Joachim Zelter «Staffellauf», Kröner

Joachim Zelter überrascht wie jedes Mal. Sein neuster Streich ist Sprachkunst und vielschichtiges Geschichtengeflecht. Ein Künstlerroman, ein Kunstroman, eine Liebesgeschichte, die Geschichte von Irrtum und Irrglauben, von Freundschaft und grenzenloser Einsamkeit. Ein Buch wie ein Kaleidoskop.

Sie gilt als vielversprechende Malerin, geht ganz auf in ihrer Malerei, erhält Zuspruch und empfindet grösstes Glück, wenn auf der Staffelei etwas gelungen scheint. Eines Tages erscheint ein seltsam steifer Mann im Atelier, geht von Bild zu Bild, lässt sich einiges erklären, stellt Fragen, ohne dass Bernadette hätte sagen können, die Bilder würden dem Mann gefallen. Obwohl er keines ihrer Bilder kauft, erscheint er immer wieder in ihrem Atelier, ohne je um ihre Zustimmung gebeten zu haben. Er sitzt in dem einen bequemen Sessel im Atelier, schaut, liest und kommentiert. Manchmal schweigt er auch nur und schaut zu, Bernadette immer mehr verunsichert, weil sie nicht weiss, wie ihr geschieht und weil sie den Mut nicht findet, den Mann, der sich dann irgendwann als Karl Staffelstein vorstellt, vor die Tür zu setzen. Der Mann wird zu einem Ding in ihrem Leben, einem Gegenstand, der sich nicht mehr fortschaffen lässt. Erst recht, als er die bittet, seine Frau zu werden.

Wie oft nimmt unser Leben eine Wendung ein, die keiner wirklichen Entscheidung entspringt? Es geschieht einfach. Manchmal, weil man die Kraft nicht aufbringt, sich dagegenzustemmen oder weil einem der Mut fehlt, laut und deutlich Nein zu sagen, die Richtung zu ändern. Bernadette rutscht in ein Leben, das sie sich nicht ausgesucht hat, obwohl ihr die Familie ihres Gemahls die kalte Schulter zeigt, als notwendiges Übel akzeptiert, nicht zuletzt in der Hoffnung, dereinst mit einer kleinen Schar Stammhalter die noble Art zu erhalten, zählte man doch einst zu den Freunden Schillers.

Joachim Zelter «Staffellauf», Kröner Edition Klöpfer, 2024, 192 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-520-76609-0

Nun wird Bernadette zum Gegenstand; zur Ehefrau, zur Hausfrau, zur Mutter, irgendwann mit drei Kindern, zum Accessoire, das gut in den Haushalt passt, dem man mit der attraktiven Frau eine Würze gibt, die der über Jahrzehnte gepflegten Steifheit etwas Künstlerisches gibt. Ihr Mann ist Beamter, hoch gestellt, steigt tüchtig auf, wechselt mit der flotten Familie von Ort zu Ort. Die Staffelei, die Leinwände und Farben bleiben in einem Schuppen. Bernadettes Herz verkümmert. Und als man sie zum ersten Mal in die Klinik einweist, ist klar, es liegt in ihrer Familie. Kein Wunder, wenn schon ihr Bruder dem Wahn verfiel.

Im zweiten Teil des Romans erzählt Joachim Zelter die Geschichte von Jakob, dem ältesten der drei Kinder von Bernadette und Karl. Nie die Sicherheit einer liebenden Familie erfahren, lässt sich auch er von den Vorstellungen anderer in ein Leben zwingen, dass nie einer Entscheidung entsprang. Er studiert, nachdem seine Grossmutter stets kontrollierte, ermutigte und drängte. Durchaus erfolgreich doktoriert er und traut sich endlich zu tun, was er wirklich will; schreiben. Er tut es, weil es das einzige ist, was sich wie echtes Leben anfühlt. Nicht weil es ein Traum ist, sondern der einzige Weg, auf die Spur zu kommen. Und trotz vieler Widrigkeiten und weil gar niemand auf den eigenartigen Kauz gewartet hat, wird aus einem Manuskript ein Buch, nicht zuletzt mit Hilfe einer Freundin, einer zarten Liebe, einer Freundschaft, die sich nur schwer in Jakobs Leben einordnen lässt. 

Die Leben von Bernadette und ihrem Sohn Jakob spiegeln sich. Während Bernadette, die die Malerei durch all die Zwänge aufgeben muss, verkümmert und erkrankt, erwacht Jakob erst spät aus einem Dämmerzustand. Bernadette verliert das Glück, obwohl sie doch genau spürte, dass ihre Bestimmung Malerin gewesen wäre und nicht der «sichere Hafen einer Ehe». Jakob gewinnt das Glück erst, als er seinen sicheren Hafen verlässt.

„Staffellauf“ ist ein grossartiger Roman, ein schillerndes Kunstwerk, das viel mehr sein will, als bloss die Nacherzählung eines Geschichtengeflechts. Joachim Zelter fabuliert und spielt. Bei einem Staffellauf gibt man den Stab dem Nächsten weiter. Aber das wahre Leben ist nicht wie auf der Tartanbahn durch zwei weisse Linien markiert. Wir hätten die Wahl!

Interview

Du beschreibst Szenarien, nicht zuletzt jene in Karl Staffelsteins Stammhaus, in dem man viel auf Herkunft und Etikette gibt, derart beklemmend, dass sie nur schwer zu ertragen sind. Aber eigentlich ist es die scheinbare Willenlosigkeit der jungen Bernadette, die so schwer auszuhalten ist. Warum gehen wir offenen Auges ins Verderben? Wir haben ein einziges Leben zur Verfügung und es fällt uns derart schwer, unseren ganz eigenen Weg zu finden?

Nach meinem Gefühl hat Bernadette durchaus einen Willen, sogar einen sehr ausgeprägten, aber sie kann ihn nur schwer artikulieren, geschweige denn durchsetzen. Mit dem Willen ist das so eine Sache. Der eigene Wille stösst oftmals auf den Willen anderer Menschen, der sich als stärker und mächtiger und durchsetzungsfähiger erweist als der eigene. Nicht selten wird der eigene Wille buchstäblich aufgefressen und verspeist von einem mächtigeren Willen. „Ein Käfig ging einen Vogel suchen.“ Dieser Satz von Franz Kafka bringt es auf den Punkt. Manche Menschen sind Vögel, andere Käfige. Darin liegt ein Unheil. Man darf auch nicht vergessen. Der Roman nimmt in den frühen Sechzigerjahren seinen Anfang. In dieser Zeit hatte eine junge Frau (zumal eine mittellose Malerin) viel weniger Möglichkeiten der Abgrenzung oder der Durchsetzung eigener Wünsche. Eine männliche, hierarchisch-autoritäre Gesellschaft stand gegen sie, flankiert von Mächten und Institutionen wie Kirche, Familie und Valium verschreibenden Ärzten. Für all sie war die Eheschliessung und die Gründung einer gutbürgerlichen Familie das höchste Ideal. Doch ich räume ein: es liegt in der Art und Weise, wie Bernadette sich auf eine ungewollte Ehe tatsächlich einlässt, etwas Unbegreifliches. Genau diese Unbegreiflichkeit versuche ich in meinem Roman (eigentlich in all meinen Romanen) auszuloten. Ab wann steht man gegenüber einem nahen Menschen derart im Wort oder in einer zwischenmenschlichen Pflicht, dass es kein Zurück mehr zu geben scheint, oder allenfalls ein Zurück, in dem man oder frau nicht umhinkommt, dem anderen massive Schmerzen zuzufügen.

Dein Roman ist alles andere als ein Plädoyer für die Institution Ehe. Die Ehe ist nicht das einzige Abhängigkeitsverhältnis, in das sich der Mensch mit wehenden Fahnen stürzt. Nicht zuletzt der Kultur-, der Literaturbetrieb ist voller solcher Abhängigkeiten. Bernadette vergisst die Freiheit, die sie einst besass. Jakob gewinnt sie erst spät. Ist die Zuweisung Bernadette als Verliererin und Jakob als zaghafter Gewinner nicht ein potenzieller Fettnapf?

Ich sehe Bernadette nicht als Verliererin und Jakob auch nicht als Gewinner. Jedes Leben ist ein einzigartiger Versuch, mit der Geworfenheit unserer Existenz irgendwie zurechtzukommen. Der Roman, ein Familienroman, beschreibt über mehrere Generationen hinweg, neuralgische Lebenssituationen, in denen sich Menschen so oder so entscheiden können, also entweder für äussere Vorgaben (sei es nun Ehe, Familie oder materielle Absicherung) oder für sich selbst. Jakob entscheidet sich (anders als seine Mutter) in einer entscheidenden Lebenssituation für sich selbst, das heisst, er entscheidet sich, Schriftsteller zu werden, obgleich alle gesellschaftlichen Normen und Vorgaben dagegensprechen. Der Sohn tut also etwas, was auch seine Mutter hätte tun können, eine Entscheidung für sich selbst zu treffen, wobei es den Sohn ja gar nicht geben würde, hätte seine Mutter sich damals anders entschieden. In dieser existentiellen Paradoxie bewegt sich der Roman und zugleich drängt er darauf, dass Kinder vielleicht viele, viele Jahre später etwas anders machen können als ihre Eltern. Deshalb auch der Titel: STAFFELLAUF.

Bernadette findet auf einem ihrer Stadtstreifzüge in einer Buchhandlung ein Buch mit dem Titel „Die Lieb-Haberin“. Ein klasse Titel. Könnte doch auch ein Buch von Joachim Zelter sein, zumal sich Liebe und Haben ziemlich streiten? Und alles, was streitet, erzählt Geschichten.

Ja, das Buch (DIE LIEB-HABERIN) ist in der Tat von mir. Ich habe es vor mehr als 20 Jahren geschrieben und veröffentlicht. Dieser Roman erzählt eine ähnliche Geschichte wie STAFFELLAUF, nur unter inversen Vorzeichen: keine Frau, sondern ein junger Mann gerät hier immer tiefer in den Strudel einer Beziehung, die er überhaupt nicht will. Je mehr er sich dieser Beziehung zu entziehen versucht, desto mehr verstrickt er sich in sie. Es ist ein durch und durch erfolgloser Roman gegen alle kulturellen Vorgaben und Konditionierungen: kein Liebesroman, sondern ein Nicht- oder Anti-Liebesroman; nicht die Erfüllung einer Liebe steht dort im Mittelpunkt, sondern ihr Abwehren, ihr Verweigern; kein entschiedenes Ja ist irgendwo zu hören, sondern allenfalls die Unfähigkeit, Nein zu sagen; keine gefällige Liebhaberin ist die Geliebte, sondern eine besitzergreifende Lieb-Haberin. Der Roman steht so sehr gegen alle gängigen Erwartungen, dass ihm etwas Unglaubliches, Surreales, geradezu Groteskes innewohnt. STAFFELLAUF ist der Versuch, ein ähnliches Thema noch einmal neu zu erzählen, neu zu fassen, es in einen anderen, viel ursprünglicheren Kontext meines Lebens zu stellen.

Bernadette findet in einem ihre Klinikaufenthalte in Johannes ein Gegenüber, der das Zeug gehabt hätte, zum Retter zu werden. Aber du lässt Johannes wieder abtauchen, so wie einmal bedeutende Menschen mit der Zeit nach und nach aus unseren Geschichten verschwinden. Hat sich der so einfach aus deinem Roman entfernt? Musstest du ihn loswerden?

Ich wollte die beiden in der Tat durchbrennen lassen, sie ein neues gemeinsames Leben beginnen lassen. Ich habe es ernsthaft versucht, doch es hat schon nach wenigen Seiten – trotz aller literarischen Bemühungen – nicht funktioniert. Der ganze Roman hat sich dagegen gesträubt. Der Roman wäre durch eine solche Wendung gesprengt worden, wäre ins Märchenhafte oder Phantastische abgeglitten. „Ein Bürgermädchen kann sich die Illusion machen, dass ein Prinz kommen wird, um sie herauszuholen.“ Nach Sigmund Freud ist das aber wenig wahrscheinlich. Wie hätte auch ein gemeinsames Leben der beiden glücken sollen: Johannes, ein mittelloser Schriftsteller, Bernadette eine ebenfalls mittellose Malerin, die seit Jahren von schweren Depressionen gezeichnet ist. Dazu hat sie zwei Kinder, die daheim auf sie warten. Eine solche Beziehung hätte kaum funktioniert, weder literarisch noch nach Massgabe irgendeines Realitätsprinzips. Die eigentlichen Liebesgeschichten sind (jedenfalls seit Romeo und Julia) ohnehin diejenigen, die von vornherein zum Scheitern verurteilt sind. Sollte eine Liebesgeschichte je glücken, dann wäre es keine Liebesgeschichte mehr.

Jakobs Geschichte ist das Spiegelbild der Geschichte seiner Mutter, wenn auch spiegelverkehrt. Er schafft es irgendwie, sich zu befreien. Wenn auch zu einem hohen Preis. Jakob ist Schriftsteller. Wie viel Joachim Zelter steckt in Jakob Staffelstein?

Ziemlich viel. Der ganze Roman bewegt sich nah an der Realität. Obgleich man sich fragen kann: Was ist schon Realität? Je mehr man sie zu begreifen versucht, desto mehr entzieht sie sich, beginnt man umzustellen, neu zu ordnen, neu nachzudenken oder vieles auszulassen. 

Jakobs Doktorarbeit wird zu einem Sprachmonster, zu einem Sprachpanoptikum. Eigentlich eine wissenschaftliche Arbeit, in Tat und Wahrheit aber ein riesiger Zettelkasten voller Kuriositäten. Steckt da auch ein Zeltertraum, irgendwann beim Schreiben allen Konventionen zu entsagen?

Ja, es ist der Traum, allen Vorgaben und Konventionen zu entsagen. Von Nietzsche gibt es den schönen Satz über Lawrence Sterne: Er sei „der freieste Schriftsteller aller Zeiten“ gewesen. Ein wenig dieser unermesslichen Freiheit wollte auch ich mir herausnehmen. Die Literaturgeschichte ist eine Geschichte der Konventionen, sie ist aber noch viel mehr eine Geschichte des Überschreitens oder der Sprengung von Konventionen. Jahrelang schreibt Jakob Staffelstein an einer Doktorarbeit. Eigentlich ist eine Doktorarbeit der Inbegriff gnadenloser Akribie und Strenge. Doch innerhalb dieser rigiden Strenge findet er in den Fussnoten, die er verfasst, einen unterirdischen Raum für seine eigensten und innersten Gedanken, die er einfach niederschreibt, gegen alle wissenschaftlichen Vorgaben und Konventionen. Die Doktorarbeit markiert somit den Übergang von der Wissenschaft in die literarische Kreativität, von der toten Mechanik akademischen Arbeitens ins überbordende Leben. Eine Doktorarbeit kann am Ende geistreicher und kreativer sein als so mancher Roman.

Auch in Jakobs Leben gibt es eine „Liebe“, eine Frau, eine Retterin, Gesine. Aber auch sie verschwindet. Es scheint, als hättest du die Liebesgeschichte um jeden Preis verhindern wollen.

Der Autor, der Roman, all die Buchstaben und Worte und ihre innersten Wünsche und Absichten hätten sehr gerne die Beziehung zwischen Jakob und Gesine fortgesetzt. Liebend gerne. Für Jakob ist Gesine die Liebe, die Frau seines Lebens, aber (wie im wirklichen Leben) können auch literarische Figuren sich dem entziehen und ihre eigenen Wege gehen. Oder auch nicht ihre eigenen Wege. Denn Gesines Situation ähnelt in mancherlei Hinsicht der Situation von Jakobs Mutter dreissig Jahre früher. Gesine und Jakobs Mutter sind Spiegelbilder. Auch Gesine ist verheiratet und hat Kinder und entscheidet sich in einem entscheidenden Lebensmoment für Werte wie Sicherheit und Familie statt für Wahrhaftigkeit, Selbstverwirklichung oder Freiheit. Aber: Ob nun verheiratet oder nicht, am Ende sind und bleiben viele Menschen mit sich oder mit anderen allein.

Joachim Zelter, 1962 in Freiburg geboren, studierte und lehrte Literatur in Tübingen und Yale. Seit 1997 freier Schriftsteller. Bei Klöpfer & Meyer erschienen u. a. «Der Ministerpräsident» (2010), nominiert für den Deutschen Buchpreis, sowie «Im Feld» (2018). In der KrönerEditionKlöpfer erschienen «Die Verabschiebung» (2021) und «Professor Lear» (2022). Joachim Zelter erhielt zahlreiche Auszeichnungen: u. a. den begehrten Preis der LiteraTourNord. Er ist Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller und im Deutschen PEN.

«Imperia», Rezension auf literaturblatt.ch

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Beitragsbild © Yvonne Berardi

Vincenzo Todisco «Der Geschichtenabnehmer», Atlantis

Gruma ist ein kleines Dorf im Apennin. Ein Dorf mit Eigenheiten – wie jedes von der Aussenwelt weitgehend abgeschirmte Dorf. Ein Dorf, in dem die Neuzeit, die Gegenwart mit zerstörerischer Kraft Änderungen provoziert, die nicht nur die Jungen vertreiben, sondern den Verbliebenen auch noch das Letzte an Würde und Stolz zu nehmen drohen.

Wenn in Gruma jemand im Sterben liegt, ruft man seit Jahrhunderten den Geschichtenabnehmer. Ein Amt, das von Mann zu Mann weitergeben wird, eine Aufgabe, die den Träger aussucht, die erst weitergegeben wird, wenn jener der Aufgabe nicht mehr gewachsen ist. Als man Walter zum Geschichtenabnehmer macht, ist er noch ein Junge, ein Schüler, ein stiller Knabe, der auch ohne dieses Amt genug an seinem Leben zu tragen hat. Wenn der Geschichtenabnehmer an ein Sterbebett gerufen wird, stellt man einen Stuhl neben die Sterbenden und lässt den Lauschenden so lange dort sitzen, bis das Lebenslicht erlöscht. Es ist die letzte Gelegenheit für sie Sterbenden, Dinge loszuwerden, Geheimnisse zu offenbaren, Bekenntnisse abzulegen. Der Geschichtenabnehmer nimmt die Geschichten und Geheimnisse zu sich, darf sie niemandem weitererzählen. 

