Michelle Steinbeck «Eingesperrte Vögel singen mehr», Volant & Quist

2016 sorgte Michelle Steinbeck mit ihrem Debüt «Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch» für Aufregung, kam damit auf die Listen des Deutschen und Schweizer Buchpreises. Nun erscheint bei Volant und Quist ihr erster Lyrikband. Mit Sicherheit auch dies ein Buch, das aufmischen wird!

Vor längerer Zeit hörte ich Michelle Steinbeck an den Lyrikfestival «Neonfische» in Lenzburg aus ihren Gedichten vorlesen.

Deine Gedichte entsprechen gar nicht dem, was Gedichte sehr oft suggerieren, diesen verklärenden, romantisierenden Blick auf die Welt. Du bist erfrischend „hemmungslos“, ungewohnt direkt. Irgendwie ein Kontrast zu deinem Roman „Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch“, wo die Bilder sehr oft ins Surreale kippen. Willst du “aufmischen»?
Klar, immer aufmischen! Nein im Ernst: Ich habe ein anderes Bild von Lyrik, als du hier beschreibst. Von der zeitgenössischen Szene, aber auch sonst. Was ist denn z.B. mit einer Kaleko? Aber es stimmt: Ich habe mich in diesem Format sehr frei gefühlt. 

wie die grossmutter aufblüht
und rosig wird im Angesicht ihres
urenkels der rot und dünn und
ausgeliefert im licht
der wärmelampe seine unanständig
geschwollenen hoden
dem betrachter entgegenstreckt

fotografier ihn von der
anderen Seite sagt die mutter
die aufgeschnittene
von hier aus
lächelt er

Selbst der Verlag Volant & Quist spielt mit dem Entsetzen der Literaturkritikerin Elke Heidenreich auf deinen Roman und setzt den Satz „Wenn das die neue Generation ist, dann Gnade uns Gott“ auf den Buchdeckel deines Gedichtbands. Wie viel Provokation ist Programm?
Was soll daran provokativ sein? Das ist doch eine Traum-Kritik! Um diesen Satz würde ich jede andere Autorin beneiden. Er hat so was altmodisches, klassisches, als würde er auf einem vergilbten Schinken im Bücherbrocki stehen. Das mag ich daran. (Lustigerweise hat der englische Verlag auf die Übersetzung ohne Absprache dasselbe Zitat auf den Umschlag gedruckt.)

Sonntag

sie bringt das baby vorbei
es schreit krebsroter kopf
dann trinkt es – pappsatt
die zunge hängt ihm aus dem mund so satt

er surft im internet nach der fad und
er googelt sich selber und
er pult an seinem fusspilz

ich grüble an meiner hausaufgabe
kann man wissen was andere fühlen?

Mit Jahrgang 1990 bist du ganz bestimmt die neue Generation. Was soll Lyrik in der Gegenwart?
Ach was, es gibt immer Jüngere. Aber das ist auch gar nicht so wichtig. Lyrik ist meiner Meinung nach die freiste Form des Schreibens. Deshalb die interessanteste. Ich glaube, mit Lyrik kann man Dinge ausdrücken, die in einer prosaischen Sprache unmöglich wären. 

fotos die mir fehlen

du vor einem blinkenden paniniwagen
kramst im bauchtäschlein nach geld

//

strasse mit bestattungsunternehmen
dazwischen einzig ein frisör
wo eine alte unter der haube vergessen
vergilbte klatschhefte liest
während am boden sich zwei kinder winden
schreiend um einen waschkorb streiten

//

am quai
durch die absperrung aufs schiff zu geistert ein alter
dem scheisse das bein runterläuft und wc papier aus der kurzen
hose flattert
er trägt ein ausgewaschenes t shirt darauf steht

GOOD LOOK

Deine Lyrik ist nicht Naturbetrachtung, kein Absinken in Gefühlswelten. Du konfrontierst mich mit dem Blick einer jungen Frau. Manchmal schmerzt dieser Blick fast, machmal greifst du mit Absicht in „Peinlichkeiten“. Wie entstehen deine Gedichte?
Ich bin ein Stadtkind. Aber Gefühle sind doch jede Menge drin! Und auch ein paar Bäume. Und Peinlichkeiten… Ja? Gut! Mein alter Freund Michael Fehr hat mir mal doziert, ich solle in der Lyrik dahin, wo es wehtut. Wo es unangenehm wird. Das fand ich einen guten Rat, daran habe ich manchmal gedacht. Es gibt ja einen Text im Band, der heisst: «Wie ich Gedichte schreibe». Tatsächlich ist jedes anders entstanden. Es sind ganz alte und ganz neue Texte drin. Ich hab mich durch meine Material-Sammlung gewütet. Es war eine schöne Arbeit. 

Michelle Steinbeck, geboren 1990 in Lenzburg, aufgewachsen in Zürich, lebt in Basel. Sie ist leitende Redaktorin der Fabrikzeitung, Kuratorin von Babelsprech.International und Studentin der Philosophie und Soziologie. Sie schreibt Geschichten, Gedichte und Stücke, Kolumnen und Reportagen. Ihr Debütroman «Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch» erschien 2016 im Lenos Verlag und war nominiert für den Deutschen sowie den Schweizer Buchpreis. Ihre literarischen wie journalistischen Texte werden in verschiedene Sprachen übersetzt.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Iason Depountis «Im Quantenland» von Alice Grünfelder

„Meine schriftstellerische Laufbahn begann mit einer Frage und endet mit derselben Frage wie am Anfang: Ob es wirklich auf dieser Welt einen Ort gibt für die Geplagten, die Armen, die Aussenseiter und armen Teufel?“ Tatsächlich dreht sich für den griechischen Lyriker Iason Depountis (1919-2008) alles um diese eine Frage, und er hat sie im Laufe seines schriftstellerischen Lebens variantenreich beantwortet.

In seinem Hauptwerk „Systema Naturae“ sucht er nach dem Zusammenhang zwischen Dichtung, Wirklichkeit und Wissenschaft, kombiniert Buchstaben, Formeln und Zahlen und reizt diese Kombination in so manch einem Poem aus bis an die Grenzen der Verständlichkeit. Ist die Hermetik seiner Lyrik womöglich der griechischen Diktatur geschuldet? Im Jahr 1969 setzte er zusammen mit 17 Schriftstellern seine Unterschrift unter eine Charta, die sich gegen Zensur verwehrte, kurz darauf floh er über England, Frankreich und gelangte in die Schweiz, wo er im Kinderdorf Pestalozzi Trogen 13 Jahre lang das griechische Haus leitete. Sein Sohn Dimitris Depountis übertrug das Werk des Vaters ins Deutsche, ihn fragte ich nach den Überlegungen, Abrechnungen und Ermahnungen des Iason Depountis`.

Leiser Beobachter, Sehn-Süchtiger und humorvoller Melancholiker – er selbst nannte sich „Bürger des Planeten“ und „Der aus dem Meer Geborene“. Welche dieser Bezeichnungen trifft wohl am ehesten auf Iason Depountis zu, frage ich Dich nicht als Sohn, sondern als Literaturwissenschaftler. Was hat ihn umgetrieben – im Leben und in der Literatur?

