wie Du sagst «in den Schlund des öffentlichen Geschmacks blickt» und sich davon verleiten lässt.

Wie muss man sich das Auswahlverfahren innerhalb der Jury vorstellen? Müssen die fünf Bücher, die auf die Shortlist des Schweizer Buchpreises einstimmig in die letzte Runde geschickt werden?
Ja, über die Shortlist muss Konsens herrschen. Die Diskussionen, die zur Auswahl führen, sind differenziert, aufschlussreich und ergiebig.

Wirst du anders wahrgenommen, seit du in der Jury mitarbeitest? Telefoniert und schreibt man dir, um dich über die wahren Perlen in Kenntnis zu setzen?
Nein, da hat sich nichts verändert. Mir ist wichtig, unabhängig zu sein. Belagerung funktioniert bei mir nicht.

In der Vergangenheit stand der Schweizer Buchpreis schon mehrfach und immer wieder in der Kritik. Wie weit muss ein Jurymitglied konflikt- und kritikresistent sein?
Ein Jurymitglied muss in erster Linie wahrhaftig sein, seinen Job gut machen und seine Meinung zu Büchern argumentativ untermauern können.

Am 15. September erscheint die Shortlist des Schweizer Buchpreises. Dann endlich lüftet sich das Geheimnis um die Endrunde um die neue Preisträgerin oder den neuen Preisträger. Fällt es da nicht schwer, unter dem Siegel der Verschwiegenheit ja nicht aus dem Nähkästchen zu plaudern?
Nein. Und zum Glück dauert es bis zur Bekanntgabe der Shortlist am 15. September ja nicht mehr lange.

Vor kurzer Zeit wurde die Longlist des Deutschen Buchpreises publiziert. Darunter sind auch drei Autoren aus der Schweiz (Arno Camenisch mit „Goldene Jahre“, Dorothee Elmiger mit „Aus der Zuckerfabrik“ und Charles Lewinsky mit „Der Halbbart“). Beeinflusst diese Liste oder versucht man, nicht zu schielen? Frage zurück: warum soll man schielen? Die Jury des Schweizer Buchpreises hat einen breiten und fundierten Überblick über das literarische Schaffen aus der Schweiz.

Noch ein Buch ausserhalb jeder Konkurrenz, dass du empfehlen willst?
Um bei der Literatur aus der Schweiz zu bleiben: «In der Fremde sprechen die Bäume arabisch» von Usama al Shahmani. Das Buch ist 2018 erschienen. Es hat mich so berührt, dass ich darüber geschrieben habe: https://www.srf.ch/radio-srf-1/die-buchkoenig-bloggt/die-buchkoenig-bloggt-dieser-iraker-bringt-mich-auf-die-birke

Annette König, 1974 geboren, Studium an der Universität Zürich: Germanistik, Politologie und Neue Geschichte. 2013 an der Uni Basel doktoriert in Neuere Deutsche Literaturwissenschaft mit der Arbeit: «Welt schreiben – Globalisierungstendenzen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur aus der Schweiz», eit 2013 Literatur-Redaktorin bei SRF.

Die BuchKönig bloggt

und auf SRF

literaturblatt.ch Begleiter des Schweizer Buchpreises

«Ich zeichne und schreibe und bin ganz mein Tun.» Gallus Frei-Tomic ist Literaturvermittler, Programmleiter am Literaturhaus Thurgau und «Erschaffer von Literaturblättern». Die Kurzrezensionen in Form von handgefertigter Zeichnung und Schrift heben das Buch in seiner Besonderheit hervor und verleiten zum Innehalten. Bereits 2019 hat Gallus Frei-Tomic für den Schweizer Buchpreis auf literaturblatt.ch gebloggt und dabei etwa gefragt: «Vergiften Wettbewerbe die Literatur? Oder den Literaturbetrieb?» Nun sind wir gespannt auf seine Beobachtungen rund um den diesjährigen Schweizer Buchpreis und fragen ihn: Was wünscht er sich für den Schweizer Buchpreis 2020?

Gallus Frei-Tomic: «Mut! Der Schweizer Buchpreis ist bloss der Schweizer Buchpreis! Mut in der Auswahl zur Shortlist! Mut bei der Preisverleihung. Das beste Buch? Die aktuelle Literatur ist keine steinerne Pyramide mit einer einzigen Spitze, sondern ein bunter, praller Haufen!»

Die Würfel sind gefallen! #SchweizerBuchpreis19/12

Ich gratuliere Sibylle Berg als Schweizer Buchpreisträgerin 2019. Ich gratuliere ihr zu ihrem Buch, ihrem Schreiben, weil sie es durch Sprache und Erzählen schafft, viel mehr als bloss Geschichten zu transportieren. Ich gratuliere ihr zu dieser Kraft, die aus dem Buch entströmt, dass sie sich mit jedem Buch neu erfindet, ihrem Bestreben, mit ihrem Schreiben nicht nur sich selbst und ihren LeserInnen schmeicheln zu wollen.

© Lea Frei

Nun ist der Preis aber auch schon wieder Geschichte. Andere Preise in der Literatur hallen noch immer nach, wenn auch nicht durch die prämierte Literatur, sondern in der Wirkung, die sie auslösen. Es ist zu bezweifeln, dass durch die Schlacht, die nach der Nobelpreisverleihung medial ausgetragen wurde, jemand beginnt, die Bücher von Peter Handke zu lesen.

Vergiften Wettbewerbe die Literatur? Oder den Literaturbetrieb? «Literatur bewegt!», meinen die einen. «Kunst ist nicht deren Wirkung!», mahnen die andern.
Wie sollen Bücher mit anderen gemessen werden? Wie soll aus der schieren Menge an Veröffentlichungen, nach welchen Kriterien auch immer, ein einziges auf ein Podest gehoben werden, um dieses als Sieger zu küren?

Sibylle Bergs Roman «GRM Brainfuck» steht auf diesem Podest. Ivna Žic, Tabea Steiner, Simone Lappert und Alain Claude Sulzer blieben bei der Preisverleihung in der ersten Reihe sitzen, mehr oder weniger gefasst. Gerechtfertigt? Ist «GRM Brainfuck» nun der beste Roman, der irgendwie mit der Schweiz in Verbindung gebracht werden kann? Es ist müssig darüber zu diskutieren. Die Jury hat entschieden, Sibylle Berg ihr Preisgeld und den Blumenstrauss, ihren Platz in der illustren Liste der PreisträgerInnen und die Gewissheit, dass dieses eine Buch sich dank der medialen Aufmerksamkeit besser verkaufen lässt. Besser verkaufen? I wo! Wer bei Verlagen nachfragt, staunt!

Lässt sich Kunst vergleichen? In einen Wettbewerb setzen? Niemand vergleicht den Maler Gerhard Richter mit Fischli / Weiss. Niemand Anne-Sophie Mutter mit Nora Jones, Brad Pitt mit Martina Gedeck. Wer glaubt schon wirklich, den besten Film des Jahres zu sehen, wenn man der Oscarjury folgt.
Wer mit Ambitionen wettkampfmässig schwimmt, will Bestzeiten, im Wettbewerb gewinnen. Aber Literatur wird nie in ein Raster passen, in dem «objektiv» verglichen werden kann. Literatur muss sich nicht in einem Wettbewerb beweisen, bloss durch Relevanz. Und diese wird nicht durch Wettbewerbe bewiesen, nicht einmal durch die Verkaufszahlen eines Buches. Literatur muss nichts, nur überzeugen, schon gar nicht «besser» sein. Literatur ist Sprache. Und alles, was in Sprache messbar sein könnte, verflüchtigt sich, wenn einem bewusst ist, dass SchriftstellerInnen, DichterInnen KomponistInnen sind: an Sprache, an Klang, Dramaturgie und Konstruktion, Raffinesse und Überraschung.

