Katrin Seddig «Das Dorf», Rowohlt

Sechs Wochen Sommerferien für die 12jährige Jenny, ein unsäglich langer Sommer für den 17jährigen Schulabbrecher Maik, ein Sommer zum Vergessen für Arno, der mit seiner Familie weg aus der Stadt aufs Land zog, aufbrechende Sommerhitze für Helmut, der längst kein Bauer mehr ist, aber mit eiserner Hand Leben an sich fesselt, auch das der wilden «Nackten» – und vielleicht der letzte Sommer für Ingetraut, die Alte.

Es ist flimmernd heiss im Dorf. Eine Strasse zerschneidet die Siedlung, das was von ihr übrig geblieben ist, ein paar Häuser, kein Geschäft mehr, keine Schule, kein Gasthaus, in dem man sich trifft. Diejenigen, die schon lange im Dorf wohnen, sind alt geworden. Und jene, die jung sind, gehören irgendwie nicht dorthin. Weder die Verlorene mit ihrer Tochter Jenny, auch nicht Arno mit seiner Frau Caren und seinen Kindern. Auch Maik nicht, der in seinem Zimmer auf dem Bett liegend die Decke studiert oder mit dem Mofa ziellos in der Gegend herumfährt. Endzeitstimmung ohne die Geschehnisse in eine Dystopie zu transformieren. Katrin Seddig schafft es von der ersten Seite ihres neuen Romans «Das Dorf» die Szenerie in einen unsichtbaren Vulkan zu setzen. Als würde der Boden unter den Geschehnissen mit jeder Seite mehr beben und dampfen.

Jenny ist kein Kind mehr. Aber auch von niemandem der Erwachsenen ernst genommen. Im Dorf lebt niemand mit Kindern, ausser die Neuen in einem der Reiheneinfamilienhäuser, die sich aber nie zeigen. Da ist nur Maik, fünf unendlich lange Jahre älter, das Tor zu einer Welt, auf die Jenny aufspringen will, einer Welt, vor der sich Maik fürchtet. Es wird eine Freundschaft, die in den Augen der Erwachsenen keine sein darf. Welcher 17jährige gibt sich schon ohne Absichten mit einer 12jährigen ab. Aber genau das will Maik. Maik hat keine Absichten, gar keine, hängt in seinem Leben, zwischen nichts und den vorwurfsvollen Kommentaren seiner Mutter. Sie beide, Jenny und Maik, entfliehen dem, was an ihnen klebt, einem Leben, das sie nicht teilen möchten.

Im gleichen Dorf lebt Ingetraut, lebt noch, denn sie weiss, dass es nicht mehr lange dauern kann. Sie wartet auf ihre Erlösung, glaubt, dass Maik ein wichtiger Teil davon sein wird, ihr Erlöser, ihr Jesus. Denn im Dorf hockt der Wahn. In Helmut, dem brutalen Bauer, der seine Tochter Elke einsperrt, die wilde «Nackte», die auf ihren Liebsten wartet, den Albaner, den Arno in einem Geschäft an Helmut vermittelte, für das Stück Land, auf dem das Leben von Arnos Familie zur Ruhe kommen soll. Aber der Albaner ist weg, verschwunden.

Es kocht und brodelt. Man liest «Das Dorf» im Wissen um die drohende Katastrophe. Eine der Qualitäten des Romans ist seine Unvorhersehbarkeit. Man spürt die Hitze, das Böse im Verborgenen, den Dampf in den Rissen der Oberflächlichkeit. Ein Buch der Gegensätze, der Pole. Hier das Zarte einer Freundschaft zweier, die sich im Dazwischen von Kindheit und Erwachsenen bewegen, dort das Brutale hinter den Mauern des Festgefahrenen, Unumstösslichen.

Ein Interview mit Katrin Seddig:

Was reizte Sie am Schauplatz Dorf? Das leer gewordene Schulhaus, trüb gewordenen, ausgeräumte Schaufenster, Fässer und Autoreifen in Hinterhöfen, verschrobenes Personal und himmelschreiende Gegensätze?

Ich bin in einem sehr kleinen Dorf aufgewachsen und weiß, wie sich Dorfstrukturen mit der Zeit verändert haben. Auch in meinem Dorf gibt es keinen Dorfladen mehr, keine Poststelle, keinen Gottesdienst. Dennoch gibt es in mir und auch in vielen anderen eine Sehnsucht nach dem Landleben, nach der Natur. Es ziehen ja auch viele wieder auf das Land, die vorher in urbanen Strukturen gelebt haben und jetzt ausdrücklich das Gegenteil suchen. Daraus ergibt sich wieder eine neue Änderung der dörflichen Strukturen. Vereinzelt kehrt ja sogar Altes zurück, es werden Genossenschaftsläden gegründet, zum Beispiel. Das Thema hat mich einfach persönlich beschäftigt. Und dann eignet sich so ein Setting natürlich gut für eine Geschichte. 

Auf der einen Seite die 12jährige Jenny, ein Mädchen voller Energie und der 17jährige Maik, eingepackt in ein Leben ohne Perspektiven. Auf der anderen Seite die Alten, Verwundeten, in sich und Situationen Gefangenen. Lieben Sie es, Gegensätze aufeinander prallen zu lassen? Der Roman als Experimentierfeld?

Natürlich. Es ist ja wichtig, wenn man etwas herausarbeiten will, dass man eine Art Reibung erzeugt. Daran, an diesen Funken, lässt sich ja, sozusagen, die Wahrheit erahnen.
In dem Fall von Maik und Jenny schien es mir notwendig, Jenny als so einen offenen, willensstarken Charakter zu erschaffen, um den Altersunterschied zu dem lethargischen Maik auszugleichen. Ein voll im Leben stehender Maik hätte sich wohl kaum zu einer Freundschaft mit einer Zwölfjährigen hinreißen lassen.

Foto © Carina Middendorf

Ingetraut, nur „die Alte“ genannt, sieht im 17jährigen Maik, der mit seinem Mofa und Jenny auf dem Sozius durchs Dorf brettert, ihren Jesus, den Erlöser, was er dann auch irgendwie wird. Wenn auch weniger Er- als Auslöser. Braucht es Katastrophen, um einem Geschehen eine wirkliche Wendung zu geben?

Es braucht jedenfalls Auslöser, und das kann vielleicht auch ein unverhofftes Glück sein. Warum soll sich etwas ändern, wenn sich nichts ändert? Natürlich könnte sich auch ein kleines Unglück auf einen Haufen weiterer kleiner Unglücke häufen, und dann, irgendwann, explodiert das Ganze. Das ist auch eine Lösung. Aber Katastrophen eignen sich gut, um die Geschichte in Gang zu bringen, in extremen Situationen zeigen sich die Menschen etwas mehr. 

Im Dorf wohnt seit kurzem auch Arno mit seiner Frau Caren und seinen Kindern in einem frisch gebauten Einfamilienhaus. Weggezogen von der Stadt, in der er sich gefangen fühlte, in der Hoffnung, aus seinen mehr oder weniger illegalen Geschäften dereinst aussteigen zu können. Er verheddert wie fast alle im Dorf in Ausweglosigkeit. In Ihrem Roman „Das Dorf“ bleibt auch vom Ideal „Familie“ nicht viel übrig. Warum?

Zum einen ist es eine Beobachtung, die ich mache, und die ich umsetze. Anscheinend funktioniert das nicht mehr, wie es Jahrhunderte funktioniert hat. Oder vielleicht hat es vor allem so funktioniert, wie bei einem Vertrag, an dem man festhielt. Heute hält man nicht mehr an Vielem fest und das ist auch ein Problem. Auf der anderen Seite, und ich finde, das wird im Buch auch deutlich, finden sich zarte „Wahlverwandtschaften“ zusammen. Maik und Jenny und die Alte, das wäre so eine kleine Familie, die sich aus Neigung zusammenfindet. Und auch Jenny findet ja wieder zur Mutter, ihrer winzigen Ursprungsfamilie,  zurück, aber freiwillig und aus echten Gefühlen heraus. Wir haben uns ja nun mal entschlossen, unseren Gefühlen den Vorrang vor Verträgen zu geben. Da müssen wir dann halt auch sehen, wie wir in unserer Gesellschaft damit umgehen und ob wir damit glücklich werden können.

Menschen scheitern an ihren Lebensträumen. Das Mädchen Jenny ist voll von Lebensträumen. Ihr heftigster; nie so wie Mutter werden. Sind Lebensträume in „fortschreitendem Alter“ gefährlich? Wäre es nicht viel besser, sich all ihrer zu entledigen, um jeden Tag wie Maik neu zu erfinden.

Lebensträume können sehr gefährlich sein. Sie sind ja auch oft Illusionen über die eigenen Möglichkeiten. Die Frage ist sehr schwierig, und ich fürchte, ich kann sie nicht beantworten. Das ist ja die große Frage danach, wie man leben soll. 

Foto © Heike Blenk

Katrin Seddig, geboren 1969 in Strausberg, studierte Philosophie in Hamburg, wo sie auch heute mit ihren beiden Kindern lebt. Über ihren Roman «Runterkommen» (2010) schrieb die «taz»: «Ein brillantes Debüt … Anrührend, witzig und nüchtern.» 2012 erschien «Eheroman», zu dem «Der Tagesspiegel» meinte: «Grandios, wie Katrin Seddig jeder ihrer Figuren einen eigenen Ton verleiht»; 2015 der Roman «Eine Nacht und alles». Für ihre Erzählungen erhielt Katrin Seddig 2008 und 2015 den Förderpreis für Literatur der Hansestadt Hamburg.

Webseite der Autorin

… und was für ein Cover! Wer sich im Netz nach der Schöpferin umsieht, den Namen Oriana Fenwick eingibt, wird überrascht sein:

kombinatrotweiss.de, eine Webseite, auf der Illustrator*innen ihre Arbeiten präsentieren

Webseite der Illustratorin Oriana Fenwick

Beitragsbild © Oriana Fenwick (mit freundlicher Genehmigung der Illustratorin)

Daniel Sonder «Der Schönschreiber», ein Interview mit Urs Heinz Aerni

Wenn die ‚Diktatur der Körperlichkeit’ gebrochen wird
Der in Chur geborene Daniel Sonder legt mit „Der Schönschreiber“ seinen ersten Roman vor, der literarisch an das Eingemachte des Menschlichen geht.

Urs Heinz Aerni: 1952 wurden Sie in Chur geboren und nun erschien Ihr erster Roman. Wie muss man sich die Reifung dieses Buches vorstellen?

Daniel Sonder: Reifung ist in diesem Zusammenhang ein guter Begriff. Der Entstehungsprozess des Buches hat sich über Jahre, um nicht zu sagen Jahrzehnte hingezogen. Zunächst war’s einfach der Hang, Einfälle, Ideen, aber auch Erlebtes schriftlich festzuhalten. Vielleicht der Versuch, seinem Wesen nach Flüchtiges irgendwie zu bannen, oder banaler, auch nur die Eitelkeit, sich in wohlformulierten Texten eine Art Miniaturdenkmälchen zu setzen. So hat sich im Laufe der Zeit das eine oder andere angesammelt.

Aerni: … So wie auch die Korrespondenzen?

Sonder: Ja, später kamen dann noch Inspirationen durch Briefe, die im Zuge meiner Aktivitäten auf Partnerbörsen entstandenen sind, hinzu. Ernsthaft ein Romanprojekt ins Auge gefasst habe ich aber erst nach meiner vorzeitigen Pensionierung. Der „Schönschreiber“ ist dann innerhalb von etwa zwei Jahren entstanden, wobei sich Phasen konzentrierten Arbeitens ablösten mit solchen, in denen die Stimmung vorherrschte, dass aus dem Buch eh nichts würde. Zeiten während denen ich dann über Wochen auch nicht eine Zeile zu Papier brachte.

Aerni: Der Text ist dicht, die Gedanken sind verspielt. Wenn ich sage, dass man das Buch nicht einfach liest, sondern dass man sich am Buch lesend labt, was meinen Sie dazu?

Sonder: Da fühle ich mich zunächst etwas geschmeichelt. Denn, ein Buch, das einem erlaubt, sich daran zu laben, wie Sie es ausdrücken, dürfte über reine Unterhaltung hinaus wohl noch einiges mehr zu bieten haben. Hier zu widersprechen, sehe ich natürlich wenig Anlass.

Aerni: Nur zu!