Eines seiner letzten Bücher veröffentlichte Iason Depountis unter dem Pseudonym „Odysseas Okeanos“. Das poetologische Essay trägt den Titel „Das Meer im TV“, der erste Satz darin lautet: „Dort liegt mein ganzer Reichtum, verstreut vor mir, am Horizont“. Bei jedem anderen Autor wäre ein Pseudonym wie „Odysseus Ozean“ wohl eine Anmassung, bei Depountis nicht: Fast die Hälfte seiner gut zwei Dutzend Werke hat unmittelbar mit dem Meer zu tun. Darunter fallen so unterschiedliche Texte wie solche über die Schwarmbildung von Fischen, in deren Verhalten er ähnliche Prinzipien wirken sah wie bei der Produktion von Sprache. Oder Gedichte über den Freiheitskampf auf den Inseln der Ägäis. Und zu erwähnen wären etwa Essays über ein angeblich unsterbliches prähistorisches Wesen Namens „Antixoos“, das im Meeresgrund gelebt haben soll und seinem Wesen nach einem Poeten gleichkam. Als einen „Bürger des Planeten“ bezeichnete er sich erst in den späten Jahren, als er von einer quasi universellen Warte aus auf das Leben blickte und sich in seiner Dichtung vermehrt der Mathematik und der Astronomie zuwandte. Beide Angaben zu seinem Ursprung (er vermied praktisch jede andere) verweisen natürlich auf die anti-regionalistische, anti-nationalistische Haltung, die ihn zeitlebens auszeichnete: Alle Menschen besassen ihm zufolge dieselbe, sie verbindende Herkunft.

Manche Gedichte sind nicht einfach zugänglich, was u.a. an der Kombination von Buchstaben, Ziffern und mathematischen Formeln liegt. Iason Depountis besuchte während seiner Zeit in Trogen mathematische Vorlesungen an der ETH Zürich, was faszinierte ihn daran? Und warum hat er Verquickung von Dichtung und Wissenschaft zu seinem lyrischen Prinzip erhoben?

In der Mathematik sah er so etwas wie die „verlorene Vernunft“ der Poesie, also das, was der zeitgenössischen Dichtung seiner Meinung nach fehlte, um Zusammenhänge als relevant zu erkennen und zu erschliessen: Wort und Zahl, Wissenschaft und Poesie bildeten für ihn ursprünglich eine Einheit, die es wiederherzustellen galt, und er erhoffte sich einen Wandel für die Welt durch eine von der Dichtung ausgehende Erneuerung der Wissenschaften. Sicher hing sein Interesse an der Mathematik auch mit seiner Freundschaft mit dem Architekten und Musiker Iannis Xenakis zusammen, der mathematische Verfahren in seinen musikalischen Kompositionen umsetzte. Jedenfalls war Iason Depountis der Meinung, dass die bisherigen Formen der Dichtung das substanziell Neue, das das 20. Jahrhundert mit sich brachte, nicht wiederzugeben vermochten. Einen Spaziergang im Wald als eine romantische Fussreise in der Art des 19. Jahrhunderts darzustellen, wäre für ihn ein Graus gewesen, ähnlich anachronistisch wie der Sheriff im Wildwestfilm, der auf seine Armbanduhr schielt (lacht). Liebende unter heutigen Bedingungen spazieren in einem Quantenwald; sie werden durchdrungen von elektromagnetischen Strahlen, von Satelliten beobachtet und, aus Schaltzentralen abrufbar, von Computern erfasst.

Entsprechend experimentierte er und suchte beständig nach adäquaten Weisen, das Brandneue, das er in seiner Umwelt entdeckte, auszudrücken. Seine letzten Werke zeichnen sich durch eine enorme Vielgestaltigkeit aus, der die Suche nach einer Antwort zugrunde liegt, wie sich das mörderische Jahrhundert ausdrücken und vielleicht sogar auch überwinden liesse. Interessant ist hier nicht zuletzt seine Haltung gegenüber den neuen Technologien: Obwohl er auch ihre Gefahren beschrieb, sah er in diesen vorab eine Chance und entwickelte für seine Dichtung die Vorstellung einer Art kybernetischer Lyrik an der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine.

Sein Hauptwerk „Systema Naturae“ erschien 1969 während der Militärdiktatur der Obristen erstmals als illegaler Druck. In den Jahren 1984 und 1998 wurde die Gedichtsammlung ergänzt und neu aufgelegt. Diese Lyrik ist radikal in ihrem Versuch, Wurzeln und Zusammenhänge und die Gefahr der totalen, menschengemachten Zerstörung zu ergründen. Ist Iason Depountis ein engagierter, politischer Lyriker, ein Mahner? Vor allem, wenn ich an diese Zeilen denke? „die Flüsse Europa, die verrotten / die Flüsse sie verrotten sie verrotten und verrotten / zu einem Zeitpunkt des Grauens & Verbrechens / deine Flüsse deine Dichter, Europa, sie verrotten.“

Du hast mich vorhin nach der Mathematik in der Dichtung des Iason Depountis gefragt: Bei aller „Mathematisierung“ und Experimentierfreude vor allem des späten Dichters darf man nicht vergessen, dass sein Werk ursprünglich ganz direkt aus dem antifaschistischen Widerstand der 1940er Jahre hervorging. Er begann nach eigenem Bekunden Gedichte zu schreiben, um die angefangenen Gespräche mit den gefallenen Genossen des grossen Widerstands fortzuführen. Auch wenn er später von seiner frühen Produktion Abstand nahm, tat er dies nur bezüglich ihres künstlerischen Werts und nicht etwa bezüglich ihres Inhalts oder seines Engagements. Im Gegenteil: Das gesamte Werk des Dichters ist im Grunde hochpolitisch und referiert vorab auf die Themen Krieg und Zerstörung. Das heisst, auch dann, wenn von anderem die Rede ist, ist dieses Andere trotzdem nur vor diesem Hintergrund in seinen eigentlichen Dimensionen zu begreifen.

In der „Systema Naturae“ nun breitet er in einer Art Gesamtschau menschlicher, aber auch tierischer Lebenswelt seine ganz eigene Sicht auf das 20. Jahrhundert aus: Demnach habe der Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki die existenziellen Bedingungen auf der Erde grundlegend verändert. Leben und Tod, die bisherigen Dimensionen und Koordinaten: Alles wurde mit den Abwürfen durcheinandergewirbelt und vernichtet. Sogar der Tod, der bisher Teil einer Einheit von Werden und Vergehen, Sein oder Nichtsein gewesen ist, wurde pulverisiert. Die Bomben löschten alles aus, die Umwelt, die Mitmenschen, die Geschichte, als hätte es das alles nie gegeben. Eine neue Grösse entstand: das Nichts. Das vom Menschen erschaffene, jedoch von keiner Wissenschaft, Philosophie, Dichtung oder Religion prognostizierte Nichts.

In den siebziger Jahren kam noch das Thema der allgemeinen Umweltzerstörung hinzu. Das Gedicht mit dem Titel „Schall & Töne“ über die Flüsse Europas, das aus jener Zeit stammt und aus dem du die obigen Verse zitiert hast, besitzt allerdings eine weitere Komponente als jene der Umweltkatastrophen – denn hier werden die kontaminierten Flüsse mit den europäischen Dichtern und Intellektuellen gleichsetzt. Die ehemaligen Vordenker der Aufklärung und „Fuhrhalter des Reichtums“ Europas „hüten jetzt Schlamm“, heisst es an anderer Stelle. Noch deutlicher wollte Iason Depountis seine Haltung gegenüber festgefahrenen lyrischen Traditionen wohl nicht ausdrücken.

