Ruth Loosli «Da könnte man alles abstreifen», Gedichte

Ruth Loosli ist erfüllt von Sprache, beseelt von Lyrik, die jene Freundlichkeit und Nähe ausstrahlt, mit der die Autorin jedem Gegenüber begegnet. Kein Wunder kann die Lyrikerin, die seit zwei Jahrzehnten in der Stadt Winterthur wohnt und wirkt, einen bis auf den letzten Platz besetzten Veranstaltungsraum ausfüllen und den Funken springen lassen.

Und

und man zählt die Jahre
an den Fingern ab als
hätte man davon zweimal
mehr als genug.

Und geht dem Rätsel nach
was Zeit bedeutet und
Verstand und Übermut.

Ruth Loosli ist eine Alchemistin der Sprache, die mit ihren Texten zünden und klingen kann. Von der Poesie Eugen Gomringers begeistert und bewegt spürt sie Momenten nach, Augenblicken, Aufgelesenem und Aufgeschnappten, das sie in sprachliche Ekstase bringen kann. Ein Ergriffen-werden und -sein, das sie umtreibt, manchmal nur mit dem Mobilphone «bewaffnet», in das sie spricht und Sprache zum Ein-druck macht.

Für Heba Khalifa (Villa Sträuli 2017)

Sitzt eine Frau
Denkt nach
Sieht ihr Kind
Steht auf
Arbeitet
Spricht mit Menschen
Macht Bilder
Näht sich zusammen
Nicht merkt jemand
Sie schreit
Blut
Das Kind kommt
Das Kind schaut
Es legt die Hand
Die erschrockene
Auf die Wunde
Die Wunde schließt
Die Augen

(Die Ägypterin Heba Khalifa ist Fotografin und bildende Künstlerin.)

Die Lyrik ist ihr Mittel, ihr Instrument, ihre Stimme, sich ins Leben, in die Gesellschaft und in die Politik einzumischen. Ruth Loosli, die mit jedem Gedicht, jedem Text, jedem «Gekritzel» Dankbarkeit ausstrahlt. Eine Frau, die retten will; die Welt, einen vergessenen Gott, den Menschen, ihre Träume und sich selbst.

Da

1
Da saß ich mit meiner Tochter
Da saß ich mit meinem Sohn
Da saß ich mit meinem Mann

Da wurde frühmorgens ein Sarg
hinaus getragen in den Camion
geschoben mit der Aufschrift:
Nur träumen müssen Sie selbst.

2

Da
könnte man alles abstreifen
Kleider
Augenlicht
Haut

Man wäre in einer wetterfreien
Zone, Husten fiele weg, auch das
Zeichen an der Wand, allerdings auch
das Blau der Kornblume und der Ruf
von Amsel, Buchfink, welche hierzulande
noch zu hören sind. Zu erwähnen den Flug
der Milane das Zusammenziehen der Wolken.
Den einsetzenden Regen.
Den Verstand mit seinem Wollen.
Bliebe Bewusstsein?
Das ist die große Frage über die wir noch nicht
hinaus schauen.

Ruth Loosli, geboren 1959 in Aarberg (Seeland), wo sie aufgewachsen ist. Sie hat drei erwachsene Kinder und ist ausgebildete Primarlehrerin. Seit einigen Jahren lebt und arbeitet sie in Winterthur. Sie veröffentlicht in Anthologien und Literaturzeitschriften. Ein erster Gedichtband «Aber die Häuser stehen noch» erschien 2009. Es folgte im Wolfbach Verlag (DIE REIHE, Band 5) 2011 «Wila, Geschichten»; dieser Band wurde mittlerweile auf Französisch übersetzt. Aktuell ist in derselben Reihe im Frühling 2016 der Lyrikband «Berge falten» erschienen.

Beitragsfoto: Sandra Kottonau