Sonder: Eben, kein Widerspruch. Es bleibt allerdings die Frage, welchem Typ Leser sich dieser Mehrwert am ehesten erschliesst. Ich denke, es ist nicht schlecht, wenn etwa der Begriff Denklust nicht nur Befremden bei einem auslöst. Auch vorteilhaft dürfte sein, wenn einem gleichsam das Jonglieren mit Möglichkeiten näher ist, als das Bemühen, letztgültige Antworten zu fassen zu kriegen. Eine weitere hilfreiche Voraussetzung dürfte ein gewisses Mass an Robustheit sein gegenüber Schilderungen, die dem Pornographischen zuneigen.

Aerni: Sie geben mir das Stichwort; der Romanheld W. bezirzt Frauen durch seine Schreibe, das auch mal in den Chat-Sex rutscht. Welche Vorteile bringt die heutige Kommunikationstechnik dem Flirtwilligen aus Ihrer Sicht?

Sonder: In der leibhaftigen Begegnung ist allem was ich sage von Anbeginn ein enger Interpretationsrahmen vorgegeben, bedingt durch meine blosse physische Präsenz.
All meine Aussagen sind dann immer schon die von jemandem, der so und so aussieht, sich so und so bewegt, dessen Stimme einen bestimmten Klang hat etc. In gewissem Sinne bin ich dann gezwungen, der zu sein, welcher mir meine Körperlichkeit vorschreibt.
 Im rein textlichen Austausch wird das überwunden, findet eine befreiende Entkörperlichung statt. Ein gutes Stück weit selbst dann noch, wenn auch Fotos ausgetauscht werden. Die Verhältnisse werden damit im Vergleich zur Situation, wo am Anfang des Kennenlernens die leibhaftige Begegnung steht, gerade umgekehrt. Nicht die Körperlichkeit legt fest, wie das Gesagte interpretiert wird…

Aerni: Sondern?

Sonder: …sondern vielmehr entscheidet das zuvor Geschriebene zumindest in massgeblichen Teilen darüber, wie die physische Erscheinung und alles was damit einhergeht wahrgenommen wird.

Aerni: Also eine Art Umkehrschub von Körper zum Geist und dann wieder zurück?

Sonder: Ja, und damit wird die Diktatur der Körperlichkeit gebrochen und mein Denken wieder ermächtig, entscheidend mitzubestimmen darüber, wer ich für mein Gegenüber bin. Eine tolle Sache, wie ich finde, und nicht nur für Menschen, die als äusserlich wenig attraktiv gelten.

Aerni: Das Buch fabuliert zwischen Ironie, Philosophie und fast schon Juxerei mit erotischem Unterton. Sie entschieden sich für die Gattung Roman, war das immer schon von Anfang an klar?

Sonder: Schon in einer frühen Phase des gezielten Materialsammelns wurde deutlich, dass die inhaltlichen Ideen, die ich in dem Buch unterbringen wollte, sehr vielgestaltig sein würden. Gleichzeitig schwebte mir vor, mich unterschiedlicher Formen der Sprache zu bedienen. Vor diesem Hintergrund hielt ich es für notwendig, irgendwie etwas Durchgängiges, ein verbindendes, Zusammenhalt stiftendes Element einzuführen. Da lag dann der Gedanke an eine zentrale Figur, in deren einheitlichen Lebenswelt sich all das gebündelt findet, nahe. Damit war der Protagonist W. geboren und mit ihm der Entscheid für die Gattung Roman getroffen.

Aerni: Ein Protagonist, bei dem Sie dann quasi literarisch die Zügel schleifen lassen konnten?

Sonder: Sie sagen es. Dieser W. konnte sich nun in menschenleere philosophische Gefilde emporschwingen, sich in romantischem Verführungsgeflüster ergehen, in Debatten heftige Attacken reiten, seine sexuellen Phantasien ins Abseitige schweifen lassen oder auch alltägliche Beobachtungen anstellen und abenteuerliche Gedanken daran knüpfen. Er konnte tun und lassen, was er wollte. Ironie aufscheinen lassen wo er grad lustig war und Zweifel einstreuen, wo Ideen ihm allzu sehr nach Wahrheit schielten. Und bei all dem war es immer die eine Person W., und damit seine Perspektive und seine Welt, die der ganzen Heterogenität Einheit und Verbundenheit brachten.

Aerni: Sie waren lange in der Softwareentwicklung tätig, was kühl und technisch vorzustellen ist, könnte sich durch die Jahre über eine Lust des Erzählens nah am Menschsein aufgestaut worden sein?

Sonder: Ihre Frage geht von der naheliegenden Annahme aus, dass die beiden
angesprochenen Tätigkeiten von irgendwie gegensätzlicher Natur sind.

Aerni: Ist dem nicht so?

Sonder: Seltsamerweise habe ich die Unterschiede gar nicht als so ausgeprägt erlebt, wie man das wohl allgemein erwarten würde. Das mag vielleicht damit zusammenhängen, dass es sich in beiden Fällen um ein kreatives Tun handelt, dessen Ergebnis die Form von, wenn auch sehr verschieden gearteten, Texten hat. Sowohl der Programmierer als auch der Schriftsteller sind ja abstrakt betrachtet mit nichts anderem zugange, als dem Erstellen von Zeichenketten. Eine weitere mögliche Parallele findet sich auch im Buch selbst angedeutet. Dort, wo der Protagonist der Frage nachgeht, ob seine Verführungsbriefe und ihre Wirkung bei den Adressatinnen nicht Ähnlichkeit haben könnten mit Trojanern, also Computerviren, die einmal eingeschleust ein Eigenleben führen und dabei gleichsam subversive Aktivitäten entfalten.

Aerni: Interessante Vergleiche…

Sonder: Was Sie in Ihrer Frage thematisieren, habe ich mir übrigens auch schon früher mal überlegt und bin dann zum zugegeben etwas hemdsärmeligen Vergleich gelangt, dass schreibendes Erzählen ungefähr so ist wie Programmieren angetrunkenem Zustand.

Aerni: Ein Pfau ziert das Buchcover, was so manches schlussfolgern lässt…

Sonder: Nun, der Pfau gilt ja weithin als Symbol der Eitelkeit und das wohl mit gutem Grunde. Haben Sie schon mal mitverfolgt, wie solch ein seltsames Wesen das Rad schlägt?

Aerni: Aber sicher, das geschieht mit zitterndem Brimborium…

Sonder: Das ist eine Performance von geradezu grotesker Selbstgefälligkeit. Der Narzisst im Reich der Tiere… Und W. der Held des Buches hat wohl auch eine narzisstische Seite, ob das auch auf den Autor des Werks zutrifft, bleibt der Spekulation der Leser überlassen. Und natürlich gibt der Pfau auch einfach ein schönes Bild ab und funktioniert dadurch bestens als Blickfang. Durch die Penetranz der Eitelkeit erfährt die Faszination aber auch eine Brechung, welche zusätzlich ein Element des Misstrauens ins Spiel bringt. Das alles passt eigentlich ganz gut zum Inhalt des Buches.

Aerni: Wenn ich ein Gemälde mit einem lesenden Menschen mit Ihrem Buch in den Händen malen würde, wie müsste es aussehen?

Sonder: Da gerate ich als erstes gerade ein wenig in Verlegenheit. Sie reden von einem Menschen und ich sollte jetzt wohl entscheiden, ob Frau oder Mann.

Aerni: Nicht nur…

Sonder: Nun, ich habe schon einige Male zu hören gekriegt, dass es sich beim „Schönschreiber“ vor allem um ein Männerbuch handle. Eine Einschätzung, die ich so nicht teilen mag. Um hier ein Gegengewicht zu setzen, soll der Mensch auf dem Bild deshalb eine Frau sein. Eine Frau reiferen Alters auf einer Terrasse an erhöhtem Ort sitzend, auf einem edel anmutenden, verschwenderischen Raum bietenden Lounge-Sessel. Es ist Sommer am späten Nachmittag, der Himmel wolkenlos. Die ärgste Hitze hat bereits ihren Rückzug angetreten, derweil ein leiser Windzug sich bemerkbar macht. Die Füsse der Frau sind nackt, ansonsten ist sie zwar sommerlich, aber in einem Masse stilvoll elegant gekleidet, wie es nicht so recht zur Situation passen will. Sie verströmt Kultiviertheit und Sinn für Ästhetik. Die Vorstellung, sie könnte adliger Abstammung sein, wäre nicht abwegig. Das Buch liegt aufgeschlagen mit dem Rücken nach oben auf ihrem Schoss. Man erkennt, dass diesem Augenblick der Ruhe ein langes konzentriertes Lesen vorausgegangen ist. Den Kopf hat sie jetzt angehoben und den Blick geöffnet gegenüber der Weite, nicht suchend, einfach nur schauend. Sie scheint etwas zu erahnen, ohne es aber wissen zu wollen. Und ihre Augen, vielleicht sind sie umspielt von einem feinen kaum wahrnehmbaren Lächeln.

Daniel Sonder studierte Psychologie und Philosophie in Zürich, war anschließend viele Jahre in der Sofwareentwicklung tätig aber das Schreiben habe ihn „mehr oder weniger im Verborgenen schon lange beschäftigt“. Nun tritt der Vater von drei erwachsenen Töchtern mit Wohnsitz in Meilen am Zürichsee mit seinem Roman „Der Schönschreiber“ zum ersten Mal auf die Bühne des Literaturbetriebes.

Michelle Steinbeck «Eingesperrte Vögel singen mehr», Volant & Quist

2016 sorgte Michelle Steinbeck mit ihrem Debüt «Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch» für Aufregung, kam damit auf die Listen des Deutschen und Schweizer Buchpreises. Nun erscheint bei Volant und Quist ihr erster Lyrikband. Mit Sicherheit auch dies ein Buch, das aufmischen wird!

Vor längerer Zeit hörte ich Michelle Steinbeck an den Lyrikfestival «Neonfische» in Lenzburg aus ihren Gedichten vorlesen.

Deine Gedichte entsprechen gar nicht dem, was Gedichte sehr oft suggerieren, diesen verklärenden, romantisierenden Blick auf die Welt. Du bist erfrischend „hemmungslos“, ungewohnt direkt. Irgendwie ein Kontrast zu deinem Roman „Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch“, wo die Bilder sehr oft ins Surreale kippen. Willst du “aufmischen»?
Klar, immer aufmischen! Nein im Ernst: Ich habe ein anderes Bild von Lyrik, als du hier beschreibst. Von der zeitgenössischen Szene, aber auch sonst. Was ist denn z.B. mit einer Kaleko? Aber es stimmt: Ich habe mich in diesem Format sehr frei gefühlt. 

wie die grossmutter aufblüht
und rosig wird im Angesicht ihres
urenkels der rot und dünn und
ausgeliefert im licht
der wärmelampe seine unanständig
geschwollenen hoden
dem betrachter entgegenstreckt

fotografier ihn von der
anderen Seite sagt die mutter
die aufgeschnittene
von hier aus
lächelt er

Selbst der Verlag Volant & Quist spielt mit dem Entsetzen der Literaturkritikerin Elke Heidenreich auf deinen Roman und setzt den Satz „Wenn das die neue Generation ist, dann Gnade uns Gott“ auf den Buchdeckel deines Gedichtbands. Wie viel Provokation ist Programm?
Was soll daran provokativ sein? Das ist doch eine Traum-Kritik! Um diesen Satz würde ich jede andere Autorin beneiden. Er hat so was altmodisches, klassisches, als würde er auf einem vergilbten Schinken im Bücherbrocki stehen. Das mag ich daran. (Lustigerweise hat der englische Verlag auf die Übersetzung ohne Absprache dasselbe Zitat auf den Umschlag gedruckt.)

Sonntag

sie bringt das baby vorbei
es schreit krebsroter kopf
dann trinkt es – pappsatt
die zunge hängt ihm aus dem mund so satt

er surft im internet nach der fad und
er googelt sich selber und
er pult an seinem fusspilz

ich grüble an meiner hausaufgabe
kann man wissen was andere fühlen?