 

Düster seien die Gedichte, schreiben einige Literaturkritiker, Zeilen wie „Vor uns klafft der Abgrund Erde, der Abgrund Mensch“ versprechen in der Tat wenig Hoffnung. Schrieb Iason Depountis gegen den Untergang der Menschheit an?

Ja, ich glaube tatsächlich, dass Iason Depountis zumindest zeitweise gegen den Untergang der Menschheit anschrieb. Die Art, wie er dies tat, war singulär: Gerade das Spätwerk weist trotz seiner wahrlich düsteren Thematiken eine überraschende Verspieltheit auf, der man bis in die kleinsten Details begegnen kann. Auf den Spuren des Ganzen – des ganzen Lebens, des ganzen Todes, der ganzen Welt – wandte sich sein Blick zuletzt vermehrt nach aussen, ins Universum. In der Schönheit der Sterne, in ihren Formationen, ihren Namen fand er möglicherweise etwas, wonach er zeitlebens gesucht hatte. Zugleich sprengten seine Manuskripte, die er nun „Metatexte“ nannte, allmählich den Rahmen von simplen Textträgern, glichen mehr Bildern und Kollagen, trugen zunehmend Züge von Gesamtkunstwerken.

Andererseits hat es in seinem Werk immer auch „leichtere“ Gedichte gegeben – zum Beispiel jene über einzelne Schweizer Ortschaften, die während der Zeit im Kinderdorf Pestalozzi in den Jahren 1969–1982 entstanden. Hier legte er eine Heiterkeit und Gelassenheit an den Tag, wie sie sich sonst nur bei einzelnen seiner Meeresschilderungen manifestierte. Zu erwähnen wäre da unter anderem das ganz und gar untypische Gedicht über das Dorf Trogen, in dem das Leid der Welt vor lauter Staunen über das Naturphänomen Nebel zumindest vordergründig vergessen zu gehen scheint. Oder ein Gedicht über das Nietzsche-Haus in Sils Maria, in dem der Dichter wie ein schelmischer Tourist den Tisch des Philosophen mitnimmt, um ihn auf den See Silvaplana zu stellen. Ich denke, dass Iason Depountis trotz der Düsterkeit der meisten seiner Werke immer wieder zu einer Musse finden konnte, die ihn regenerierte. Unter anderem auf seinen Spaziergängen in der Nähe des Zürcher Zoos, unweit des Grabs seines geliebten James Joyce.

«Die ruhelose Dichtung eines ruhelosen Geistes», schreibt der Literaturhistoriker Alexandros Argyriou. Nach seinem 75. Geburtstag pendelte Iason Depountis zwischen Zürich und Athen und veröffentlichte fast jährlich ein neues Buch. Was führte zu dieser Schaffensexplosion?

Tatsächlich veröffentlichte er in den letzten zehn Jahren seines Lebens ein Drittel seiner gesamten literarischen Produktion. Neben acht Büchern auch so manche Beiträge in Zeitungen, Literaturzeitschriften und so fort. Das hatte wohl mehrere Gründe. Zum einen war er Griechenland auch nach dem Sturz der Junta während vieler Jahre ferngeblieben, und es hatten sich in dieser Zeit sehr viel Stoff und viele Manuskripte angesammelt, die er erst jetzt publizieren konnte. Der wichtigste Grund war jedoch meiner Meinung nach die Bekanntschaft und Freundschaft mit dem knapp 40 Jahre jüngeren Verlegerpaar Kostas Kremmydas und Tzela Asprogeraka nach etwa 1995, die sich als eine der glücklichsten Fügungen im Leben von Iason Depountis erwies. Kremmydas und Asprogeraka, die den Verlag und die renommierte Literaturzeitschrift „Mandragoras“ leiten und ein ganzes Team von jungen Leuten um sich scharen, hegten und hegen eine unumstössliche Bewunderung für das Werk von Depountis und haben damit auch die Personen um sich angesteckt. Das heisst: In den letzten zehn Jahren vor seinem Tod war Iason Depountis von einer ganzen Schar junger Menschen umgeben, die ihn auf Händen trugen und unterstützten – wofür er natürlich sehr dankbar war. So konnte der Dichter seine mathematischen Gedichte, seine Essays und „Metatexte“ laufend produzieren: Praktisch alles wurde sofort gesetzt und publiziert. Iason Depountis› schöpferische Leidenschaft befand sich in der letzten Schaffensperiode dank des Engagements der Leute um „Mandragoras“ quasi im Zustand eines permanenten Urknalls.

Das Interview führte Alice Grünfelder.

Das Dorf Trogen 

Der Nebel wird hier geboren er ist hier
zu Hause.
Ich sehe ihn aus den Tannen oder unter
den Brücken aufsteigen
oder er zieht über das dichte Gras das
immer grünt;
er kommt auch aus dem Fell der Tiere, der
Kühe, die östlich des Dorfes
Flusspferden gleichen;
der Nebel entsteht mitten auf der Strasse,
wie eine anmutige junge Bäuerin
die Sonne scheint ihr ins Haar, dann trägt
sie ihre, im Licht blendenden, Appenzeller
Stickereien
der Nebel kommt auch aus den feuchten
Kleidern der Kinder;
so wie er von den Dächern emporsteigt,
vergisst er sich,
wie eine Schweizer Grossmutter oder
wie jene trotzige alte Dame von Dürrenmatt
— von Friedrich Dürrenmatt —
und es dauert
eine Ewigkeit, bis er sich verzieht.

Ein Wanderlied für Sils-Maria
«Ein Zwei Drei …

Nietzsche achetait ce qu’on trouve
à la gare de Sils-Maria,
des livres de Gyp, de Paul Bourget.
Zarathoustra est un vieux guide suisse,
mais son diamant raye tout.» Jean Cocteau

ich möchte hier zuerst die Regel meiner Kunst
erklären ich stelle den Gegenstand:
«Nietzsches Tisch»
der vollkommen gleichgewichtig
in Raum und Zeit ruht so wie man
zum Beispiel sagt, etwas stehe von selbst
auf der Oberfläche des Wassers zudem stelle
ich ihn als mein eigenes Werk über die visuelle Phantasie.

zum Thema:

nach einem nachmittäglichen Besuch
im hübschen und gepflegten Haus von Sils-
Maria, wo Friedrich Nietzsche gelebt und
geschrieben, wo Friedrich Nietzsche gelitten
hat und geschrieben, konnte ich nicht anders
handeln (die Gründe sind im All verborgen)
vorsichtig zog ich also im Zimmer des Philo­-
sophen den Tisch, seinen Tisch, hob ihn
langsam von seiner Stelle und nahm ihn
ohne jede Heimlichkeit hinaus. Ich sah
ihn an, er war ein kleines aber
geschmackvolles Möbel, Nietzsches Tisch, er
hatte das Gewicht all der vielen und unruhigen
Gedanken des Dichters getragen.

ich nahm ihn so wie er war
mit der antiken Lampe als Dekor
und stellte ihn dorthin, wo er
auch heute noch steht: mitten auf die Wasser-
­fläche des Sees Silvaplana.

ein Tisch auf dem Wasser,
wie ein Zeitspiel
wie eine Epiphanie;

die Lampe spendet ein mystisches Licht.

(Das Gedicht „Ein Wanderlied für Sils-Maria“ aus dem Jahr 1973 findet sich auf einer Tafel zu Iason Depountis, die im Nietzsche-Haus in Sils-Maria vis-à-vis vom Schlafzimmer des Philosophen hängt.)