Sibylle Berg hat ihn verdient, ihr Roman hat mich überzeugt. So wie mich in diesem Jahr alle Bücher auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises in ihrer ganz speziellen Art überzeugten. Ein guter Jahrgang.
Aber niemand kann so sehr auf einen solchen Wettbewerb verzichten, wie die Literatur selbst.

Ist ein solcher Wettbewerb «Leseförderung für Erwachsene»? Verkaufsförderung für den Buchhandel? Publizität für gewissen Köpfe im Literaturbetrieb (meiner eingeschlossen)? Reicht es, die Webseite schweizerbuchpreis.ch zu starten, einer Jury die Bücher zuzuschanzen, die ShortlistautorInnen auf Lesereise zu schicken? Eine medial unterstützte Show im Foyer des Theaters in Basel mit Musik, Blumen, vollen Gläsern, Häppchen und wohl gewählten Worten zu organisieren? Wieviel ist uns eine «Schweizer Literatur» wert? Gibt es diese überhaupt?

© Benjamin Koechlin

Ich gratuliere Sibylle Berg zu ihrem Titel als Schweizer Buchpreisträgerin, für ihr Buch. Aber vielmehr für ihren Fleiss, ihre Akribie, ihre Frische, ihren Mut und den ganz eigenen Sound.
Aber noch mehr all den Schriftstellerinnen und Schriftstellern, Dichterinnen und Dichter, die mir mit jedem Buch, mit jeder Veröffentlichung beweisen, dass Welt nicht nur an Oberflächen passiert. Den Verlagen, vor allem den kleinen, die unerschrocken, tapfer, selbstlos und voller Enthusiasmus Buch um Buch auf die Verkaufstische zu bringen versuchen, jedes Mal davon überzeugt, eine Perle aus der Muschel gebrochen zu haben. Den unabhängigen Buchhandlungen, die weit mehr sind als Verkaufsstellen, die sich mit Herzblut und grossem Wissen um das Kulturgut Buch bemühen.

Kennen Sie die Kurzprosa von Christine Fischer im Orte Verlag? Die Prosa von Dragica Holzer Rajćić im Verlag Der gesunde Menschenversand? Die kunstvollen Betrachtungen des literarischen Schwergewichts Felix Philipp Ingold im Ritter Verlag? Oder die sagenhaften Geschichten von Tim Krohn im Kampa Verlag?
LESEN sie! Lesen macht Eindruck (und das meine ich mehrdeutig)! Lesen macht klug! Lesen bereichert! Lesen rettet die Welt!

Rezension von «GRM Brainfuck» auf literaturblatt.ch

Sibylle Berg «GRM Brainfuck», Shortlist #SchweizerBuchpreis19/11

«GRM Brainfuck» ist die Geschichte von Don, Peter, Hannah und Karen. Sie leben in der schlimmsten, heruntergekommensten Stadt Grossbritanniens. Dort, wo niemand hin will, wo man am Ende hingespült wird. Sie leben in Zeiten der Superlativen; die Meere steigen, das Eis schmilzt, die Tiere sterben aus, alles in Rekordzeit. Sie schwören sich ewige Freundschaft, bezeugen sie mit Blut, erstellen eine Liste mit den Namen, an denen sie sich zu rächen gedenken.

© Lea Frei

Zum Beispiel die zwölfjährige Hannah. Bevor man Hannah mit ihren Eltern nach Rochdale verdammte, lebte die Familie in Liverpool. Mutter und Vater liebten Hannah und für Hannah war es, wie für die meisten, die geliebt werden, das Selbstverständlichste geliebt zu werden. In Liverpool führte Hannahs Vater ein Fotogeschäft, das aber immer weniger Geld einbrachte, bis Hannahs Vater sich mit Nebenjobs über Wasser halten musste. Und eines Tages, an dem Tag, Hannahs Vater hatte sie zu einem Fussballspiel mitgenommen (Fussball war das einzige, woran die Menschen glaubten) teilte man ihnen mit, Hannahs Mutter sei bei einer Schiesserei in die Flugbahn einer Kugel geraten. Pech. Sie starb. Und eines Tages, Hannah kam nach Hause, mittlerweile eine Absteige im Kellergeschoss einer Mietskaserne in Rochdale, lag auch ihr Vater mit aufgeschlitzten Pulsadern in der Duschkabine. Man schleppte den Vater in einem schwarzen Plastiksack weg und vergass Hannah, die mit dem Wenigen, das sie tragen konnte in ein besetztes Haus im Niemandsland zog, in die Gesellschaft von zwanzig obdachlosen Jugendlichen, Slash Kindern.

«Grime (GRM) war wütende Drecksmusik für Kinder in einem Drecksleben.»

Oder Peter, der mit seiner tuntigen Mutter in einem polnischen 200-Seelen-Kaff aufwuchs, einem Ort ohne Zukunft, den alle verlassen hatten, die etwas auf sich hielten. Peter wäre gerne geblieben, denn er ist als Sonderling gerne mit sich allein. Aber seine Mutter schleppte ihn nach England, wo man den Polen Arbeit versprach, aber verschwieg, dass viele Briten sie für das Unglück des Landes verantwortlich machen. In einem Massenschlag Bett an Bett mit anderen Polen gedrängt, von der arbeitsuchenden Mutter allein gelassen, wird Peter von einem Landsmann vergewaltigt, während sich ein anderer Bettnachbar zeitgleich einen runterholt. Peter verstummt endgültig. Und schliesslich lässt ihn seine Mutter mit dem Versprechen, sie werde sich um ihn kümmern, mit seinen zwölf Jahren alleine in einer heruntergekommenen Wohnung zurück, weil der neue russische Freund mit Bentley und Millionen keinen Behinderten in seinem Haus haben will.

«Wir sind die Jugend. Die mit dem Wissen gross geworden ist, dass man, ohne sich angepasst zu verhalten, auf keinen Fall überleben wird.»

„GRM“ sind die Kürzel für GRIME, einen Musikstil, mit dem die vier Freunde, die aus der Not eine Familie wurden, in London Bedeutung und vielleicht sogar Geld verdienen wollen. Grime ist der Sound von Hass, Ernüchterung, Wut und letztem Aufbäumen. Don, Peter, Hannah und Karen leben in einer alten, verlassenen Fabrikhalle, von der Gesellschaft vergessen. Die Gegenwart erstickt im Würgegriff des sich verselbstständigten durch Algorhithmen gesteuerten Fortschritt. Auf der einen Seite die Upperclass, degeneriert durch Erfolg, Geld, Macht, Übersättigung, auf der anderen Seite das Meer von Arbeitslosen und Armen, die mit Grundeinkommen und einem automatischen Punktesystem, billigen Medikamente und Weissbrot mit Margarine ruhig gestellt werden.

Die perfekte Welt ist eine kaputte Welt. Sibylle Bergs Epos der menschlichen Dummheit und Niedertracht ist keine Dystopie, keine Fantasie, sondern längst daran, sich wie Blaualgen im Meer zu verbreiten. Eine düstere Sicht auf die Spezies Mensch und was von ihr geschaffen wurde. „GRM Brainfuck“ ist nicht leicht zu lesen, zwingt einem zur permanenten Selbstreflexion. Es gibt in dem Roman kein Personal, mit dem man sich identifizieren will. Sibylle Bergs Blick ist gnadenlos, atemlos und hoffnungslos.