Walter, den man im Dorf seiner pechschwaren Haare wegen nur Nerì nennt, gibt sich in die Aufgabe, als wäre es etwas Unabwendbares. Eine Aufgabe, die ihm im Dorf einen Sonderstatus gibt, nicht ausgeschlossen von der Gemeinschaft, aber auch nie mehr ganz einer der ihren. Ein Zeuge, ein Geheimnisträger, eine Hoffnung, eine Stütze, eine Hilfe. Eine Aufgabe, die ihn ans Dorf bindet, an die Menschen dort. Eine Aufgabe, die ihn auch immer mehr belastet, nicht nur, weil er für sich behalten muss, was man ihm erzählt – auch weil ihm das Gewicht dieser Geschichten mehr und mehr zur Fussfessel wird.

Vincenzo Todisco «Der Geschichtenabnehmer», Atlantis, 2024, 256 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-7152-5041-0

Gruma ist klein. Eine Bar, ein Lebensmittelladen mit dem Notwendigsten, eine Kirche, ein Pfarrhaus, ein Friedhof, eine Schule und ein Friseur. Über Jahrhunderte waren Geschichten alles, ob in der Kirche, am Stammtisch, an der Theke oder vor dem Spiegel in Sciugars Friseursalon. Aber jene Geschichten sind ganz andere Geschichten als jene, die man Nerì erzählt, der eigentlich Walter heisst, ein eigenartiger Name mitten im Apennin. Geschichten, die am Sterbebett wie Mühlsteine auf die Schultern des Jungen gebunden werden, Geschichten, die unter Verschluss bleiben müssen und dem Heranwachsenden alles abverlangen, bis zur totalen Erschöpfung. Und Nerì selbst darf weder fragen noch entgegnen. Er ist nur der, der als Allerletzter zuhört.

Geheimnisse, Verborgenes, Zugeschüttetes liegen wie ein Geflecht aus Pilzen, ein Mycel unter der Oberfläche des Dorfes. Angestautes, Verkrustungen über Jahrzehnte. Nie verdaut, nie besiegt, nie vergessen. Schon zu Beginn des Romans wird klar, dass Walter irgendwann fluchtartig das Dorf zusammen mit seiner Mutter verlassen musste. Dass das Leben in jener Gemeinschaft ein jähes Ende fand, vergiftet wurde. Denn eines Tages tauchte im Dorf ein Mann auf. Walter war kein Kind mehr und fasziniert von dem Fremden, der seine Nähe suchte und so sehr wissen wollte, was denn seine Aufgabe ist, denn sonst begegnet man ihm im Dorf mit einer Distanz, die über Jahrhunderte mit dem Amt gewachsen war. Ein Geschichtenabnehmer war jemand zwischen Leben und Tod, ein Begleiter ins Jenseits, ein Geheimnisträger. Walter lässt sich auf einen gefählichen Deal ein, einen Handel, der alles aus dem Gleichgewicht bringt und das Dorf in einem Sturm zu überfluten droht.

Vincenzo Todisco schildert ein Dorf an der Kippe zur Neuzeit, eine archaische Welt voller Traditionen, die die Gegenwart wegzuspülen droht. Einen Jungen, einen Mann, der sich in einer Welt wiederfindet, in der nichts so ist, wie damals im Dorf. Eine Welt, die geschrumpft auf die kleine Wohnung in der Stadt und die Arbeit in der Fabrik jeden Zauber verloren hat. Das Amt des Geschichtenabnehmers ist nichts, was man wie ein schmutzig oder löchrig gewordenes Hemd ausziehen kann. Erst recht nicht, wenn da ein Brief auf dem Küchentisch liegt, mit der Bitte ins Dorf zurückzukehren.

„Der Geschichtenabnehmer“ ist ein Roman, der sich mit ganz feinem Strich mit den grossen Themen des Lebens und Sterbens auseinandersetzt. Ein Roman von grosser Sprachkraft, starken Bildern und einem Protagonisten, dem man die Last seiner Aufgabe durch und durch nachspüren kann. Ein Roman, der sich bis an die Grenzen des Lebens begibt. Ein starkes Stück Literatur!

Interview

Ich gratuliere Dir zu Deinem einfühlsamen und überraschenden Roman. Ich staune über die Zartheit Deiner Sprache, über die starken Bilder.
Es ist erstaunlich, wie selten das Thema Sterben im Mittelpunkt eines Romans steht. Wahrscheinlich ein Spiegel der Gesellschaft, die sich ebenfalls schwertut, sich mit dem Thema zu konfrontieren. Davon schliesse ich mich selbst nicht aus, obwohl ich in einem Alter bin, in dem rundum schon heftig gestorben wird. War die Auseinandersetzung mit dem Sterben eine Urmotivation oder war es einfach die sterbende Tradition eines kleinen Dorfes, das bis zur Neuzeit weitgehend autark funktionierte?

Es stimmt, in meinem Roman «Der Geschichtenabnehmer» wird viel gestorben (und es gibt doch noch viele andere Romane, die sich mit diesem Thema beschäftigen). Walter, der Geschichtenabnehmer und Protagonist des Romans, sitzt stundenlang am Sterbebett der alten Leute von Gruma und hört ihnen zu, bis sie für immer ihre Augen schliessen. Er sieht und hört zu, wie sie sterben, aber im Grunde genommen geht es immer um das Leben, denn die Sterbenden erzählen rückblickend von ihrem Leben. Kein einziges Mal wird darüber spekuliert, was nach dem Tod passieren könnte. «Der Geschichtenabnehmer» ist eine Ode an das Leben, zu dem auch der Tod gehört. Der Tod ist zweifellos ein Tabuthema, der Mensch hat natürlicherweise Angst davor, es ist etwas, das man nicht verstehen, nicht ergründen kann. In meinem Roman finden sich die Menschen durch Erzählen mit dem Tod zurecht. Was nicht verstanden werden kann, wird erzählt. Der Tod wird mit dem Erzählen überwunden und das Leben stellt sich gerade in diesem Moment mit all ihrer Wucht in den Vordergrund. Zu Beginn des Romans kann man dieses Zitat von Gabriel García Márquez lesen: «Das Leben ist nicht das, was man gelebt hat, sondern das, woran man sich erinnert und wie man sich daran erinnert – um davon zu erzählen.» Genau das tun im Roman die alten Menschen, die sich kurz vor ihrem Tod Walter anvertrauen, sie erinnern sich und dadurch finden sie vor dem endgültigen Ende nochmals ins Leben zurück. Meine Motivation war es, einen Roman über das Erinnern und das Erzählen zu schreiben. Ich habe in den letzten Jahren einige Situationen erlebt, wo eine Person einem Sterbenden lauscht. Das erschien mir ein schönes Motiv, das ich in einen Roman kleiden wollte. Und natürlich spielt da die Metapher des aussterbenden Dorfes mit. Wenn ein Dorf ausstirbt, stirbt die Erinnerung mit. «Der Geschichtenabnehmer» will gewissermassen gegen dieses Vergessen anschreiben.

© Sandra Kottonau

Du schreibst so eindringlich, mit einer derartigen Selbstverständlichkeit, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass das „Amt“ eines Geschichtenabnehmers so einfach erfunden ist. Ein Amt, das sich seinen Träger aussucht. Erstaunlich genug, dass ausgerechnet hier der Einflussbereich eines Priesters „untergraben“ wird. So bleibt dieses Amt frei von Moral und der Pflicht einer Absolution. Man lädt ab. Man erleichtert sich. Walters Vorgänger sank im Alkoholismus ab. Walter selber ist eines Tages seinen Pflichten entflohen. Warum neigen kleine Gemeinschaften zu derart pragmatischen Lösungen?

Der Roman erzählt eine fiktive Geschichte. Ich schöpfe aus eigenen Erfahrungen aus der Kindheit. Im Apennin gibt es ein Dorf, das Gruma ähnelt, die Menschen dort sind eigensinnig und etwas schräg, aber Gruma, so, wie es im Roman beschrieben wird, ist erfunden und die Figuren ebenfalls. Dass alles so glaubhaft herüberkommt, empfinde ich natürlich als Kompliment, aber das ist ja gerade die Herausforderung, mit der man beim Schreiben konfrontiert wird: man will eine erfundene Geschichte so erzählen, dass sie plausibel und echt wirkt. Walter entledigt sich selber seiner Aufgabe, weil er mitschuldig ist, dass Gruma entzaubert wird. Erzählen, die Erinnerung weitergeben, tragen immer etwas Magisches in sich. «Der Geschichtenabnehmer» ist ein Buch über die Kraft des Erzählens. Beim Verfassen des Romans bin ich irgendwann auf ein Essay vom Philosophen Byung-Chul Han mit dem Titel «Die Krise der Narration gestossen». Darin kann man folgenden Satz lesen: «Die lärmende Müdigkeitsgesellschaft ist taub. Die kommende Gesellschaft könnte daher eine Gesellschaft der Zuhörenden und Lauschenden heissen.» Sobald Gruma kein erzählendes, aber gleichzeitig auch kein zuhörendes und lauschendes Dorf mehr ist, wird es entzaubert. In diesem Sinne, um auf die Frage zurückzukommen, gibt sich die Gemeinschaft auf. Mit «lärmender Müdigkeitsgesellschaft» meint Byung-Chul Han unsere moderne Welt, die schon lange sich selber entzaubert hat, weil sie so transparent geworden ist. Walter ist ein Hüter der Geheimnisse, die ihm die Sterbenden anvertrauen und ja, im Gegensatz zum Dorfpfarrer ist er frei von jeglicher Moral und Wertung. Geschichtenabnehmer zu sein ist Segen und Bürde zugleich, heisst es im Roman. Dieses Gleichgewicht galt es beim Schreiben zu halten, aber auch aufzuzeigen, was passiert, wenn das Gleichgewicht aus den Fugen gerät.

Obwohl man landauf, landab von Dichtestress berichtet, eine Stadt wie Tokio mehr als 4000 Einwohner pro km2 zählt, sterben jedes Jahr unzählige Menschen unbemerkt in ihren Behausungen, unabhängig vom materiellen Status. In ursprünglichen Gemeinschaften wie jener in dem von Dir beschriebenen Dorf wäre das undenkbar gewesen. „Privatsphäre“ wie wir sie kennen, gab es nicht. Du wohnst mit Deiner Familie auch in einem Dorf. Gibt es Gemeinschaft noch?

Das Buch erzählt auch vom Altwerden, von der Einsamkeit und der Verlassenheit, die oft damit verbunden sind. Vor der Entzauberung war Gruma eine Gemeinschaft. Die Gemeinschaft entsteht aus der mündlichen Überlieferung von Lebensgeschichten, sie nährt sich davon. In Gruma geht kein Mensch von dieser Welt, bevor er nicht eine Nacht lang erzählen und letzte Dinge loswerden kann. Nach der Entzauberung verlässt Walter das Dorf und zieht zu seiner Mutter in die Schweiz, in die Einsamkeit. Bezeichnend sind die etwas düsteren, aber auch rauen Kapitel im zweiten Teil des Romans, wo Walter seine Mutter (vorübergehend?) ins Altersheim bringt. Bevor er sie dort alleine lässt, muss sie das Alleinsein üben. In diesem Teil des Romans wird die Verlassenheit spürbar, aber auch als Walter nach vielen Jahren nach Gruma zurückkehrt. Das Dorf ist entvölkert, ohne Erinnerung, die Menschen sind einsam. Um auf die «lärmende Müdigkeitsgesellschaft» von Byung-Chul Han zurückzukommen: sie produziert Einsamkeit, sie verunmöglicht Gemeinschaft, denn sie ist die Antithese des Einande-Geschichten-erzählens. Die Frage ist also berechtigt, denn das Erzählen bringt Gemeinschaften hervor. Im Roman wird Gruma unter anderem so beschrieben: «Zu jeder Familie gehörten Grosseltern, Tanten und Onkel, die zusammen mit den Eltern und den Kindern das Haus füllten. Es wimmelte nur so von Kindern und jungen Leuten. Die Alten merkten nicht, dass sie alt wurden. Sie wurden selbst wieder zu Kindern, und der Kreis schloss sich.» Ganz anders die Stimmung viele Jahre später, im Altersheim: es «beherbergt Menschen, die mit dem Abschied vor Augen ins Leere träumen.» In diesem Sinne schreibe ich im Roman gegen diese Einsamkeit an.

© Sandra Kottonau

In allen Deinen bisherigen Romanen spielt Italien eine zentrale Rolle, obwohl Du in der Innerschweiz geboren ist. Versteckt sich da eine Portion Sehnsucht? Eine genetische Verbundenheit?

Italien ist mein Herkunftsland. Ich bin nicht dort geboren, ich bin in der Schweiz geboren, hier aufgewachsen und von Anfang an integriert worden, aber meine Eltern stammen aus Italien. Sie sind Ende der Fünfzigerjahre in die Schweiz eingewandert, um hier zu arbeiten. Wie Max Frisch einmal gesagt hat, hat die Schweiz Arbeitskräfte gerufen, aber es sind Menschen gekommen. Und diese Menschen, meine Eltern, haben ihre Herkunft, ihre Erinnerungen mitgebracht und haben sie weitergegeben. Als ich noch ein Kind war, gingen wir jedes Jahr nach Italien die Verwandten besuchen, zuerst ans Meer und anschliessend auf dem Apennin. Dort oben, in einem Dorf ähnlich wie Gruma, ist meine Mutter aufgewachsen. Erstaunlicherweise war ich viel lieber dort als am Meer, wo so viel los war. Heute weiss ich weshalb. In diesem kleinen, abgelegenen Dorf, das ich jetzt Gruma nenne, war schon alles da, was im Leben wirklich zählt, Liebe, Lebensfreude, Freundschaft, Treue, aber auch Neid, Tragik und Tod. Alles war so essentiell, archaisch. Es war für mich wie ein Übungsfeld für das Leben. Und natürlich hat all das mit Sehnsucht zu tun. Ohne Sehnsucht auf irgendwas kann man nicht schreiben.

Der Roman „Das Eidechsenkind“ (2018) mit dem Du auch für den Schweizer Buchpreis 2018 nominiert warst, war Dein erster in Deutsch verfasster Roman, nachdem die vorausgegangenen Bücher alle in Italienisch, Deiner Muttersprache, geschrieben wurden. Was veränderte sich damit? Änderte sich die Herangehensweise, die Optik, das Spiel mit dem „Instrument Sprache“?

Ja, das stimmt, mit dem Roman «Das Eidechsenkind» hat bei mir beim Schreiben ein Sprachwechsel stattgefunden. Wechsel ist eigentlich das falsche Wort, denn ich schreibe immer noch auch auf Italienisch. Deutsch ist hinzugekommen. Deutsch war lange Zeit für mich eine Kopfsprache. Mit dem «Eidechsenkind» ist sie zu einer Bauchsprache geworden. Um zu schreiben braucht es eine Bauchsprache. Ich bin jetzt ein zweisprachiger Autor. «Das Eidechsenkind» habe ich selber auch in italienischer Sprache verfasst. Das möchte ich auch beim «Geschichtenabnehmer» tun. Dieses Vorgehen ist für mich sehr interessant, denn beim Übersetzen (und eigentlich ist es kein Übersetzen, sondern eher ein Nochmalschreiben) lerne ich immer wieder etwas von der anderen Sprache, sehe und erlebe sie aus einer anderen Perspektive. Beim «Eidechsenkind» waren die Unterschiede krass. Das deutsche Neutrum, das Kind, erlaubte mir, den Protagonisten sowohl im Plot, aber auch in der Sprache selbst zu verstecken. Das Neutrum erlaubte mir das Kind ganz nahe an die Eidechse heranzubringen, einem Tier (das Tier). Im Italienischen ist das nicht möglich, da muss man sich sofort für mehr Transparenz und also auch mehr Licht statt Schatten entscheiden, il bambino oder la bambina, männlich oder weiblich, das verändert sofort den Ton. Ich habe erst begonnen, den «Geschichtenabnehmer» ins Italienische zu übertragen. In der Originalversion verwende ich eine andere, elaboriertere Sprache als beim «Eidechsenkind». Ich bin gespannt, was ich über die beiden Sprachen diesmal entdecken werde.

Vincenzo Todisco, 1964 in der Zentralschweiz geboren, lebt in Rhäzüns. Er hat Romanistik in Zürich studiert und mehrere Romane auf Deutsch und Italienisch veröffentlicht. Für sein literarisches Schaffen wurde er 2005 mit dem Literaturpreis und 2024 mit dem Anerkennungs­preis des Kantons Graubünden ausgezeichnet. Sein Roman «Das Eidechsenkind» war 2018 für den Schwei­zer Buchpreis nominiert und hat mehrere Auflagen erlebt. Todisco lehrt und forscht an der Pädagogischen Hochschu­le Graubünden in Chur.

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Beitragsbild © privat

Zora del Buono «Seinetwegen», C. H. Beck

Zora del Buonos Roman „Seinetwegen“ ist ein Vaterbuch. Vaterbücher gibt es viele. Aber weil sie damals, als ihr Vater nach einem Autounfall starb, noch nicht einmal ein Jahr alt war, blieb dieser wie ein Geist im Hintergrund verborgen. „Seinetwegen“ ist eine literarische Vergegenwärtigung, eine vielfache Auseinandersetzung zwischen Opfer und Täter – der Roman in seiner Art ganz eigen.

Das Unglück, den Vater mit acht Monaten zu verlieren, bleibt nicht nur an der Tochter ein ganzes Leben haften. Damals verlor sie ihren Vater. Ihre Mutter ihren Mann. Er wurde 33 Jahre alt und war vielversprechender Radiologe am Kantonsspital in Zürich. Ihre Mutter heiratete nie mehr. Und während die Autorin mit ihrem 60. Geburtstag immer mehr den Wunsch nach Klärung verspürt, sinkt ihre Mutter im Heim in eine Demenz. Wer war der Mann, der bei einem waghalsigen Überholmanöver mit dem Auto ihres Vaters kollidierte? Lebt er noch? Wie lebt es sich, wenn man vor Gericht seine Schuld bekennt? Und wie konnte es sein, dass jener Mann, der mutmasslich zu schnell und mit ungenügenden Bremsen unterwegs war, mit 200 Franken Busse und einer bedingten Strafe davonkam? Warum war der Tod des Vaters nie ein Thema zwischen Mutter und Tochter?