Margret Kreidl «Hier schläft das Tier mit Zöpfen», nicht irgendeine Lesung

Margret Kreidl war und ist für zwei Monate Stipendiatin der Kulturstiftung Thurgau im Bodmanhaus in Gottlieben. Nachdem ein übler Stolperer nur einen Monat am Seerhein ermöglichte, wird Margret Kreidl im Sommer 2019 noch einmal einen Monat im Thurgau leben und schreiben. Anlässlich dieses ersten Teils ihres Stipendiats las die Dichterin in einer sonntäglichen Matinee aus ihren letzten beiden Veröffentlichungen.

Leitsätze

Am Anfang steht der Anleger.
Nach einer Bank kommt eine Bank.
An China führt kein Weg vorbei.
Das Defizit ist weiblich.
Zum Erben muss man geboren sein.
Wer nicht arbeitet, hat keine Freizeit.
Geld ist alles, was der Fall ist.
Die unsichtbare Hand führt uns nach Griechenland.
Inflation muss sein.
Jobs gibt es nur in der Mehrzahl.
Man sollte die Kurse nicht vor dem Abend loben.
Leerverkäufe füllen Taschen.
Der Mittelstand ist ein Angstzustand.
Die schwarze Null ist Glod wert.
Der Osterhase legt alle Eier in einen Korb.
Ein Portfolio kann man nicht essen.
Die Quadratur ist die Krise.
Die Rahmenbedingungen müssen stimmen.
Für den Schweinezyklus braucht man keine Schweine.
Tiger stehen auf tönernen Füssen.
Der Umsatz ist die Summe aller Geschäftsideen.
Vorsorge ist Schicksal.
Morgen weht der Wind von morgen.
Ein X ist ein U, die Wahl hast du.
Wer den Yen nicht ehrt, muss mit dem Dollar rechnen.
Die Zukunft verschwindet in Futures.

(aus «Zitate, Zikaden. Zu den Sätzen, Edition Korrespondenzen, Wien, 2017)

Dass Lyrik nichts Verklärendes haben muss, nicht Romantisierendes, dass Lyrik ganz nah an der Aktualität ist, an den Realitäten, dass Lyrik aufreissen und entblössen kann, dass sie sich nicht ziert und nicht scheut, das alles beweist Margret Kreidl. Die Autorin ist eine Sammlerin. Nicht nur Eindrücke und Zitate aus der Presse (Margret Kreidl ist eine sehr aufmerksame Zeitungsleserin!), sondern Wörter an sich, Wendungen, die aus dem Kontext extrahiert erst recht ihre Wirkung zeigen. So werden wie in den «wirtschaftlichen» Leitsätzen oben, im Alphabet geordnet, aus scheinbarer Wirklichkeit Ausgeschnittenes, zur Paradoxie, ein Gedicht zur Breitseite gegen die Allmacht der Wirtschaft.

Die Kulturstiftung Thurgau gewährte der Dichterin, Hörspielautorin, Dramatikerin aus Wien ein zweimonatiges Stipendium im Bodmanhaus in Gottlieben. Zeit, um neue Ideen wachsen zu lassen, zu schreiben und mit Sicherheit auch das eigene Tun aus anderer Perspektive zu sehen. Für meine Moderation ihrer Lesung im Literaturhaus am Seerhein traf ich die Autorin schon ein paar Wochen zuvor in einem Café am Wasser. Zugegeben, ich war aufgeregt, denn eine Lyrik-Moderation schien mir wesentlich anspruchsvoller als eine, bei der man über einen Roman, eine Geschichte, einen Plot sprechen kann. Aber Margret Kreidl nahm vom ersten Augenblick alles Verkrampfte, alles rein Intellektuelle, zeigte, wie sehr ihre Lyrik nicht nur mit ihrem Blick auf die Unmittelbarkeit verknüpft ist, sondern wie sehr sie Biographisches mit den verschiedensten Stimmen aus der Welt verbindet. Margret Kreidl ist eine Verküpferin, eine sprachliche Verkupplerin.

Sätze im Fluss

Gegen Salzverlust bei großer Hitze
nimm Schwedentabletten und bleib
im Schatten sitzen. Wenn es regnet,
schau aus dem Fenster und schreib
ein Haiku über Pfützen. Mach es wie
die Buddhisten: Sei eine Distelblüte
im Frühlingswind. Lern in Freude
schweben, sagt Walther von der
Vogelweide. Ja, Zitate sind nützlich.
Eine Brücke aus Bleistiftstrichen trägt
die glückliche Leserin: Das bin ich.
Ist Margarethe warm und nass,
gibts viel Frucht und grünes Gras.
Die Schafe reisen auf der Wiese ins
Satte. Ein Esel frisst Rosen. Lies nach
bei Apuleius. Der Hundsstern bringt
die Sätze in Fluss. Ich träume von
Oktobereis in Pfützen und einem
Forellenschluss. Da hast du den Salat:
fest und knackig, aber trotzdem zart.

(aus «Zitate, Zikaden. Zu den Sätzen, Edition Korrespondenzen, Wien, 2017)

«Sätze im Fluss» ist ein dialogisches Gedicht «mit» der Dichterin Zsuzsanna Gahse, mit der Margret Kreidl freundschaftlich verbunden ist.
In «Hier schläft das Tier mit Zöpfen», ihrer neusten Publikation, sammelt Margret Kreidl wieder Gedichte, die um verschiedenste Themen kreisen. Jeder Gedichtband der Autorin ist eine Bibliothek von Namen, eine Ausstellung von Wortbildern. Jedem der Gedichte in «Hier schläft das Tier mit Zöpfen» ist am Seitenende eine Fussnote hinzugestellt, am Schluss ein Hinweis darauf, wo und wie die Autorin das Gedicht an die Wirklichkeit heftet. Eine Fussnote wie ein Türöffner, eine Fussnote, die wie ein Titel wirkt, eine Fussnote, die mich als Leser sehr oft zur Recherche zwang und mit jedem Lesen noch tiefer führte.

Hart
trocken
holzig
zerrieben
Reibefrucht
klein genug
hart genug
Gedicht.

 

Denn das Gedicht ist immer, schreibt Jorge Viegas, der haste Kern einer Revolution.

(aus «Hier schläft das Tier mit Zöpfen. Gedichte mit Fussnoten, Neue Lyrik aus Österreich, 2018)

Margret Kreidl, geboren 1964 in Salzburg, von 1983 bis 1996 in Graz, lebt als freie Schriftstellerin in Wien. Prosa und Lyrik: Sprachspiele, Lautpoesie, Genretravestien, Mate­rialtexte. Textinstallationen im öffentlichen Raum. Veröffentlichungen seit 1986. Hörspiele, Theaterstücke, Minidramen. Zuletzt erschienen 2017 bei Edition Korrespondenzen der Band «Zitat, Zikade – Zu den Sätzen» und 2018 in der Reihe Neue Lyrik aus Österreich «Hier schläft das Tier mit Zöpfen. Gedichte mit Fussnoten».

literaturblatt.ch dankt den Verlagen für die Genehmigung, Auszüge aus Margret Kredits Werk zu veröffentlichen. Fotos © Lucas Cejpek

Matthias Schönweger «Der Augen Blick», alphabeta Verlag

Matthias Schönweger, der seit langem zu den originellsten Figuren der Südtiroler Literaturszene gehört, hob just am 1. August, dem 93. Geburtstag  Ernst Jandls, einem der Väter der experimentellen Lyrik, in Meran seinen neuen, schwergewichtigen Lyrikband aus der Taufe. Dass alles an diesem Abend zu einer Performance wurde, deutete sich schon zu Beginn der Veranstaltung an, einem Abend, der den Grenzen der Sprache gewidmet war.