«WOW, I’m the king of grime and I will
be for a very long time
Cause I go to the rave get a rewind and the second
line never sounded like the first line.
WOW, I’m the king of grime and I will
be for a very long time» 

«GRM.Brainfuck» ist auch eine Anklage gegen das Patriarchat. In Sibylle Bergs kurzfristiger Zukunft ist Männlichkeit alles. Dass diese Männlichkeit viel zerstört hat, dass männliche Dominanz noch immer zerstört, ist unbestritten. Der Roman ist auch eine Anklage gegen den Wahn eines unbegrenzten Wachstums, gegen die totale Überwachung, in vielen Bereichen freiwillig eingegangen. Gegen die Entwertung der Arbeit … die Liste wird lang.

Warum „GRM“ lesen? Weil „GRM“ mächtig ist, ein literarischer Titan. Weil „GRM“ Fragen stellt, komplexe Fragen, an deren Antworten man scheitern kann. Weil die Lektüre ein Gang durch ein Minenfeld ist, man dem Grauen ins Gesicht schaut und man sich fragt, wie eine Autorin einen solchen Titan mit sich herumschleppen konnte. „GRM“ ist mutig und grenzenlos. Wer sich nicht einfach nur einlullen lassen will durch brave Geschichten, wer riskieren will, mit der Lektüre des Buches Akzeptiertes zu hinterfragen, lese dieses Buch!

Warum gewinnt Sibylle Berg mit GRM den Schweizer Buchpreis 2019? Weil ihr Roman alles hat, was ihre vier mitnominierten Bücher auch haben, nur noch viel mehr. Sibylle Berg schaut unter die Oberflächen wie Tabea Steiner mit „Balg“. Sie konstruiert geschickt, webt einen Teppich von Geschichten wie Simone Lappert in „Der Sprung“. Sie beschreibt einen Wendepunkt, wie man durch die Zeit mitgerissen wird wie Alain Claude Sulzer in seinem Roman „Unhaltbare Zustände“. Und sie malt ein literarisches Bild wie Ivna Žic in „Die Nachkommende“, wenn auch ein apokalyptisches. Sibylle Berg provoziert dadurch, dass sie in den faulen Haufen sticht, den Eiter fliessen lässt.
Bitter für die MitkonkurrentInnen, jedes einzelne Buch, das zur Auswahl steht. Sie alle sind absolut lesenswert. Aber „GRM Brainfuck“ von Sibylle Berg ist übermächtig.

Ein kleines Interview mit Sibylle Berg:

Die Welt in „GRM Brainfuck“ ist aus den Fugen geraten. Und wer den Blick vor den Tatsachen nicht verschliesst, weiss, dass dies nicht nur für die Gegenwart und nahe Zukunft in Ihrem Buch zutrifft. Es muss erschreckt werden, um all jene aufzurütteln, die stumpf daran glauben, dass der Schnellzug im immer gleichen Tempo in immer gleicher Richtung weiterrasen kann. Liegt darin eine Ihrer Absichten?

Wenn ich ein Buch schreibe, habe ich keine Absicht die Lesenden betreffend. Ausser eventuell, dass ich in sich verliebte Sätze vermeide um nicht zu langweilen, geht es mir immer darum, etwas herauszufinden. Sei es eine Versuchsanordnung, die ich erstelle oder Thesen, die ich belegen möchte. Am Beginn von GRM Brainfuck stand der Wunsch, all die unterschiedlichen, teils als bedrohlich empfundenen Entwicklungen unserer Zeit in eine Ordnung zu bringen. Das Erstarken rückwärtsgewandter politischer Strömungen, die digitalisierte Überwachung, die künstliche Intelligenz, die Verknappung der Ressourcen und die Hysterie in den sozialen Medien zum Beispiel. Ich wollte verstehen. 

Ihr Buch ist ein „Hirnfick“. Die Provokation Ihres Romas liegt in seiner Direktheit, seiner Unausweichlichkeit, in der Absicht, dass da jemand meine Augen aufreisst, mich zwingt, in eine Richtung zu schauen, der ich mich lieber verschliesse. Wer liest, kann all die Bilder nicht einfach beiseite legen. Wie war das beim Schreiben? Wie sehr war das Schreiben Kampf? Oder gar „Befreiung“?

Schreiben ist nie ein Kampf, sondern das Privileg das zu tun, was ich möchte. Weitgehend ohne jede störende Einmischung anderer Menschen. Es ging mir während des Schreibens unglaublich gut, denn jede Seite bedeutete etwas mehr Ordnung in meinem etwas zu voll gewordenen Verstand. Ich hatte ja vor Beginn zwei Jahre lang geforscht, mit Wissenschaftlerinnen geredet, fast coden gelernt, mich in England aufgehalten, es war einfach als ob man einen Stöpsel aus der Wanne zieht. 

Irgendwo in Ihrem Roman heisst es „Die Menschen sind dumm“. Angesichts der Tatsache, dass der Mensch das einzige Lebewesen ist, dass nicht nur in der Lage ist, seinen eigenen Lebensraum zu zerstören, sondern es auch noch tut, macht diese Aussage unbestreitbar. Tragen Sie für den Menschen, die Menschheit, die Gesellschaft noch einen Funken Hoffnung mit sich herum?

Unbedingt, denn bisher hielten sich die Innovationskraft der Menschen und ihr Wille zur Zerstörung die Waage. Ich weiss nur leider nicht, ob uns diesmal genug Zeit für eine tiefgreifende Regulierung des Systems bleibt. Der Kapitalismus, der lange Zeit durchaus Positives für die Entwicklung der Menschheit brachte, hat einen sich selbst beschleunigenden Grad an gieriger Blödheit und Wunsch nach Selbstauslöschung angenommen, das ich mir nicht sicher bin, ob die Menschheit es diesmal aus der Krise schafft. Wenn man weiss, das die meisten Superreichen nach Fluchtmöglichkeiten, sei es auf dem Mars oder auf dem Meer, suchen, könnte man daran zweifeln, dass diesmal für einen Grossteil der Menschheit alles gut ausgeht.  

Den Menschen werden die Träume genommen, den Jugendlichen, den Kindern. Nicht einmal mehr die Liebe ist einen Traum wert. Leben besteht nur noch aus Ernüchterung, aus Kampf, Hass und Wut. Sie beschreiben einen Ort, wo der Widerstand sinnlos geworden ist. Die Lektüre Ihres Roman hat alles, um sich in die Träume einzuschleichen, Stoff genug für Alpträume. Ihr Buch liest sich auch als Kampfansage gegen all die stumpfen Politköpfe, die allgegenwärtige Geilheit, den Verlust von Empathie. Wovon träumen Sie?

Träumen war noch nie meins. Ich versuche mit den Mitteln, die mir zur Verfügung stehen, aufzuklären. Oder kurzfristig Heimaten anzubieten. Und ich versuche, mich zu beruhigen, denn die allgemeine Verrohung und Gemeinheit, die Härte gegenüber finanziell Benachteiligten, der Randgruppen, setzen mir körperlich sehr zu. 

Nichts in Ihrem Roman ist „erfunden“. Die Stadt Rochdale gibt es. Suchten Sie für Ihren Roman eine entsprechende Kulisse oder war es die Stadt selbst, die Ihre Geschichte erzählt?