Zora del Buono «Seinetwegen», C. H. Beck, 2024, 204 Seiten, mit Abbildungen, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-406-82240-7

Am Steuer jenes weissen VW-Käfers sass damals der Bruder der Mutter. Er überlebte schwer verletzt, während Zora del Buonos Vater im Spital nach einer Woche an seinen Verletzungen starb. Vom Unfallverursacher, den die Autorin nicht Täter, sondern Töter nennt, weiss sie, dass er ebenso alt war wie ihr Vater damals und sie kennt seine Initialen; E. T. Was die Tochter über ihren Vater weiss, ist, das, was man sich erzählt, nicht die Mutter, aber in der Familie. Einige Fotos, aus denen mit den Jahren Erinnerungen werden. Zora del Buono besucht ihre demente Mutter, eine Frau, die ein ganzes Leben eine elegante Erscheinung war, attraktiv, die sich aber nie mehr wirklich auf einen Mann einliess, geschah das doch in einer Zeit, in der man erwartet hätte, dass die Witwe noch einmal heiraten würde, nur schon wegen der kleinen Tochter.

Zora del Buono macht sich auf die Suche. Auf die Suche nach Antworten auf immer und immer wieder gestellte Fragen, nach Klärung, nach jenem Mann, der sich hinter den Initialen E.T. verbirgt, nach Gründen, warum die Geschichte ihrer Familie und ihre eigene Geschichte jene Richtung eingeschlagen hatte. Warum das Schweigen überall durchbrochen werden muss. Warum das Wohin ins Wanken gerät, wenn das Woher im Dunkeln bleibt. Was wäre geworden, wenn der Unfall nicht passiert wäre? Was wäre aus ihrem Leben geworden, einem Leben, das in keine Familie münden sollte?

Aber „Seinetwegen“ ist nicht einfach eine literarische Recherche. Zora del Buono mäandert. Ihre Suche ist alles andere als geradlinig, manchmal durchaus entschlossen, mutig und unnachgibig. Dann wieder zerstreut, auf Nebenstrassen und Umwegen, zögerlich. Eine Mischung aus Fragmenten aus Leben, die aus dem Nebel auftauchen, Recherchefetzen, die hängen bleiben, Notaten, die nur noch rudimentär mit dem Ursprünglichen zu tun haben, bis hin zu Statistiken über Verkehrstote, in denen sich die Autorin Fingerzeige erhofft oder Geschichten prominenter Opfer wie Albert Camus oder James Dean. Sie macht sich auch örtlich auf den Weg, mit dem Auto auf jener Strasse, auf der die beiden Autos zusammenkrachten, bis in den Kanton Glarus, jenes Tal, aus dem der Töter gefahren kam, mit seinem protzigen Chevrolet. Sie fragt nach, im Tal, auf Ämtern, in Archiven. Bis aus dem Töter ein Mensch wird. Bis aus den Initialen ein Name wird. Aus der Untat ein Leben.

„Seinetwegen“ ist voller Spiegelungen in die Lebensgeschichte der Autorin, ihre Vergangenheit in Bari, ihre Familie, das Leben ihres Vaters, der aus dem grossgeschrieben Del ein kleingeschriebens machte, das Leben ihrer Mutter bis in die Demenz der Gegenwart und jenen Moment, wo eine Einweisung ins Heim unausweichlich wird. „Seinetwegen“ ist weder Abrechnung noch Anklage. Dafür ein vielstimmiges Eintauchen, eine beinahe zärtliche Annäherung, nicht nur an den Vater, auch an die Mutter und all die Schicksale ihrer Familie.

Grossartig geschrieben und eine Einladung!

© Zora del Buono

Interview

Du mäanderst, Du lauscht allen Stimmen, auch jenen, die Dich nicht zielgenau auf den Punkt bringen. Und Du stellst Dich Fragen, denen sich viele nicht stellen wollen, Fragen gegen das Schweigen. Auch dein letzter Roman „Die Marschallin“ beschäftigt sich mit Deiner Familie, Deiner Herkunft. Es gibt zwei Philosophien, sich mit seiner Vergangenheit zu beschäftigen. Die eine sagt „Blick nach vorne“, „Bloss keinen Dreck aufwühlen“, „Lass die Vergangenheit ruhen“. Die andere mahnt, dass es keinen klaren Blick nach vorne gibt, wenn das Woher vernebelt ist. Die Politik zeigt uns sehr gut, was mit vernebelten Blicken in die Vergangenheit geschieht. Steckt in Deinem Buch auch ein Stück Mahnung?
Als Mahnung ist es nicht gedacht, höchstens als Mahnung an Autofahrer, verantwortungsvoll zu sein, weil ein Moment der Unaufmerksamkeit viele Leben zerstören oder beenden kann – ein Thema, das in unserer Gesellschaft zu wenig beachtet wird. Das Auto ist eine heilige Kuh. Deswegen habe ich auch Statistiken eingebaut. Aber ja, ich denke, es ist meistens besser, sich dem Vergangenen zu stellen. Allerdings gibt es auch gute Gründe, Dinge ruhen zu lassen, zum Beispiel, wenn sie zu mächtig sind für einen, zu angsteinflössend, einen zu überwölben drohen. Dann kommt vielleicht später der Zeitpunkt, sich ihrer anzunehmen.

Mich erstaunt die Resonanz, die seit dem Erscheinen Deines Romans die Scheinwerfer lenkt. Ist es das Vaterthema? Die Vielfalt an Themen, mit denen Du Dich in Deinem Buch auseinandersetzt?
Das musst du eigentlich die LeserInnen und das Feuilleton fragen. 
Ich denke nicht, dass es das Vaterthema ist, sondern eher die Vielfalt, die daraus folgende Architektur des Textes. Die Konzentration. Die Ehrlichkeit. Und die Dynamik. Es ist ja ein schnelles Buch. Ich versuche, die Leser und Leserinnen mitzunehmen auf meine Reise, lade sie gewissermassen dazu ein, mit mir die Welt zu entdecken, die äussere und die innere, das spüren sie vielleicht. Und es ist versöhnlich (in diesen so unversöhnlichen Zeiten), das haben mir Leute nach der Lektüre geschrieben, tröstlich auch. Es spricht viele Themen an: Verlust, Tod, Alleinsein, Mut, Schuld, Lebenslust, Liebe, Liebe auch zur Landschaft (und zu Hunden), aber auch Dinge wie der Umgang mit demenzkranken Angehörigen und Familie überhaupt. Das sind Themen, die uns alle betreffen, universelle Themen. Da geht es um viel mehr als um meine eigene kleine Biografie. 

Literatur beschäftigt sich immer mit der Frage, dem Thema „Was wäre wenn“. Auch wenn in der Gegenwart das autofiktionale Schreiben die reine Fiktion fast zu verdrängen scheint. So wie in Filmen mit „nach einer wahren Begebenheit“ Sentimentalitäten noch gefühlsschwerer werden. Obwohl Du Dich mit Deiner Geschichte beschäftigst, vermeidest Du alles, was emotional abdriften könnte. Ist dieses „Mäandern“ ein Stilmittel gegen zu viel Emotion?
Sehr schön gesagt. Ich versachliche zu emotionale Themen, zum Beispiel mit der «Liste der eigenen Deformationen». Das wird dann nüchterner. Hätte ich diese Stelle als Fliesstext geschrieben, hätte es ins Weinerliche umschlagen können, ins Sentimentale. So betrachte ich mich von Aussen, nüchtern eben. Ich mag Nüchternheit.

© Zora del Buono

Der „Töter“ Deines Vaters macht im Buch eine erstaunliche Wandlung durch. Nicht er als Person, aber Deine Wahrnehmung, Deine Sicht. War das für Dich im Schreibprozess überraschend? Geschah die Wandlung während des Schreibens oder war sie Teil Deiner Absicht?
Es war für mich die grosse Überraschung. Was ich über ihn rausgefunden habe, hat ihn mir näher gebracht. Ein zeitlebens negativ besetztes Phantom wird im Laufe der Recherche Mensch. Das war bewegend. Auch traurig. Weil ich sah, was die Schuld mit ihm angerichtet hat. 
Es hat sich alles während des Schreibens entwickelt. Drum war das Schreiben auch so schön, weil es für mich selber überraschend war, immer wieder passierten neue Dinge, knüpften sich verblüffende Fäden, geschahen unglaubliche Zufälle, wahrscheinlich, weil ich ganz offen war. Das ganze Buch war ein einziges schnelles Abenteuer. 

Du mischst ganz verschiedene Stilmittel. Manches liest sich wie ein Essay, anderes wie eine Reportage. Man findet Protokolle neben Erinnerungen. Du wolltest nicht in erster Linie die Geschichte Deiner Familie nachzeichnen. Schon gar nicht Verlustschmerz oder den Fall einer fahrlässigen Tötung und deren Auswirkungen beschreiben. War das geplante Absicht oder begann das Buch erst an einem gewissen Punkt Gestalt anzunehmen?
Ich bin eine sprunghafte Person. Diese Textform entspricht meinem Wesen sehr. Ich hüpfe von hier nach da, finde etwas Interessantes, gehe dem nach, kehre wieder zurück und nehme den roten Faden wieder auf, finde wieder etwas Neues, sause hin (auch im wörtlichen Sinn, gehe also raus in die Welt, schaue mir Orte an, rede mit Leuten). So ist auch der Text geworden, das hat sich ganz organisch entwickelt. Zudem liebe ich Bücher mit kurzen Absätzen. Habe ich immer geliebt, das gehört zu meiner literarischen Sozialisation. Das zweite Tagebuch von Max Frisch etwa. Fragmente einer Sprache der Liebe von Roland Barthes oder Träume von Räumen von George Perec. Ich habe sowieso mehrere Seelen in meiner Brust, ich bin Architektin, Redakteurin, Reporterin, Schriftstellerin. Jede von ihnen schaut anders, schreibt anders. Grundsätzlich hat sowieso jede Textform ihre Berechtigung und Schönheit. Und ich konnte einige davon in einem Buch vereinigen, das war herrlich. 

Mit diesem Roman schaust Du in einen Spiegel. Es gibt Menschen, die brauchen den Spiegel bloss, um Pickel auszudrücken oder die Haare zu richten. Die Politik ist voller Menschen, die den Spiegel nur noch für die Frage brauchen „Wer ist die/der Schönste im Land?“. Dein Schreiben ist Selbstreflexion in Reinkultur. War da nie ein bisschen Angst, zu viel preiszugeben?
Doch, natürlich hatte (und habe) ich Angst davor, zu viel preiszugeben. Ich bin sehr nackt in dem Buch. Aber das gehört zum autofiktionalen Schreiben eben dazu. Dass man ein Risiko eingeht.

© Zora del Buono

Zora del Buono, geboren 1962 in Zürich. Studium der Architektur an der ETH Zürich, fünf Jahre Bauleiterin im Nachwende-Berlin. Gründungsmitglied und Kulturredakteurin der Zeitschrift mare. Autorin von Romanen und Reisebüchern.

Zora del Buono „Die Marschallin“, Rezension auf literaturblatt.ch

Zora del Buoni «Hinter den Büschen die Hauswand», Rezension auf literaturblatt.ch

Zora del Buono «Death Valley coffee shock», Gastbeitrag auf der Plattform Gegenzauber

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Stefan Bohrer

Evelina Jecker Lambreva «Mein Name ist Marcello», Braumüller

Bei vielen Leserinnen und Lesern scheint die Frage, ob ein Buch ein Stück abgebildeter Realität sei, eine wahre Geschichte, oder reine Fiktion, ein Spiel mit Realem, so zentral wie nie zuvor. Evelina Jecker Lambreva treibt eben diese Spiegelungen zwischen Realem und Fiktionalem bis auf die Spitze – erfrischend und mit tiefgründigem Scharfsinn.

Fabiana Bianchi ist eine angesagte Krimiautorin. Ihre Bücher scheinen ein nach Crime hungerndes Publikum längst von selbst zu finden. Wo sie auftritt, füllt sie Säle, ihre Bücher verkaufen sich sensationell. Sie geniesst ihren Erfolg, ist sich ihrer Wirkung auch auf der Bühne sicher, geniesst die Zuwendungen ihrer Fans. Aber bei der Präsentation ihres neusten Romans meldet sich während der Lesung ein Mann in der ersten Reihe und behauptet, sie habe die Geschichte im Buch gestohlen, das sei seine Geschichte und er sei nie gefragt worden, ob sie so einfach Gegenstand eines Buches werden dürfe; die Geschichte einer zerrütteten Familie, eines Verbrechens. Und als er ihr beim Signieren mit einem Prozess droht und sie auch auf den darauf folgenden Lesungen in den Metropolen Europas verfolgt, wird aus dem Vorwurf, den Drohungen ein Alp, der Fabiana Bianchi bis ins Mark erschüttert. Fabiana weiss nicht, wie ihr geschieht.

Evelina Jecker Lambreva «Mein Name ist Marcello», Braumüller, 2024, 240 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-99200-362-4

Eine sehr plausible Situation, gibt es doch im Literaturbetrieb immer wieder solch wirre und unkontrollierbare Situationen, die nicht nur ein Buch verhindern, sondern Schreibenden ihre Existenz rauben können. Aber während der Lektüre wird sehr schnell klar, dass es Evelina Jecker Lambreva nicht in erster Linie darum geht, wie Literatur mit Realem umzugehen hat. Sie erzählt auch die Geschichte von Paolo Privoli, eines erfolgreichen Kunsthändlers, der es mit Geschick und Glück von ganz unten bis nach ganz oben geschafft hatte. Er, der sich auch für Literatur interessiert, ein leidenschaftlicher Leser der Kriminalromane von Fabiana Bianchi ist, sitzt in seiner Stadt in der ersten Reihe und muss feststellen, dass die Frau, die er nur aus Büchern kennt, seine Geschichte erzählt. Eine Geschichte, von der niemand, höchstens seine engsten Vertrauten wissen sollten. Die Geschichte eines Mannes, der als Kind seinen kleineren Bruder durch seine unstillbare Lust nach Macht ins Unglück treibt. Von einer Mutter, die nicht zu lieben vermag, einem Vater, der sich in seiner Verzweiflung umbringt und einem Grossvater, der zum Tyrannen wird. Eine Vergangenheit, eine Geschichte, die er nicht nur durch fünf Jahre Gefängnis hinter sich lassen wollte.

Fabiana Bianchi kann sich die Vorwürfe des Mannes nicht erklären und sämtliche Versicherungen, die Geschichte sei ganz und gar ihrer Fantasie entsprungen, perlen an dem aufgeschreckten Mann ab. Im Laufe des Romans entwickelt sich eine Art Duell. Dort die Frau, die sich an den Alp in ihrer Kindheit zurückgedrängt fühlt, dort der Mann, der glaubte, sein Leben in absolute Kontrolle getaucht zu haben und feststellen muss, dass ein Buch sein ganz eigenes Trauma offenbart.

Aber dabei bleibt es nicht. Evelina Jecker Lambrevas Roman zwischen Krimi und Verwirrspiel, zwischen Familiengeschichte und Vergangenheitsbewältigung stellt zwei Menschen einander gegenüber, die sich beide auf ihre Weise mit ihrer Kindheit, den dunklen Flecken in ihrer Vergangenheit konfrontiert sehen. Bin ich der, den ich mit Akribie selbst inszeniere oder doch nicht durch die Poren meiner Fassade das, was ich nie zu verdauen in der Lage war? Evelina Jecker Lambrevas Wissen um die Vielschichtigkeit menschlichen Seins macht das Spiegellabyrinth, durch das ich mich als Leser winde, verständlich. Unser Innenleben ist verschachtelt, voller dunkler Sackgassen und tückischer Geheimnisse.

„Mein Name ist Marcello“ ist voller Überraschungen, liest sich wie ein Thriller, der sich immer und immer wieder meinen Interpretationen verweigert. So wie die menschliche Seele ein Labyrith ist, so gibt sich die Lektüre dieses Romans.

Interview

 „In each of us there is another whom we do not know…“, ein Zitat von C. G. Jung, ist Deinem Roman vorangestellt. Wären wir uns dessen mehr bewusst, wäre das Verständnis für die Schattenseiten anderer wohl viel grösser. Du bist Psychiaterin, Psychotherapeutin und Schriftstellerin und damit prädestiniert, den Spalt hinter Fassaden zu finden. Ist das Schreiben auch ein Ventil?
Ein Ventil? Mein Beruf hat mich zwar schon immer zum Schreiben inspiriert, mit den Themen, die sich aus den Gesprächen mit meinen Patientinnen und Patienten ergeben, aber das Schreiben als Ventil habe ich noch nie gebraucht. Ich wüsste auch nicht, wozu ich ein Ventil bräuchte. Viel mehr dient mir das Schreiben für die persönliche Auseinandersetzung mit mir selbst, indem ich versuche, eben diese „andere“, die in mir verborgen ist, kennenzulernen. Für mich habe ich sogar die Worte von C.G. Jung so perephrasiert: „In jedem von uns lebt noch einer/eine, den/die wir nicht sein wollen.“ Genau diese möchte ich durch das Schreiben besser kennenlernen: die ich nicht sein möchte, die aber trotzdem irgendwo (auch) mein Inneres bewohnt.

Fabiana Bianchi ist eine überaus erfolgreiche Krimiautorin. Derer gibt es viele, man denke an Donna Leon oder Charlotte Link. Autorinnen, die Buch an Buch veröffentlichen, Bestseller an Bestseller reihen und mehr als gut von ihrem Schreiben leben können. Doch eigentlich die Ausnahme, denn die meisten AutorInnen leben mehr schlecht als recht von ihrer Schriftstellerei. Aber wie jede Person, die sich im Focus einer breiten Aufmerksamkeit bewegt, hat diese Popularität auch seinen Preis. Verkauft eine erfolgreiche Künstlerin, ein erfolgreicher Künstler mit seinem Ruhm nicht auch ein Stück seines Lebens?
Natürlich tut er/sie das. Vermarktung der Intimität ist heutzutage hoch im Trend. Für mich ist es jedoch unklar, wie bewusst ein Künstler/eine Künstlerin so was macht. Ich glaube kaum, dass es viele Schriftsteller und Schriftstellerinnen gibt, die ganz gezielt ihr Leben für Geld an das Lesepublikum verkaufen. Vielleicht ist es bei einigen eher ein Bedürfnis, das eigene Leben in die Welt hinauszuschreien, hinauszuweinen, auszukotzen, mitzuteilen? Man kann dieses Bedürfnis aber auch diskret verschlüsselt und eingepackt in Figuren, Metaphern oder Allegorien ausleben, derart, dass nur der Künstler/die Künstlerin weiss, dass es sich um sein/ihr Leben handelt. Somit wird auch der finanzielle Profit eines Verkaufs fern vom Bewusstsein gehalten.