Mag sein, dass jene, die sich experimenteller Sprache öffnen können, zahlenmässig immer weniger werden. In einer Zeit, in der selbst erzählende Literatur nach ihrer «Wahrhaftigkeit» und Plausibilität gemessen wird, wenn sie nicht überdeutlich in der schwer zu definierenden Welt von Fantasy und Fantasie angesiedelt ist, in der Schrift und Sprache lesbar und unzweideutig gelesen werden will und man alles was «unwahr» erscheint in den Abfalleimer «Fake» kippt, haben es Wortkünstler und Sprachakrobaten wie der Südtiroler Matthias Schönweger schwerer als je zuvor. Auch wenn der neu erschienene Band «Der Augen Blick» mit seinen fast 600 Seiten einen enzyklopädischen Eindruck hinterlässt.

ES
DAUERT

BIS ICH
ENDLICH
BEGREIFE

DASS ICH
ENDLICH
BIN
DAUERT

MICH
SEHR

ZUWEILEN

KAUM

ZU
GLAUBEN

In einem kleinen, mageren Pärklein an der Franz Innenhofer Strasse (benannt nach dem österreichischen Schriftsteller 1944 – 2002) in Meran unmittelbar neben dem mondänen Hotel Palace, das der kleinen, etwas schäbigen «Country-Bar» im Pärklein die kalte Schulter zeigt, standen etwas mehr als zwanzig orange Plastikstühle im Kreis. Hundert Jahre zuvor hätte wohl im Palace daneben die literarische Soiree in feiner Gesellschaft, mit langstieligen Gläsern und auch sonst viel Stil stattgefunden. Heute rutscht Lyrik an Orte wie dieses Pärklein ab, in dem man Subkultur vermutet, süsslichen Rauch und süsser Rausch.

FEUERPAUSEN

LADEN
SCHARFSCHÜTZEN
ZUM
VERWEILEN

 

SCHARSCHÜTZEN
VERWEILEN
ZUM
LADEN

Auf dem niederen Tischen vor dem Autor lagen und standen drei Tiroler Plastikmusikantenfiguren, ein Kerzenständer mit heruntergebranntem Stummel, ein Stoffaffe mit Banane im Mund, ein silberner Fingerring mit übergrossem Edelweiss, eine Fahrradglocke, ein hölzernes Kruzifix mit einem Jesus, dem ein Arm fehlte, eine kleine hölzerne Truhe, die wie ein Buch aussah, zwei Rosenkränze aus Plastik, eine Perlenkette, eine dunkelblaue Kochschürze, eine Schildkappe, ein weisser Pastorenkragen, eine Muh-Box, ein Wäscheholz, eine Spieldose und vieles mehr. Als wolle Matthias Schönweger als Sprachalchemist mit seinem rätselhaften Instrumentarium durch lyrischen Exorzismus die Grenzen von Sprache und Bildern sprengen.

ALFA

 

ROMEO
E
GIULIETTA

 

OMEGA

Jedes Gedicht, jeder Text auf eine Seite gesetzt, immer in Grossbuchstaben, zumeist deutsch, machmal italienisch, selten beide Sprachen ineinander, jedes Gedicht wie eine Tafel, über die ganze Seite gesetzt, aufs Weiss komponiert. Texte, die einschlagen, aufsitzen, aufrütteln, ausschütteln. Ein Buch, das Raum braucht und dem beim Lesen ein Platz gebührt, wo man eben nicht daran vorbeigeht. Matthias Schönweger zauberte aus einer unendlich tief scheinenden Schatzkiste Zettel um Zettel, kleine Briefe aus einer Welt, in der er die Fäden spinnt, mit verschmitztem Blick, tiefem Witz und entlarvender Ernsthaftigkeit.

«Sprachbewusstsein und grafisches Bewusstsein verbinden sich bei ihm zu einem höchst innovativem Werk‚ das die Grenzen der herkömmlichen Literatur weit überschreitet. Vielleicht ist gerade das ein Grund dafür‚ dass er keineswegs das Ansehen genießt‚ das ihm gebührt. Ein anderer Grund ist‚ dass man ihn schwer zitieren kann‚ denn seine Texte leben von seinen Büchern: Papierqualität‚ Farbe‚ Schrift‚ die umgebenden Texte sind untrennbar vom einzelnen Text.»
Sigurd Paul Scheich


Matthias Schönweger
, geb. 17.01.1949, veröffentlichte als erster in Südtirol Proben von konkreter Dichtung und trat mit Aktionslyrik und Happenings in Erscheinung. Studium von geisteswissenschaftlichen Fächern in Verona, Innsbruck und Padua. Dr.phil. 1979. Tätig als Deutschlehrer in einer italienischen Schule in Meran. Weitere Tätigkeiten u. a. als Zeichner und Graphiker. Mitglied der Grazer Autorinnen Versammlung. 1997 Ausstellung (gemeinsam mit Thomas Feuerstein) beim Projekt Die Welt als Tastatur von Ulrike Mair. Lebt als freier Schriftsteller, bildender Künstler und Performer in Meran.

Webseite des Autors

Beitragsfoto © Gallus Frei-Tomic

Joseph Zoderer «Die Erfindung der Sehnsucht», Haymon

Das schmale Buch begleitet mich seit Monaten in meinem Gepäck, in meiner Tasche, wenn ich unterwegs bin, bleibt manchmal neben meinem Bett liegen, erinnert mich im Zug. Und nehme ich einen Zug, denn Joseph Zoderers Gedichte in seinem Band «Die Erfindung der Sehnsucht» sind genau einen Atemzug lang, einen Atemzug, den man immer wieder macht, ganz tief, um das Fluidum an Sprache und Lebensessenz immer und immer wieder hineinzuziehen, dann sind es ganz tiefe Züge.

Ich hätte Joseph Zoderer gerne in seinem Arbeitszimmer in Bruneck besucht, in dem er wochentags schreibt, ein Mann, der in Meran geboren wurde und im Südtirol zu den Grossen gehört. In Bruneck schreibt er in einer Fabrikantenvilla  und wandelt durch Räume, sinnbildlich und wirklich, an Wänden vorbei, an denen er die Manuskriptseiten seiner aktuellen Arbeiten aufhängt, als müsste er sich der Spur seines Tuns mit jedem Morgen gewahr werden, wenn er den Ort betritt, wo seine Bücher entstehen.

Es muss eine Tür
aufgehen in der finsteren Wand
wo dein Erschrecken kauert
du musst den weissen Kiesel
wieder finden und den Weg
des Kindes
das du warst

Joseph Zoderer, der neben seinem umfangreichen belletristischen Werk seit den 50er Jahren Gedichte schreibt und seine ersten damals in einer Schweizer Wochenzeitschrift für 20 Franken veröffentlichte, ist jemand, der noch immer Fragen stellt, sich um das Existenzielle bemüht, der noch immer mit sich und der Welt ringt, obwohl er sich selbst als glücklichen und zufriedenen Menschen bezeichnet.