Mit Jahrgang 1990 bist du ganz bestimmt die neue Generation. Was soll Lyrik in der Gegenwart?
Ach was, es gibt immer Jüngere. Aber das ist auch gar nicht so wichtig. Lyrik ist meiner Meinung nach die freiste Form des Schreibens. Deshalb die interessanteste. Ich glaube, mit Lyrik kann man Dinge ausdrücken, die in einer prosaischen Sprache unmöglich wären. 

fotos die mir fehlen

du vor einem blinkenden paniniwagen
kramst im bauchtäschlein nach geld

//

strasse mit bestattungsunternehmen
dazwischen einzig ein frisör
wo eine alte unter der haube vergessen
vergilbte klatschhefte liest
während am boden sich zwei kinder winden
schreiend um einen waschkorb streiten

//

am quai
durch die absperrung aufs schiff zu geistert ein alter
dem scheisse das bein runterläuft und wc papier aus der kurzen
hose flattert
er trägt ein ausgewaschenes t shirt darauf steht

GOOD LOOK

Deine Lyrik ist nicht Naturbetrachtung, kein Absinken in Gefühlswelten. Du konfrontierst mich mit dem Blick einer jungen Frau. Manchmal schmerzt dieser Blick fast, machmal greifst du mit Absicht in „Peinlichkeiten“. Wie entstehen deine Gedichte?
Ich bin ein Stadtkind. Aber Gefühle sind doch jede Menge drin! Und auch ein paar Bäume. Und Peinlichkeiten… Ja? Gut! Mein alter Freund Michael Fehr hat mir mal doziert, ich solle in der Lyrik dahin, wo es wehtut. Wo es unangenehm wird. Das fand ich einen guten Rat, daran habe ich manchmal gedacht. Es gibt ja einen Text im Band, der heisst: «Wie ich Gedichte schreibe». Tatsächlich ist jedes anders entstanden. Es sind ganz alte und ganz neue Texte drin. Ich hab mich durch meine Material-Sammlung gewütet. Es war eine schöne Arbeit. 

Michelle Steinbeck, geboren 1990 in Lenzburg, aufgewachsen in Zürich, lebt in Basel. Sie ist leitende Redaktorin der Fabrikzeitung, Kuratorin von Babelsprech.International und Studentin der Philosophie und Soziologie. Sie schreibt Geschichten, Gedichte und Stücke, Kolumnen und Reportagen. Ihr Debütroman «Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch» erschien 2016 im Lenos Verlag und war nominiert für den Deutschen sowie den Schweizer Buchpreis. Ihre literarischen wie journalistischen Texte werden in verschiedene Sprachen übersetzt.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Iason Depountis «Im Quantenland» von Alice Grünfelder

„Meine schriftstellerische Laufbahn begann mit einer Frage und endet mit derselben Frage wie am Anfang: Ob es wirklich auf dieser Welt einen Ort gibt für die Geplagten, die Armen, die Aussenseiter und armen Teufel?“ Tatsächlich dreht sich für den griechischen Lyriker Iason Depountis (1919-2008) alles um diese eine Frage, und er hat sie im Laufe seines schriftstellerischen Lebens variantenreich beantwortet.

In seinem Hauptwerk „Systema Naturae“ sucht er nach dem Zusammenhang zwischen Dichtung, Wirklichkeit und Wissenschaft, kombiniert Buchstaben, Formeln und Zahlen und reizt diese Kombination in so manch einem Poem aus bis an die Grenzen der Verständlichkeit. Ist die Hermetik seiner Lyrik womöglich der griechischen Diktatur geschuldet? Im Jahr 1969 setzte er zusammen mit 17 Schriftstellern seine Unterschrift unter eine Charta, die sich gegen Zensur verwehrte, kurz darauf floh er über England, Frankreich und gelangte in die Schweiz, wo er im Kinderdorf Pestalozzi Trogen 13 Jahre lang das griechische Haus leitete. Sein Sohn Dimitris Depountis übertrug das Werk des Vaters ins Deutsche, ihn fragte ich nach den Überlegungen, Abrechnungen und Ermahnungen des Iason Depountis`.

Leiser Beobachter, Sehn-Süchtiger und humorvoller Melancholiker – er selbst nannte sich „Bürger des Planeten“ und „Der aus dem Meer Geborene“. Welche dieser Bezeichnungen trifft wohl am ehesten auf Iason Depountis zu, frage ich Dich nicht als Sohn, sondern als Literaturwissenschaftler. Was hat ihn umgetrieben – im Leben und in der Literatur?

Eines seiner letzten Bücher veröffentlichte Iason Depountis unter dem Pseudonym „Odysseas Okeanos“. Das poetologische Essay trägt den Titel „Das Meer im TV“, der erste Satz darin lautet: „Dort liegt mein ganzer Reichtum, verstreut vor mir, am Horizont“. Bei jedem anderen Autor wäre ein Pseudonym wie „Odysseus Ozean“ wohl eine Anmassung, bei Depountis nicht: Fast die Hälfte seiner gut zwei Dutzend Werke hat unmittelbar mit dem Meer zu tun. Darunter fallen so unterschiedliche Texte wie solche über die Schwarmbildung von Fischen, in deren Verhalten er ähnliche Prinzipien wirken sah wie bei der Produktion von Sprache. Oder Gedichte über den Freiheitskampf auf den Inseln der Ägäis. Und zu erwähnen wären etwa Essays über ein angeblich unsterbliches prähistorisches Wesen Namens „Antixoos“, das im Meeresgrund gelebt haben soll und seinem Wesen nach einem Poeten gleichkam. Als einen „Bürger des Planeten“ bezeichnete er sich erst in den späten Jahren, als er von einer quasi universellen Warte aus auf das Leben blickte und sich in seiner Dichtung vermehrt der Mathematik und der Astronomie zuwandte. Beide Angaben zu seinem Ursprung (er vermied praktisch jede andere) verweisen natürlich auf die anti-regionalistische, anti-nationalistische Haltung, die ihn zeitlebens auszeichnete: Alle Menschen besassen ihm zufolge dieselbe, sie verbindende Herkunft.

Manche Gedichte sind nicht einfach zugänglich, was u.a. an der Kombination von Buchstaben, Ziffern und mathematischen Formeln liegt. Iason Depountis besuchte während seiner Zeit in Trogen mathematische Vorlesungen an der ETH Zürich, was faszinierte ihn daran? Und warum hat er Verquickung von Dichtung und Wissenschaft zu seinem lyrischen Prinzip erhoben?

In der Mathematik sah er so etwas wie die „verlorene Vernunft“ der Poesie, also das, was der zeitgenössischen Dichtung seiner Meinung nach fehlte, um Zusammenhänge als relevant zu erkennen und zu erschliessen: Wort und Zahl, Wissenschaft und Poesie bildeten für ihn ursprünglich eine Einheit, die es wiederherzustellen galt, und er erhoffte sich einen Wandel für die Welt durch eine von der Dichtung ausgehende Erneuerung der Wissenschaften. Sicher hing sein Interesse an der Mathematik auch mit seiner Freundschaft mit dem Architekten und Musiker Iannis Xenakis zusammen, der mathematische Verfahren in seinen musikalischen Kompositionen umsetzte. Jedenfalls war Iason Depountis der Meinung, dass die bisherigen Formen der Dichtung das substanziell Neue, das das 20. Jahrhundert mit sich brachte, nicht wiederzugeben vermochten. Einen Spaziergang im Wald als eine romantische Fussreise in der Art des 19. Jahrhunderts darzustellen, wäre für ihn ein Graus gewesen, ähnlich anachronistisch wie der Sheriff im Wildwestfilm, der auf seine Armbanduhr schielt (lacht). Liebende unter heutigen Bedingungen spazieren in einem Quantenwald; sie werden durchdrungen von elektromagnetischen Strahlen, von Satelliten beobachtet und, aus Schaltzentralen abrufbar, von Computern erfasst.

Entsprechend experimentierte er und suchte beständig nach adäquaten Weisen, das Brandneue, das er in seiner Umwelt entdeckte, auszudrücken. Seine letzten Werke zeichnen sich durch eine enorme Vielgestaltigkeit aus, der die Suche nach einer Antwort zugrunde liegt, wie sich das mörderische Jahrhundert ausdrücken und vielleicht sogar auch überwinden liesse. Interessant ist hier nicht zuletzt seine Haltung gegenüber den neuen Technologien: Obwohl er auch ihre Gefahren beschrieb, sah er in diesen vorab eine Chance und entwickelte für seine Dichtung die Vorstellung einer Art kybernetischer Lyrik an der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine.

Sein Hauptwerk „Systema Naturae“ erschien 1969 während der Militärdiktatur der Obristen erstmals als illegaler Druck. In den Jahren 1984 und 1998 wurde die Gedichtsammlung ergänzt und neu aufgelegt. Diese Lyrik ist radikal in ihrem Versuch, Wurzeln und Zusammenhänge und die Gefahr der totalen, menschengemachten Zerstörung zu ergründen. Ist Iason Depountis ein engagierter, politischer Lyriker, ein Mahner? Vor allem, wenn ich an diese Zeilen denke? „die Flüsse Europa, die verrotten / die Flüsse sie verrotten sie verrotten und verrotten / zu einem Zeitpunkt des Grauens & Verbrechens / deine Flüsse deine Dichter, Europa, sie verrotten.“

Du hast mich vorhin nach der Mathematik in der Dichtung des Iason Depountis gefragt: Bei aller „Mathematisierung“ und Experimentierfreude vor allem des späten Dichters darf man nicht vergessen, dass sein Werk ursprünglich ganz direkt aus dem antifaschistischen Widerstand der 1940er Jahre hervorging. Er begann nach eigenem Bekunden Gedichte zu schreiben, um die angefangenen Gespräche mit den gefallenen Genossen des grossen Widerstands fortzuführen. Auch wenn er später von seiner frühen Produktion Abstand nahm, tat er dies nur bezüglich ihres künstlerischen Werts und nicht etwa bezüglich ihres Inhalts oder seines Engagements. Im Gegenteil: Das gesamte Werk des Dichters ist im Grunde hochpolitisch und referiert vorab auf die Themen Krieg und Zerstörung. Das heisst, auch dann, wenn von anderem die Rede ist, ist dieses Andere trotzdem nur vor diesem Hintergrund in seinen eigentlichen Dimensionen zu begreifen.

In der „Systema Naturae“ nun breitet er in einer Art Gesamtschau menschlicher, aber auch tierischer Lebenswelt seine ganz eigene Sicht auf das 20. Jahrhundert aus: Demnach habe der Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki die existenziellen Bedingungen auf der Erde grundlegend verändert. Leben und Tod, die bisherigen Dimensionen und Koordinaten: Alles wurde mit den Abwürfen durcheinandergewirbelt und vernichtet. Sogar der Tod, der bisher Teil einer Einheit von Werden und Vergehen, Sein oder Nichtsein gewesen ist, wurde pulverisiert. Die Bomben löschten alles aus, die Umwelt, die Mitmenschen, die Geschichte, als hätte es das alles nie gegeben. Eine neue Grösse entstand: das Nichts. Das vom Menschen erschaffene, jedoch von keiner Wissenschaft, Philosophie, Dichtung oder Religion prognostizierte Nichts.

In den siebziger Jahren kam noch das Thema der allgemeinen Umweltzerstörung hinzu. Das Gedicht mit dem Titel „Schall & Töne“ über die Flüsse Europas, das aus jener Zeit stammt und aus dem du die obigen Verse zitiert hast, besitzt allerdings eine weitere Komponente als jene der Umweltkatastrophen – denn hier werden die kontaminierten Flüsse mit den europäischen Dichtern und Intellektuellen gleichsetzt. Die ehemaligen Vordenker der Aufklärung und „Fuhrhalter des Reichtums“ Europas „hüten jetzt Schlamm“, heisst es an anderer Stelle. Noch deutlicher wollte Iason Depountis seine Haltung gegenüber festgefahrenen lyrischen Traditionen wohl nicht ausdrücken.

 

Düster seien die Gedichte, schreiben einige Literaturkritiker, Zeilen wie „Vor uns klafft der Abgrund Erde, der Abgrund Mensch“ versprechen in der Tat wenig Hoffnung. Schrieb Iason Depountis gegen den Untergang der Menschheit an?

Ja, ich glaube tatsächlich, dass Iason Depountis zumindest zeitweise gegen den Untergang der Menschheit anschrieb. Die Art, wie er dies tat, war singulär: Gerade das Spätwerk weist trotz seiner wahrlich düsteren Thematiken eine überraschende Verspieltheit auf, der man bis in die kleinsten Details begegnen kann. Auf den Spuren des Ganzen – des ganzen Lebens, des ganzen Todes, der ganzen Welt – wandte sich sein Blick zuletzt vermehrt nach aussen, ins Universum. In der Schönheit der Sterne, in ihren Formationen, ihren Namen fand er möglicherweise etwas, wonach er zeitlebens gesucht hatte. Zugleich sprengten seine Manuskripte, die er nun „Metatexte“ nannte, allmählich den Rahmen von simplen Textträgern, glichen mehr Bildern und Kollagen, trugen zunehmend Züge von Gesamtkunstwerken.