Rochdale ist nicht mehr als ein Stellvertreterplatz für Millionen ähnliche Orte weltweit. Fern von Touristenattraktionen, fern von Glanz und Schönheit. Ein ehrlicher Ort, in dem Menschen leben die sich nicht mit Konsum von ihrer Existenz ablenken können.

Sibylle Berg lebt in Zürich. Ihr Werk umfasst 25 Theaterstücke, 14 Romane und wurde in 34 Sprachen übersetzt. Berg fungierte als Herausgeberin von drei Büchern und verfasst Hörspiele und Essays. Sie erhielt diverse Preise und Auszeichnungen, u.a. den Wolfgang-Koeppen-Preis (2008), den Else-Lasker-Schüler-Dramatikerpreis (2016), den Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor (2019) sowie den Thüringer Literaturpreis (2019).

Webseite der Autorin

Illustrationen © Lea Frei

Ivna Žic «Die Nachkommende», Shortlist #SchweizerBuchpreis19/10

Die junge, 1986 in Zagreb geborene und in Zürich aufgewachsene Ivna Žic schrieb mit „Die Nachkommende“ einen Roman, der nicht in erster Linie eine Geschichte erzählen will. Ivna Žic erzählt Bilder, die sie aus Vergangenheit und Gegenwart mit sich trägt, Bilder, die mit dem Lesen zu Geschichten werden. So wie ein Grossvater mit einem Mal zu malen aufhört und nie eine Antwort dafür gibt, warum er den Pinsel weglegte, so taucht Ivna Žic als Prosamalerin auf und malt beeindruckend.

© Lea Frei

Eine junge Frau bewegt sich hin und her, von Zürich nach Zagreb, von Zagreb zurück, nach Paris. Aber nicht nur örtlich, sondern auch zeitlich. Zurück in Bildern aus ihrer Kindheit, noch weiter in das familiäre Bewusstsein einer ganzen Sippe. An die Seite eines Mannes, den sie liebte, der sie liebt, aber eine Liebe, die von beiden Seiten nicht hielt, was sie versprach. An die Seite ihrer Grossmutter, der sie als Kind das Wasser in Kübeln vom Meer auf die Veranda brachte und die ihre Füsse darin badete, ohne je einmal wieder mit ans Meer zu kommen. An die Seite des Grossvaters, des rauchenden Deda, der einmal malte, sich in die Erinnerung der Erzählten malte, tief ins Bewusstsein und nie enträtselte, warum er zu malen aufhörte.

„Warum hast du aufgehört zu malen? Es gibt anderes, sagte er dann, irgendwann, immer wieder…“

Ivna Žic erzählt vom Unterwegssein, der Unmöglichkeit, wahrhaftig an einem Ort zu sein oder an der sicheren Seite eines Menschen. Alles wandelt sich, nichts bleibt, wie es ist. Wer dort ist, soll da sein. Sie erzählt vom Verlust von Heimat, der Suche nach ihr, den Verpflichtungen und Rufen einer Sippe, dem Wunsch, ein eigenständiges Leben zu führen, ungebunden und doch irgendwo zuhause zu sein, der Sehnsucht all jener, die sich nach inneren Bildern sehnen, die von der Gegenwart vergessen sind. Die Sehnsucht, sich nahe zu kommen und die Ernüchterung darüber, dass zum andern und gar zu sich selbst unüberwindbare Distanz bleibt.

„… Geschichten der letzten Generationen, die an meinem Körper kleben, dranhängen, als wären sie vergessen, und doch pochen sie jeden Tag, wandern sie jeden Tag mit…“

Die Erzählerin sitzt und liegt nachts im Zug und die ganze Sippe setzt sich im Dunkel des ratternden Gefährts an die Seite der jungen Frau, flüstert, ruft und erzählt. Die Erzählerin sitzt im Bus, 12 Stunden zurück in die Schweiz nach Zürich, ganz nah all den andern, die Geschichten und Bilder mit sich herumschleppen. Von einem Ort zum andern, wie Generationen zuvor, als Kriege und Grenzen Reisen von Süden nach Norden zu Fluchten machten. Von einem Land, das in diesem Jahrhundert mehrfach von Kriegen, verschiedensten Regimen gebeutelt wurde, in ein Land der „eingeschlafenen Körper“.

Die Protagonistin reist hin und her, getrieben von ihr selbst, von unbeantworteten Fragen, verschwiegener Geschichte, dem Gefühl nirgendwo zuhause zu sein. Unvereinbare Welten, die sie auseinanderzureissen drohen. Auf der Grossmutterinsel die stete Frage, wann sie wiederkomme und in der Stadt, in der sie wohnt, die dauernde Frage, ob sie von hier sei.

Ivna Žic erzählt und webt ein Netz in die Landschaft, dessen Bänder sich mit jedem Erzählstrang mehr und mehr zu einem grossen, ganzen Bild zusammenfügen. Sie erzählt wie ein Maler malt, nicht von links oben nach rechts unten, sondern Pinselstrich für Pinselstrich auf der Leinwand der Zeit. Zugegeben, Ivna Žics Prosa entschlüsselt sich nicht von selbst. Sie verlangt von Lesenden einiges ab. Aber wer sich auf die Musik in der Sprache der jungen Schriftstellerin einlässt, die Intensität ihrer Sprache, der wird reichlich belohnt.

«Ein Interview»:

In Ivna Žics Roman „Die Nachkommende“ stellt die namenlose Protagonistin ein paar Fragen an den Schalterbeamten Herr Zlatko.
Fragen, die ich der Autorin stellte:

Warum sind Sie gerade hier und nicht anderswo?
Jetzt gerade bin ich hier, in Zürich, und nicht anderswo, weil ich das Stück GEBROCHENES LICHT am Theater probe. Das schöne am Medium Theater ist: Man muss da sein, hier sein und kann nicht anderswo, es geht nicht digital oder per Mail, es geht nur hier und jetzt.

Warten Sie auf etwas?
Momentan nicht wirklich, die Tage sind voll, wir sind mitten in Endproben und die Première rückt von Stunde zu Stunde näher.

Was oder wer fehlt Ihnen?
Etwas Ruhe zum  Schreiben.

Haben Sie Zeit?
Ich nehme sie mir, jeden Tag aufs Neue.

Hassen Sie?
Nein.

© Lea Frei

Ivna Žic, 1986 in Zagreb geboren, aufgewachsen in Zürich, studierte Angewandte Theaterwissenschaft, Schauspielregie und Szenisches Schreiben in Gießen, Hamburg und Graz. Seit 2011 arbeitet sie als freie Autorin, Dozentin und Regisseurin u. a. am Berliner Maxim Gorki Theater, Schauspielhaus Wien, Luzerner Theater, Theater Neumarkt, Schauspiel Essen, Theater St. Gallen und bei uniT. Žic erhielt für ihre Texte eine Vielzahl von Stipendien und Preisen. Für ihren Debütroman »Die Nachkommende«  wurde sie 2019 sowohl für den Österreichischen Buchpreis als auch für den Schweizer Buchpreis nominiert. Sie lebt in Zürich und Wien.

Illustrationen © Lea Frei

Alain Claude Sulzer «Unhaltbare Zustände», Shortlist #SchweizerBuchpreis19/9

1968. Für die einen bricht ein neues Zeitalter an, für die anderen löst sich alles auf, was ein Leben lang Bestand hatte. Für die einen ist es der Startschuss für ein neues Bewusstsein, ein neues Lebensgefühl, für die andern der endgültige Zusammenbruch all dessen, worauf man baute. Der neue Roman von Alain Claude Sulzer ist ein Schaufenster in die Vergangenheit.