Die falschen Steine umgedreht
das falsche Gras mit den Fingern gekämmt
meine Worte irrten
zwischen Wolken umher
du hast sie für Sterne gehalten
Ich fand kein Wort für Ewigkeit
aber ich sah die Wehrlosigkeit deiner Augen

Er wolle die hintersten Seiten der Seele aufs Papier bringen, sagt Joseph Zoderer in einem Interview. Seine Lyrik bleibt stets ganz nah an seiner Person, ist ehrlich, teilt sich einem in einer Intensität mit, die fast verlegen macht, in der man sich ertappt, zur Reflexion gezwungen fühlt. Seine Gedichte sind Fragestellungen an sein Leben, Innenansichten, die nach Aussen leuchten, sprachliche Diamanten, die beim mehrmaligen Lesen das Licht ganz verschieden zu brechen vermögen.

Dich verlieren
um den lebenden Tod zu fühlen
dich immer suchen auch wenn
du vor mir stehst

Joseph Zoderer schreibt in seiner Schreibstube von Hand, mit einem Füller. So körperlich das Schreiben ist, so körperlich ist die Auseinandersetzung mit den Gefühlswelten einer empfindsamen Seele. «Schreiben ist Heimat, nichts Statisches, etwas, das mit dem Schreiben wächst.» Auch wenn Josephs Zoderers Lyrik nach Innen schaut, sind es die grossen Themen, die ihn bewegen; die Liebe, Freundschaft, der Schmerz, Sehnsucht und Erfüllung, das Glück.

Mein Bruder besuchte mich bei meinem Schreibaufenthalt in Meran, der Geburtsstadt des Autors. Er kaufte sich in einer der Buchhandlungen am Platz auf meine Empfehlung das Buch «Die Erfindung der Sehnsucht» für seine Reise nach Hause im Zug. Als er Stunden später nach Hause kam, schrieb er mit eine Mail mit einem der Gedichte aus dem Buch. Und es war wie ein Echo.

Ein Buch, das man wie ein Brevier mit sich tragen sollte. Gedichte, die Lesende selbst aufschlüsseln können. Gedichte, die manchmal trösten, aber auch provozieren können, weil sie gegen scheinbare Leichtigkeit antreten.

Joseph Zoderer, geboren 1935 in Meran, lebt als freier Schriftsteller in Bruneck. Studium der Rechtswissenschaften, Philosophie, Theaterwissenschaften und Psychologie in Wien. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. Ehrengabe der Weimarer Schillerstiftung (2001), Hermann-Lenz-Preis (2003) und Walther-von-der-Vogelweide-Preis (2004). Vom Autor des Romans „Die Walsche“ (Neuauflage bei HAYMONtb 2012) erschienen bei Haymon zuletzt: „Das Glück beim Händewaschen“. Roman (HAYMONtb 2009), „Die Farben der Grausamkeit“. Roman (2011, HAYMONtb 2014), „Mein Bruder schiebt sein Ende auf“. Zwei Erzählungen (2012) und „Hundstrauer“. Gedichte (2013). 2017 erscheinen „Die Erfindung der Sehnsucht“. Gedichte und „Das Haus der Mutter“. Theaterstück und Erzählung (HAYMONtb).
Seit 2015 wird das Werk von Joseph Zoderer, einem der führenden Erzähler der Gegenwartsliteratur, in Einzelbänden neu aufgelegt. In Zusammenarbeit mit Johann Holzner und dem Brenner-Archiv Innsbruck wird jeder Band durch ein Nachwort sowie interessante Materialien aus dem Vorlass des Autors ergänzt. Davon bisher erschienen: „Das Schildkrötenfest“. Roman (2015), „Dauerhaftes Morgenrot“. Roman (2015) und „Die Walsche“. Roman (20016), 2017 folgt „Lontano“. Roman.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Ruth Loosli «Da könnte man alles abstreifen», Gedichte

Ruth Loosli ist erfüllt von Sprache, beseelt von Lyrik, die jene Freundlichkeit und Nähe ausstrahlt, mit der die Autorin jedem Gegenüber begegnet. Kein Wunder kann die Lyrikerin, die seit zwei Jahrzehnten in der Stadt Winterthur wohnt und wirkt, einen bis auf den letzten Platz besetzten Veranstaltungsraum ausfüllen und den Funken springen lassen.

Und

und man zählt die Jahre
an den Fingern ab als
hätte man davon zweimal
mehr als genug.

Und geht dem Rätsel nach
was Zeit bedeutet und
Verstand und Übermut.

Ruth Loosli ist eine Alchemistin der Sprache, die mit ihren Texten zünden und klingen kann. Von der Poesie Eugen Gomringers begeistert und bewegt spürt sie Momenten nach, Augenblicken, Aufgelesenem und Aufgeschnappten, das sie in sprachliche Ekstase bringen kann. Ein Ergriffen-werden und -sein, das sie umtreibt, manchmal nur mit dem Mobilphone «bewaffnet», in das sie spricht und Sprache zum Ein-druck macht.

Für Heba Khalifa (Villa Sträuli 2017)

Sitzt eine Frau
Denkt nach
Sieht ihr Kind
Steht auf
Arbeitet
Spricht mit Menschen
Macht Bilder
Näht sich zusammen
Nicht merkt jemand
Sie schreit
Blut
Das Kind kommt
Das Kind schaut
Es legt die Hand
Die erschrockene
Auf die Wunde
Die Wunde schließt
Die Augen

(Die Ägypterin Heba Khalifa ist Fotografin und bildende Künstlerin.)

Die Lyrik ist ihr Mittel, ihr Instrument, ihre Stimme, sich ins Leben, in die Gesellschaft und in die Politik einzumischen. Ruth Loosli, die mit jedem Gedicht, jedem Text, jedem «Gekritzel» Dankbarkeit ausstrahlt. Eine Frau, die retten will; die Welt, einen vergessenen Gott, den Menschen, ihre Träume und sich selbst.

Da

1
Da saß ich mit meiner Tochter
Da saß ich mit meinem Sohn
Da saß ich mit meinem Mann

Da wurde frühmorgens ein Sarg
hinaus getragen in den Camion
geschoben mit der Aufschrift:
Nur träumen müssen Sie selbst.

2

Da
könnte man alles abstreifen
Kleider
Augenlicht
Haut

Man wäre in einer wetterfreien
Zone, Husten fiele weg, auch das
Zeichen an der Wand, allerdings auch
das Blau der Kornblume und der Ruf
von Amsel, Buchfink, welche hierzulande
noch zu hören sind. Zu erwähnen den Flug
der Milane das Zusammenziehen der Wolken.
Den einsetzenden Regen.
Den Verstand mit seinem Wollen.
Bliebe Bewusstsein?
Das ist die große Frage über die wir noch nicht
hinaus schauen.

Ruth Loosli, geboren 1959 in Aarberg (Seeland), wo sie aufgewachsen ist. Sie hat drei erwachsene Kinder und ist ausgebildete Primarlehrerin. Seit einigen Jahren lebt und arbeitet sie in Winterthur. Sie veröffentlicht in Anthologien und Literaturzeitschriften. Ein erster Gedichtband «Aber die Häuser stehen noch» erschien 2009. Es folgte im Wolfbach Verlag (DIE REIHE, Band 5) 2011 «Wila, Geschichten»; dieser Band wurde mittlerweile auf Französisch übersetzt. Aktuell ist in derselben Reihe im Frühling 2016 der Lyrikband «Berge falten» erschienen.