Andererseits hat es in seinem Werk immer auch „leichtere“ Gedichte gegeben – zum Beispiel jene über einzelne Schweizer Ortschaften, die während der Zeit im Kinderdorf Pestalozzi in den Jahren 1969–1982 entstanden. Hier legte er eine Heiterkeit und Gelassenheit an den Tag, wie sie sich sonst nur bei einzelnen seiner Meeresschilderungen manifestierte. Zu erwähnen wäre da unter anderem das ganz und gar untypische Gedicht über das Dorf Trogen, in dem das Leid der Welt vor lauter Staunen über das Naturphänomen Nebel zumindest vordergründig vergessen zu gehen scheint. Oder ein Gedicht über das Nietzsche-Haus in Sils Maria, in dem der Dichter wie ein schelmischer Tourist den Tisch des Philosophen mitnimmt, um ihn auf den See Silvaplana zu stellen. Ich denke, dass Iason Depountis trotz der Düsterkeit der meisten seiner Werke immer wieder zu einer Musse finden konnte, die ihn regenerierte. Unter anderem auf seinen Spaziergängen in der Nähe des Zürcher Zoos, unweit des Grabs seines geliebten James Joyce.

«Die ruhelose Dichtung eines ruhelosen Geistes», schreibt der Literaturhistoriker Alexandros Argyriou. Nach seinem 75. Geburtstag pendelte Iason Depountis zwischen Zürich und Athen und veröffentlichte fast jährlich ein neues Buch. Was führte zu dieser Schaffensexplosion?

Tatsächlich veröffentlichte er in den letzten zehn Jahren seines Lebens ein Drittel seiner gesamten literarischen Produktion. Neben acht Büchern auch so manche Beiträge in Zeitungen, Literaturzeitschriften und so fort. Das hatte wohl mehrere Gründe. Zum einen war er Griechenland auch nach dem Sturz der Junta während vieler Jahre ferngeblieben, und es hatten sich in dieser Zeit sehr viel Stoff und viele Manuskripte angesammelt, die er erst jetzt publizieren konnte. Der wichtigste Grund war jedoch meiner Meinung nach die Bekanntschaft und Freundschaft mit dem knapp 40 Jahre jüngeren Verlegerpaar Kostas Kremmydas und Tzela Asprogeraka nach etwa 1995, die sich als eine der glücklichsten Fügungen im Leben von Iason Depountis erwies. Kremmydas und Asprogeraka, die den Verlag und die renommierte Literaturzeitschrift „Mandragoras“ leiten und ein ganzes Team von jungen Leuten um sich scharen, hegten und hegen eine unumstössliche Bewunderung für das Werk von Depountis und haben damit auch die Personen um sich angesteckt. Das heisst: In den letzten zehn Jahren vor seinem Tod war Iason Depountis von einer ganzen Schar junger Menschen umgeben, die ihn auf Händen trugen und unterstützten – wofür er natürlich sehr dankbar war. So konnte der Dichter seine mathematischen Gedichte, seine Essays und „Metatexte“ laufend produzieren: Praktisch alles wurde sofort gesetzt und publiziert. Iason Depountis› schöpferische Leidenschaft befand sich in der letzten Schaffensperiode dank des Engagements der Leute um „Mandragoras“ quasi im Zustand eines permanenten Urknalls.

Das Interview führte Alice Grünfelder.

Das Dorf Trogen 

Der Nebel wird hier geboren er ist hier
zu Hause.
Ich sehe ihn aus den Tannen oder unter
den Brücken aufsteigen
oder er zieht über das dichte Gras das
immer grünt;
er kommt auch aus dem Fell der Tiere, der
Kühe, die östlich des Dorfes
Flusspferden gleichen;
der Nebel entsteht mitten auf der Strasse,
wie eine anmutige junge Bäuerin
die Sonne scheint ihr ins Haar, dann trägt
sie ihre, im Licht blendenden, Appenzeller
Stickereien
der Nebel kommt auch aus den feuchten
Kleidern der Kinder;
so wie er von den Dächern emporsteigt,
vergisst er sich,
wie eine Schweizer Grossmutter oder
wie jene trotzige alte Dame von Dürrenmatt
— von Friedrich Dürrenmatt —
und es dauert
eine Ewigkeit, bis er sich verzieht.

Ein Wanderlied für Sils-Maria
«Ein Zwei Drei …

Nietzsche achetait ce qu’on trouve
à la gare de Sils-Maria,
des livres de Gyp, de Paul Bourget.
Zarathoustra est un vieux guide suisse,
mais son diamant raye tout.» Jean Cocteau

ich möchte hier zuerst die Regel meiner Kunst
erklären ich stelle den Gegenstand:
«Nietzsches Tisch»
der vollkommen gleichgewichtig
in Raum und Zeit ruht so wie man
zum Beispiel sagt, etwas stehe von selbst
auf der Oberfläche des Wassers zudem stelle
ich ihn als mein eigenes Werk über die visuelle Phantasie.

zum Thema:

nach einem nachmittäglichen Besuch
im hübschen und gepflegten Haus von Sils-
Maria, wo Friedrich Nietzsche gelebt und
geschrieben, wo Friedrich Nietzsche gelitten
hat und geschrieben, konnte ich nicht anders
handeln (die Gründe sind im All verborgen)
vorsichtig zog ich also im Zimmer des Philo­-
sophen den Tisch, seinen Tisch, hob ihn
langsam von seiner Stelle und nahm ihn
ohne jede Heimlichkeit hinaus. Ich sah
ihn an, er war ein kleines aber
geschmackvolles Möbel, Nietzsches Tisch, er
hatte das Gewicht all der vielen und unruhigen
Gedanken des Dichters getragen.

ich nahm ihn so wie er war
mit der antiken Lampe als Dekor
und stellte ihn dorthin, wo er
auch heute noch steht: mitten auf die Wasser-
­fläche des Sees Silvaplana.

ein Tisch auf dem Wasser,
wie ein Zeitspiel
wie eine Epiphanie;

die Lampe spendet ein mystisches Licht.

(Das Gedicht „Ein Wanderlied für Sils-Maria“ aus dem Jahr 1973 findet sich auf einer Tafel zu Iason Depountis, die im Nietzsche-Haus in Sils-Maria vis-à-vis vom Schlafzimmer des Philosophen hängt.)

Sibylle Ciarloni «Bernstein und Valencia – Stories», ein Interview von Urs Heinz Aerni

«Bernstein und Valencia» sind Stories der Schweizerin und in Italien lebende Autorin Sibylle Ciarloni, die sehr lesenswert sind, deshalb traf sich Urs Heinz Aerni mit ihr in einem Café und stellte dazu Fragen.

«Oft sind Träume schöner»

Urs Heinz Aerni: 22 Erzählungen oder Stories, 22 Welten und Überraschungen. Bilden Ihre Texte das Leben ab wie es ist, oder wie es sein könnte, ja sogar sollte?

Sibylle Ciarloni: Meine Stories sind Ausschnitte von Leben, die sein könnten, vielleicht sogar so gewesen sind. Ich wünsche mir manchmal etwas und in meinen Vorstellungen geschieht es dann. Mehr muss in manchen Fällen gar nicht sein. Oft sind Träume schöner als deren Machbarkeit und Wirklichkeiten.

Aerni: Die Texte zeichnen sich auch aus durch recht unterschiedliche Sprach- und Perspektivformen aus. In welchem Zeitraum ist die Sammlung entstanden?

Ciarloni: Es sind Geschichten, die alle aus dem letzten Jahrzehnt stammen, bis auf die Anweisung, wie man sich selbst als Fisch zeichnet. Ich nutze gerne die Fähigkeit, verschiedene Perspektiven einzunehmen. Die habe ich mir angeeignet, um weiter zu sehen, anderes zu sehen als das, was mir gezeigt wurde. Die gewählte Sprache hat mit der gleichen Fähigkeit zu tun. Es gibt verschiedene Wege, wie man etwas erzählen kann. Allerdings ist das bei mir nie eine Entscheidung, ich folge eher meiner Intuition und prüfe später, ob das so passt.

Aerni: Was macht für Sie im Besonderen Freude, kurze Geschichten zu erzählen als ein großer Roman zu schreiben?

Ciarloni: Ich bewundere Erzählerinnen und Erzähler, die große Bogen in wenigen Worten auf den Punkt bringen und sich auf dem Weg dahin akribisch und präzise in einer Beschreibung verlieren, nur um schließlich gekonnt wieder hinauszufinden. Das hat mit souveränem Austarieren der Wichtigkeit von Inhalten zu tun und mit einem Anspruch an die Lesenden. Sie werden nicht alles beschrieben bekommen, sie dürfen selber denken und zwischen den Zeilen lesen. Das gefällt mir.

Aerni: Sie zeichnen Ihre Figuren liebevoll zwischen Sinnlichkeit, Skurilität aber auch Ironie. Sind es zuerst Personen, die zum schreiben inspirieren oder Umstände?

Ciarloni: Es sind beide. Vielleicht zuerst die Umstände, denn sie bringen mich irgendwohin im Leben und dort treffe ich auf Menschen. Zusammen gestalten wir wiederum die Umstände oder ich habe überhaupt nichts zu schaffen mit ihnen, sondern sehe sie bloß oder höre sie reden. Der Rest ist meine Art, auf die Welt und die Menschen zu schauen. Dann entstehen Gedanken, dann entstehen Geschichten.

Aerni: Sie wuchsen im Aargau auf, leben nun in Italien und nun treffen wir uns hier in Zürich. Berlin ist in ihrem Buch sehr präsent, wie würden Sie Ihr Verhältnis zu Zürich beschreiben?

Ciarloni: In Zürich leben liebe Freunde mit denen ich mich treffe oder die mich in Italien besuchen. Mit manchen arbeite ich auch zusammen. Ich bin gerne hier, weil sie hier sind. Ein Verhältnis zu Zürich habe ich durch sie, weil ich hier gewohnt und gearbeitet habe und weil Zürich die von meinem Aargau – Lenzburg und Baden – aus gesehen die nächste größere Stadt war, für mich also die erste, die es zu entdecken und zu durchkämmen galt wie später dann andere Städte.

Sibylle Ciarloni wuchs im Schweizer Mittelland auf, lebt und arbeitet zudem auch an der Adria. Zum Schreiben kam sie über einen Sendeplatz am Radio und es folgten Auftritte mit Hörstücken in der Schweiz und in Deutschland, ein Atelier Stipendium in Berlin (2011), die Herausgabe mehrerer fast ernst gemeinter Themenpapiere (Ein Tag im Bett, Von Haaren), des Foto-Essays Strandläufer (2017) und der Betrieb des Veranstaltungsraums Salon Billa in Baden. 2018 war Sibylle Ciarloni Artist in Residence in Nairs, Zentrum für Gegenwartskunst im Engadin.

Blog und Veranstaltungen auf der Webseite der Autorin

Ihr aktuelles Buch von dem hier die Rede war, heißt „Bernstein und Valencia – Stories, Knapp Verlag, CHF 19.80

Beitragsbild © Bettina Matthiessen

Lukas Linder «Der Letzte meiner Art», Kein und Aber

Auch wenn man bei der Lektüre von «Der Letzte meiner Art» versucht sein kann, der Geschichte nur die schrägen Seiten abzugewinnen, die Überzeichnungen, die Konzentration an schrägen Typen, in Schieflache geratenen Akteure, die Geschichte im Theatralischen beinahe zu kippen droht, man geneigt ist, dem Roman seine Ernsthaftigkeit abzuerkennen. Zugegeben, «Der Letzte seiner Art» ist Groteske, aber vor glasklar realem Hintergrund – und herrlich zu lesen. 

Alfred von Ärmel ist von durchaus seriöser Erscheinung. Auch seine Familie, sein begabter grosser Bruder, sein Fabrikantenvater und die selbst im Alter blendend aussehende Mutter, die bis zu ihrem «Schluss» ein Dolde Verehrer zu mobilisieren vermag. Auch Alfreds bemerkenswerter Stammbaum geht zurück bis zur Schlacht von Marignano, als einer seiner Vorfahren mit gleichem Namen zum Held mit Helebarde wurde. Alfred von Ärmel würde sich liebend gerne in die Reihe heldenhafter von Ärmels stellen, aber alles in seinem Leben legt sich dieser Absicht quer: Ein steifer Vater, dem der Nachfolger in seiner Wimpelfabrik fehlt, eine hyperaktive, ruhelose Mutter, die ihn mit Verachtung straft und ein Bruder, der alles Wohlwollen bindet, dem man von Kindesbeinen eine grosse Zukunft voraussagt, der aber im entscheidenden Moment von der Bildfläche verschwindet, für immer.