© Lea Frei

Seit Jahrzehnten ist Stettler der hoch angesehene Schaufensterdekorateur im Quatre Saisons, jenem Warenhaus in der Stadt, das etwas von den grossen Edelwarenhäusern der Metropolen aufleuchten lässt, aber eben immer gut schweizerisch provinziell bleibt. Die Enthüllungen seiner Schaufensterdekorationen waren Jahrzehnte eine Angelegenheit, die die ganze Stadt bewegte. Stettler in seinem Kittel der unbestrittene Monarch in den Räumen, in denen jeweils die nächste Dekoration entworfen wurde. Bis 1968. Nicht nur in den Stassen der Stadt rumort es. Auf der Münsterturmspitze weht eines Morgens eine Vietcong-Flagge und man setzt Stettler einen jungen Wilden vor das Sonnenlicht, der nach Ansicht des Chefs frischen Wind in die Schaufenster des Quatre Saisons bringen soll, Stettlers bisheriges uneinnehmbares Königreich.

© Lea Frei

Was Stettler in dieser schwierigen Zeit aufrecht bleiben lässt, ist der Briefwechsel mit Lotte Zerbst, einer Pianistin aus dem grossen Nachbarland, bekannt durch Schallplatteneinspielungen und Radiosendungen. Er, der Musik liebt, dem Radiosendungen die einzige Zerstreuung sind, seit er seine Mutter, mit der er zusammenlebte, beerdigen musste, fand eines Tages den Mut, Lotte Zerbst einen Brief voller Bewunderung zu schreiben. Und Lotte Zerbst, tief in ihrer Seele verletzt durch das dereinst schändliche Verhalten ihres grossen Lehrers, fühlt sich nicht nur geschmeichelt, sondern verstanden.

So wie Stettler ist Lotte vom Leben in ein Nischendasein gedrängt, aus der Zeit gefallen, einsam, antiquiert. Stellter, der schon in jungen Jahren spürte, dass er nicht wie die Masse tickt und Lotte, die wohl für die Masse spielt, aber abgeschottet von ihr in ihrer eigenen Welt lebt, noch entfernter als Stettler, der unmittelbar spürt, dass seine einstmals uneingeschränkte grosse Geste als Schaufensterdekorateur nicht mehr gefragt ist. Während Demonstranten vom Wasserstrahl von den Strassen gefegt werden, fegt Stettler die Zeit weg, wird Lotte von der Bühne gefegt, als man ein Klavierkonzert des sowjetrussischen Komponisten Schostakowitsch absagt, weil dieser als Repräsentant kommunistischer Weltanschauung mitverantwortlich gemacht wird für das, was die Grundfesten der Gesellschaft erschüttert.

Stettler, eingesperrt in seine Rolle, seine Anschauung und seinen strickten Lebenswandel fühlt sich mehr und mehr ohnmächtig gegenüber dem Wirken der Zeit. Er, der sich ein Leben lang für einen Macher hielt, wird nicht nur ausgebremst, sondern mehr und mehr schleichend kaltgestellt.

Alain Claude Sulzers Roman ist fein gebaut, geschrieben, als läge über dem ganzen Roman ein Schimmer des Bedauerns. Bedauern darüber, dass eine Welt unterging, eine Welt, in der man am Telefon die Auskunft fragen konnte, wenn das Lexikon nicht reichte. In der man sich über fünf verschiedene Fernsehsender wunderte und ein Haarschnitt allein schon Provokation war. Alles passt an diesem Roman. Die Sprache hat genau jenen Stich ins Sepia, wie das Weltbild der beiden Protagonisten, die einem in eine fremd gewordenen Welt eintauchen lassen. Alain Claude Sulzer macht sie, die untergehende Welt damals, an zwei Polen fest; zwei Künstlern, sie durch den Äther, er nur durch ein Glas vom Geschehen der Welt getrennt.

Und unter allem klingt die Musik. Alain Claude Sulzer weiss, was mit einer Musikerin passiert, die ihr Spiel, ihr Stück, ihre Musik so sehr verinnerlicht, dass sie nicht mehr nach Noten spielt, die Klänge Teil ihrer Existenz werden. Ich spüre, wie nah der Autor seinen Protagonisten kommt, und im Falle der Musik auf ganz innige Weise.

„Unhaltbare Zustände“ ist ein köstliches Buch, ein wahrer Lesegenuss! Dass Alain Claude Sulzer mit diesem Buch mit einer Nomination für den Schweizer Buchpreis 2019 beehrt wird, ist mehr als verdient. Schon mit seinen ersten Romanen, allen voran „Urmein“ aus dem Jahr 1998, gewann er meine Bewunderung.

Ein kleines Interview mit Alain Claude Sulzer:

1968, in jenem Jahr, in dem ihr Roman spielt, waren sie 15. Vielleicht zu jung, um in irgend einer Form mitgerissen zu werden, vielleicht. 1980, als Zürich von den Opernhauskrawallen heimgesucht wurden, waren Sie 27. Was ist ihnen geblieben? Was passiert mit Ihnen, wenn Sie junge Menschen heute für das Klima und die „Rettung der Welt“ demonstrieren sehen?
Es bleibt mir nichts anderes übrig, als es aus einiger Distanz zu konstatieren. An «die Rettung der Welt“ zu glauben fällt mir allerdings nicht erst seit heute schwer. Es sind schon etliche Versuche schiefgelaufen.

Stellers Antwort auf die Veränderung der Welt und seiner unmittelbaren Umgebung ist gegen sein Naturell die absolute und ultimative Provokation. Wie sehr trägt ein Schriftsteller wie Sie die Lust zur Provokation mit sich?
Provokation treibt mich weder am Schreibtisch noch „im Leben» an. 

Stettler wohnt noch immer in der Altstadtwohnung, die er Jahrzehnte mit seiner Mutter teilte. Nicht das einzige Setting Stettlers, das er eigentlich noch viel länger hätte erhalten wollen. Und vielleicht hätte Stettler das ehemalige Mutterzimmer in der Wohnung nie vollkommen entleert, wenn die Umwälzungen in der Welt und in seiner Umgebung nicht so grundlegend gewesen wären. Aber so wurde aus dem Mutterzimmer ein Fernsehzimmer, aus dem Zimmer der Rechtschaffenheit das Tor zur Moderne. Müssen wir stets aus der Komfortzone gestossen werden, damit sich Dinge ändern?
Ja, vermutlich ist das so, und dazu sind nicht unbedingt historische Umwälzungen notwendig (wie im Falle Stettlers, der sich, nicht ganz zu Unrecht, als Opfer einer solchen sieht); es genügen Veränderungen im kleinen privaten Rahmen – Tod, Krankheit, Verlust aller nur denkbaren Güter -, um die Kontinuität des bislang Gewesenen dauerhaft zu unterbrechen.