Naviglio Grande, Milano @ Evelina Jecker Lambreva

In den unendlichen Möglichkeiten menschlichen Lebens ist die Wahrscheinlichkeit, dass man mit seinem Schreiben die Wirklichkeit eines fremden Menschen trifft, nicht so verschwindend wie man glaubt. Du als Schriftstellerin hoffst doch auch, dass Leserinnen und Leser sich in Deinen Geschichten gespiegelt sehen oder sogar wiedererkennen. Ist das nicht genau die Resonanz, die man als Schreibende erhofft?
Schriftsteller/Schriftstellerin sein, ist ein einsames Schicksal, so denke ich. Wenn ich schreibe, denke ich nie an die potentiellen Leserinnen und Leser, nicht an Rezensentinnen und Rezensenten, nicht an die Medien. Ich bin allein in der Auseinandesetzung mit meinen Gedanken, Stimmungen, Atmosphären, Heldinnen und Helden. Die Lesenden müssen sich nicht unbedingt in meinen Geschichten wiedererkennen oder sich darin gespiegelt sehen. Von mir aus können meine Figuren auch befremdend, schrecklich, sogar abstossend auf das Lesepublikum wirken. Das würde mich gar nicht stören, wenn es so wäre. Viel wichtiger ist es mir, dass ich durch meine Figuren die Leserschaft zu neuen Gedankenanstössen anregen kann. So hoffe ich auf eine Resonanz zu den Lebensthemen, die ich in meinen Werken durch meine Heldinnen und Helden behandle. Dies aber erst, wenn das Buch veröffentlicht ist, nicht während des Schreibens.

Beide Protagonisten kommen aus Familien, die ihnen nicht geben konnten, was man jedem Kind wünscht. Beide tragen einen Alp mit sich herum. Ich bin Sohn und Vater und weiss sehr genau, wie tief die Schluchten sein können, an denen man sich als Mutter oder Vater vorbeihangelt. Mittlerweile lebt eine ganze Industrie von den Auswirkungen dieser Untiefen. Und auf der anderen Seite die Literatur; Bücher, die sich in den Untiefen tummeln, Bücher, die bewusst machen. Du schreibst Deine Bücher ja auch nicht zur blossen Unterhaltung und Zerstreuung. Wo liegt das Urmotiv dieses Romans? Wie kamst Du zu dieser Idee?
Beziehungen zwischen Eltern und Kinder haben einen zentralen Platz in all meinen Werken. Vielleicht hängt das mit meinem Beruf als psychoanalytisch orientierte Psychotherapeutin zusammen, denn bei mir gehen Medizin und Literatur Hand in Hand. Das Urmotiv meines Romans kam von einem Mord, den ich als Falldarstellung an einem Studentenunterricht präsentiert habe. Während ich den Studentinnen und Studenten den Fall schilderte, lief plötzlich im Hintergrund der ganze Romanplot in meinem Kopf ab, wie in einem Film. Mehr dazu möchte ich nicht sagen, da ich nicht in eine Situation der Arztgeheimnisverletzung geraten möchte.

Das Städtchen mit dem Namen einer Heiligen in Ligurien @ Evelina Jecker Lambreva

In Deinem Roman geht es viel um Macht. Paolo Privoli kompensiert die Machtlosigkeit, die ihn als Kind ins Abseits drängte mit der Sehnsucht, Macht auszuüben. Macht ist ein grosser Antrieb, der in Politik und Wirtschaft aber allzuoft, hauptsächlich von Männern, zu Katastrophen führt. Geniessen die Schriftstellerin die „Macht“ über ihre Leserschaft?
Ich habe nicht das Bewusstsein, Macht in irgendeiner Form auf die Leserschaft auszuüben. Wenn ich über Macht schreibe, dann ist das, weil mich Macht interessiert, insofern sie fast immer als unbewusster Kompensationsversuch von in der Kindheit erlebter Ohnmacht auftritt. Die Ohnmacht eines Kindes bewegt mich zutiefst, und was später im Verlauf des Lebens aus dieser Ohnmacht entstehen kann – diese Frage entzündet meine künstlerische Fantasie enorm. Wie sich aus einem ohnmächtigen, systematischer Gewalt ausgelieferten Kind später eine Ärztin, eine Schriftstellerin, eine Mörderin oder eine Rechtsextremistin entwickelt, das ist die Frage, die mich in meinen Texten beschäftigt. Denn das ist und bleibt für mich eines der grossen Geheimnisse des Lebens: Wieso machen psychische Traumata von in der Kindheit erlebter physischer und/oder psychischer Gewalt manche Menschen krank und (selbst)zerstörerisch, andere zu autoritären Herrschern oder gar zu monströsen Diktatoren, und andere wiederum zu hochbegabten Künstlerinnen und Künstlern, sowie zu hervorragenden Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Dieses Geheimnis, so denke ich, wird wohl nie von der Wissenschaft gelüftet werden.

Evelina Jecker Lambreva, 1963 in Stara Zagora, Bulgarien, geboren, lebt seit 1996 in der Schweiz. Sie arbeitet als niedergelassene Psychiaterin und Psychotherapeutin in Luzern und als Klinische Dozentin an der Universität Zürich. Ihr literarisches Schaffen in deutscher Sprache begründete sie mit dem Gedichtband «Niemandes Spiegel» sowie den Erzählbänden «Unerwartet» und «Bulgarischer Reigen». Bei Braumüller erschienen: «Vaters Land» (2014) «Nicht mehr» (2016) «Entscheidung» (2019) und «Im Namen des Kindes» (2022)

Beitragsbild © Alexander Jecker

Daniel Gräfe «Wir waren Kometen», Danube Books

Liebesgeschichten und „ernsthafte Literatur“ scheinen sich fast auszuschliessen. Die Gefahr, in Kitsch und Sentimentalität zu kippen, ist gross. Die Vergleichswerte an den ganz grossen Liebesgeschichten der Weltliteratur sind hoch gesteckt. Daniel Gräfe hat es gewagt – und gewonnen. Auch wenn in seinem Debüt der Bogen bis an die Grenzen gespannt ist, überzeugt sein Roman mit viel Intimität, grossen Gefühlen, reichen Bildern und überraschenden Sätzen. Auf jeden Fall ein Gewinn!

Zwischen der deutschen und der rumänischen Grenze liegen nicht einmal tausend Kilometer. Und trotzdem sind es Welten. Beide Länder kauen bis in die Gegenwart am Erbe einer menschenverachtenden Diktatur, auch wenn zwischen dem Suizid Hitlers und der Erschiessung Ceaușescus fast ein halbes Jahrhundert liegt. Während die Schatten des Dritten Reiches immer matter werden und man in Deutschland unter einem kollektiven Vergessen leidet, sind viele der rumänischen Schergen von damals noch immer da.

Luba hat es in ihrem rumänischen Dorf nicht mehr ausgehalten, nicht zuhause, nicht in der Schule, schon gar nicht in ihrer gesellschaftlichen Isolation. Im Streit, verraten und enttäuscht verlässt sie Rumänien, mit wenig Gepäck Richtung Deutschland, in der Hoffnung ihr Studium an der Hochschule der Bildenden Künste abschliessen zu können. Aber Geldsorgen zwingen die junge Frau, ihr Studium aufzugeben. Luba streunt durch Berlin, immer auf der Kippe zwischen Sehnsüchten und Hoffnungslosigkeit. Aber der Sommer 2007 soll eine Wende in ihrem Leben bringen. Auch im Leben von Lukas, einem erfolglosen Schreiberling, der sich mehr schlecht als recht in einer Werbeagentur über Wasser hält.

„Sie nickt. Schüttelt den Kopf, schaut aus dem Fenster, doch ihre Pupillen bewegen sich nicht.“

Daniel Gräfe «Wir waren Kometen», Danube Books, 2024, 248 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-946046-41-7

In eben diesem Sommer rettet Lukas Luba durch unerklärliche Entschlossenheit und Mut, der sonst so gar nicht seine Sache ist. Die beiden, eine Schicksalsgemeinschaft Gestrandeter, verbringen einen Sommer der zaghaften Annäherung. Vor allem Luba ist eine Gezeichnete. Was sie in Rumänien erleben musste, will sie um jeden Preis hinter sich lassen, irgendwann nach Italien ziehen, ins Land ihrer Sehnsüchte. Lukas verliebt sich in die fahrige junge Frau. Luba hat, was ihm fehlt; Entschlossenheit und Kompromislosigkeit. Er dümpelt in einem Leben, das nicht in die Gänge kommt und Luba weckt in ihm, was beinahe erloschen wäre.

Aber trotz aller Leidenschaft und Liebe scheitert, was so wundersam begonnen hatte. Sie will weg, weiter, dorthin, wo all ihre Träume in Erfüllung gehen sollen, er traut sich nicht, den Anker aus dem Schlamm zu ziehen. Sie trennen sich, auch wenn die Liebe nicht erloschen ist. Sie reist ab nach Italien, er bleibt. 

„Ich möchte , dass mein Leben kein Missverständis war.“

Jahre später meldet sie sich wieder, ernüchtert, ohne Geld und Aussichten, gestrandet bei einer Freundin. Und weil alle Stricke gerissen sind, reisst Luba zurück in ein Land, dass sie nie mehr betreten wollte. Lukas zu allem entschlossen mit seinem alten Fiesta macht sich auf den abenteuerlichen Weg auf die Suche nach einer Verlorenen. Ein Roadtripp durch die rumänische Pampas, mitten in ein Leben, das von seinem Alltag ebenso weit entfernt ist wie der leidenschaftliche Sommer damals mit Luba.

Kometen kreisen in ganz eigenen Bahnen, scheinen nicht den üblichen Gesetzen zu folgen. Und trotzdem sieht man von ihnen nur den Schweif, das, was sie hinter sich herziehen. Daniel Gräfes Debüt „Wir waren Kometen“ ist mit erstaunlicher Leichtigkeit geschrieben, unverkrampft und erfrischend. Ein vielschichtiger Roman über zwei Leben, die die Gravitation ihrer Vergangenheit auseinandereisst, über Verwundungen, die nie wirklich vernarbten.

© Daniel Gräfe

Interview

Rumänien und seine Geschichte spielen in ihrem Buch eine zentrale Rolle. Was verbindet sie mit diesem Land.
Reisen. Menschen, die ich kennengelernt habe, manche, die mir zu Freund*innen wurden. Eine Liebesbeziehung. Ich mag die Kontraste, das Brüchige und Unfertige des Landes, in das man sich sprichwörtlich noch selbst einschreiben kann. Ich mag den Witz und die Bodenständigkeit vieler Menschen.

Luba und Lukas tragen in ihren Namen zwar die ersten beiden Buchstaben gemeinsam, aber sonst trennen die beiden Welten. Eine der Gemeinsamkeiten, die sie aber doch verbindet, wenn auch zuerst verborgen, sind ihre Verwundungen. Eigentlich ist ihr Roman nicht zuletzt die Aufmunterung, in einer Liebe mit wirklich offenen Karten zu spielen, sich ganz zu öffnen, weil die dünne Haut dieser Vernarbungen doch irgendwann reissen kann.
Zu lieben heisst für mich auch, sich in seiner Verletzbarkeit und Imperfektion zu zeigen und den anderen so liebevoll zu sehen. Sich selbst so anzunehmen und lieben zu lernen, ist die Voraussetzung dafür. Wäre das bei Luba und Lukas bereits so, wäre es für den Roman völlig langweilig. Deshalb verbergen Lukas und Luba nicht nur ihre Verwundungen, sondern kommen selbst nicht mit ihnen zurecht. Dafür projizieren sie, als sie sich ineinander verlieben, ihre Sehnsüchte und Wünsche auf den anderen. Diese liebevoll-brutale Vereinnahmung muss natürlich scheitern. So gebe ich ihnen zwei Drittel des Romans Zeit, selbst ihren Weg zu suchen und den anderen in einem zweiten Anlauf verstehen und kennenzulernen. Ein Prozess, der nie zu Ende ist, aber der richtige Anfang. Ich mag, dass die beiden sich in einem zweiten Anlauf zu finden suchen. Der Roman beginnt dort, wo das Happy End gemeinhin endet.

Luba und Lukas sind nicht dort, wo sie sein wollen. Auch am Schluss des Romans sind sie es nicht. Sie sind noch immer in einem Dazwischen. Zwischen Traum und Realität klafft allzu oft ein tiefer Graben. Luba möchte zeichnen, Lukas schreiben. Beiden droht die Realität, den Traum zu zerstören. Warum ist das ewige Hinterherrennen ebenso zerstörerisch wie der nie gewagte Versuch?
Träume tragen immer auch etwas Radikales in sich – zum Beispiel das Versprechen, eine Version seiner selbst zu sein, die man selbst gestalten darf. Das ist nichts, das man in Gleichmut betrachtet: Man will es unbedingt schaffen oder zaudert ob der Grösse der Aufgabe. Beides bringt einen nicht in den Fluss und Flow, den der Traum in der Realität benötigt. Es braucht die kleinen, konkreten Schritte, die Gelassenheit – aber das ist nur meine Sicht darauf.

© Daniel Gräfe

Im ersten Teil ist Berlin der Schauplatz, ein flirrender Sommer 2007, im zweiten Teil ein abenteuerlicher Roadtripp durch Rumänien und im letzten ein Finale in der Wildnis des Donaudeltas. Dazwischen immer wieder Rückblenden in die Leben der beiden Protagonisten und Auszüge aus Lubas Tagebuch. Wann wird im Schreibprozess klar, wie der Roman gebaut sein muss?
Beim Schreiben muss ich den Moment spüren, warum ausgerechnet dieses Buch auf diese Weise geschrieben werden muss. Ein gutes Zeichen ist, wenn ich mich der Figur und ihrer Besonderheit ganz nah fühle, und wenn ich so konkret zu schreiben beginne, dass im Kleinen ein Metathema auf leichte Art mitschwingt. Wenn das stimmt, kann ich den Roman bauen – und das auf unterschiedliche Weisen. Bei „Wir waren Kometen“ war mir wichtig, dass der Bau Imaginationsräume für die Leser*innen schafft, die sie selbst erkunden müssen, der Roman aber auch spannend bleibt. Ich habe aber auch gemerkt, dass ich meiner zweiten Hauptfigur Luba noch mehr Platz einräumen muss und lasse sie deshalb zeichnen, Tagebücher und Mails schreiben, dass man sie ungefiltert sieht.

Ist „Wir waren Kometen» ein Komet im Leben Daniel Gräfe?
Der Roman ist ein sehr wichtiges Buch für mich, weil auch viele eigene Erfahrungen darin stecken und Themen wie Reisen, Ost-West, Kulturaustausch oder der Culture Clash in der Liebe auch meine eigenes sind. Und natürlich ist er ein dicker Brocken, weil ich einen halben Roman aus ihm herausgeschrieben habe, um ihn trotz der Vielschichtigkeit einfach zu halten, und es bis zur Veröffentlichung so lange dauerte. Aber gerade deshalb hoffe ich, dass sich „Wir waren Kometen“ auch in zehn Jahren noch gut lesen lässt und damit in der Umlaufbahn bleibt.

© Daniel Gräfe

Was mich sehr beeindruckte, waren die kleinen Geschichten in der grossen Geschichte. Manchmal auch bloss einzelne Szenen oder Sätze. Sind Sie im Schreiben ein Sammler oder ein Jäger?
Jäger wissen, was sie jagen und erlegen wollen, das scheint mir zum Schreiben nicht zu passen, so ein Buch wäre vorhersehbar und die Spannung nur behauptet. Ich bin vor allem ein Beobachter, der Eindrücke sammelt, Dinge erst einmal für sich stehen und gelten lässt. Und ich bin ein Empfindender, der Beziehungen herstellt, die eigenen Erfahrungen verknüpft und hinterfragt, sich abermals herantastet, im besten Fall auszusetzen sucht, dass mir der Schreibprozess auch persönlich mehr abverlangt, als ich anfangs zu geben bereit bin. Erst dann würde ich es schreiben nennen.

Daniel Gräfe, geb. 1971 in Biberach, arbeitete in sozialen Projekten in den USA und Ägypten und bereiste nach dem Studium in London recherchierend und schreibend Afrika, Asien und den Nahen Osten. Er arbeitete als Kultur- und Wirtschaftsredakteur in Ost und West und ist Reporter der Stuttgarter Zeitung. Seine Erzählungen, Reportagen und Lyrik wurden mehrfach ausgezeichnet.

Beitragsbild © Dominique Brewing

Alain Claude Sulzer «Fast wie ein Bruder», Galiani

„Fast wie ein Bruder“, der neue Roman von Alain Claude Sulzer, ist nicht nur ein Buch über Freundschaft und die Scham einer Schuld. Dieser Roman wirbelt auf, was die Gesellschaft seit Jahrzehnten zu verbergen versucht: Die Angst der Heimsuchung. Die Angst, dass uns dereinst etwas offenbart, die Augen dort verschlossen zu haben, wo man hätte hinschauen und etwas tun sollen.

Er liest in der Zeitung von einer Ausstellung in einer Berliner Galerie, von den Bildern eines unbekannten Künstlers. Und weil er eine der abgebildeten Skizzen in jener Zeitung als jene seines schon lange verstorbenen Freundes Frank erkennt und alle abgebildeten Gemälde mit der Initiale F signiert sind, weil die Bilder die unverwechselbare Sprache seines alten Freundes sprechen, reist er nach Berlin und besucht jene Galerie. Dort sieht er sich selbst, sieht in sein junges Gesicht, die Nacktheit seines Körpers und die unmissverständlich aufgeladene Gestik eines Alleine-Gelassenen. Eigentlich müssten sämtliche Bilder verschwunden sein, denn sein Freund, der zu Lebzeiten fast nichts verkaufen konnte und in der Masse all der unbekannten Talente versank, orderte seinen Nachlass kurz vor seinem Tod zu ihm von New York nach Frankreich, wo er die Bilder ungesehen und verpackt im Schuppen neben seinem Wohnhaus einlagerte mit der jahrelang verschobenen Absicht, sich irgendwann den Bildern, der Hinterlassenschaft seines Freundes anzunehmen. Bis die Bilder aus seinem Schuppen verschwanden. Bis das lautlose Verschwinden aller Bilder alte Wunden aufriss, eine schlummernde Schuld, ein schlechtes Gewissen, die Scham über das mehrfache Sterben seines Freundes. Bis ein Artikel voller Begeisterung und Verwunderung auf einen bisher unbekannten Künstler aufmerksam macht, einen grossen Unbekannten, ein Genie.