Alfred von Ärmel ist ein Einsamer. War es schon als Kind, ohne Freunde in der Schule, ohne Liebe in der Familie, ohne Wirkung auf das weibliche Geschlecht, ohne Kraft, sich endlich als der Held zu zeigen, der er eigentlich sein möchte. Alfred ist ein aus der Zeit Gefallener, ein Überbleibsel aus der grossbürgerlichen Kultur des 19. Jahrhunderts, mit Etikett und überheblicher Nobles im 21. Jahrhundert gestrandet. Auf der letzten Seite des Romans lässt Lukas Linder ihn sagen: «Ich war eine Witzfigur, eine Karikatur. Ich war der Letzte meiner Art.» Ein Don Quichot, ein Münchhausen, ein Ritter der traurigen Gestalt.

Als Leser folge ich dem armen Tropf von Niederlage zu Niederlage, auf der Suche nach jenem Moment, der ihn zum Helden macht, der den Vorhang fallen lässt, hinter den ihn die Zeit und seine Familie verbannt hat.

Der Reiz der Lektüre ist das Absonderliche, das Groteske. Dass ich als Leser das Gefühl habe, schon das Entstehen des Buches muss ein Vergnügen gewesen sein. Als hätte sich Lukas Linder von Logik und Stringenz befreit, um bei jeder Wendung der Geschichte eine Überraschung mehr zu kreieren. Als wolle sich der Autor bei diesem Buch auf jeder Seite, bei jeder Wendung dagegen stellen, dass dereinst die in diesem Fall abstruse Frage auftreten könnte, was denn nun an der Geschichte autobiographisch sei. Alles steht geschrieben und ist somit jene geschriebene Wahrheit zwischen zwei Buchdeckeln. Gekonnt inszeniert von einem preisgekrönten Theaterautor. So erfrischend erzählt, wie man es auf der kleinen Bühne dar Schweizer Literatur sonst nie antrifft.

Lukas Linder, geboren 1984 im Kanton Zürich, studierte Germanistik und Philosophie in Basel. Er ist Dramatiker, schrieb unter anderem für das Theater Basel und wurde mit mehreren Preisen, darunter dem Kleist-Förderpreis und dem Publikumspreis des Heidelberger Stückemarkts, ausgezeichnet. »Der Letzte meiner Art« ist sein Romandebüt.

Gabrielle Alioth «Gallus, der Fremde», Lenos

Ich heisse Gallus, weil ich vor 56 Jahren in der Stadt St. Gallen zur Welt kam. In meiner Geburtsstadt ist Gallus kein ungewöhnlicher Name. Je weiter man sich aber von St. Gallen entfernt und dabei vielleicht sogar über die Grenzen in die Nachbarländer, kann es passieren, dass man der Ernsthaftigkeit meines Namens zu misstrauen beginnt. Dabei gab vor 1400 Jahren ein von Irland kommender Mönch mit diesem römischen Namen der Buchstadt St. Gallen ihren Namen.

In der Gallus-Stadt aufgewachsen und zu Schule gegangen bin ich durchsetzt von Legenden, die sich um meinen Namensgeber ranken. Der Mann, der um 600 n. Chr. im Wald an einem Bach, unweit des Bodensees eine Klause gründete, habe nur mit Hilfe eines Bären in der unwirtlichen Umgebung überlebt (der Bär im Wappen der Stadt St. Gallen). Er sei vielleicht sogar adeliger Herkunft gewesen und man habe ihn krank auf dem Weg nach Rom zurückgelassen.

Gabrielle Alioth, die sich nicht erst mit diesem Roman historischen Stoffen annäherte, gelingt von der ersten Seite weg, was ich vor der Lektüre kaum zu hoffen wagte. Sie verfällt nicht der Versuchung, dort weiter zu erzählen, wo die Legenden enden. Sie schmückt nicht aus, was in meinen Kindheitserinnerungen an Halbwahrheiten und «Übermalungen» hängengeblieben ist. In der Kirche St. Martin in St. Gallen, jener Kirche, in der ich zur Erstkommunion ging und gefirmt wurde, in der ich zwischen Vater und Mutter nicht zu weit vorne, aber auch nicht zu weit hinten jeden Sonntag zur Messe ging, prangt an der rechten Seite ein übergrosses Mosaik meines Namensvetters. Ein alter, kräftiger Mann mit stechendem Blick mit einem jungen Bären zu seinen Füssen, der zu ihm aufschaut.

Gallus war damals mit einer Gruppe Mönche vom irischen Bangor auf dem Weg in den heidnischen Süden. Columbanus, ein charismatischer Führer leitete zwölf Brüder auf eine Reise, bei der es kein Zurück geben konnte. Eine Reise in eine Fremde, die so unwirtlich und unbekannt erscheinen musste wie heute ein fremder Planet. Eine Reise, die permanente Lebensgefahr bedeutete, die an sich Martyrium genug war, auf der der Tod in vielerlei Gestalt lauerte und Misstrauen uns Feindschaft nicht nur von aussen drohte, sondern mit Sicherheit ein Teil des Gepäcks war.

Gabrielle Alioth, die viele Jahre in Irland lebte und wohl immer wieder mit der Geschichte dieses Mannes aus dem irischen Bangor konfrontiert wurde, dessen römisch klingender Name irgendwie nicht zu seiner scheinbaren Herkunft passt, hat nicht einfach ein mögliches Abenteuer nacherzählt, die Legende eines «Heiligen» noch einmal bis zur Unkenntlichkeit aufgeblasen, was in der Vergangenheit immer wieder passierte, sondern Fragen gestellt, einem Leben, einem Entscheid, eine Reise ins vollkommen Ungewisse nachgefühlt und nachempfunden. Die Autorin erzählt auf mehreren Ebenen; Als unmittelbare Begleiterin auf der Reise bis an den Ort, an dem er nach der Legende krank geworden hängen blieb. Als Frau, die den alt gewordenen Man zwanzig Jahre später im Kreise seiner neuen Gefährten in der Siedlung unweit des Bodensees besucht und erfahren will, was den Mann damals von seinen Begleitern unumkehrbar Abschied nehmen liess und von der der Frau in der Neuzeit, die den Weg einmal weg aus der Schweiz nach Irland machte und Jahre später, in einer ganz anderen Zeit als Gallus, wieder zurück.

Gabrielle Alioth verknüpft die drei Erzählebenen kunstvoll, spürt nach und zeichnet mit wagen Strichen. Das Leben ist eine Reise. Gallus machte sich damals mit seinen Gefährten um Columbanus auf eine Reise ins Ungewisse, eine Reise an die Grenzen des Möglichen, an den Rand des sicheren Lebens, weg von aller Geborgenheit, weg von aller Gewissheit. Gabrielle Alioth zeichnet weniger ein Leben nach, als das, was aus den Konsequenzen einer Entscheidung entsteht. In «Gallus, der Fremde» bleibt Gallus fremd. Und das ist gut so, denn das wenige, dass aus gesicherten Quellen überliefert wäre, reicht nicht für eine Nacherzählung seines Lebens. Aber der Mann von der grossen Insel im Norden hat etwas mitgebracht, etwas bewirkt. Geblieben ist eine Stadt, die seinen Namen trägt, ein weltbekanntes Kloster – und ein rätselhafter Name.

«Gallus, der Fremde» nimmt einem mit auf eine Reise ins Unbekannte, im Wissen darum, dass man nie ankommt.

Ein Interview mit der Schriftstellerin:

Sie wanderten einst aus nach Irland, ins Land Ihrer Sehnsüchte. Gallus wanderte 1400 Jahre zuvor auch aus, vielleicht zuerst nach Irland, dann mit Columbanus und seinen Gefährten auf den europäischen Kontinent. Ein Abenteuer ohne Rückkehr. Wohl kaum eine Auswanderung ins Land der Sehnsüchte. Wie weit ist die Figur Gallus zu einem Spiegel geworden?

Ich denke, man darf Gallus und Columbanus neben allen religiösen Motiven, der Peregrination etc., auch eine gewisse Abenteuerlust unterstellen, und es gibt ja auch Historiker, die (etwas zynisch) meinen, die irischen Mönche hätten Irland vor allem deshalb verlassen, weil es ihnen in Irland zu langweilig war. D.h. ich denke schon, dass sie auch ihren „Sehnsüchten“ folgten; und so wie Gallus das Land, in das er auswanderte nicht kannte, habe auch ich Irland nicht gekannt, als ich beschloss, dorthin zu übersiedeln. 

Grundsätzlich denke ich, dass Romanfiguren stets Aspekte des Autors/der Autorin spiegeln. Schreibt man über die Gegenwart, wird oft automatisch unterstellt, man/frau schreibe über sich selbst. In sog. historischen Romanen kann man sich als Autorin besser „verstecken“, auf jeden Fall hat mich noch nie jemand gefragt: Wie war’s denn im Kloster? Oder: Haben Sie immer noch ein Verhältnis mit Otto von Schwaben?

Was mich an ihrem Roman beeindruckt ist die Tatsache, dass sie nicht noch weitere Schlaufen um die Legenden des Stadtgründers ziehen. Sie halten sich an die wenigen Fakten und schmücken viel mehr die Umgebung, das Umfeld des Protagonisten als seine Heiligenschein. Brauchte es Überwindung oder war es von Beginn weg Absicht?

Ich finde es stets interessant und beim Schreiben natürlich auch ganz unterhaltsam, Legenden (oder andere vorgegebenen Vorstellungen) zu entlarven bzw. nach Gründen für Legendenbildung zu suchen und deren Entstehungsprozess nachzuzeichnen. Es ist Teil des Perspektivenwechsels, das in einem Roman erlaubt, möglich und auch spannend ist. 

Zudem wird Gallus bereits in den Viten als recht widerspenstiger Heiliger dargestellt. Um Gegensatz zu Columba ging es ihm wohl nicht so sehr um seinen eigenen Ruhm und Namen, sondern viel mehr darum, sein Leben so zu führen, wie er es für richtig befand. 

 Sie fügen in ihren Roman starke Frauenfiguren ein. Zum Beispiel die Frau, die sich 20 Jahre nach Gallus Ankunft im Steinachtobel hartnäckig an die Versen der Mönche heftet, um mehr vom Leben des Siedlungsgründers zu erfahren. Oder ihre Stimme als Erzählerin, als Forscherin. Sieht der weibliche Blick auf eine Zeit, die so patriarchisch geprägt ist, anders?

Ich weiss nicht, ob jene Zeit tatsächlich so „patriarchalisch geprägt“ war. Columba und Gallus kamen aus Irland, in dem zu jener Zeit die Brehon Laws den Frauen eine Gleichberechtigung einräumte, die wohl keltische Wurzeln hatte. Und auch im Burgund war z.B. Brunichilde weit mächtiger und wichtiger als ihre Grosssohn Theuderich.

Ich weiss auch nicht, was „der weibliche Blick“ ist? Ich denke, wir schreiben aus der Summe all unserer Erfahrungen, d.h. alles was wir erleben und erfahren fliesst in unserer Schreiben ein. Das Geschlecht, das im übrigen bekanntlich sehr unterschiedlich erlebt werden kann, ist somit nur einer von vielen Faktoren, die unsere Sicht formen, und ich würde meine eigene Sicht lieber nicht auf meine Weiblichkeit reduzieren lassen.    

„Gallus, der Fremde“ ist bei weitem nicht der erste historische Stoff, dem sie sich literarisch annähern. Wo lag die Motivation, dieses Buch zu schreiben? Worin liegt der Reiz, sich immer wieder auf einen neuen historischen Horizont einzustellen?

Die Historie gibt Fakten vor, eine Art Skelett. Die Herausforderung beim Schreiben eines Romanes mit historischem Hintergrund ist es, die Lücken zwischen diesen Fakten mit einer glaubwürdigen Fiktion zu füllen. Gleichzeitig ist dies  auch das Privileg der Romanschreiberin: Dort, wo der Historiker schwiegen muss, weil ihm die Fakten fehlen, hat sie die Freiheit, über das zu spekulieren, was gewesen sein könnte.

Ein weiterer Reiz ist sicher die unter 1) genannte Möglichkeit, sich als Autorin in der Historie zu verstecken.