Der Schaufensterdekorateur Stettler verstand seine Arbeit am führenden Warenhaus der Stadt als Welterschaffung. Ein Schaufenster soll gefallen, dem Auge schmeicheln, die Produkte im Haus von der besten Seite zeigen, als Errungenschaft eines immer fortschreitenden Wohlstands. Sein neuer Kollege, den ihm sein Chef vor die Nase stellt und als Hoffnungsträger einer ganzen Branche feiert, versteht seine Aufgabe diametral anders. Er will provozieren. So wie heute die Kunst in vielen Bereichen, die Politik immer offensichtlicher, die Wirtschaft nicht nur in der Werbung und der Vermummte beim Samstagabendfussballspiel. Ist Ihr Roman auch ein bisschen Nostalgie? Die Trauer um eine verlorene Zeit?
Auch wenn ich selbst – anders als manche Kritiker es seltsamerweise sehen wollen – so gut wie nichts mit Stettler gemein habe (selbst mein Interesse an Schaufenstern ist eher dürftig), gibt es tatsächlich nostalgische Momente, in die der Leser/die Leserin unweigerlich versetzt werden, sofern sie sich an ähnliche Momente in ihrer Vergangenheit erinnern. Die Nostalgie dürfte bei jüngeren Lesern deutlich geringer sein. Unter Nostalgie verstehe ich aber nicht das wohlige Versinken in einer Welt, in der alles besser war, sondern einfach deren Betrachtung. Natürlich war – wie jeder weiss oder wissen kann – auch retrospektiv nichts besser als es wirklich war, und wann war es das schon?

Ein unüberlesbares Element Ihres Romans ist die Musik. Ihre Liebe für die Musik. Ist Musik ton- und klanggewordene Sehnsucht? Sehnsucht nach Harmonie? Nach Ordnung? Überschaubarkeit?
All dies, ja. Zudem ist Musik im Augenblick ihrer Ausführung einmalig, unwiederholbar, man kann sie nicht nachlesen, man kann nicht zurückblättern, man kann sich nicht länger an eine Viertelnote klammern, als sie dauert; insofern ist für Sehnsucht weniger Platz als für Gegenwart, Musik geht immer weiter.

© Lea Frei

Alain Claude Sulzer, 1953 geboren, lebt als freier Schriftsteller in Basel, Berlin und im Elsass. Er hat zahlreiche Romane veröffentlicht, zuletzt die Bestseller »Zur falschen Zeit« (KiWi 1249) und »Aus den Fugen« (KiWi 1360). Seine Bücher sind in alle wichtigen Sprachen übersetzt. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Preise, u.a. den Prix Médicis étranger, den Hermann-Hesse-Preis und den Kulturpreis der Stadt Basel.

Webseite des Autors

Illustrationen © Lea Frei

Ein Blick nach Osten #SchweizerBuchpreis19/8

Seit 2016 vergibt auch unser Nachbarland Österreich einen jährlichen Buchpreis, in der Anlage und Ausrichtung ganz ähnlich dem Schweizer Buchpreis. Im ersten Jahr war es Friederike Mayröcker als erste Preisträgerin, 2017 Eva Manesse und im letzten Jahr Daniel Wisser.

© Lea Frei

Auffälligster Unterschied zwischen den Nachbarn ist die österreichische Unterteilung in zwei Kategorien. Wie in der Schweiz prämiert Österreich das beste deutschsprachige belletristische, essayistische, lyrische oder dramatische Werk einer österreichischen Autorin bzw. eines österreichischen Autors oder solcher, die seit drei Jahren in Österreich leben und wirken. Daneben zeichnet Österreich aber  zusätzlich das beste Debüt einer österreichischen Autorin bzw. eines österreichischen Autors aus. Eine Besonderheit, die verhindert, dass literarische Schwergewichte neben DebütantInnen nicht unnötig in Konkurrenz stehen, denn hinter den gestandenen Namen steht immer auch ein ganzes Werk, ein literarisches Oeuvre.

So stellte ich dem Geschäftsführer der Buch Wien Gustav Soucek einige Fragen:

In der Schweiz entfacht sich jedes Jahr erneut Polemik darüber, wie der Buchpreis juriert wird, wer ihn gewinnt und wie man mit jenen umgeht, die ihn nicht gewinnen und seit Jahrzehnten zum innersten Kreis jener gehören, die die CH-Literatur ausmachen. Wie kommentiert man in Österreich Auswahl und Verleihung des Buchpreises?

Der Österreichische Buchpreis ist erst seit vier Jahren Bestandteil der Literaturszene, aber es war höchste Zeit diesen eigenständigen und hochdotierten Preis ins Leben zu rufen. Daher sind die Rückmeldungen in der Branche selbst, bei den Medien und auch bei den Lesern sehr positiv. Dadurch, dass alle Juryteilnehmer in Österreich jährlich wechseln, gibt es kein zu erwartendes Ergebnis und (konstruktive) Kritik an Literatur und Preisträgern ist absolut positiv, da es „das Buch“ im Gespräch hält und die Buchwirtschaft ja für offenen Diskurs eintritt und steht.

So wie der Schweizer Buchpreis mit der BuchBasel verknüpft ist, ist es beim Österreichischen Buchpreis die BuchWien, ein ungleich grösserer Anlass als das Basler Pendant, verzeichnete die BuchWien doch 2017 50000 Besucher, während die BuchBasel im vergangenen Jahr die Zehntausendmarke nicht knacken konnte. Grosser Unterschied ist dabei, dass die BuchWien eine Messe ist; 451 Veranstaltungen mit 381 Autorinnen und Autoren sowie 350 Aussteller aus 20 Nationen auf 8.000 Quadratmeter Ausstellungsfläche. Wo liegt das Österreichische Erfolgsrezept? Liegt es nur an der Tatsache, dass der Schweiz eine Buchmesse mit Ausstrahlung fehlt?

Vielleicht ist es ein Mix aus Tradition und Moderne, denn der Vorläufer der BUCH WIEN, die Buchwoche, blickt auf 60 Jahre Vergangenheit zurück, ehe sie von der BUCH WIEN in der heutigen Form am Standort Messe Wien vor 11 Jahren abgelöst wurde. Erklärungen zu einer Buchmesse in der Schweiz habe ich aber nicht und ich würde es auch tunlichst vermeiden meinen Kollegen in der Schweiz und vom SBVV gute Zurufe aus der Ferne zu geben.

Im ersten Jahr hiess die Preisträgerin Frederike Mayröcker, eine der ganz grossen Dichterinnen des 20. und 21. Jahrhunderts, eine Ikone. Wie weit wird ein solcher Preis zur Würdigung eines ganzen Werkes, auch wenn die Ausgezeichnet für ihr Buch „fleur“ geehrt wurde, einen Text, der „zu einem Fenster zu Welten wird, die sich der realistischen Darstellung entziehen, den Möglichkeitssinn von Literatur auf eine ganz besondere Weise erfahrbar macht“?

Ich habe natürlich keinen Einblick in die Jurysitzungen und ich nehme in keiner Form daran teil. Die Diskussionen, die dort stattfinden kenne ich nicht. Wenn ich mir aber zum Beispiel den österreichischen Buchpreisträger des letzten Jahres, Daniel Wisser, ansehe, der 1971 geboren wurde, gehe ich nicht von einer Lebenswerk-Auszeichnung aus. Im Gegenteil, ich wünsche mir noch viele Bücher wie „Königin der Berge“ von ihm. Für Würdigungen eines ganzen Schaffens gibt es in Österreich den seit 1990 bestehenden „Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln“. Ich denke, dass alle JuryteilnehmerInnen das wissen und deshalb auch zwischen Lebens- und Einzelwerk unterscheiden.

Ein grosser Unterschied der beiden Wettbewerbe ist ihre Unterteilung zwischen eigentlichem Buchpreis und einem Preis für das beste Debüt. Eine Unterteilung, die meiner Meinung nach ausgesprochen viel Sinn macht, um literarische Schwergewichte nicht mit „Neulingen“ mischen zu müssen. Eine Reaktion aus Erfahrungen im Ausland oder nur einfach eine gute Idee?