Alain Claude Sulzer «Fast wie ein Bruder», Galiani, 2024, 192 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-86971-294-9

Frank und er wuchsen wie Brüder im Ruhrgebiet der Siebzigerjahre auf, Wohnung an Wohnung. Nicht nur sie waren befreundet, auch ihre Eltern. Ein Leben ganz nah, Tür an Tür. Eine Art paradiesischer Urzustand, aus dem sie der fast gleichzeitige Tod ihrer Mütter vertrieb. Beide Frauen raffte Krebs aus den Leben und hinterliess alleinerziehende Väter, die sich nicht mehr zurechtfanden. Die Leben der beiden Familien trennten sich. Aus dem Gleichschritt wurden zufällige Treffen und als Frank mit seinem unauslöschlichen Wunsch und Drang, dereinst ein grosser Künstler zu werden, nach New York zog, verloren sich die beiden Leben, dünnte aus, was einmal unzertrennlich schien.

Erst als Frank sich Anfang der Neunzigerjahre aus einem Schöneberger Krankenhaus meldet und verrät, dass er unheilbar krank auf das Erscheinen seines ehemaligen Freundes wartet, bricht auf, was über Jahre schlummerte. Frank hat zu einer Zeit Aids, als es noch kaum Medikamente gab und die Diagnose einem Todesurteil gleichkam. Als man an Aids Erkrankten den Körperkontakt verweigerte, nicht einmal mehr die Hand geben wollte. Als man von Seuche sprach und nicht einmal hinter vorgehaltener Hand von der gerechten Strafe Gottes sprach, angesichts der vielen Opfer unter den Schwulen.
Er reist nach New York und sie treffen sich ein letztes Mal, weil jene Freundschaft, aus der sie wuchsen, die sie als Kinder wie Brüder verband, etwas blieb, was trotz der so gegensätzlichen Biographien stets geblieben war, wenn auch begraben, verdrängt, fast vergessen.

Plötzlich sind die Bilder wieder da. Die Bilder eines Mannes, der einst wie sein Spiegelbild war, der sich ganz in seine Leidenschaften stürzte, sei es seine Malerei, sein Leben selbst, in seiner Kompromisslosigkeit. Auch die Bilder jenes einen Moments, der nicht nur die beiden Freunde auseinandertrieb, sondern die beiden Familien, eine Freundschaft, die für eine Ewigkeit hätte reichen sollen. Als Frank aus seinem Leben verschwand, man ihn gebrandmarkt hatte, für immer aus dem Paradies vertrieben.

„Fast wie ein Bruder“ ist auch ein Roman über Wahrnehmung. Wie sehr sich unterscheiden kann, was wir als real empfinden. Darüber, dass wir unter dem Zwang stehen, uns ein Bild von allem zu machen, ob als Künstlerin oder Künstler, ob als irgendwer. Wir sehen und interpretieren, senden Signale. „Fast wie ein Bruder“ ist ein Erklärungsversuch, warum man die Dinge nicht zu lesen verstand.

Und Alain Claude Sulzer erzählt mit der Stilsicherheit eines Meisters! Ein ungemein starkes Buch!

Interview

Zwei Freunde, die in ihrer Kindheit wie Brüder aufwachsen, durch einen Donnerschlag voneinander getrennt werden und sich doch nie ganz verlieren. Vielleicht bewegt dein Roman auch deswegen, weil wir diese Geschichte alle selber kennen; Freundschaften, die einst elementar waren, die unzertrennlich schienen, sich in den Wirbeln der Zeit verlieren und einen Zustand der immerwährenden Scham hinterlassen. So wie ich selbst einst einen Mann im Bus traf, den ich als Freund aus Kindertagen erkannte, aufgeschwemmt und laut mit sich selbst redend. Ich sprach ihn nicht an, aus Feigheit und der Furcht vor Konsequenzen. Wie ungern beschäftigen wir uns mit der Feigheit!
Ist die Frage nicht eher: Wie ungern beschäftigen wir uns mit dem, was vergangen ist, mit dem, was mal einen Wert darstellte, der heute einfach verloren ist. Von Feigheit würde ich nicht unbedingt sprechen, wenn man sich voneinander entfernt hat. Kinder- und Jugendfreundschaften halten selten, wir haben ja manchmal genug an unseren eigenen Familien zu nagen, das ist für viele Vergangenheit genug. Da stellt sich eher die Frage, wie feige man ist, sich ihr zu stellen. Oder wie «zurückhaltend» oder meinetwegen «ängstlich» man ist, es zu tun. Uns trennen oft Welten von «damals». Sie hinter sich gelassen zu haben, ist nicht feige, sondern doch eher befreiend.

Frank erkennt bei einem Ausstellungsbesuch, dass die Malerei seine Stimme sein muss. Von dem Moment ist klar, er muss Maler werden. Alles, fast alles in seinem Leben, richtet sich danach aus. Erst sein Zeichnen, später sein Malen, seine Kunst, seine Form des Ausdrucks wird zur Manie. Ein Drang, bei dem das New York der Achtzigerjahre der einzig mögliche Ort des Gedeihens sein kann. Du beschreibst sehr eindrücklich, wie nah einem diese Manie an den Abgrund führen kann, ein Abgrund, dem du als Schriftsteller bestimmt immer wieder begegnest. Wie schafft man es, sich nicht zu verlieren?
Ich frage mich eher, wie man es schafft, sich als Autor zu verlieren und trotzdem arbeiten zu können. Wenn ich regelmässig am Abgrund gestanden hätte, gäbe es mich als Autor wohl längst nicht mehr. Ich lebe wie wohl die meisten anderen Autoren auch, ein eher «durchschnittliches» Leben, in dem die Arbeit zwar vielleicht der wichtigste Aspekt ist, aber keiner, der mich verschlingt. Das ist mir ohnehin eine zu romantische Vorstellung des Künstlers. Natürlich gab und gibt es, insbesondere bei den Bildenden Künstlern, immer wieder welche, die von ihren Manien fortgerissen wurden, aber zu ihnen zähle ich mich sicher nicht. Ich nehme mir – wenn ich denn danach suchen müsste – eher ein Beispiel an Nabokov, dessen grösster Wunsch es stets gewesen war, in vornehmen Hotels zu wohnen, um dort über Menschen zu schreiben, die – getrieben ihren fixen Ideen – von billigem Motel zu Motel hinterherhechelten. 

Frank malt, der Erzähler in deinen Roman macht Filme. Du schreibst, du schreibst auch immer wieder über Musiker. Ob Maler, Schriftsteller, Dichter oder Musiker – sie alle erzeugen Bilder, Bilder, die keine Wahrheiten abbilden wollen. Und trotzdem wird die Kunst immer und immer wieder am Grad ihres realen Spiegelbilds gemessen. Ein ewiger Kampf. Und gerade der Film wirbt dann auch noch gerne mit dem Untertitel „Nach einer wahren Begebenheit“. Höhlen diese permanenten Erklärungsversuche, das Erschaffene am Realen messen zu müssen, nicht irgendwann aus?
Nicht, wenn sie für den Autor gar nicht entscheidend sind. Auch er erzeugt Wahrheiten, egal worauf sie basieren; seine Fantasie und deren Produkte sind ja genauso real wie das Kind, das über die Strasse geht und von einem Auto überfahren wird. Jetzt genau wird es in der Fantasie des Lesers überfahren, also real. Dieser Satz ist also wahr, solange ihn jemand liest, zumindest kurzfristig. Es ist völlig egal, ob sein Inhalt auf einer wahren Begebenheit beruht oder nicht, ob der Erzähler uns eine Lüge auftischt oder nicht. Das Kind wird überfahren, weil es nicht aufpasst. Gerade noch einmal – diesmal mit einem erklärenden Nebensatz. Es ist am Leser zu entscheiden, für wie wahr er diese Geschichte hält, und am Autor liegt es, sie glaubhaft erscheinen zu lassen. Die Frage nach der «wahren Begebenheit» oder dem Faktencheck ist also nicht die Frage, die die Literatur sich stellen muss. 

Frank schafft es nie, sich als Maler einen Namen zu machen. Das Meer all jener, die es in der Welt der Kunst trotz Leidenschaft und Akribie nie zu lebensnotwendiger Aufmerksamkeit schaffen, ist riesig. Posthum scheinen es seine Bilder für einen kurzen Moment zu schaffen, um dann wie in einem Traum wieder von der Bildfläche zu verschwinden. Eine Form der natürlichen Verschwendung?
Würde Frank nicht früh sterben, hätte er sich vermutlich den Namen gemacht, den er verdiente. Seine Geschichte als Maler ist eine Geschichte reduzierter Möglichkeiten. Er hat zu wenig Zeit, und die Zeit, in der er lebt, ist wohl auch nicht die Zeit, in der es jene Menschen gibt, die er auf sich aufmerksam machen kann. Natürlich Verschwendung? Vielleicht.

Franks Bilder sind laut. Sie schreien. Sie provozieren. Dass Provokation ein Teil der Kunst ist, scheinen die wenigsten zu verstehen. Lieber wäre vielen Kunst bloss als nette Verzierung, hübscher Schmuck. Was war das Urmotiv, als Du Dich ans Schreiben dieses Romans machtest, steckt doch in deinem Roman ganz offensichtlich auch Provokation?
Ich sehe die Provokation nicht, lasse mich aber gern eines Besseren belehren. Das Urmotiv ist wohl die Geschichte meines Vaters, der während seines Lebens immer wieder Phasen hatte, in denen er malte – und keineswegs als Dilettant. Er malte, hat aber nie ausgestellt. Seine Bilder existierten also nicht und hatten keinen Marktwert. Nach seinem Tod haben wir Brüder einen letzten Effort unternommen und einen jungen Galeristen gefunden, der für diese Bilder regelrecht entbrannte und eine Ausstellung organisierte, die sehr erfolgreich war. Plötzlich waren die Bilder, die vorher kaum jemand kannte, da. Sie wurden gesehen, es wurde darüber geschrieben, sie wurden verkauft. Eine späte Genugtuung, ähnlich jener, die Frank in meinem Roman «erfährt», auch er erst nach seinem Tod.

Noch vor wenigen Jahren erklärte man Aids zur Volksseuche. Eine Tatsache, die viel mehr Opfer forderte als die Krankheit selbst. Heute ist Aids aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit verschwunden. Es gibt Medikamente. Du beschreibst die ganz persönliche Scham deines Erzählers. Geht es aber nicht viel mehr darum, dass man sich nie mit den tatsächlichen Folgen von Aids auseinandersetzte?
Die Betroffenen setzen sich auf die eine oder andere Weise bis heute damit auseinander. Dass die Nichtbetroffenen das nicht tun, ist nachvollziehbar. Alles in allem hat man die «Seuche», die keine «Volksseuche» war, sondern zunächst vor allem ganz bestimmte Menschen – eigentlich nur Männer – betraf, gut gemeistert. Das lag an besonnenen Politikern – es gab auch andere – und Medizinern, die sich nicht hysterisieren und manipulieren liessen.

Alain Claude Sulzer, 1953 geboren, lebt als freier Schriftsteller in Basel, Berlin und im Elsass. Er hat zahlreiche Romane veröffentlicht, u.a. «Ein perfekter Kellner», «Zur falschen Zeit», «Aus den Fugen» und zuletzt «Doppelleben«. Seine Bücher sind in alle wichtigen Sprachen übersetzt. Für sein Werk erhielt er u.a. den Prix Médicis étranger, den Hermann-Hesse-Preis und den Kulturpreis der Stadt Basel.

«Die Jugend ist ein fremdes Land», Rezension

«Unhaltbare Zustände», Rezension

Webseite des Autors

Beitragsbild © Lucia Hunziker.

Mariann Bühler «Verschiebung im Gestein», Atlantis

Angesichts unserer eigenen Endlichkeit erscheint das, was wir an Welt wahrnehmen, in eine Ewigkeit getaucht, unverrückbar, „in Stein gegossen“. Aber selbst das, was fest erscheint, ist einem Fliessen unterworfen. Mariann Bühler beschreibt drei Leben, die aufbrechen, zu fliessen beginnen, die sich verschieben, eine neue Richtung bekommen. Mariann Bühler tut dies derart souverän, dass das Staunen zum Schaudern wird!

„Verschiebung im Gestein“ ist Mariann Bühlers Debüt. Debüt ja, aber bereits ein Meisterstück! Mariann Bühlers Roman besticht vielfach; zum einen die Konstruktion, das Übereinanderschichten verschiedener Leben, weiter die Sprache, die sich einer ganz feinen Beschreibung zuwendet, nichts Reisserisches braucht und mit grosser Empathie und mit fein ziselierten Schilderungen glänzt und einer maximalen Nähe zum Geschehen. Es sind die Geschichten von Suchenden, die auf ganz unterschiedliche Weise durch die Sedimente des Lebens geführt, geschoben und gezogen werden. Mariann Bühlers Roman ist Lesegenuss der Extraklasse. Ein Versprechen!

Mariann Bühler «Verschiebung im Gestein», Atlantis, 2025, 208 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-7152-5040-3

Elisabeth lebt und arbeitet in einem Dorf. Der Tod ihres Mannes bringt sie gänzlich aus dem Trott, lässt sie taumeln, obwohl die Ehe mit ihm nicht das gebracht hatte, was sie sich noch zu Beginn erhofft hatte. Sie führten über Jahrzehnte die Bäckerei im Dorf, ein Geschäft, das Jakob so wie immer führen wollte und die vorsichtigen Änderungs- und Anpassungsvorschläge seiner Frau stets mit Trotz und aufbrausenden Drohungen quittierte. Drohungen, die Jakob mitunter auch mit Schlägen verdeutlichte. Elisabeth, ein halbes Leben in die Pflichten einer Familienfrau, Mutter, Ehefrau und „Angestellte“ eingebunden, muss sich nach dem Auszug ihrer Tochter und dem Tod ihres Mannes neu aufstellen. Das alte Leben soll enden, auch die Rolle, die Elisabeth im Dorf einzunehmen hatte. Nach Wochen, in denen die Notiz an der Eingangstür zur Bäckerei langsam zu vergilben begann, öffnet Elisabeth wieder die Tür zur Bäckerei. Nur mit dem Unterschied, dass sie es ist, die nun den Lauf der Dinge bestimmt.

Alois ist Bauer. Ob er den Hof damals hätte übernehmen wollen, stand nie zur Frage. Er wuchs über die Jahre in diese Rolle hinein. So wie seine Eltern alt und gebrechlich wurden und mit der Zeit die Kraft nicht mehr hatten, so gab er sich immer mehr in die Aufgaben des Bauern hinein. Eine Aufgabe, die mehr und mehr zu seiner wurde, eine Selbstverständlichkeit, ein Naturgesetz. Aber in Alois stiller Ergebenheit blieb stets ein Rest Zweifel. Sollte es das gewesen sein? Nur schon die dauernden Sticheleien der Eltern, weil sich keine Bäuerin finden wollte, oder die Erzählungen im Musikverein von grossen Abenteuern, stellen Alois Innenleben auf eine harte Probe. Selbst seine Schwester, die mit ihrer Familie im gleichen Dorf lebt, spürt, dass da etwas ist, was ausbrechen will. Bis sich Jakob entschliesst, den Hof zumindest für ein Jahr zu verpachten und reissaus zu nehmen, all die Pflichten hinter sich zu lassen.

Und da ist Ruth, von der Mariann Bühler manchmal in der dritten Person, als Ruth erzählt, und manchmal in der Du-Form, als wäre die junge Frau gleich neben der Erzählstimme, würde sie sie durch das Geschehen schieben. Die junge Frau kehrt ins Dorf zurück, holt sich die Schlüssel für das schon lange unbewohnte Ferienhaus hoch über dem Dorf. Einem kleinen Haus, in dem die Zeit still gestanden ist, die Luft sich über Jahre nicht bewegte. Das Haus soll verkauft werden. Ruth trägt ihr Leben hinauf in dieses Haus, die Suche nach ihrem Platz, die Bilder und Stimmen aus ihrer Vergangenheit, einer Familie, in der sich der Schmerz tief eingegraben hatte.

Mariann Bühler erzählt von drei Leben, die sich erst nach und nach miteinander verweben. Drei Leben, die sich über- und untereinder verschieben, aufeinanderstossen und sich aufwerfen wie tektonische Platten. Erst über die Zeit wirksame Kräfte, die an ihren Rändern brechen und Abgründe sichtbar machen. Ein beeindruckendes Kunststück! Ein Buch, dass das Herz öffnet.

Interview

Nun ist er draussen, Dein erster Roman, an dem Du ganz offensichtlich sehr lange und intensiv gearbeitet hast. Was bis vor kurzem noch ganz Dir gehörte, liegt nun auf Tischen in Buchhandlungen zum Kauf bereit, wartet auf Nachttischchen und in Bücherstapeln auf die Lektüre und auf den Schreibtischen der Rezensenten auf Zuspruch oder Ablehnung. Wie sehr verändert die Veröffentlichung Deines Buches Dein Leben, oder zumindest die zeitliche Ausrichtung?
Diese Frage würde ich in einem Jahr vermutlich anders beantworten, jetzt, kurz nach Erscheinen des Buches beantworte ich sie so: Ich freue mich darüber, dass ich diesen Text und seine Figuren nun mit allen, die ihn lesen wollen, teilen kann. Und ich freue mich auf die Reaktionen darauf – darauf, dass ich dank den Leser*innen den Text selbst noch einmal mit neuen Augen sehen kann. Ich bin gespannt, was auf mich zukommt, welche Wege dieser Roman nehmen wird. Und wie das weitergeht mit meinem Schreiben. 

© Mariann Bühler

Die Menschen, von denen Du erzählst, sind Gefangene. Sie alle versuchen auf die eine oder andere Weise auszubrechen, geschoben oder gezogen. Ich bin sicher, dass Du mit dem Thema Deines Romans eine menschliche Ursehnsucht ansprichst, seien es nun kleine oder grosse Ausbrüche, haben wir Menschen doch wie kein anderes Lebewesen die Fähigkeit, uns selbst zu fesseln, zu blockieren – bis zur vollkommenen Lähmung?
Wir alle sind Teil eines Gefüges – da sind zwischenmenschlich Beziehungen, die über Jahre wachsen und uns prägen, ein soziales, berufliches, familiäres Umfeld, das uns ebenso formt wie wir unseren Platz in der Welt mitformen. In manchen Situationen verspricht das Verharren im Bekannten mehr Sicherheit als eine Verschiebung ins Unbekannte. Gleichzeitig geschehen manche Veränderungen, ob wir wollen oder nicht. Auch wenn die Situation eng aussieht, wenn es scheint, dass alles stillsteht, gibt es einen kleinen Spielraum. Ich mag das englische Wort für Spielraum, «wiggle room», wiggle heisst wackeln oder schlängeln, ich stelle mir einen ganz kleinen Raum vor, der sich durch konstante, kleine Bewegungen verändern und erweitern lässt. Ich mag dieses Bild, darin ist eine Zuversicht. 