Beitragsfoto: Sandra Kottonau

Wolfgang Hermann „Schatten auf dem Weg durch den Bernsteinwald“ Gedichte, Limbus

In Bernsteinlicht eingefangene Momente, Augenblicke. Wer Wolfgang Hermanns Gedichte liest, erinnert sich an sich selbst, an Vertrautes, wird überrascht von der Klarheit seines Sehens. Wolfgang Hermanns Lyrik ist klar, bildreich, grosse Sprachkunst in leisen Tönen.

Bei Romanen ist es ein schlechtes Zeichen, wenn ein Buch lange liegen bleibt, wenn das eingeschobene Lesezeichen nur ganz langsam nach hinten rutscht, wenn es zuweilen unter anderen Büchern verschwindet, wenn man es nur ganz kurz in die Hand nimmt, abends vor dem Schlafen, das Buch in den Händen auf die Decke sinkt, nicht weil ich mich dem Schlaf ergebe, sondern weil ich zwischen letztem Gedicht und dem Wegdriften in den Schlaf dem nachhängen will, was der Dichter in sanften Tönen in die Stille zeichnete.

Reif und prall das leben im quellenden Gras
auf dampfenden Wiesen
unterm langsamen Sommerlicht
Hauch zwischen den Dingen
Hauch im Baum
Hauch um Tor und Tisch
auch mich durchfliesst Hauch
öffnet in mir eine Hand
ist es das, das Älterwerden 

Als ginge man in tiefer Freundschaft zusammen mit Wolfgang Hermann durch die Landschaft. Eine stille Zwiesprache mit einem Dichter, der mich sehend macht. Keine verkopfte, verquere, schwer entschlüsselbare Lyrik. Keine Ausschweifungen, sondern schlichte Konzentrate.

Tief drang ich in den Wald
mir gingen Augen auf und unter
in der Tasche mein Schlüssel
ich vergass ihn
vergass mein Leben in der Stadt
war nur Hauch nur
ein Schlüssel in meiner Tasche.

Zarte Sprachgebilde eines Dichters, der in die Dinge hineinsieht, durch sie hindurch, der sich in die Zeit ziehen lässt, weit hinter die Oberflächlichkeit sieht. Ich las die Gedichte laut, manche immer wieder, die einen anderen Ohren vor, um nachzuprüfen, wie tief die Sprache dringt. Und manchmal spüre ich auch den Schmerz, das Erspüren des Verlusts.

Der Tod errichtet eine Mauer, damit wir auf ihr
balancieren.

Versuche über die Mauer des Todes zu springen.

Die Stimmen der Nacht sind ohne Körper. Sie
sind Schmetterlinge der Nacht, leichter als das
Geflecht der Luft.

… und so ganz nebenbei: Wunderschöne Bücher, auch die Erzählbände von Wolfgang Hermann, aus dem Limbus Verlag von Bernd Schuchter und Merle Rüdisser in Innsbruck!

Wolfgang Hermann, geboren 1961 in Bregenz, studierte Philosophie und Germanistik in Wien. Lebte längere Zeit in Berlin, Paris und in der Provence sowie von 1996 bis 1998 als Universitätslektor in Tokyo. Zahlreiche Preise, u. a. Anton-Wildgans-Preis 2006, Förderpreis zum Österreichischen Staatspreis 2007; zahlreiche Buchveröffentlichungen, unter anderem „Abschied ohne Ende“ (2012), „Die Kunst des unterirdischen Fliegens“ (2015) und „Herr Faustini bleibt zu Hause“ (2016). Bei Limbus: „Paris Berlin New York“ (erstmals erschienen 1992, Neuauflage 2008, als Limbus Preziose 2015), „Konstruktion einer Stadt“ (2009) und „Die letzten Gesänge“ (2015).

Webseite des Autors

Webseite des Verlags

Titelfoto: Sandra Kottonau

Michael Krüger «Einmal einfach», Suhrkamp

Lesen Sie Gedichte? Romane wollen gelesen, manche «gefressen» werden. Gedichtbände dürfen liegen bleiben, lange liegen bleiben, begleiten einem auf kleinen Wegstrecken, mischen sich ein, mischen mich manchmal auf. Michael Krügers Gedichte tun genau das Gegenteil von dem, was eine Gratiszeitung morgens im übervollen Zug macht. Sie trösten mich, sie umarmen mich, sie wärmen mich – sie tun mir gut!

«Gedichte sind misstrauisch,
sie behalten für sich, was gesagt werden muss.

Sie gehen durch geschlossene Türen
ins Freie und reden mit den Steinen.
Sie führen uns fort…»

Eine Reise einfach. So wie das Leben selbst. Nie ein Zurück, bloss Richtungsänderungen. Reisen in Deutschland oder weit weg, ans Meer, nach Italien, nach Mazedonien, Griechenland. Reisen in die Nähe, in Parks in München, die Landstriche um die Stadt. Spaziergänge in den Garten, unter den Baum, eine sonnenwarme Wand. Reisen ins Unmittelbare, ganz nah zu allem, was lebt und sich zeigt. Auch eine Reise in sich, den alt gewordenen Mann, der zurückschaut, manchmal mahnt, hofft, oft sinniert und noch so kleine, unscheinbare Begegnungen zu Offenbarungen werden lässt.

Keine Antworten, keine einfachen Einsichten. Vielleicht ist es das, was ich an Gedichten mag. Die klaren Sätze, die eingängigen Bilder, die Düfte und den weiten Himmel – und überall das Wissen, dass hinter jedem und allem noch viel mehr ist. Gedichte sind ein ewiges Versuchen. Und Michael Krüger will mit seiner Lyrik gar nicht mehr.

Einmal einfach

Es ist schön, mit dem Zug
durch Deutschland zu fahren,
immer zu spät.
Du hast es nicht eilig.
Schrebergärten kriechen
um die Städte herum
wie Schnecken.
Am Ende des Lebens
wird dir ein Tag geschenkt,
den darfst du verpassen
am Bahnhofsbuffet
zusammen mit Tauben und Spatzen.

Michael Krüger geht zurück ans Nahe, dort hin, woher er kommt, zum Haus seiner Kindheit, in den Garten seiner Grossmutter. Aber auch weit weg, um herauszufinden, dass sich alles reduziert und doch nicht einfach wird. Er betrachtet im Kleinen das Grosse; den Kohlweissling in Skopje.

Jedes Gedicht ein Geschenk. Jedes für sich ein Geheimnis. Als gäbe jeder Augenblick des Lebens neues Licht auf das, was hängen bleibt.

Michael Krüger wurde am 9. Dezember 1943 in Wittgendorf/Kreis Zeitz geboren. Nach dem Abitur an einem Berliner Gymnasium absolvierte er eine Verlagsbuchhändler- und Buchdruckerlehre. Daneben besuchte er Veranstaltungen der Philosophischen Fakultät als Gasthörer an der Freien Universität Berlin. In den Jahren von 1962-1965 lebte Michael Krüger als Buchhändler in London. 1966 begann seine Tätigkeit als Literaturkritiker. Zwei Jahre später, 1968, übernahm er die Aufgabe des Verlagslektors im Carl Hanser Verlag, dessen Leitung er im Jahre 1986 übernommen hat. Seit 1981 ist er Herausgeber der Literaturzeitschrift Akzente.
Im Jahr 1972 veröffentlichte Michael Krüger erstmals seine Gedichte, und 1984 debütierte er als Erzähler mit dem Band «Was tun? Eine altmodische Geschichte». Es folgten weitere zahlreiche Erzählbände, Romane, Editionen und Übersetzungen.
Michael Krüger lebt in München.