Eine gute Idee aus Österreich! Auch wenn sie irgendwo auf der Welt vielleicht schon existierte und existiert. Und es hilft uns natürlich den sehr jungen Österreichischen Buchpreis vom Schwergewicht Deutscher Buchpreis zu unterscheiden.

In der Longlist des Österreichischen Buchpreises (noch ein Unterschied, denn eine solche gibt es in der Schweiz nicht) finden sich neben unbekannteren Namen nicht wenige Eckpfeiler deutschsprachiger Literatur: Marlene Streeruwitz,  Clemens J. Setz, Karl-Markus Gauß und Norbert Gstrein. Nicht zu vergessen, der noch immer im „Ausland“ als Geheimtipp geltende Südkärntner Florjan Lipuš, Träger des Grossen Österreichischen Staatspreises 2018. Das Reservoir an grossen Namen und Büchern scheint in Österreich unerschöpflich.

Wenn dieser Eindruck besteht, freut uns das natürlich sehr. Wir sehen das als eine Art von Bestätigung beispielsweise auch mit großer Freude beim Deutschen Buchpreis, den im Jahr 2018 der Österreicher Robert Menasse mit „Die Hauptstadt“ gewonnen hat und wo auch heuer wieder sechs österreichische AutorInnen – Raphaela Edelbauer, Andrea Grill, Angela Lehner, Tonio Schachinger, Eva Schmidt und Marlene Streeruwitz – unter den Longlist-Nominierungen sind. Und erfreulicherweise mit Zsolnay, Kremayr & Scheriau und Jung und Jung auch drei österreichische Verlage auf dieser Longlist stehen. Ich wünsche uns, dass es weiterhin so unerschöpflich bleibt.

Nimmt man in Österreich den Schweizer Buchpreis wahr? Ganz ehrlich!

Immer ehrlich! Die Fachwelt natürlich schon, weil wir ja auch darüber berichten und weil es in Österreich ein hohes Interesse an Literatur und Schriftstellern gibt. Inwiefern sich dieses Fachwissen über die Medien und den Buchhandel bis zum Buchkäufer und Leser durchspricht ist dann natürlich auch eine Frage des Verlagsmarketings und der Marktmaßnahmen. Ich würde sehr gerne mehr Promotion für den Schweizer Buchpreis in Österreich machen und freue mich jetzt schon auf die Lesungen daraus auf der BUCH WIEN 19.

Simone Lappert «Der Sprung», Shortlist #SchweizerBuchpreis 19/7

In Simone Lapperts Roman „Der Sprung“ geht es vordergründig um eine Frau auf einem Dach. Hinausgedrängt aus ihrem Leben droht sie zu springen und alle um sie herum sehen die Frau, die sich das Leben nehmen will. Aber „Der Sprung“ meint wohl viel mehr jenen Sprung, den ein Leben macht, wenn verschiedene Leben ineinander verwoben mit einem mal einen Kulminationspunkt erreichen. Wenn die Zeit springt. Wenn man sich vom Trauten ins Unbekannte wirft, wenn einem die „Umstände“ aus der Schiene springen lassen.

© Lea Frei

Es ist Sommer und die Stadt kocht. Menschen überall. Und wenn sich irgendwo eine Sensation anbahnt, man die Handys zückt, stehen bleibt und glotzt, wenn Sirenen die heisse Luft und sich Gaffer den Mund zerreissen, wenn eine hoch oben auf dem Dachfirst steht und mit Ziegeln schmeisst, nicht einmal Polizei, Absperrgitter und Krankenwagen den Mob verdrängen können, dann verweben, verstricken, verknoten sich Schicksale, klaffen Leben auseinander, bohrt sich der Moment tief in den Nerv.

Simone Lappert, die schon mit ihrem Erstling „Wurfschatten“ (Literaturblatt 21) überraschte und überzeugte, legt mit ihrem zweiten Roman ein Buch vor, das in seiner Erzählweise wie ein Episodenfilm funktioniert. Voneinander unabhängige oder bloss durch Zufall mehr oder weniger verknüpfte Geschichten verweben sich zu einem Ganzen. Ein Konstrukt, das Simone Lappert mit viel Feingefühl und Empathie zu komponieren wusste, das überzeugt und in seiner Leichtigkeit und Feinmaschigkeit den Eindruck erweckt, als wären der Autorin die Ideen zugeflogen. Was passiert, wenn mit einem Mal, wenn von einem Augenblick auf den nächsten nichts mehr so ist, wie es einmal war? Wenn ein altes Leben nicht einfach wieder aufgenommen werden kann, wenn Konsequenzen unvermeidbar sind, wenn aus dem Schreck ein Erwachen wird?

Eine junge Frau in Gärtnerkleidung hält einen Tag und eine Nacht eine ganze Stadt in Atem. Springt sie oder springt sie nicht? Wer ist die Frau, die tobt und schreit, die  Dachziegel schmeisst und auf keine Beschwichtigungsversuche reagiert?
Ein ganzer Reigen von Figuren reagiert: Felix, ein junger Polizist, psychologisch geschult, wird an den Ort gerufen, weg von seiner schwangeren Frau und dem

© Lea Frei

wachsenden Riss, der ihn von seiner werdenden Familie entfernt. Finn, den ein Auftrag als Fahrradkurier durch Zufall auf den menschenverstellten Platz führt, der erst seit kurzem Manu kennt und geblendet von seiner jungen Liebe nicht verstehen kann, warum die junge Frau auf dem Dach dieselbe ist. Egon, den das Leben abdrängte, der im kleinen Lokal an der Ecke mit seinem Fernglas das Geschehen bloss noch aus der Ferne betrachtet und fast vergessen hat, wie nah er dem Geschehen ist. Theres, die alt geworden zusammen mit ihrem abgedrängten Mann den Laden um die Ecke am Laufen zu halten versucht und sich für einen Tag kaum mehr retten kann vor dem Ansturm der Gaffer auf ihr kleines Lebensmittelgeschäft. Oder Maren, die ihren Mann, der in seinem Fitness-, Ernährung- und Reinlichkeitswahn seit seinem 40. Geburtstag in vielerlei Hinsicht nicht mehr erkennen kann und durch den Trubel und die Polizei von ihrer Wohnung ausgeschlossen ist.

Alle sind sie auf dem Sprung, genötigt durch die Frau auf dem Dach. Sie alle werden durch den Zwang des Geschehens aus der Bahn katapultiert, in einen neuen Zusammenhang gezwängt. Es gibt kein Zück mehr. Nicht für Felix, den Polizisten, der sich seinem Alp stellen muss. Nicht für Finn, den Freund der jungen Frau auf dem Dach, dem klar wird, dass Fassaden die Wirklichkeit verstellen. Nicht für Egon, der glaubte, das Leben sei gelaufen. Nicht für Theres, die sich fürchtet vor dem Ende mit Schrecken. Und all die andern.

Schon verblüffend, mit welcher Routine und Tiefe Simone Lappert erzählt! Eine Autorin, die den Moment derart detailreich auffächern kann, die keine Nabelschau zelebriert, mich als Leser in ihrem Detailreichtum überzeugt und mich bis zum Schluss atemlos lesen lässt. Wie sie einen feinen Erzählteppich vor mir auslegt! Wie sie mit Ideen verblüfft, mit Vielfalt und Empathie!
Was für ein Vergnügen!