Warum schaffen wir es nicht, Veränderungen selbst zu provozieren? Warum gelingt uns eine Veränderung meist erst dann, wenn wir sie im Windschatten anderer Ereignisse vollziehen können, wenn das Beben bereits stattgefunden hat, wenn die Risse in den Versteinerungen aufgebrochen sind?
Wir können alle nicht aus unserer Haut. Unser bisheriges Leben hat sich in uns eingeschrieben, hat unsere Möglichkeiten und Grenzen geformt. Tiefgreifende Veränderungen geschehen nicht notwendigerweise mit Pauken und Trompeten und einem einzigen umgelegten Hebel, sondern leise, über eine lange Zeit, unter der Oberfläche. 
Für meine Figuren kommt das Beben nicht plötzlich. Auf den ersten Blick vielleicht, aber bei genauerem Hinsehen wird klar, dass sich das schon lange angebahnt hat. Wie die tektonischen Verschiebungen, die lange bevor wir sie begreifen konnten, stattgefunden haben, braucht es manchmal Zeit, die Risse, die Aufbrüche als solche wahrzunehmen. 

Ich bin tief beeindruckt von der Sprache und der Erzähltechnik Deines Romans. Wie weit bist Du Deiner Intuition gefolgt? Oder war da eine Strategie, ein Plan? Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Roman das Resultat eines chronologischen Schreibens sein kann. Viel mehr macht er den Eindruck, als wäre es der Sud eines langen Entstehungsprozesses, ohne dass der Roman dabei seine Leichtigkeit eingebüsst hätte.
Der Entstehungsprozess war alles andere als geradlinig. Ich bin im Arbeitsleben die, die für alles eine Liste und einen Plan erstellt. Im Schreiben funktioniere ich offenbar anders. Erst ganz am Schluss gab es eine Liste, die mir den Überblick über die Kapitel erleichterte und die Struktur, die Schichtung, zeigte. 
Davor war alles in Bewegung. So viel in der Schwebe zu halten, war manchmal schwer erträglich, im Nachhinein aber wichtig: Ich konnte Szenen, die nicht funktionieren wollten, an einen anderen Ort schieben, in ein anderes Lebensalter der Figur – oder sie einer ganz anderen Figur zuordnen. So wurde manchmal ein scheinbar unwichtiges Motiv, von dem ich mich nicht recht trennen konnte, wie die Narbe an Alois’ Finger, zentral. Bei jeder Figur gab es einen – manchmal ziemlich ausgedehnten – Moment, wo es nicht weiter ging, wo sich etwas in meiner Wahrnehmung verschieben musste, damit etwas, das ich nicht geplant und manchmal nicht einmal geahnt hatte, Form annehmen konnte. Auf das Geologische bin ich per Zufall gestossen. Ich bin staunend in diese Sprache eingetaucht, die mir genau die Bilder und Prozesse geliefert hat, die mir fehlten. 
Der Text hat die lange Gärphase gebraucht, ich habe sie gebraucht, um besser zu verstehen, was ich schreibe und wie ich schreibe. Welche Möglichkeiten ich habe und wie ich sie nutzen kann. Dem Prozess zu vertrauen und nichts voreilig festzumachen. 

© Mariann Bühler

Da gibt es Szenen in der Backstube oder im Stall, die unmöglich ohne persönliche Erfahrungen hätten entstehen können. Ganz offensichtlich wolltest Du nicht nur bei deinen ProtagonistInnen nah rangehen, sondern auch in dem, was sie tun. Kannst Du melken und grosse Mengen Brot backen?
Mir war es wichtig, diese Arbeitsprozesse abzubilden, weil sie viel über die Figuren erzählen und auch als Gegenstück zu den geologischen Verschiebungen. Das Backen und Melken sind auf den ersten Blick repetitive Arbeiten, die jeden Tag gleich geschehen. Gleichzeitig verändern sie sich dauernd: Wer backt oder melkt, braucht ein grosses Erfahrungswissen und ist sich einer Vielzahl von Faktoren bewusst, trifft dauernd kleinste Entscheidungen, um den Prozess an die aktuellen Gegebenheiten anzupassen, führt also dauernd die für das Gelingen nötigen Veränderungen herbei. So durch und durch gekonntes Handeln finde ich sehr schön – fast wie ein Tanz. 
Ich habe selbst zwar einmal gelernt, ein Melkmaschinenaggregat an ein Euter zu hängen, und würde von Hand etwas Milch aus einer Kuh bekommen, aber wirklich melken kann ich nicht. Beim Backen ist es ähnlich, ich backe gerne mal einen Zopf, aber in grossen Mengen Brot backen, das kann ich nicht. Da war ich beim Schreiben auf das Wissen anderer angewiesen. Ich habe zum Beispiel eine Bäuerin besucht, die jede Woche aus mehreren hundert Kilo Mehl Brot backt, konnte ihr bei der Arbeit zuschauen und Fragen stellen. Das war sehr wichtig: Den blossen Ablauf dieser Arbeit hätte ich aus Texten und Videos zusammenschustern können, aber beim Beobachten wurden die Bewegungen, Konsistenzen, Materialitäten, das ganze verkörperte Wissen, wahrnehmbar. 
Beim Melken und auch beim Holzen war es ähnlich: Die Bewegungen und Körperhaltungen kenne ich seit meiner Kindheit, meinte, mich an die Abläufe erinnern zu können – und musste dann feststellen, dass meine Erinnerung ungenau war. Zum Glück hatte ich einen Testleser für die landwirtschaftlichen Dinge, der mir Reihenfolgen und Aufgabenteilungen geradegerückt hat. Das lässt sich nicht googeln, um das zu vermitteln braucht es Menschen mit entsprechendem Wissen. 

Was mich ebenfalls beeindruckte, sind beschriebene Stimmungen. Seien es Stimmungen in Szenerien oder solche in den Innenwelten deiner ProtagonistInnen. Klar ist Empathie eine Voraussetzung, um sich in solche Innenwelten hineinzubegeben. Wann merkst Du, dass das Gleichgewicht zwischen Nähe und der nötigen Erzähldistanz erreicht ist?
Da muss ich nachdenken. Die Stimmungen waren mir wichtig, vielleicht, weil sich damit manchmal die Innenwelten nach aussen übersetzen lassen, wenn den Figuren nicht nach Reden ist. Die können und wollen nicht alles in Worte fassen, was in ihnen vorgeht. Da habe ich versucht, ihre Umgebung so zu beschreiben, dass nachvollziehbar wird, was in den Figuren vorgeht. 
Ich glaube, bei den Figuren entsteht das Gleichgewicht in der Bewegung, im Wechsel zwischen Nähe und Distanz. Die richtige Erzähldistanz zu finden war nicht ganz einfach. Der Vorteil war, dass ich zwischen den Strängen hin und her wechseln konnte. Wenn ich bei Elisabeth nicht weiterkam, konnte ich beispielsweise zu Alois wechseln und schauen, ob der gerade gesprächiger ist. Das brauchte Geduld: So, wie wir anderen Menschen nicht im ersten Gespräch unsere tiefsten Geheimnisse verraten, musste ich die Figuren erst kennenlernen, langsam erarbeiten, was sie umtreibt und mich manchmal ebenso selbst überraschen lassen wie auch mal einzugreifen als Autorin, bewusst eine Weiche stellen im Text. 
Die Distanz zu den Figuren verändert sich noch immer: Anfangs war es nicht leicht, ihnen nah genug zu kommen. Kurz vor dem Ende der zweiten Fassung waren sie mir so nah, dass ich abends nicht einschlafen konnte vor Sorge um sie, ob das alles gut kommt – eigentlich absurd, schliesslich gab es sie nur in meinem Kopf und in einer Datei. Und jetzt, wo das Buch da ist, gehen sie ihre eigenen Wege. 

Mariann Bühler, geboren 1982 in der Nähe von Luzern, hat in Basel und Berlin Englische Literatur­ und Sprachwissenschaft, Islamwissenschaft und Gender Studies studiert. Sie lebt als Autorin, Literaturvermittlerin und Veranstalterin in Basel. «Verschiebung im Gestein» ist ihr Romandebüt; für einen Auszug aus dem Manuskript wurde sie mit dem Zentralschweizer Literaturpreis ausgezeichnet.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Ayse Yavas

Katharina Winkler «Siebenmeilenherz», Matthes & Seitz

Statistisch wurden 2023 in Deutschland über 18000 sexuelle Übergriffe an Kindern polizeilich erfasst. Über eine Million Deutsche erlebten im Laufe ihres Kindseins einen sexuellen Übergriff. Wie kaum eine andere Kunstgattung nimmt sich die Literatur dieser heiklen Thematik an – und Katharina Winkler mit unsäglich tiefgreifender Empathie!

Nicht auszudenken, wie hoch die Dunkelziffer sein wird. In der Schweiz erlebt rund jedes siebte Kind mindestens einmal sexualisierte Gewalt mit Körperkontakt durch Erwachsene oder ältere Kinder. Ungeheuerliche Zahlen, von denen niemand gerne spricht, am wenigsten die Politik, werden doch die meisten Übergriffe von Familienmitgliedern begangen. Monströse Zahlen und ebensolche Vorstellungen, wie all die Kinder und all die Erwachsenen, die solches als Kinder über sich ergehen lassen mussten, mit dem umgehen sollen. Ein Alp, bei dem weder Justiz, Medizin noch Psychologie heilen können, weil die Betroffenen mit dem Erlebten weitgehend alleine bleiben und sich die offenen Wunden über Jahre und Jahrzehnte tief in die Seelen fressen.

«Hast du Papa lieb?
Ja»

Katharina Winkler «Siebenmeilenherz», Matthes & Seitz, 2024, 240 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-7518-0961-0

Einen Roman darüber schreiben? Schon alleine das Risiko, nach der Veröffentlichung permanent der Neugier der Leserinnen und Leser ausgesetzt zu sein, ob das Erzählte autobiografisch sei, könnte abschrecken. Nicht weniger der potenzielle Vorwurf, doch gar nicht in der Lage zu sein, ohne eigene Erfahrung solches glaubhaft erzählen zu können. Literarischer Treibsand! Aber Katharina Winklers Roman „Siebenmeilenherz“ entzieht sich diesen Risiken, weil seine sprachlichen Qualitäten alle Risiken überstrahlen. Weil er in seiner Form so geschrieben ist, dass er sich so weit wie möglich von Betroffenheitsliteratur unterscheidet. Wer das Buch aufschlägt, glaubt in einem Gedichtband zu lesen, was in gewisser Weise auch stimmt, denn „Siebenmeilenherz“ erzählt lyrisch, manchmal in ganz kurzen Zeilen, manchmal repetitiv, wie ein Lied, ein Aufzählvers, ein Gebet.

«Ich bin vom Erdboden verschluckt.
Niemand sieht mich.
Niemand weiss.
Ich hoffe, ich bleibe für immer verborgen.»

Ganz zu Beginn des Buches ist die Erzählstimme die eines kleinen Mädchens, das ganz und gar nicht versteht, wie ihr geschieht, das verzweifelt nach Liebe und Geborgenheit sucht, sei es bei ihrem Vater, der sie zu seiner Prinzessin erhebt, einen Geheimbund mit ihr schliesst, nachts am Bett jede erdenkliche Grenze überschreitet – und einer Mutter, die in kalter Distanz und Abweisung wohl einfach nicht wissen und sehen will. Im Laufe des Buches wird die Stimme älter, reifer, wissender, aber auch verzweifelter, weil die junge Frau keine Möglichkeit sieht, ihrem Alp zu entfliehen, obwohl da immer wieder einmal eine Hand wäre, die sich ihr anbietet. Aber wer verrät schon seine Nächsten. Woher die Kraft, vom Opfer zur Anklägerin zu werden, sich zu erheben und den Vater zu konfrontieren. Sie ist alleine, erst recht, als da ein Mann ist, eine Liebe, irgendwann gar ein Kind in ihrem offenen Bauch. Wird man irgendwann sehen, was sie erdulden, über sich ergehen lassen musste.

«Widerhaken, die sich im Kopf verfangen
und sich nicht verflüchtigen.»

Die suchende Sprache des Kindes im ersten Teil des Buches, die Unfähigkeit des Benennens, des Nicht-Einordnen-Könnens schmerzt förmlich bei der Lektüre, ebenso die Ausweglosigkeit, die alles einnehmende Einsamkeit der jungen Frau, die scheinbar unrettbar verloren ist im Gefängnis ihrer Erinnerungen, ihres Schmerzes, ihrer Versehrtheit. «Siebenmeilenherz» ist ein buchlanges Selbstgespräch, der verzweifelte Versuch eines Auf- und Ausbruchs.

Ich las „Siebenmeilenherz“ mit angehaltenen Atem, voller Scham, voller Angst, auch in meiner Umgebung Zeichen nicht zu sehen, unangemessen zu reagieren.

Phantastisch ist Katharina Winklers Sprache, die Form, mit der sie auf ganz eigenwillige Weise dem Schrecken nicht bloss begegnet, sondern sich ihm mit einer ungeheuren Direktheit aussetzt. Da hat sich eine Autorin ein Herz genommen, um mit Siebenmeilenstiefeln ins Herz dieses Sturmes, ins windstille Auge der Tornados zu rennen.

Interview

Was dem Mädchen in seiner Familie widerfährt, sei es die Übergiffigkeit ihres Vaters oder die Kälte ihrer Mutter, was sie als Jugendliche, als Liebende, als werdende Mutter, als Verwundete und Gezeichnete ausstehen muss, ist höllisch. Und dieser Schwarm an Fragen, Selbstbezichtigungen, Schuldgefühlen, ein Trommelfeuer, dem sie nicht entfliehen kann. Ich selbst bin auch Vater. Was der Protagonistin geschieht, ist hunderttausendfach erlittenes Schicksal. Warum tut sich die Gesellschaft derart schwer hinzuschauen? Warum spüre ich selbst bei mir diesen Schauer, wenn ich darüber lese, schreibe oder spreche?
Diese Wirksamkeit ist das Wesen des Tabus. 
Sexueller Missbrauch in der Familie ist eines der letzten grossen Tabus. 
Der Tabubruch stösst naturgemäss auf Widerstand und ist schmerzhaft.
Ein Tabu entsteht, um Schmerz und Überforderung von der Gesellschaft abzuspalten. 
Es ist eine gesellschaftliche Übereinkunft, ein stillschweigend praktiziertes Regelwerk, unhinterfragt, strikt, bedingungslos, universell und ubiquitär. Wir sind darauf konditioniert. Ein Tabubruch fällt uns entsprechend schwer. Wir handeln gegen die Regeln des Kollektivs, gegen unsere eigene Konditionierung. Und wenn wir das Tabu brechen, bricht auch der darin gebundene Schmerz auf und die akute Überforderung.
Aber wenn wir das Tabu unangetastet lassen, manifestieren wir es – und damit auch den entsprechenden gesellschaftlichen Status quo. In unserer Gesellschaft bleibt sexueller Missbrauch in der Familie dann unangetastet und unverändert. 

Sie hätten einfach eine Geschichte erzählen können. Aber ganz offensichtlich reichte das nicht. Sie wählten eine ganz spezielle Form. Eine Art innerer Monolog, gespickt mit Textstellen, die an Lieder, Gebete, Märchen… erinnern. Wie kamen Sie zu dieser Form? War die Form schon von Beginn weg klar? Musste sie es sein, um darüber schreiben zu können?
Ich musste diese Geschichte aus der Innenperspektive erzählen. Ich wollte keinen Blick von aussen, jeden voyeuristischen Blick verhindern. Das Buch soll dem Leser ausschliesslich das Erleben aus dem Inneren der Figur ermöglichen. Denn ich wollte eine intensive Empathie des Lesers mit der betroffenen Figur, dafür musste ich den Leser so nah wie möglich an die Figur heranführen.  
Die gedicht-, lied- und märchenhaften Elemente in der Sprache sind der kindlichen Figur im ersten Teil geschuldet, in dem man erlebt, wie ein Kind in das von den Eltern dargebotene Weltbild wächst – ohne Möglichkeit zu hinterfragen oder zu relativieren. 
Dass diese Kindersprachenelemente auch im zweiten Teil präsent sind, in dem die junge Erwachsene geschildert wird, verdeutlicht, wie die kindliche Erfahrung das weitere Leben prägt. 

Auch die Zeichensetzung setzen Sie manchmal ausser Kraft. Warum?
Der Umgang mit der Zeichensetzung ist für mich eine ständige Gratwanderung. 
Meine Sprache ist sehr musikalisch gedacht. Leider ist das System zur Verschriftlichung von Sprache aber nicht so präzise wie die Notenschrift. Die Melodie, die ein Satz in meinem Kopf hat, ist manchmal gegenläufig zu der Melodie, die die grammatikalisch korrekten Interpunktionszeichen dem Leser nahelegen. 
Die Melodie der Sprache prägt die gedankliche Dynamik. Ein Punkt provoziert zum Beispiel den Abschluss einer Melodie und damit den Abschluss eines Gedankens, obwohl ich es oft wichtig finde, Melodie und Gedanke offen ausklingen zu lassen, damit sie weiter wirken und sich weiter entwickeln können. An entscheidenden Stellen verzichte ich deshalb manchmal auf den Punkt. 

Nichts ist so diffizil wie der Kosmos Familie. In keinem Gefüge ist so viel Liebe, Zuwendung, Zärtlichkeit und Nähe wichtig und Teil dieses Kosmos. Ausgerechnet in dieser ultimativen Intimität geschehen Übergriffe, die Wunden verursachen, die nie vernarben. Als ich das Abenteuer „Familie“ startete, war ich 23, meine Frau 21. Aus heutiger Sicht erscheint das beinahe fahrlässig, denn fast alles, was wir taten, geschah aus Intuition. In der Schweiz gibt es Ehevorbereitungskurse. Müsste es nicht viel mehr Familienvorbereitungskurse geben?
Eine optimale Vorbereitung auf das Leben ist eine schöne Idee und unbedingt zu verfolgen! Aber das Leben ist zu gross, zu kräftig, zu unberechenbar, um es in seiner Vielfältigkeit zu erfassen, geschweige denn zu antizipieren. Und Erfahrungen sind schwer vermittelbar. So stolpern wir im Grunde alle mehr oder minder unvorbereitet und oft auch stümperhaft durchs Leben. Als Individuum wie als Gesellschaft. Wir sind alle nicht vorbereitet auf ein Leben im 21. Jhdt.