Joachim Sartorius „Für nichts und wieder alles“, Kiepenheuer und Witsch

Joachim Sartorius ist ein Reisender. Seine Gedichte in seinem neusten Band „Für nichts und wieder alles“ sind Reisen weit weg, bis nach Aleppo, Reisen in die Vergangenheit, Reisen in unmittelbare Nähe. Suchbilder mit ungewisser Tiefenschärfe. Meisterhafte Sprachgebilde, die mich warm in die Arme nehmen.

Joachim Sartorius Gedichte sind keine Versuche. Mit scheinbarer Leichtigkeit dichtet er sich in Tiefen, die mir sonst verschlossen bleiben. Es sprudelt Witz genauso wie Weisheit, Gelassenheit und eine Spur Melancholie. Joachim Sartorius experimentiert nicht. Seine Gedichte verbergen nicht, verstören nicht, lassen einem nie ratlos zurück. Vielleicht bleibt eine Spur Zweifel. Genau soviel Zweifel, um das Gedicht noch einmal und noch einmal zu lesen. Seine Gedichte beweisen Schönheit, umgarnen mich. Er nimmt mich mit. Ich werde Sehender durch seine Sprache. Durch seine Präzision des Schauens, den klaren Strich, der Helligkeit des Lichts.

Gross genug, alt genug

Wenn im Holunder die Glühwürmchen
sich öffnen und schliessen, folge diesem Licht,
folge der mit kleinen Sternen verkrusteten Nacht,
unserem einzigen Himmel, folge dem Flackern.
Die Erde ist alt genug, dass man nicht schreien muss.

Nervöses Licht auf den Stufen,
ein Leuchtturm ist dieser Glühwurm, folge seinem
Geflacker, er taumelt, er weiss wohin. Kaum
hat er die glänzenden Flügel aus dem Etui
gezogen, die blaue, laue Luft empfangen,

sich aufgewölbt, sind die Blätter schon hart,
ist er schon angezählt. Drei Nächte, falls kein
Regen kommt. Alt genug jetzt, sendet er dir
sein Licht. Stolpere nach. Schon tanzt, Rauchlocke
über dem schwarzen Waldsaum, dein Alter heran.

Sicellino, Juni 2010

Ich staune und bin tief berührt. Und einmal mehr verblüfft darüber, wie lange es dauerte, bis ich für solche Texte überhaupt zugänglich wurde. Es ist wohl nicht die Reife, die fehlte. Aber mit Sicherheit die Geduld, sich auf Lyrik einzulassen. Den Genuss der Sprache dem blossem Verstehenwollen vorzuziehen.

Peinliche Pilze

Es gibt kein Brot an diesem Tisch.
Um diesen Tisch sitzen Dichter.
Sie sprechen in der Hustensprache,
essen peinliche Pilze, gehen frieren.
Angst nutzen sie als Trampolin.
Ihr Augenschein ist Ohrenschein.

Nacht für Nacht hören sie das Gewicht
der alten Poesie und ihrer vielen Wohnungen.
Ihre Hände waren zu voll und sind
jetzt leer. Sie wissen: Die toten Dichter
halten ihren Schmerz für zu klein,
kläglichen Kram, fast blind, vertrieben

in alle Winkel der lieben Finsternis.

Joachim Sartorius liest neben vielen anderen Gästen am 3. Lyrikfestival NEONFISCHE 2018 im Aargauer Literaturhaus Lenzburg. Am Wochenende vom 3. und 4. März lesen und performen neben Joachim Sartorius Robert Schindel, Kathrin Schmidt, Ernst Halter, Raphael Urweider, Frédéric Wandelère, Klaus Merz, Meret Gut, Jürg Halter, Cornelia Travnicek, Tim Holland sowie die Übersetzerinnen Elisabeth Edl und Marion Graf.

Joachim Sartorius, geboren 1946 in Fürth, wuchs in Tunis auf und lebt heute in Berlin und Syrakus. Er ist Lyriker und Übersetzer amerikanischer Dichtung. Er veröffentlichte sechs Gedichtbände, zuletzt 2008  „Hôtel des Étrangers“, zahlreiche Bücher, die in Zusammenarbeit mit bildenden Künstlern entstanden, und die Reiseerzählungen. Sein lyrisches Werk wurde in vierzehn Sprachen übersetzt. Er ist Mitglied des PEN und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

Informationen zum Lyrikfestival NEONFISCHE

Ruth Erat «Zum Trocknen aufgehängte Flügel», Waldgut

Ruth Erats Zeichnungen sind nicht einfach Skizzen. Aus einem Strich gezogen spinnt Ruth Erat einen Faden. In ihren Gedichten spinnt sie den Faden tiefer, verwebt ihn assoziativ. Die Zeichnung darüber, der Text darunter. Entstanden sind «Tafeln», Blick- und Gedankenmomente, die mäandern zwischen leisem Spott, Humor und philosophischem Nachdenken.

Tatsächlich waren ihre Text- und Zeichnungskompositionen zuerst nur für Freunde in Schachteln gesammelt, lose in ihrer Reihenfolge, als wären es Bilder in einer Kartei. Irène Bourquin, selbst Lyrikerin und Herausgeberin im Waldgut Verlag im schweizerischen Frauenfeld, hörte die Texte und sah die Zeichnungen bei einer Atelierlesung, die «Viecher», wie sie die Autorin etwas despektierlich nennt. Assoziativ geordnet und neu miteinander verbunden sind es im wunderschönen Buch Zeichnungen und Texte geworden, die «zeichnend und schreibend einen Faden suchen und finden».

Ruth Erats Sprach- und Bildstücke mit Witz und Tiefgang setzen sich in der aktuellen Lyriklandschaft schon deshalb von vielen ab, weil sie sich ganz unverkrampft reimen. Wenn Illustration sonst den Text, das Geschriebene illustriert, illustriert Ruth Erat in «Zum Trocknen aufgehängte Flügel» vielmehr mit dem Text die Illustration. Das Wort, der Text, gibt dem zweidimensionalen Strich eine zusätzliche Dimension. Auf jeder Seite ist jeweils unter einer Illustration ein Gedicht gesetzt, zentriert, was etwas davon übrig lässt, dass es einst Tafeln waren. Bildtexte oder Textbilder, die sich nicht gegenseitig zu unterstützen versuchen, sondern sich gegenseitig auf dem jeweils andern aufstützen. Aufstützen zu etwas Grösserem!

So wie es in der japanisch-chinesischen Kalligraphie ein Schriftzeichen gibt, das «Nachglanz» bezeichnet, jenes Licht, das bleibt, auch wenn die Sonne bereits untergegangen ist, so glänzen Ruth Erats Schreib- und Zeichenfäden noch lange nach.

Ruth Erat wurde 1951 in Herisau geboren und wuchs in Bern und Arbon auf. Nach ihrem Studium an der Universität war sie ist als Mittelschullehrerin, Schriftstellerin, Malerin und Politikerin tätig. 1999 erschien bei der Edition Suhrkamp die Erzählung «Moosbrand». Seit 2015 ist sie Mitglied des Arboner Stadtparlaments.

Ich danke Ruth Erat für die freundliche Genehmigung, die beiden «Tafeln» abbilden zu dürfen.