Und konkret zu Gallus: Diese sehr frühe Zeit hat den Vorteil, dass wir nur wenige Fakten haben, d.h. wir wissen bald einmal, was man weiss und was man nicht weiss. D.h. das Ausmass der Spekulation ist breiter als in anderen Epochen.

Grundsätzlich aber, denke ich, sind es stets einzelne Schicksale, bzw. Fragen, die diese Schicksale aufwerfen, die mich (unabhängig von der Epoche) gepackt und fasziniert haben. Bei Gallus war es die Frage nach dem, was ihn mit Columbanus verband. Was hält diese beiden willensstarken, eigensinnigen Männer über 20 Jahre zusammen, und warum trennen sie sich dann doch ? Was ist in Bregenz zu Ende gegangen? Was hat Gallus die Freiheit gegeben, sich gegen Columbanus aufzulegen? Was hat ihm die Kraft gegeben, Columbanus› Strafe und die Trennung zu ertragen?  

Ist „Gallus der Fremde“ ein Fremder geblieben?

Sicher ist, dass er sich nicht vereinnahmen liess. Er weigerte sich, Bischof zu werden, beharrte darauf, in seiner „Einsiedelei“ (die – so Cornel Dora –  ja eigentlich eine Mehrsiedelei ist) zu bleiben.

Zudem denke ich aufgrund meiner eigenen Erfahrungen – und ich lebe nun seit 34 Jahren in Irland, also länger als ich in der Schweiz gelebt habe –,  dass Exilierte, Emigranten und Migranten jenseits aller Integrationswünsche und -bestrebungen und unabhängig davon, wie «zuhause“ sie sich an einem Ort fühlen, fremd sind und fremd bleiben und dass dies ein ehrlicherer Zustand ist, als eine oberflächliche oder künstlich geschaffene Zugehörigkeit. Und es ist auch ein durchaus erstrebenswerter Zustand. Er hat Gallus erlaubt, im Steinachtal zum dem zu werden, was er war, u.a. dem Namensgeber für Kloster, Stadt und Kanton. Denn es war Gallus› Vergangenheit, der Weg, den er zurückgelegt hatte, sein Fremdsein, das ihn speziell machte. Wäre er aus Arbon oder Steinach gekommen, hätte sich niemand um ihn gekümmert. Und das Fremdsein und -bleiben hat mir erlaubt, über ihn zu schreiben, weil ich selbst weder hier noch da hin gehöre.

Gabrielle Alioth, geboren 1955 in Basel, war als Konjunkturforscherin und Übersetzerin tätig, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. 1990 publizierte sie ihren ersten, preisgekrönten Roman «Der Narr». Es folgten zahlreiche weitere Romane, Kurzgeschichten, Essays sowie mehrere Reisebücher und Theaterstücke. Daneben ist sie journalistisch tätig und unterrichtet an der Hochschule Luzern. Seit 1984 lebt Gabrielle Alioth in Irland.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Hansjörg Schertenleib «Die Fliegengöttin», Gatsby im Kampa Verlag

«Die Fliegengöttin» bewegt. Hansjörg Schertenleib bewegt. Ein alt gewordenes Paar kämpft sich nach vielen gemeinsamen Jahren durch den Alltag. Er von Zweifeln und Schuld getrieben, sie eingeschlossen in ihre Krankheit. Er an seinen Grenzen, sie verloren weit über Grenzen hinaus. Hansjörg Schertenleib schrieb keine Novelle um die Krankheit Alzheimer, sondern um einen Mann, der an sich und seiner Situation zu zerbrechen droht.

Es geschah schon öfters, dass ich mit meiner Frau bei einem Spaziergang darüber sprach, was mit uns geschehen wird oder würde, wenn jemand von uns beiden erkrankt oder sterben wird. Etwas, was nicht einfach Möglichkeit ist, sondern irgendwann Tatsache wird.

Eilis und Willem sind seit vielen Jahrzehnten ein Paar, gemeinsam alt geworden, nachdem die Kinder aus dem Haus ausgezogen waren. Willem kam als junger Mann in Irland mit dem Schiff an Land, hat ein Leben hinter sich gelassen, eine schwangere Frau, eine Geschichte, die er mit niemandem teilte. Er lernte Eilis kennen, eine Frau, die ihn mit ihrer Bestimmtheit bezauberte, mit der Art, ihr Leben in die Hand zu nehmen. Es kamen Kinder, Arbeit, Aufgaben, bis Willem erneut gezwungen war, sich mit quälenden Realitäten auseinanderzusetzen, diesmal ohne äussere Flucht, dafür umso mehr mit einer inneren.
Eine Tochter stirbt und ein Sohn stellt sich verkrusteten Konventionen entgegen. Dem einen hat er nichts entgegenzusetzen, dem andern verschliesst er sich, trotz dargebotener Hand seines Sohnes. Willem beginnt sich treiben zu lassen, lässt sich auf eine Beziehung mit der Frau seines besten Freundes ein. Und nun im Alter, nach dem gegenseitigen Versprechen, sich nicht mit einer Krankheit alleine zu lassen und dem anderen ein unwürdiges Dasein zu ersparen, ist Willem allein. Neben Eilis, die sich durch Alzheimer fast ganz aus ihrem Körper verabschiedete. Er spürt seine aufkommende Härte, dass ihm auch hier die Kraft fehlt, zu seiner Realität zu stehen. Wie damals, als er eine Schwangere sitzen liess, wie bei seiner Tochter, die er sterben lassen musste, wie in der verschütteten Beziehung zu seinem Sohn, der Lüge in seiner Liebe zu Eilis und einem Versprechen, dem er nicht standhält.

Eilis und Willems Ehe ist wie ein Haus mit vielen Zimmern. Ein Haus mit Zimmern, die unwiederbringlich geschlossen und verloren sind, ein Haus, aus dem Willem immer mehr verdrängt wird.

Hansjörg Schertenleib Novelle ist von so ergreifender Zartheit und Klarheit, dass man während der Lektüre zum Atemholen gezwungen wird. Hansjörg Schertenleib leuchtet in die Tiefen Willems, beschönigt nicht, obwohl in vielen seiner beschriebenen Szenen genau die Zartheit schimmert. Hansjörg Schertenleib leuchtet nicht aus, lässt Schatten im Verlaufe der Geschichte noch grösser werden, lässt offen, deutet nur an. Es sind die Szenen zwischen Eilis und Willem, die Dialoge, die keine wirklichen mehr sind, die Berührungen, die im Nichts verlaufen, die leeren Gesten, die leeren Sätze von Eilis genauso wie von Willem. Ich als Leser spüre die Ausweglosigkeit, die Verzweiflung in Willems Situation, ohne dass ich während des Lesens mit in die Tiefe gezogen werde. Es ist die Art des Schreibens, Hansjörg Schertenleibs Sprache, die das verhindert, all die überaus starken Szenen, die ein Vielfaches von dem erzählen, was geschrieben steht.

Ein Interview mit Hansjörg Schertenleib:

Ein Mann, der seine an Alzheimer erkrankte Frau bei sich zuhause behält, gegen den Rat fast aller, weil sie sich einst ein Versprechen gaben. „Fliegengöttin“ ist eine Liebesgeschichte über Grenzen hinaus, ein Glaubensbekenntnis an die Kraft der Liebe bei aller Bürde und ein Buch über die Macht des Versprochenen. Sind Versrechen nicht längst antiquiert?
Versprechen sind in der Tat antiquiert. Ich bin aber ein altmodischer Autor (und Mensch…) der grossen Wert legt auf Begriffe wie ‹Loyalität›, ‹Moral›, ‹Ehrlichkeit›. Ich mag keine Menschen und keine Erzählfiguren, die sich vor Verantwortung drücken.

Willem und Eilis sind Jahrzehnte zusammen, haben Stürme überlebt, selbst den Tod der einen Tochter. Alzheimer ist Hein Sturm, sondern eine langsam werdende, ewig dauernde Flaute. Wer lange mit jemandem zusammen ist, wer in Partnerschaft alt wird, muss sich irgendwann der Tatsache stellen, dass jemand unheilbar krank werden könnte, der eine zuerst stirbt. Warum glaubt der Mensch, sich den Fragen des Sterbens verschliessen zu können?
Weil der Mensch in der Regel die Tendenz hat, Problemen aus dem Weg zu gehen. Literatur darf dies nicht. Sie muss sich den Problemen stellen, muss sie verhandeln und in Geschichten verwandeln. Wobei es mir gerade bei existenziellen Problemen sehr wichtig ist, das Schwere leicht zu machen und zum Schweben zu bringen. Was im Fall meiner Novelle ‹Die Fliegengöttin› eine nicht eben einfache Aufgabe war. Ich will die Leserschaft mit einem guten Gefühl aus dem Text entlassen, ohne jedoch schön zu malen und Problemen aus dem Weg zu gehen.

Sie schreiben sich ganz nah an das Paar Eilis und Willem. Es ist unvermeidlich, dass ich als Leser glauben muss, sie wären tatsächlich Zeuge gewesen. Es sind die beschriebenen Gesten und vor allem die Dialoge mit der an Alzheimer erkrankten Ehefrau, die die Novelle in anrührender Zärtlichkeit so sehr authentisch machen. Alzheimer ist viel mehr als bloss ein Aufhänger in einer Geschichte um Liebe und Freundschaft. Kann man seinen Personen in einem Roman als Schriftsteller auch zu nahe treten?
So man als Autor seine Figuren mit Respekt behandelt, kann man ihnen nicht zu nahe treten, nein. Wobei es in meiner Arbeit immer auch um die nötige Distanz geht – diese zu finden und dennoch Nähe zu schaffen, ist eine der Schwierigkeiten, die sich am Schreibtisch stellen.

Sie beweisen sich in allen Ihren Büchern als Meister der „Beziehungs-inszenierung“. Es sind nie Nabelschauen. Die Personen werden nie nackt, keine geozentrierte Reflexion. Sie reduzieren das Personal Ihrer Bücher auf das Minimum, auch das, was erzählt werden muss. Wirkt die Landschaft Ihres Schreibortes in Irland?
Selbstverständlich hat mich die Landschaft Irlands – oder Donegals, um genau zu sein – beeinflusst, was meine Sprache, meinen Satzbau, meinen Duktus und den Rhythmus meiner Sätze betrifft. Nach 22 Jahren Irland bin ich nun freilich weitergezogen. Neuer Schreib- und Denkort ist die kleine Insel Spruce Head Island an der US-Ostküste Maines. Auch diese Landschaft wird mein Schreiben ohne Zweifel entscheidend beeinflussen.

Willem trägt viel Schuld mit sich, ungeteilte Schuld. Eine schwangere Frau, die er einst sitzen liess, eine Verantwortung, vor der er floh. Den einen Sohn, dessen Neigungen er nicht akzeptieren will und kann. Seitensprünge mit der Frau seines Freundes. Und mit der Krankheit seiner Frau, bei der er dieser eine Versprechen einzulösen hätte, sein Unvermögen, sein Zögern, die Blicke seiner Frau. Wie entscheidet der Schriftsteller, wie viel er in ein Buch „einpacken“ kann?
Das entscheide nicht ich, der Autor, das entscheidet die Geschichte, die ich erzähle. Handlungen der Figuren müssen motiviert werden, damit sie für die Leserschaft nachvollziehbar sind. Allerdings ist es wichtig, eben diese Handlungen nicht zu stark zu motivieren, da sonst die Gefahr des ‹Holzschnittes› besteht und komplizierte Vorgänge, und das sind alle Vorgänge zwischen Menschen, zu sehr zu vereinfachen. Auch hier muss die richtige Mischung gefunden werden. Was bedeutet, das ich nach der 1. Fassung in den folgenden 2. und 3. Fassungen in erster Linie streiche, streiche, streiche.

Ich danke Hansjörg Schertenleib für das Interview.

© Milena Schlösser

Hansjörg Schertenleib, geboren am 4. November 1957 in Zürich. Ausbildung zum Schriftsetzer/Typographen; Besuch der Kunstgewerbeschule Zürich. Seit 1982 freier Schriftsteller. Lebte in Norwegen, Wien, London, Boston und Berlin, zwischen 1996 und 2016 in einem ehemaligen Schulhaus aus dem Jahr 1891 im County Donegal in der Republik Irland, seit 2011 zeitweise in Suhr im Kanton Aargau und seit 2016 auf Spruce Head Island in Maine, USA. Besitzt seit 2003 die irische Staatsbürgerschaft.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Urs Faes «Raunächte», Insel-Bücherei

Ein Mann kehrt nach vielen Jahren an jenen Ort zurück, der ihm einmal Heimat war, in dem alle Hoffnung lag, aus der er sich vertreiben liess, der er den Rücken zeigte. Damals lud er sich aus Enttäuschung und Zorn Schuld auf, die er mit in die Ferne genommen hatte. Schuld, die ihn nach vielen Jahren an den Ort der grossen Enttäuschungen zurückführt.