Beklemmend bei der Lektüre ist die Einsamkeit der Protagonistin. Ich nehme an, dass sie in der Recherche mit vielen Betroffenen gesprochen haben. Wie schafften diese es, aus dem Bannkreis des Schweigens herauszutreten?
Durch die Tabuisierung des Themas spalten wir auch die Betroffenen von der Gesellschaft ab. 
Verschwiegene Geschichten trennen. Erzählte Geschichten verbinden. 
Die Erzählung ist der Weg aus der Isolation. 

Die Liebe zwischen Kindern und Eltern, Eltern und Kindern ist eine ganz eigene. Kinder überhöhen ihre Eltern, Eltern kompensieren durch ihre Kinder. Würde man in ihrem Buch alle unguten Szenen schwärzen, käme erst im zweiten Teil ein kritischer Blick zum Vorschein. Kinder lieben bedingungslos. Und ausgerechnet diese kindliche Bedingungslosigkeit wirkt bis ins Erwachsensein. Die Vertreibung aus dem Paradies?
Im Laufe des Individuationsprozesses muss jeder reflektierte Mensch sicher gehen, nicht nur ein Märchen zu sein, das die eigenen Eltern ihm erzählt haben. Und er muss die Welt auf dasselbe überprüfen. 
In Fällen glücklicher Kindheiten mag dies einer Vertreibung aus dem Paradies gleichkommen. 
Eine Desillusionierung ist es jedenfalls. 
Aber in vielen Fällen ist es wohl auch die Eröffnung neuer, besserer Welten. 

Katharina Winkler, 1979 in Wien geboren, studierte Germanistik und Theaterwissenschaft. Mit «Blauschmuck» (Suhrkamp) erschien 2016 ihr vielfach ausgezeichneter Debütroman. Das Buch wurde in sechs Sprachen übersetzt und erhielt u. a. den baskischen Buchpreis Premio Euskadi de Plata für den besten deutschsprachigen Roman sowie den französischen Prix du premier roman étranger 2017, den Preis für das beste fremdsprachige Debüt. 

Beitragsbild © Bernhard Schir

Ursula Fricker «Fangspiele», Atlantis

Vielleicht beschreibt „Familie“ das engste Band, den grössten Anker, mit dem wir uns durch ein Leben mit vielen Ungewissheiten trauen. Kein Wunder, ist kein Gefüge derart mit Idealen, Vorstellungen und Erwartungen behaftet wie „Familie“. Ursula Fricker lotet in ihren Romanen immer wieder dieses filigrane Gefüge aus. „Fangspiele“ ist ein Roman über die Blendungen der „Freiheit“.

Was Freiheit bedeutet oder wie frei wir uns in Wirklichkeit in unserem Leben bewegen, darüber streitet nicht nur die Politik und die Philosophie. Wie sehr die Freiheit des einen zur Last des andern werden kann, davon gibt es unzählige kleine und grosse Beispiele. Beispiele, die sich bis zur Katastrophe auswachsen. Nach welchem Massstab agieren wir? Was lässt uns etwas tun und was verhindert, etwas zu tun? Wie sehr lassen wir uns in unserem Leben einschränken, um Konventionen zu genügen, Rollen einzunehmen? Wie weit haben wir das Recht, unsere eigenen Bedürfnisse, unsere Wünsche zur allumfassenden Rechtfertigung unseres Tuns zu erklären?

Ursula Fricker «Fangspiele», Atlantis, 2024, 224 Seiten, CHF ca. 30.00,
ISBN 978-3-7152-5036-6

Ines und Lenni sind ein modernes Paar, beide erfüllt in ihrem Beruf, auch wenn sich beide im Laufe ihrer Karriere anzupassen hatten. Sie kauften sich am Stadtrand Berlins ein Haus über einem kleinen See, renovierten es mit Hilfe ihrer Freunde zum grössten Teil eigenhändig und freuen sich am musikalischen Feingefühl ihrer einzigen Tochter Lea. Eigentlich passt alles. Eigentlich. Scheinbar.
Ganz zufällig, wegen einer Autopanne, lernen sie Edda kennen, eine charismatische, eigenwillige Frau in ihrem Alter, die mit einem Mal in ihr unaufgeregtes Leben tritt und alles aufmischt. Edda bewegt sich in der Theaterszene, wirbelt durch die Kunstwelt. Nicht nur auf der Bühne bleibt kein Stein auf dem andern, lösen sich Gewissheiten auf, reisst die Action Gewachsenes in ihren Strudel.

Auch ihre Tochter Lea schält sich aus ihrer Rolle als braves Kind, emanzipiert sich mehr und mehr, hängt ab mit ihrer Freundin Peggy. Plötzlich ist der Wunsch nach einem Tatoo viel dringlicher als das tägliche Cellospiel, obwohl Leas Lehrerin dem Mädchen ein grosses, auf keinen Fall zu vernachlässigendes Talent zuspricht. Auch Lenni hängt mit seinen Gedanken der einen oder andern verpassten Chance nach, nicht zuletzt dem versäumten Einstieg in die Forschung. Das Wartezimmer seiner Hausarztpraxis ist zwar immer voll. Aber auch er fühlt sich mehr und mehr in einem Zustand des Wartens.

«Was ist Einbildung und was ist real?»

Bis sich Lennis Frau Ines mehr und mehr von ihrer neuen Freundin Edda in ihre Theaterwelt einspannen lässt. Bis Ines mehr und mehr klar zu werden scheint, dass ihre eigentliche Berufung in den umtriebigen Theaterprojekten ihrer neuen Freundin liegt, Ines immer öfter abtaucht, manchmal auch für ein paar Tage. Bis man Lenni zu verstehen gibt, dass Ines auch an ihrem Arbeitsplatz das eine oder andere Mal unentschuldigt fehlte. Bis Ines bei einem Auftritt ihrer Tochter Lea trotz eines Versprechens wegbleibt. Nicht nur, dass sich Ines mehr und mehr aus dem Familiengefüge entfernt. Lenni weiss nicht, wie ihm geschieht. Was geschieht mit seiner Frau? Welche Rolle spielt die Frau, der man einst am Strassenrand aus der Patsche half? Warum wird aus Zweisamkeit, aus einer Familie plötzlich ein Trümmerfeld, in dem die letzten Gewissheiten einzustürzen drohen?

Und als Jasper, ein Freund aus alten Tagen ihm ein Angebot zurück in die Forschung macht, Lea die Aufnahmeprüfung an ein angesehenes Musikgymnasium schafft und sich die Bande zwischen Lenni und seiner Tochter Lea in der Not mit einem Mal verfestigen, als Lenni mehr und mehr hinnehmen muss, dass der Kampf um seine Ehe, die Mutter seiner Tochter aussichtslos wird, beginnen jene Fragen aufzuflammen, denen er sich ein Leben lang verweigerte.

„Fangspiele“ ist eine heftige Auseinandersetzung mit wichtigen Fragen der Zeit: Wo beginnt Manipulation? Was bedeutet „persönliche Freiheit“? Wie weit kettet uns Verantwortung? Ursula Frickers literarische Auseinandersetzung zeigt, wie dünn das Eis ist, auf dem wir uns mit fahrlässiger Sicherheit bewegen. Wie schnell Gewissheiten kippen können. Ursula Frickers Roman ist fein gesponnen und zeigt gekonnt, wie sehr wir uns in Automatismen bewegen, wie sehr wir gefangen sind von uns selbst. Wie schnell die Freiheit des einen zum Zwang des andern wird. Wie sehr die Befreiung dort zur Katastrophe hier werden kann.

Unbedingt lesen!

Interview

Keiner meiner Lebensabschnitte zeigte mir deutlicher, wie verwundbar das Gefüge „Familie“ ist, wie die Corona-Zeit. Wie verletzlich. Wie ausgesetzt. Leben wir nicht viel zu sehr in scheinbaren Gewissheiten? Richten wir uns nicht viel zu selbstverliebt ein Leben ein, das gefälligst nach unseren Wünschen und Bedürfnissen zu funktionieren hat?

Interessant an der Corona-Zeit war ja, dass Familien, von denen man glaubte, sie funktionierten recht gut, durch die erzwungene permanente Nähe an ihre Grenzen kamen. Zumindest in meinem Bekanntenkreis konnte ich das beobachten. In normalen Zeiten ist man ja selten so viel zusammen, man arbeitet, die Kinder sind in der Schule, man trifft sich vielleicht morgens zum Frühstück und abends zum Essen. Und plötzlich teilt man sich Ort und Zeit vierundzwanzig Stunden, sieben Tage die Woche. Die kleinen Freiheiten, die Nischen, die man sich geschaffen hat, werden ausgefüllt von der Präsenz der anderen. Man fühlt sich, man ist, unter Dauerbeobachtung. Leise und vorsichtig stellt sich die Frage, ob ein Zusammenleben über Jahrzehnte überhaupt nur klappt, indem man sich den grössten Teil der Zeit aus dem Weg gehen kann.

Wenn man länger mit jemandem zusammen lebt, lernt man den andern auf eine bestimmte Weise kennen. Man ist gezwungen, ihn, zumindest teilweise, in das eigene Selbst zu integrieren. So ergeht es auch Lenni und Ines. Gewiss- und Geborgenheit, aber auch Abhängigkeiten und Gewohnheiten ergeben ein Lebensgefüge. Vielleicht scheint es zunächst eine Anmassung, sich das Leben möglichst nach den eigenen Wünschen und Bedürfnissen einrichten zu wollen, aber es ist doch auch zutiefst menschlich. Im alltäglichen Zusammenleben allerdings, auch ohne Corona, sind Kompromisse unerlässlich. Gut, wenn das Zurückstecken gerecht verteilt ist. Ist es aber in den seltensten Fällen. 

Im Roman gibt es ja Verweise auf die Mutter von Ines, Grete, auch sie Ärztin, eine kernige, selbstbewusste Frau, die mit einem Mann verheiratet ist, der sie emotional misshandelt: Sind das nun Gretes Bedürfnisse, die dieser Mann abdeckt, oder warum bleibt sie bei ihm – und zwar freiwillig. Selbe Frage stellt sich bei Ines und Edda: Warum verharrt eine bisher selbstbestimmt lebende Frau in einer toxischen Freundschaft, obwohl sie diese jederzeit beenden könnte. „Edda ist nicht Mafia“, reflektiert Lenni an einer Stelle, „sie würde kein Rollkommando schicken, im Gegenteil, sie würde Ines morgen früh schon ersetzt und sie abends vergessen haben …“ Mich haben die beiläufigen psychologischen Mechanismen interessiert, die Menschen (jenseits ökonomischer Zwänge) veranlassen, illiberale Bedingungen nicht nur zu tolerieren, nein, sie sogar zu suchen.

Das echte „Haus am Hang“ in der Nähe von Buckow, in dem die Geschichte teilweise spielt. Ursula Fricker entdeckte  es vor vielen Jahren. Bis heute blieb es unverändert. © Ursula Fricker

Edda bringt das Leben von Lenni und Ines umfassend durcheinander. Für Ines die Befreiung, für Lenni die Katastrophe. «Was ist Einbildung und was ist real?“, schreibst du in deinem Roman. Ist nicht jede Wahrheit eine ganz persönlich gefärbte? Eine nur aus der persönlichen Geschichte zu begreifende?

Der Roman, aus Lennis Perspektive erzählt, ist ja auch eine Manipulation (des Lesers, der Leserin). Was Einbildung ist und was real, diese Ambivalenz durchzieht die ganze Geschichte. Auch Lennis Forschungsgegenstand, Placebo-Einsatz in der praktischen Medizin, streift diesen Komplex: Einbildung kann zu einer durchaus realen Verbesserung unterschiedlichster Beschwerden beitragen. Und ja, jede Wahrheit ist natürlich eine persönlich gefärbte. Aber was bedeutet „persönlich“, gibt es so etwas wie eine reine eigene Wahrheit überhaupt? Auch die eigene Wahrheit ist ja beeinflusst von Dingen, die wir lesen oder hören, von Moden und Trends. Von Menschen, die wir bewundern, denen wir nacheifern, mit denen wir uns identifizieren und vergleichen. „…wo verbindet der fremde Einfluss sich mit dem eigenen Wollen, und wie viel Mischung verträgt ein eigener Wille, um nicht plötzlich rot statt blau zu sein?, fragt Lenni an einer Stelle. Ein schmaler Grat also. Man spricht heute ja oft von „Blasen“.  Je nachdem in welchem Umfeld wir uns bewegen, kann die „Wahrheit“ einer solchen Gruppe als ureigene Meinung/Ansicht empfunden werden bzw. ist sicherlich die Neigung wiederum sehr persönlich, welchem Umfeld man sich zugehörig fühlt. Früher gab es dieses Phänomen der „Blase“ natürlich auch schon, aber die Wucht der gegenseitigen Bestärkung, die Ausschließlichkeit und auch die Unversöhnlichkeit potenziert sich, seit wir Social Media haben – gepaart mir einer zeitgeistigen Überinterpretation des eigenen Gefühls bzw. der Unfähigkeit, Gefühle mittels rationaler kritischer Distanz zu reflektieren.

Recherchereise 2019 der Autorin, Hiddensee, der Leuchtturm – wenn man genau hinsieht. © Ursula Fricker

Dass sich Katastrophen kulminieren können, wissen wir aus unserem Leben selbst. Und dass der Satz „Eines Tages wirst du wissen, wie sehr du in jenen Momenten gewachsen bist“ dann nichts Tröstliches hat, wissen wir auch. Wir wissen auch sehr wohl, wie schnell Gewissheiten wegbrechen können. Und trotzdem öffnen sich Abgründe. Warum sind wir so harmoniebedüftig?

Gewissheit ist ja erstaunlich selten mit „wirklich wissen“ assoziiert und noch seltener mit Wissenschaft, vielmehr mit Erfahrung, mit Glauben, Vertrauen, mit Gefühl. Gewissheit ist also eine subjektiv geprägte, persönliche oder auch gruppenbezogene „Wahrheit“. Nehmen wir Gott als wohl bekanntestes Beispiel. Für Menschen im Mittelalter war Gott eine Gewissheit – durch vom Glauben geprägte Erfahrungen. Phänomene schrieb man umstandslos dem göttlichen Wirken zu. Gott (der Klerus) als unhinterfragbare Führungsinstanz lenkte und überwachte ein dichtes moralisches Regelwerk und verfügte entsprechende Sanktionen. Dem Einzelnen bot sich so eine Art Lebenskorsett. Eng geschnürt, aber auch Halt gebend. 

Emanzipatorische Strömungen, auch die Trennung zwischen Kirche und Staat im Zuge der europäischen Aufklärung/Säkularisierung haben uns von diesem moralischen Rigorismus nach und nach befreit. Heute sehen wir, zum einen in den USA, zum andern in islamisch bzw. islamistisch geprägten Ländern, die nie eine Aufklärung im westlichen Sinn durchlaufen haben, aber dennoch eine Weile recht freie Lebensweisen pflegten, einen beispiellosen religiösen Backlash. In den westlichen Gesellschaften, die USA habe ich ja schon erwähnt, aber auch bei uns, scheinen aktuell ebenfalls diverse religiöse oder quasireligiöse Entwicklungen Fahrt aufzunehmen. Autoritäre Führungsfiguren, seien sie dem rechten Spektrum zuzurechnen, seien es Verfechter moralisierender Sprach- und anderer ideologisierter Regelkomplexe, die absolut gesetzt werden. Parallel ist eine Romantisierung vermeintlicher Befreiungsbewegungen zu beobachten – bis hin zur Kontextualisierung von nackter Barbarei und der Rechtfertigung von politisch-religiösen Agenden, die uns allen eigentlich den Angstschweiss auf die Stirn treiben sollten. Das ist schon einigermassen absurd. 

Manchmal scheint mir, als ob kaum jemand so recht damit klarkäme, dass die Moderne dem Einzelnen viel Freiheit schenkt, aber auch viel Ambivalenz auferlegt. Dass das Böse nicht auf der einen, und das Gute auf der anderen Seite zu verorten ist. Vielleicht ist Freiheit ja eine so ungeheure Zumutung für den Menschen, dass er sich lieber autoritären Strukturen beugt, um dann umso heftiger von Freiheit zu träumen. Ich will das eigentlich nicht glauben.

Notizbuch von Ursula Fricker, © Ursula Fricker

Lenni glaubt an Manipulation; Edda ist die Zerstörerin. Lea, Ines und Lennis Tochter, versteht die Welt nicht mehr und verlässt in ihrer Not den Weg der Konfrontation, weil sie reflexartig spürt, dass mit dem Verschwinden ihrer Mutter ihr Boden zu Teibsand werden könnte. Selbst die scheinbare „Befreiung“ von Ines ist ein Klammern. Das Klammern an einen Traum, eine Idee. Ist nicht alles die Hoffnung auf Rettung?

Das Interessante an Ines ist ja, wie sie mit ihrer kognitiven Dissonanz umgeht bzw. nicht umgeht. Einerseits ist da Ines` bisherige, ausgesprochen selbstbestimmte Weise zu leben. Andererseits Eddas Theater, Avantgarde, Edda eine charismatische Figur, ein Guru, wenn man so will, die Opferbereitschaft fordert, die sich willkürliche Bestrafungen erlaubt, manipulativ. Warum möchte Ines so unbedingt mit Edda befreundet sein, zu dieser Gruppe um Edda gehören? Ist es wirklich nur der Traum, endlich Theater machen zu können, oder spielt da auch ein sehr eitles Motiv mit rein; möchte sie einfach gerne einem elitären Kollektiv angehören, ist es eine Art Fetischisierung des Aussergewöhnlichen, Eddas Machtmissbrauch ein Zug, der genialen Menschen halt zusteht? 

Will man irgendwo dazugehören, muss man sich im Grunde ja immer den dort herrschenden Bedingungen anpassen. Umso dringender dieser Wunsch, desto unfreier macht man sich selber – und umso exklusiver ein „Club“, desto verzweifelter möchte man ihm angehören, nicht selten auch um den Preis der Selbstentmündigung. 