© Lea Frei

En Interview mit Simone Lappert:

Schon dein erster Roman hat mich überzeugt, dein neuer noch mehr. Ich staune über die Gewandtheit, die Sicherheit, mit der du erzählst, wie feinmaschig das Gewebe deines Romans ist. Was reizte dich an dieser Art des Erzählens?

Der Roman greift fiktionalisierend ein Ereignis auf, welches ich vor ein paar Jahren mitbekommen habe, das mich sehr erschüttert und nachhaltig beschäftigt hat. Um die betroffenen Personen zu schützen und den erfundenen Figuren Freiraum für ein Eigenleben zu ermöglichen, habe ich jedoch nur die Grundkonstellation der Situation beibehalten: auf der einen Seite eine exponierte Person, die mehrere Stunden auf einem Dach zubringt, auf der anderen Seite Schaulustige und Einsatzkräfte, die zu einer Überforderungsdynamik beitragen und sich auf je eigene Weise mitschuldig oder eben auch mit-unschuldig an den Ereignissen machen.

Ich konnte damals mit einer Angehörigen sprechen und fand die Brutalität der Situation einschneidend: Angehörige, die ungefiltert mitbekommen, was über eine geliebte Person gesagt wird, von „spring doch“, bis „so jemanden sollte man erschiessen“. Es hat mich interessiert, mit den Mitteln der Fiktion zu fragen, wer diese Menschen sein könnten, die da unten stehen, was in ihnen vorgeht. Es war vor allem die Frage danach, wie es als Gesellschaft um unsere Empathie bestellt ist, wie wir mit Menschen umgehen, die aus der Reihe tanzen, sich ausserhalb einer gefühlten Norm verhalten, die mich dabei umgetrieben und den Schreibprozess am Roman begleitet hat, die Frage schwingt für mich unter dem Text mit.

Jede deiner Figuren mit der jeweiligen Geschichte, wäre Stoff genug gewesen für einen Roman. Sei es Felix der Polizist, den ein Trauma aus seiner Kindheit blockiert. Sei es Finn, der durch die Liebe zu einer ganz und gar kompromisslosen Kämpferin den Tritt verliert. Sei es Theres, die Frau von Werner, die kinderlos den kleinen Laden um die Ecke führen wie ein leckgeschlagenes Schiff, den Untergang gewiss. Wuchs der Roman und dehnte sich aus oder hast du an der Peripherie zu erzählen begonnen, an den Rändern der Geschichte?

Die Idee einer quasi stummen Protagonistin entstanden, die auf dem Dach Dreh- und Angelpunkt der Geschichte ist, entstand nach und nach, die Figuren, die unten stehen, haben sich aus der Grundkonstellation des realen Ereignisses ergeben, sie sind aber alle fiktiv. Einige waren von Anfang an da, etwa Finn, Manus Freund oder Felix, der Polizist, andere sind erst später hinzugekommen oder haben sich gar in den Text eingeschlichen, zum Beispiel Egon, der Hutmacher, der war eigentlich gar nicht geplant. Manche Geschichten habe ich am Stück geschrieben, um zu sehen, wohin die Figuren mich mitnehmen, andere sind darum herum gewachsen. Das ist das Schönste beim Schreiben: wenn die Figuren ein Eigenleben entwickeln, mich überraschen und meine Pläne durchkreuzen. Wichtig war mir aber von Anfang an, nicht vollkommen aufzulösen, was Manu aufs Dach getrieben hat, damit man sich als LeserIn nicht in die Beruhigung einer Erklärung zurückziehen kann. 

Eine der Figuren in deinem Roman ist Henry, ein in die Jahre gekommener Obdachloser, der den Leuten für ein paar Münzen Fragen verkauft. Du stellst mit deinem Roman ganz viele Fragen. Fragen wie: Was braucht es, dass man Konsequenzen zieht? Henry verkauft Zettelchen mit Fragen wie: Wann und warum hast du zum letzten Mal geweint? Was tröstet dich? Müssen Geschichten, Romane Fragen beantworten?

Ich glaube, sie sollten viel eher Fragen stellen, Fragen, die hängen bleiben, zum Denken und Überdenken anregen. Jedenfalls habe ich beim Schreiben immer viel eher das Gefühl, eine Fragenauslegeordnung zu machen, mich präziser und tiefer in die Fragen hineinzuschreiben, die Schreibanlass waren, sie im besten Fall greifbarer zu machen.

Du bist Lyrikerin und stehst, soweit ich weiss, kurz vor deiner Erstveröffentlichung in dieser Sparte. Wie weit hilft dir als Romanautorin das Talent der Lyrikerin?

Letztendlich sucht sich der Text seine Form, aber ob ich nun Prosa oder Lyrik schreibe, ich schreibe immer auch mit den Ohren. Der Klang eines Wortes, der Rhythmus eines Satzes, das sind wichtige Inhaltsträger. Ein Text ist für mich immer auch ein Klangkörper. 

Du schilderst viele Gegensätze; die Arbeit eines Polizisten und jene seiner Frau, die schwanger ist, ein Spagat zwischen der Brutalität der Gesellschaft und eine „Parallelwelt zischen Lavendel und Hirsekissen“, der schreiende und gaffende Mob und die zerbrechliche Welt deiner ProtagonistInnen, die wütende, junge Frau auf dem Dach und die Verzweiflung in einer Existenz. Wie sehr reizen dich Gegensätze? Und wie sehr muss man als Autorin aufpassen, ihnen nicht allzu platt aufzusitzen?

Ich schreibe meistens ohne vorgefertigtes Konzepte. Mich interessieren Menschen, Risse, Kippmomente, warum jemand tut, was er oder sie tut. Die Gegensätze, die du ansprichst, sind aus der realen Grundkonstellation und aus den Figuren heraus entstanden. Sich in eine Figur hineinzufragen, hineinzuschreiben, ist manchmal ein bisschen, wie im echten Leben jemanden kennenzulernen. Man hat ein Bild, eine Vorstellung, vielleicht auch Vorurteile. Und je näher man jemandem kommt, desto komplexer wird das Bild der Person, mit all ihren Abgründen und Feinheiten. Mir ist es wichtig, meine Figuren nicht zu verspotten oder als Schablonen für vorgefertigte Meinungen zu benutzen, ich versuche, ihnen mit Respekt zu begegnen, gerade auch, um Plattitüden zu vermeiden.

Meine Henryfrage: Was macht dich wirklich glücklich?

Wach und im Moment zu sein. Und zur Zeit die Begegnungen mit den LeserInnen auf der Lesereise.

© Lea Frei

Simone Lappert (1985) studierte Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel, sie lebt und arbeitet als freie Autorin in Zürich und Basel. 2014 erschien ihr Romandebüt Wurfschatten (Metrolit, Berlin, 2014). Simone Lappert ist literarisch und performativ an diversen Kunstprojekten beteiligt, führt literarisch durch Ausstellungen, zuletzt in der Fondation Beyeler (Alexander Calder und Fischli/Weiss) und in der Kunsthalle Basel (Lynette Yadom-Boakye). Sie ist Präsidentin des Internationalen Lyrikfestivals Basel, Jurymitglied des Basler Lyrikpreises, Mitbegründerin der transdisziplinären Gesprächsreihe Raum für Unsicherheit, war Schweizer Kuratorin für das Lyrikprojekt Babelsprech.International.

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Videointerview

Beitragsbild © Tina Berning (Ausschnitt)

Webseite der Illustratorin Tina Berning