Wenn ein Buch inhaltlich überzeugt, dann freut das den Leser, die Buchhändlerin, den Verlag und den Autor. Aber wenn ein Buch zu einem Gesamtkunstwerk wird, wie das in der Insel-Bücherei-Reihe sehr oft geschieht, dann wird ein Buch zu eine Reliquie, einem heiligen Gegenstand. Dann möchte ich es am liebsten allen, von denen ich weiss, dass ihnen das Buch wie mir etwas Heiliges ist, behutsam in die Hand legen mit dem Wunsch, dafür ein paar absolut ungestörte Stunden in ihrem Leben einzurichten.
Nanne Meyer, eine bildende Künstlerin aus Berlin hat die Erzählung mit Zeichnungen zu einem grossen Ganzen erweitert. Mehr als nur illustriert! Der Erzählung etwas beigefügt, was nicht einmal die Filmmusik beim Film kann. Ein doppelter Genuss. Augenpausen. Ein paar Atemzüge zwischen den Seiten, die den Text regelrecht einkochen. Dabei sind beides schon Substrate, Text und Bild; kein Strich zu viel, reduziert und absolut präzise.

Eine Heimkehrergeschichte. Eine Wintergeschichte. Eine tief verschneite Landschaft irgendwo im Schwarzwald. Ein Dorf am Wald, umgeben von Hügeln. Zwischen den Hügeln Bauernhöfe. Einer davon gehört Sebastian, seinem Bruder, den er schon Jahre nicht mehr gesehen hat, der auch mit Briefen nicht mehr zu erreichen war. Man kennt Manfreds Bruder im Dorf. Ein verschrobener Kerl, der sich nur mehr selten im Dorf blicken lässt. Ein Mann, den das Leben gestraft hat; die Eltern sterben, mit den Tieren auf dem Hof ist ihm das Glück nicht hold und Minna seine Frau wird krank, serbelt langsam weg in den Tod. Sebastian, sein jüngerer Bruder humpelt durch ein missratenes Leben. Kaum Licht auf dem eingeschneiten Hof, keine Spuren im Schnee vor dem Haus, nur ein dünner Rauch aus dem Kamin.

Manfred und Seb waren als Kinder wie Zwillinge. Aber als sie erwachsen wurden, trieben Entscheidungen Keile zwischen das Bruderpaar. Manfred hatte sich als älterer Bruder als Nachfolger auf dem Hof gesehen. Und eigentlich auch Minna, die junge Frau als seine Braut. Seb und Manfred verstanden sich beide gut mit Minna. Und wenn die Eltern damals entschieden hätte, wie Manfred erwartet hatte, wäre die ganze Katastrophe nicht passiert. Das Leid, das damals seinen Anfang nahm und auch nicht endete, als Manfred sich ins Ausland absetzte.

Manfred kehrt zurück, er der Versehrte in eine versehrte Landschaft, zugedeckt mit einer kalten Schicht unschuldigem Weiss. Er mietet sich im einzigen Gasthof ein. Der Wirt kennt ihn, erzählt in Brocken, wovon Manfred ahnt. Er streift durch die Landschaft, erinnert sich an seine Kindheit, die Verbundenheit mit seinem Bruder, den ersten Zwist, die Mutter, die in den stillen Zeiten um Weihnachten und Neujahr ein Summen hörte, die durchs Haus zog und mit Kräuterrauch die Geister aus den Mauern vertrieb. Er erinnert sich an Minna, seine einzige wirklich Liebe, die er durch seinen Zorn und seine Rache verlor, die sich damals für den Bruder entschied, gegen die Liebe, weil Manfreds Zorn auch sie vertrieb.

«Raunächte» ist eine atmosphärisch dichte, ungeheuer empathisch geschriebene Erzählung. 80 gewichtige Seiten, in den Urs Faes beweist, warum ihm Suhrkamp die Ehre erweist, nach «Paris. Eine Liebe» ein zweites Mal eine Erzählung in der edlen Insel-Bücherei-Reihe herauszugeben. Seine Sätze klingen. Es ist, als ob es schneien würde, während man liest. Urs Faes Sprache legt sich wie ein weicher, weisser Mantel um die Schultern des Lesers.
Bruder bleibt man immer, genau wie Sohn, Tochter, Schwester, Mutter oder Vater. Aus Familie steigt man nicht einfach aus. Man wird auch nicht entlassen. Urs Faes stellt jene Fragen, denen sich alle stellen müssen, irgendwann. Wo gehört man hin? Wo hätte man hingehört? Gibt es eine Rückkehr? Kann man Hass tilgen?

Dass auch die Künstlerin Nanne Meyer mit ihren Zeichnungen die genau gleichen Fragen stellen kann, dass sie es schafft, das Gewicht der 80 Seiten zu verdoppeln, erstaunt und freut mich gleichermassen. «Raunächte» ist ein Geschenk! Eine Offenbarung.

Mein Interview mit Urs Faes:

Ich bin von „Raunächte“ tief beeindruckt. Weil die Geschichte eines Heimkehrers stark erzählt ist. Weil die Zeichnungen von Nanne Meyer ihre Erzählung kongenial verstärken, alles andere als ergänzen. Weil ich das Büchlein nach der Lektüre an mein Herz drücke und nicht zulassen werde, dass es so einfach ins Regal geschoben wird. Weil ich es allen schenken möchte, denen Literatur und mehrfach gute Bücher wie mir am Herzen liegen! Wie kamen die Künstlerin Nanne Meyer und der Schriftsteller Urs Faes für dieses Buch zusammen?
Ich stiess vor ein paar Jahren in einer Zürcher Galerie auf Zeichnungen von Nanne Meyer, die durch grosse Eigenständigkeit, einen leisen Humor und einen sicher gekonnten Strich auffallen. Ich lernte sie dann in Berlin kennen. Das führte zu einem intensiven Austausch und auch zu einer Zusammenarbeit, zuerst im Band «Paris. Eine Liebe»; auch das Umschlagbild von «Halt auf Verlangen» ist von ihr und jetzt wieder die Zeichnungen zu «Raunächte».

Jene wichtigen Fragen des Lebens stellen Sie in Ihrer Erzählung ganz offensiv. Es geht um Schuld, um zerstörte Familienbande, um Liebe. Themen, die leicht der Schwere wegen in Schieflache geraten können, die das Erzählen dickflüssig und zäh machen können. Ihnen gelingt eine erstaunliche Leichtigkeit. Ist das die Qualität steigender Lebenserfahrung, dass man sich nicht in übersteigerter Emotionalität verliert?
Das Alter mag zur Gelassenheit beitragen, in meinem Falle hat sicher auch die Krankheit zusätzlich dazu beigetragen, gelassen und behutsam, mit einem Unterton von ironischer Distanz zu erzählen. Ich war zudem immer der Ansicht, dass,  in Sprache gebannt, die Schwere des In-der Welt-Seins leicht werden kann, dass ein knappes genaues Schreiben mit offenen Nischen, Emotionen allenfalls entstehen lassen kann, ohne dass sie sprachlich ausgebreitet werden müssen. 

Auch wenn die Hügel in „Ihrem“ Schwarzwald tief verschneit sind und man mit den Schuhen bis zu den Knien im Schnee versinkt. Auch wenn lange Spaziergänge, Wanderungen auf der Suche nach einer verlorenen Vergangenheit wegen der Kälte nicht ungefährlich sein können, schaffen sie es, Wärme zu erzeugen, erzeugen Sie erstaunliche Nähe, ohne voyeuristisch oder nur annähernd in sentimental zu werden. Es muss wohl so gewesen sein, dass sie einen Winter im Schwarzwald verbrachten.
«Ich habe die letzten Jahre viel im Schwarzwald verbracht, besonders aber im Herbst und Winter 17, auch als Rückzug aus einer dumpf kalten Oeffentlichkeitsdebatte. So war ich unterwegs im Schwarzwald zwischen Mummelsee und Kinzigtal. Aber auch in den Vogesen zwischen dem Odilienberg und dem Steintal, lernte Nebel, Dunkelbolde und Tobel kennen, aber auch den Wind in den dunklen Tannen, Licht- und Sonnenfäden, die überraschend einfallen.»

Manfred wandert und wandelt durch eine Landschaft, aber auch durch die Zeit. Eine Landschaft, der die Geschichte Namen gab; Stollengrund, Schorfen, Flackwald, Mühlstein… Ihnen haben es Flurnamen ganz offensichtlich angetan, weil jeder Name eine Geschichte erzählt. Wo lag der Anfang dieser Geschichte?
Die Namen tragen nicht nur Geschichten mit sich, sie haben auch einen Klang, eine leise Poesie. So liegt denn auch der Anfang dieser Erzählung draussen, in Nebel und Bäumen, das bezeugt eine Tagebuch-Notiz vom Dezember 16: Ich war mit jener Lucie unterwegs, der das Buch auch gewidmet ist, in den Sonnenuntergang, diesem Lichtgeflimmer zwischen Stämmen und Zweigen, in die Dämmerung hinein. Und langsam krochen die Nebel aus dem Tal herauf, die Nacht, setzte das Knarzen im Holz, das Sirren in den Zweigen ein. Da war auch der Ruf eines Käuzchens zu hören. Jetzt beginnen die Raunächte, sagte sie, erzählte, führte mich in unzähligen Gängen ins Hamersbachtal und zum Vogt auf Mühlstein, zur Berglekapelle und zur Teufelskanzlei, in Wälder, Sagen und Mythen, wo Kobolde sich lösten, aber auch Silben und Worte, die ins Erzählen führten.

„Raunächte“ ist eine Familiengeschichte. Darüber, dass man ihr auch durch Flucht nicht entrinnen kann. Darüber, dass irgendwann die Spiesse drehen, dass Zorn, Wut und Rache zurückschlagen, irgendwann zwingen, einen Versuch der Ordnung zu wagen, auch wenn nur noch Trümmer stehen. Steckt irgendwo in Ihrer Erzählung eine Hoffnung? Oder gar eine Mission? Eine Angst?
Es gehört zu unseren Bestimmungen in eine Familie hineingeboren und durch sie auch in seinem Gang und Verhalten bestimmt zu werden. Das sind Erfahrungen, die sich erzählerisch immer wieder melden. Botschaften hat der Erzähler nicht, eine Mission, ausser der des Erzählens, schon gar nicht. Sein Schreiben ist allenfalls, wie es Johannes Bobrowski einmal sagte, ein Benennen auf Hoffnung hin. Das entspricht vielleicht dem Licht, das dem Gehenden zwischen den dunklen Tannen immer wieder unvermittelt aufscheint, in die Lichtungen fällt, die Ebenen erhellt, dem, was im Klang der Sprache sich lösen kann, in einem Rhythmus, der über den Satz hinauszuklingen, nachzuhallen vermag.

Meinen Dank an Urs Faes!

© Sikle Keil

Urs Faes, 1947 geboren, lebt und arbeitet in Zürich. Seine Werke wurden vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Schweizerischen Schillerpreis und dem Zolliker Kunstpreis. Sein Roman «Paarbildung» stand auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis.

Nanne Meyer, 1953 in Hamburg geboren, Studium an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg, 1994 – 2016 Professorin an der Kunsthochschule Berlin-Weissensee, lebt in Berlin.

Webseite des Autors

Webseite der Künstlerin Nanne Meyer

literaturblatt.ch dankt Nanne Meyer und dem Suhrkamp Verlag für die Erlaubnis, die Bilder der Künstlerin einzubetten.

Simone Regina Adams «Flugfedern», Klöpfer & Meyer

Der zwanzigjährige Thibaut wird auf dem Nachhauseweg von einem Sommerfest Zeuge einer Vergewaltigung. Es gelingt ihm zwar, den Peiniger in die Flucht zu schlagen, nicht aber die Frau rechtzeitig vor der Katastrophe zu schützen. Er nimmt sie mit nach Hause zu Mème, seiner aus Frankreich stammenden Grossmutter, die ihm die ganze Familie ist. Thibaut tut alles, um der mehrfach verwundeten Sophie ein Nest zu geben, verliebt sich in die junge Frau und droht an dieser Liebe zu zerbrechen.