Ja, Lea ist der Lichtpunkt in dieser Geschichte. Zumindest geht mir das so. Ein Mädchen, eine junge Frau, die unter den Entwicklungen in der Familie zwar leidet, aber intuitiv eine sehr eigenständige Stärke entwickelt. Verantwortung für sich selber übernimmt. Nicht primär nach der Schuld der anderen fragt, die Rettung nicht delegiert, sich selber rettet. Sie hält sich an das, was sie gut kann: das Cellospiel.  

Ines verschwindet aus ihrem alten, angestammten Leben. Wie oft spielen wir mit dem Gedanken, wie es wäre, wenn wir aus allen Pflichten und Zwängen aussteigen würden, kompromislos und unumstösslich. Wir kennen solche Biographien. Manche werden gar zu Heiligen. Und trotzdem zementieren wir unser Dasein, bis uns das Gewicht den Atem nimmt?

Der radikale Bruch. Die ultimative Befreiung. Bei Ines ist es ein wenig komplizierter. Sie geht ja nicht ins Offene; wenn man Lenni glauben will, vieles spricht dafür, begibt sie sich aus einer recht gleichberechtigten Partnerschaft sehenden Auges in eine manipulative Hölle. Mehr dazu habe ich ja oben schon ausgeführt. 

Wenn jemand aber aus einem Impuls heraus einfach geht, dann möchte man ihm unbedingt folgen. Man möchte sehen, wie er sich durchschlägt, wie er an Geld oder Essen kommt, wo er schläft. Es scheint sich, dem Tramp ähnlich, heute hier, morgen dort, um die totale Freiheit zu handeln. Ist es natürlich nicht. Aus Pflichten lässt sich vielleicht aussteigen, aber nicht aus Zwängen: zu essen, zu schlafen. Ich würde sogar sagen, die Beschaffung von Essen, das Suchen eines sicheren Schlafplatzes, mit anderen Worten, das Stillen der elementarsten Bedürfnisse, kann zu einer echten Plage werden, der Überdruss bleibt nicht aus. So oder so, das Leben hat Längen. Über weite Strecken passiert nicht viel. Und man gewöhnt sich leider auch an das aufregendste Leben. Sind das Gründe, nicht davon zu träumen? Natürlich nicht. Die Idee, einfach alles hinter sich zu lassen, ist wohl nichts weniger als eine archaische Sehnsucht. Esoteriker würden sagen, das Nomadische in uns. 

Und was uns hält, ist das Bedürfnis nach Sicherheit. Nach Schutz. Nach Kontinuität, Gewissheit, Struktur. Diese Bedürfnisse oder auch Notwendigkeiten, besonders wenn man Kinder hat, sind wohl letztlich doch stärker als eine Freiheit, die ja eigentlich auch gar keine echte Freiheit ist.

Dein Roman ist auch ein Buch über Wahrnehmung. Ein Thema, dass wie nie zuvor diskutiert wird, und zwar nicht bloss theoretisch oder philosophisch. Selbst Kriege werden mit kollektiver, ideologisierter Wahrnehmung gerechtfertigt. Ist Schreiben ein Versuch der Wahrnehmung?

Wahrnehmung ist ja eng mit Wahrheit verzahnt. Wie wir oben gesehen haben, verleitet die Wahrnehmung aus einer bestimmten Perspektive heraus dazu, diese spezifische Sicht der Welt auch für wahr zu halten. Und möglicherweise den Rest der Welt zu zwingen, dasselbe zu tun. Schreiben ist der Versuch herauszuarbeiten, wie unterschiedlich Wahrnehmung funktionieren kann. Literatur leiht dem Leser, der Leserin, fremde Augen, verführt zur Empathie, erstmal neutral verstanden. Die Definition von Empathie ist ja zunächst nur: „Die Fähigkeit und Bereitschaft, die Empfindungen, Emotionen, Gedanken, Motive und Persönlichkeitsmerkmale einer anderen Person zu verstehen und nachzuempfinden.“ (Wikipedia) Also bedeutet Empathie nicht nur, beispielsweise den Schmerz einer anderen Person mit- oder nachempfinden zu können, auch den Hass oder die Gleichgültigkeit eines Mörders. Das hat nichts mit rechtfertigen zu tun. Wir lernen daraus viel. Für unser eigenes Leben und vielleicht auch Über-leben.  

Dass wir uns in der Literatur sowohl als Schreibende als auch als Lesende in andere, fremde Wahrnehmungswelten versetzen dürfen, hat ein extrem wertvolles humanes Potential. Literatur ist eine Art Training, Ambivalenzen auszuhalten. Literatur weiss nicht schon, sie fragt. Sie muss frei sein von Instrumentalisierung. Ein Essentialismus der behauptet, nur Betroffene könnten beispielsweise Unterdrückungserfahrungen begreifen und logischerweise auch schildern (oder übersetzen) hat in der Literatur nichts zu suchen. Die oftmals verzerrte Wahrnehmung gruppenbezogener Perspektiven als einzige Wahrheit – das kann niemand wollen. Literatur ist zu soviel mehr imstande als der Exekution politischer Agenden; sie kann uns von der Vielfalt menschlicher Möglichkeiten erzählen, weit jenseits der kleingeistig-ängstlichen Vermeidung von Verstörung. Lea, im Kleinen, macht es vor: Das Leben verletzt, aber man kann darüber hinwegkommen.  

Ursula Fricker, 1965 in Schaffhausen geboren, hat bisher fünf Romane veröffentlicht, u.a. ihr viel beachtetes Debüt «Fliehende Wasser» (2004), «Außer sich» (2012), nominiert für den Schweizer Buchpreis, und «Gesund genug» (2022). Die in der Märkischen Schweiz bei Berlin lebende Autorin wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt im Herbst 2022 mit dem Georg Fischer Kulturpreis der Stadt Schaffhausen. Für «Fangspiele» erhielt sie einen Werkbeitrag der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia und den Brandenburgischen Kunst-Förderpreis für Literatur.

Beitragsbild © Ayse Yavas

Rebekka Salm «Wie der Hase läuft», Knapp

Zu glauben, die eigene Geschichte, die Geschichte der Familie, würde sich wie eine lange Kette Perle an Perle aneinandereihen, sie bestünde aus Nacherzählbarem, erliegt dem Irrtum, Geschichten wären Geschichte. Rebekka Salm erzählt von einer jungen Frau, die erkennen muss, das die Suche nach Klärung sich in einem Knoten offener Enden verstricken kann.

Was wir aus unserer Geschichte und den Geschichten unserer Ahnen mitnehmen, sind Versatzstücke. Mit der Wahrheit ist es wie mit den Sternen. Einige leuchten hell, die sehe man sofort. Andere seien zu schwach, um sie von blossem Auge sehen zu können, sagt Heinz zu Teresa, der Protagonistin in Rekekka Salms zweitem Roman „Wie der Hase läuft“. Teresa, die in Heinz Karres Brockenstube arbeitet, all den gestrandeten Dingen ein Preisschild anbringt und sie mit Geschichten belegt, Geschichten die die Dinge mit Bedeutung versehen. 

Wir interpretieren, was wir aus unserer Perspektive sehen. Wir geben Geschichten Bedeutungen, Gewicht. Teresa ahnt, dass in der Geschichten ihrer Familien schwarze Löcher jene Geschichten bedrohen, die ihr Selbstverständnis ausmachen. Nicht zuletzt darum, weil jene Menschen sterben, die erklären und klären könnten, was nie zu Ausgesprochenem wurde. So wie die Grossmutter ihres Mannes, Emma, die nach dem Tod ihres zweiten Mannes zurück in ihre Heimatstadt Amsterdam siedelte, dorthin, wo ein Mord sie einst aus ihrem Glück spülte. Teresa muss zusammen mit ihrem Mann Mirco die Wohnung der Grossmutter räumen, Zimmer voller Erinnerungen, voller Zeugnisse eines Lebens, das mit dem Tod Geschichten und Geschichte ins Vergessen reisst.

Rebekka Salm «Wie der HAse läuft», Knapp, 2024, 195 Seiten, CHF ca. 29.00, ISBN 978-3-907334-20-1

Mirkos Grossmutter Emma hatte schon vor ihrer Heirat mit ihrem Grossvater eine Geschichte. Damals gab es einen Mann, gab es Cees, mit dem sie verheiratet war. Ein versprochenes Glück, das nur ein paar Monate dauerte, bis in Cees Bäckerei 1943 ein Schuss fällt. Bis ein junger deutscher Soldat seine Walter zieht, weil Cees nicht aufhört, dieses eine Lied „Oh, du lieber Augustin“ zu singen, jenes Lied, das den Soldaten peinigt, weil es jenen Schmerz zurückbringt, vor dem er in der Uniform der Wehrmacht zu fliehen versucht. Der Soldat schiesst und Cees stirbt in den Armen seiner Frau, in Emmas Armen. Emma kommt in die Schweiz zu einer Tante, beginnt ein neues Leben, heiratet den schweigsamen Bruno, gründet eine Familie. Eine Familie, in der sich der Alp fortsetzt, ein Alp vor dem sich Teresa fürchtet, vor dem sie sich manchmal einschliesst in einem Schrank in der Brockenstube ihres Chefs. Weil der Schrank jener Ort ist, in dem sie Ordnung sucht, Erklärungen, in dem sie die Versatzstücke zuzuordnen versucht.

Wenn du wissen willst, wohin der Hase läuft, musst du wissen, aus welcher Richtung er gekommen ist, sagt sie zu ihrem Mann Mirco, der die Versessenheit seiner Frau nicht nachvollziehen kann. Ich muss Licht ins Dunkel bringen. Die Fallgruben markieren. Mirko will keine Antworten. Ihm genügen seine Ahnungen. Erst recht, weil Teresas Grossvater Wede damals im Krieg als junger Soldat in Amsterdam stationiert war. Erst recht, weil Teresa weiss, dass jener Soldat, der den ersten Mann jener Grossmutter in dessen Bäckerei in Amsterdam erschoss, den selben Namen trägt wie ihr Grossvater.

Teresa beginnt zu fragen. „Wie der Hase läuft“ erzählt Geschichten ihrer Eltern, Geschichten von Mircos Eltern, von den Grosseltern, all jener, die Spuren in ihrem Leben hinterliessen. Geschichten, die ahnen lassen, dass die Fassaden, hinter der sie sich verbergen, ganz andere Geschichten erzählen. Geschichten von Untaten, Geschichten von Entzweiung, Geschichten von Wunden. Während Rebekka Salm in ihrem Debüt „Die Dinge beim Namen“ das Geschichtengeflecht eines ganzen Dorfes in der Horizontale erzählte, ist „Wie der Hase läuft“ ein Geflecht in der Vertikalen, in der Zeit, über drei Generationen, in den Wirren der Historie, in den Leerstellen des Verborgenen. Rebekka Salms Roman ist nicht der Versuch „Licht ins Dunkel“ zu bringen, sondern die erzählte Erkenntnis, dass Wahrheit nicht zu greifen ist. Ein beeindruckender Zweitling!!

… und mindestens ein Grund für eine Reise nach Leukerbad ans Internationale Literaturfestival vom 21. – 23. Juni 2024!

Interview

Romane vermitteln, vielleicht zu oft, den Eindruck, sie würden Ordnung in Geschehnisse, in die Geschichte bringen. Aber sowohl die Historie, wie die ganz eigene Geschichte, ist die der Auslassungen, des Vergessenen, Verschwiegenen, Überblendeten. Ist „Wie der Hase läuft» die erzählte Widerlegung?
Eine Widerlegung vielleicht nicht – eher eine andere Sichtweise darauf. Oder eine Grossaufnahme des Stoffes, aus dem die vermeintliche Ordnung besteht. Ich glaube, dass wir als Menschen bestrebt sind, unser Leben und das Leben unserer Familie in eine konsistente und sinnhafte Geschichte zu verpacken. Aus diesen Geschichten wiederum konstituieren wir unser Selbstbild. Dagegen ist nichts einzuwenden. Ich selbst, mache es nicht anders. Auch ich brauche Ordnung (Daten, Namen, Erlebnisse, die alle schnurstracks und unverschnörkelt zu mir und dem heutigen Tag führen). Und doch glaube ich, dass diese Kausalitäten, die wir herstellen aus erzählten Fragmenten und Erinnerungen viel lückenhafter und viel weniger «objektiv wahr» sind, als wir uns das einzugestehen getrauen.

Sterben Menschen, sterben Ahnen, dann reissen sie Geschichten mit ins unwiederbingliche Vergessen. Selbst wenn wir in Wohnungen Verstorbener Ding für Ding in die Hand nehmen, ist ihnen die Bedeutung genommen. Erinnerungen werden zu reinem Material. Sie rematerialisieren sich. Du bist Mutter einer Tochter, Tochter einer Mutter. Ist die Art deines Erzählens die Vergewisserung, was Geschichte mit uns macht? Dass es nicht bloss die eine Sichtweise gibt? Dass es entscheidend sein kann, ob man die Fähigkeit des „Sich-hineinversetzens» erlernt?
Geschichten sind leicht und flüchtig wie Gas. So zumindest stehts im Roman «Wie der Hase läuft». Man kann sie – im Gegensatz zu den materiellen Hinterlassenschaften – schlecht greifen, nicht festhalten, ihren Wert nicht in Geld bemessen und auch nicht ihren Einfluss auf unser Selbstbild. Sind wir es, die Geschichten erfinden oder erfinden die Geschichten nicht viel eher uns? Es spielt eine Rolle, welche Geschichten meine Mutter mir erzählt hat und welche ich meiner Tochter erzähle. Es spielt eine Rolle, ob ich die Geschichten laut erzähle und mit stolzgeschwellter Brust oder ob ich sie verschämt flüstere. Es spielt eine Rolle, was man mir verschwiegen hat – aus Angst oder Unvermögen – und was ich wiederum verschweigen werde. Aber schlussendlich geht es vielleicht auch darum, dass wir lernen loszulassen und jede*r für sich die Wahrheit findet, die für sie*ihn lebbar ist.

Blick ins Notizbuch © privat

„Die Dinge beim Namen» war ein erzähltes Netz über ein ganzes Dorf, ein Erzählen in die „Horizontale» mit punktuellen Bohrungen in die Vergangenheit. Dein zweiter Roman scheint einem vertikalen Prinzip zu folgen, einer versuchten Bohrung in die Zeit, über drei Generationen und darüber hinaus. War das das Resultat der Erkenntnis, dass ein Zweitling dem Erstling nicht einfach folgen darf?
Ich denke beim Schreiben viel weniger strategisch, als ich vielleicht müsste. Ich habe «Wie der Hase läuft» nicht in Abgrenzung zu meinem Debüt geschrieben. Sondern vielleicht eher in Ergänzung? In beiden Romanen geht es um die Macht von Geschichten und die Frage, wie sicher wir uns eigentlich sein können, dass das, was wir für die Wahrheit halten, auch wirklich wahr ist. Aber im Vordergrund stand die Lust am Schreiben einer Familiengeschichte, am Detektiv-Spiel in Raum und Zeit, am Verwirrspiel: Was ist History und was «nur» Story?

Ein Leben auf der Flucht …. Ein Leben in steter Angst, entdeckt und gefressen zu werden. Wir können dem nicht entfliehen, was wir verursachen. Weder die ProtagonistInnen in deinem raffiniert konstruierten Roman, noch wir, die wir uns den Geschichten aussetzen. Die Tatsache, dass wir gefressen werden, freut die Pharmaindustrie und TherapeutInnen aller Couleur. Wir haben es noch längst nicht geschafft, das Schweigen zu durchbrechen. Teresa muss sich selbst befreien. Belügen wir uns selbst, indem wir glauben, Ängste, Verletzungen, ein Alp liesse sich „heilen»?
Heilen finde ich ein grosses Wort und eine nicht minder grosse Aufgabe. Ich bin aber auch keine Psychotherapeutin. Vielleicht geht es mir in meiner Deutung weniger um heilen und mehr um integrieren. Es gab schlimme Erlebnisse in meiner Familie, in meiner Kindheit? Ok. Sie gehören zu mir. Es gibt Lücken in meiner Geschichte, die nicht (mehr) zu schliessen sind? Gut. Auch sie gehören zu mir. Der Stoff, aus dem mein Leben besteht, ist weit weniger heil als ich es möchte – er ist löchrig, er hat dunkle Stellen. Aber es ist eben mein Stoff. 

der letzte Schliff im Haus am See Krämerstein © privat

Teresa arbeitet in einer Brockenstube. Ein Ort voller toter Erinnerungen. Sie erzählt den KundInnen in den vollgestellten Räumen Geschichten zu den Dingen, gibt ihnen Bedeutung zurück. Unsere Wohnungen, unsere Zimmer sind vollgestellt mit Erinnerungen, materialisierter Geschichten. Wenn wir sterben, ist ihnen der Zauber genommen. Aus Erinnerungen wird wieder reines Material, dass tonnenweise entsorgt wird. Brauchen wir all diese Erinnerungen, um uns zu vergegenwärtigen, um unserem Leben wenigstens den Anschein zu geben, eine Spur zu hinterlassen?
Ja. Und gleichzeitig scheint mir diese Antwort zu einfach. Wir kaufen und horten auch Dinge, weil sie schön sind. Weil wir uns daran freuen können Zeit unseres Lebens. Weil sie uns das Leben bequem machen. Weil sie die Bojen sind, die über Geschichten schaukeln, die wir gerne erzählen. Weil diese Geschichten uns an das kleine Glück erinnern – und manchmal auch an das grosse.

Rebekka Salm ist Gast am 28. Internationalen Literaturfestival in Leukerbad vom 21. – 23. Juni 2024!

Rebekka Salm, geboren 1979 in Liestal und wohnhaft in Olten, studierte Islamwissenschaften und Geschichte in Basel und Bern, arbeitet als Texterin, Moderatorin und Erwachsenenbildnerin. Mit ihrem bemerkenswerten Debütroman «Die Dinge beim Namen» (2022) schaffte sie es in die Bestsellerlisten und wurde bereits zu über hundert Lesungen eingeladen. Rebekka Salm wurde mit diversen Preisen ausgezeichnet: Förderpreise der Kantone Solothurn und Basellandschaft, Dreitannen-Förderpreis der Hans und Beatrice Maurer-Billeter-Stiftung.

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Beitragsbild © Frederike Asael