Das Nashornvogelweibchen reisst sich in seiner Bruthöhle die Flugfedern aus, um ihr Nest auszupolstern. Flugfedern, die sie in der Brutzeit nicht braucht, weil das Männchen unermüdlich Futter und Wasser bringt, bis die Jungen flügge sind.

Während die junge Frau in seinem Bett schläft und er auf der Couch, seine Grossmutter ihr und ihnen alle Zeit lässt, in der Hoffnung, dass ihrem Enkel das gegeben wird, was ihr einst genommen wurde, wächst Nähe. Thibaut erfährt Bruchstückhaftes aus Sophies Leben. Er glaubt, dass aus den kleinen Zeichen der Zuneigung Liebe wird, dass sich Wunden schliessen können, dass Sophie im Nest bleibt, das Thibaut mit seinen Flugfedern ausstaffiert.

Aber Sophie lässt sich nicht halten, ist wie eine Katze, die sich nicht streicheln und nicht einschliessen lässt. Thibaut erfährt und erlebt, dass Sophie alles verloren hat; ein Zuhause, das Vertrauen, Liebe und die Gewissheit, dass es Alternativen gibt. Nicht erst mit dem schweren Mann auf ihr am Waldrand.

Aber auch Thibaut selbst ist einer, der Haken schlägt, nicht zuhause bei seiner Grossmutter, die ihm alles bedeutet, aber in Schule und Ausbildung. Er beginnt mit Sophie zu hoffen und ich als Leser mit ihm, dass ihm gelingt, was sich unabwendbar der Hoffnung entgegenstellt. Sophie klettert immer wieder an die Ränder ihres Nests – und fällt, von ihren Flugfedern beraubt. 

Sophie verschwindet, Thibaut hofft. In jenem Moment, in dem Sophie erstmals in das feste Gefüge zwischen Grossmutter und Enkel, zwischen Mème und Thibaut, diese Schicksalsgemeinschaft eingreifen will, scheitert sie, wird zurechtgewiesen, was sie nicht erträgt und fliehen lässt.

Bis Jahre später, Thibaut ist inzwischen verheiratet, Vater einer kleinen Tochter und Psychologe in einer Klinik, ein Brief eintrifft und Sophie ihn um ein Wiedersehen bittet. Er, der sich nach dem Verschwinden Sophies mit Mühe ein neues Nest schuf, ein Nest, in dem sich alles ineinander zu fügen schien, wird durch ein paar Zeilen und eine Bitte aus dem Gleichgewicht geworfen, an den Rand seines Nests gedrängt. Er macht sich auf den Weg im Wissen darum, dass er Gefahr läuft, auch sich selbst zu verlieren.

„Flugfedern“ ist ein ungeheuer zärtliches Buch, das standhaft auf dem schmalen Grat zwischen Kitsch, Trivialität und einem Übermass an Abgründen bleibt. Es erzählt von den kleinen Gesten, die mit Grösse geschildert werden. Von dürstendem Leben und nagenden Zweifeln. Ein Buch, das ich schon für die Tiefe einzelner Sätze liebe, dass Fragen stellt, die letztlich nie zu beantworten sind. Kindliche Fragen nach dem Warum und Woher. „Flugfedern“ überzeugt, weil das Gefüge zwischen Thibaut, seiner Grossmutter Mème, seiner Frau Helene und der grossen, abgetauchten Liebe Sophie nie plakativ, nie grell, nie durchsichtig, aber immer durchscheinend, geheimnisvoll und behutsam erzählt bleibt. Kann man sich ein Bild eines Lebens, seines Lebens machen? Wo beginnt Unglück, wo das Glück? Ist das Leben ein unsichtbarer Faden, dem man folgt, ohne es zu wissen?

„Liebe ist kein Gefühl. Liebe ist eine Entscheidung.“

Mein Interview mit Simone Regina Adams:

Selbst wenn man jemanden liebt, selbst dann, wenn man lange Zeit mit dieser Person verbringt, deckt sich das, was passiert nur selten mit dem, was man will. Nichts ist so unvorhersehbar wie Beziehung, erst recht Liebe. Wir fühlen uns nahe, bleiben aber trotzdem ein Leben lang, eine Liebe lang aussen vor. Das gilt für Mème, die Grossmutter ihres Protagonisten ebenso wie für ihren Enkel Thibaut, seine Frau Helene und Thibauts erste grosse Liebe Sophie. Ist „Flugfedern“ ein Buch über ungestillte Sehnsucht?
Ja, es ist auch die Geschichte ungestillter Sehnsucht, die natürlich vor allem Thibaut ein Leben lang antreibt, wie Sie ganz richtig bemerken. Es geht aber auch um das Bild, das wir uns vom anderen machen – und darum, was Max Frisch in seinen Tagebüchern so wunderbar formuliert hat, nämlich dass wir «gerade von dem Menschen, den wir lieben, am mindesten aussagen können, wie er sei.“ An anderer Stelle schreibt er: «Das ist das Erregende, das Abenteuerliche, das eigentlich Spannende, dass wir mit den Menschen, die wir lieben, nicht fertigwerden: weil wir sie lieben; solang wir sie lieben.“ So ergeht es auch Thibaut, er wird mit Sophie nicht fertig, weil er sie gerne begreifen würde und es nicht kann. Das Bild, das er sich von ihr macht, ist nie hinreichend. 

So gross die Gefühle, so gross die Liebe, so gross die Angst eine solche wieder zu verlieren. Thibaut leidet schon als Kind unter „verlorener Liebe“, daran, dass ihn die Mutter doppelt zurückliess, dass er mit seiner Grossmutter aufwuchs und zusammenlebte, die mehr als ein halbes Leben unter einer verlorenen Liebe litt. Er leidet mit der verwundeten Sophie und später an sich selbst, weil er ahnt, dass sogar seine Familie auf dem Spiel steht. Ist Liebe nur dann Liebe, solange man leidet oder zumindest das Leiden fürchtet – Leidenschaft?
Ein Leitthema der Novelle ist auch die Frage „Was ist Liebe?“. Thibauts Freund und Kollege Walther beantwortet diese Frage ja einmal sehr schlicht: „Liebe ist kein Gefühl, sondern eine Entscheidung.“ Das klingt nun wenig romantisch oder leidenschaftlich, ich denke aber, er meint, dass zur Liebe die bewusste Hinwendung zum anderen gehört, die Bereitschaft, wie Frisch sagt, auf die immer neuen Verwandlungen des anderen einzugehen, sich auf «das Geheimnis, das erregende Rätsel, das der Mensch ja immerhin ist“, einzulassen. Während es in der Leidenschaft wohl oft darum geht, die eigene Leere, den eigenen Mangel zu füllen. Vielleicht ist das auch bei Thibaut so, der schon als Kind einen großen Mangel und große Sehnsucht erlebt hat – aber das mag ich gar nicht deuten, ich bin ja nicht seine Therapeutin, sondern hier nur Autorin. Jedenfalls führt die Liebe bei ihm zu einer geradezu fatalen Opferbereitschaft, mit der er Sophie in ihrem gemeinsamen Nest zu halten versucht, das ihr jedoch bald zu eng wird.

Sie schildern die Geschehnisse aus der Sicht eines Mannes und doch nicht in der Ich-Perspektive. Die Position des Mannes, der nicht wirklich an das Wesen seiner grossen Liebe herankommt, der an ihr zu scheitern droht, die ein Mysterium bleibt. Diese Erzählposition scheint viel wichtiger, als das, was mit Sophie, dem „Gegenüber“ geschah und geschieht. Sie arbeiteten viele Jahre als Psychotherapeutin. Wie weit kann man erklären? Wie weit soll man erklären?
Es stimmt, es geht tatsächlich nur vordergründig um Sophies dramatische Geschichte und um ihre Vergewaltigung. Dieses Geschehen rückt im Verlauf der Geschichte in den Hintergrund, die Tat wird nie aufgeklärt. Es war mir wichtig, der Tatsache Rechnung zu tragen, dass sich nicht alles im Leben auflöst und klärt. Als Therapeutin habe ich natürlich einen anderen Ansatz, Therapie soll Hilfe bieten, Heilung ermöglichen, doch als Autorin interessieren mich vor allem Fragen, nicht die Antworten. Da denke ich an Milan Kundera, der gesagt hat: „Grundlage eines Romans ist eine Fragestellung, nicht eine Feststellung.“ Diese Geschichte stellt viele Fragen: Kann ein Mensch den anderen retten? Und wenn Thibaut es versucht, tut er es für Sophie? Aus Liebe? Oder um seinem eigenen Leben ein Ziel, einen Sinn zu geben? Und wie lebt ein Paar, das auf die harmlose Partyfrage „Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt?“ nicht ebenso harmlos antworten kann? 

Der weibliche Nashornvogel rupft sich selbst die Flugfedern zur Nestpolsterung aus. Er braucht diese während der Brut nicht, weil das Männchen unermüdlich Nahrung bringt. Erziehung im Elternhaus oder in der Schule bedeutet oft, dass Flugfedern ausgerissen werden. Der Mensch scheint nicht geschaffen, um sich zurückzunehmen. Wo sind die Grenzen zwischen Verstümmelung und Selbstbegrenzung?
Dieses Bild des Nashornvogel-Weibchens ist ja eines, das Thibaut gewählt hat, es ist eine Metapher, die für ihn bedeutsam ist, die für Sophie aber schon bald nicht mehr stimmt. Sophie hat Gewalt erlitten, sie ist aber auch eine Frau, die Thibaut durch ihr Verhalten und ihre Affären immer wieder verletzt. Eigentlich begrenzen sich beide gegenseitig. Wie sehr das klassische Familienmodell, das diese Metapher ja auch beschreibt – der Mann ist für das Einkommen und die Frau für die Brutpflege zuständig – wie sehr das heute noch gelebt wird, mögen andere beurteilen. Ich kenne tatsächlich einige Frauen, die sich selbst innerhalb einer Beziehung sehr begrenzen, und wenn sie dann alleine leben, werden die gleichen Frauen unerwartet selbständig und bekommen, wie Sophie, „Flugfedern“. Sie kann ihr Leben erst in die Hand nehmen, als Thibaut aufhört, für sie zu sorgen, als er sich endgültig von ihr trennt. Da endet auch ihre Selbstbegrenzung. 

Thibaut ist nicht unbedingt ein männlicher Archetyp, weder in der Literatur noch in der „Realität“. Wie weit zeichnen Sie hier ein Idealbild an Geduld, Rücksicht, Zartheit und Verantwortungsgefühl? Das männliche Gehabe in Politik und Gesellschaft scheint sich kaum an diesen Tugenden zu messen. Liegt da Sehnsucht?
Natürlich sind das Werte, nach denen wir uns gerade in der heutigen Zeit zu Recht sehnen. Aber es ist eben auch ein Ideal, Thibaut hat nicht nur von Sophie, sondern auch von sich selbst ein Bild erschaffen, das Bild des engagierten Therapeuten, des Helfers, und er spürt, dass er sich selbst mit der Zeit darin verloren hat. Deshalb ist Walther in seiner herzlichen Ruppigkeit so wichtig für ihn, und deshalb geht es ihm bei der erneuten Begegnung mit Sophie auch um eine Begegnung mit sich selbst. Er ist, als er Sophie zum ersten Mal begegnet, ja noch furchtbar jung. Deshalb heißt es gegen Ende der Novelle:
«Er sah ihn so deutlich vor sich, diesen jungen Mann, der er damals gewesen war, und für den Sophie die Welt bedeutet hatte. Im Halbschlaf sah er ihn durchs Zimmer gehen, war versucht, ihn an der Schulter zu fassen, um ihm noch einmal ins Gesicht zu sehen, bevor er verschwand.»

© Margrit Müller

Simone Regina Adams, 1967 im Saarland geboren, lebt in Freiburg im Breisgau. Studium der Literaturwissenschaft und Psychologie, seit 1995 Psychotherapeutin mit eigener Praxis. Sie war mehrfach Stipendiatin des Förderkreises deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg (2006-2013), Stipendiatin des Stuttgarter Schriftstellerhauses (2014) sowie Stipendiatin in Friedrichskoog an der Nordsee (2016). Ihr Roman «Die Halbruhigen» wurde 2011 mit dem Werner-Bräunig-Preis ausgezeichnet.

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Beitragsbild © Sandra Kottonau