Julia Phillips «Cascadia», hanserblau

Eine todkranke Mutter mit ihren beiden erwachsenen Töchtern auf einer Insel im Nordwesten der USA. Sie sind arm und mit jedem Jahrring werden die Hoffnungen kleiner. In einer Mischung aus Trotz und Verzweiflung stellen sie sich dem Kampf ums Überleben – und einem Grizzly.

Sam und Elena, zwei Schwesterm, leben zusammen mit ihrer kranken Mutter in Kaskadien, einem Landstrich im Nordwesten der USA, der sich bis in die kanadische Provinz British Columbia zieht. Eine Sehnsuchtsgegend vieler Touristen, die Insel San Juan, nahe der kanadischen Grenze, zwischen den Grossstädten Vancouver und Seattle, ein Ort, an dem Mensch und Natur noch immer im Gleichgewicht nebeneinander zu existieren scheinen; unberührte Landstriche, grenzenloser Himmel, Orcas. Aber für Sam und ihre ältere Schwester Elena ist die Insel alles andere als das Paradies oder jener Ort, an dem sie bleiben wollen. Gemeinsam schmieden sie Pläne. Wenn dereinst die Krankheit ihrer Mutter ein Ende haben wird, werden sie das Haus verkaufen und mit dem Erlös irgendwo weit weg ein neues Leben beginnen, weil das, worin sie stecken, nur ein schmaler, enger Durchgang sein kann, dessen Licht am Ende des Tunnels leicht vernebeln kann.

So paradiesisch die Kindheit war, so unendlich die Möglichkeiten damals schienen, so sehr sind sie in die Pflichten rund um ihre Mutter eingebettet, in die immer grösser werdenen Sorgen um ihre finanzielle Lage, obwohl sie beide arbeiten, Sam als Snackverkäuferin auf eine Fähre und Eliane auf einem nahen Golfplatz. Ihre Mutter, krank geworden durch giftige Dämpfe in der Kosmetikindustrie, liegt in ihrem Zimmer, überlebt nur durch technische Hilfsmittel, muss immer wieder zum Arzt gefahren werden, ist nicht krankenversichert und hat längst Abschied genommen von jeglicher Art Hoffnung, ausser vor der Zuwendung ihrer beiden Töchter.

«Nichts war so gekommen, wie sie es sich vorgestellt hatte.»

Julia Phillips «Cascadia», hanserblau, 2024, aus dem Englischen von Pociao und Roberto de Hollanda, 272 Seiten, CHF, ca. 33.90, ISBN 978-3-446-28153-0

Es scheint alles festgefahren zu sein. Sam und Elena leben im Schattenwurf zwischen dem drohenden Tod ihrer Mutter, der Aufschiebung aller möglichen Zukunft und der Bedrohung einer immer misslicheren wirschaftlichen Lage, die sich mit der Pandemie nur noch zugespitzt hatte. Sie beide verschliessen sich immer mehr, ebenso ihre Mutter, bei der der Fernseher das einzige Tor zu einer Welt geworden ist, die sich längst verschloss. Ihrer Mutter sind die beiden jungen Frauen der letzte Halt und den Schwestern blockiert die Krankheit ihrer Mutter alles, was Hoffnung bedeutet, auch die Hoffnung auf ein eigenes Leben, auf Liebe, eine Zukunft.

Bis ein Bär auftaucht, Elena ihn neben der Fähre, auf der sie arbeitet, im Meer schwimmen sieht. Bis sie auf der Veranda ihres Hauses den riesigen Rücken eines Bären sehen, dieser sich am Haus zu schaffen macht, hier und dort eine Duftmarke setzt, man Gerüchte zu hören bekommt, Tiere seien gerissen worden, man könne sich nicht mehr sicher sein, schon gar nicht zu Fuss. Bis sich die Zeitung und die Behörden melden und eine Frau, Madeline, eine Biologin, man erst kaum glaubt, dass es sich um einen Grizzly handeln soll, sich Elena seltsam faszieniert und angezogen fühlt und Sam spürt, dass da etwas lauert, was mehr als bloss Bedrohung sein könnte.

«Der Bär hatte sie an den Rand einer Katastrophe geführt und sie dann verschont – was für ein Geschenk! Seine Präsenz: gewaltig, unvorstellbar, ein furchterregender, heiliger Anblick.»

Während Sam, die Perspektive, aus der die Geschichte erzählt wird, sich und ihr sowieso schon arg fragiles Familiengefüge mehr und mehr bedroht sieht, sich die letzten Hoffnungen zerschlagen könnten, öffnet sich Elena einem Wesen, das mit seiner unvorhersehbaren Art, seiner Wildheit und Kraft alles symbolisiert und in strotzendes Leben verwandelt, was ihr in ihrer Enge fehlt. Während Sam sich trotzig rüstet, entschwindet Elena in einer beinahe entrückten Anbetung an ein Wesen, dass sich nicht fassen lässt. Was sich während der Lektüre abzeichnet, trifft ein; die Mutter stirbt, der Bär packt zu und nichts ist mehr so, wie es sich Sam über die letzten Jahre ausgemalt hatte. Das kleine Licht am Ende des Tunnels flackert bedrohlich.

Julia Phillips verwebt Geschichten, Stimmungen ineinander. Es gelingt ihr meisterhaft, das Geschehen mit einem grossen Mass an Sinnlichkeit aufzuladen, man scheint den Bären förmlich zu riechen. Aber das ist auch die Bedrohung, die Hilflosigkeit in Armut und Existenzängsten, die Trotzigkeit, die der Hoffnungslosigkeit entspringt, die Angst vor Einmischung und unsensiblen Behörden. „Cascadien“ ist ebenso Millieustudie wie Familienroman, Sozialdrama und ultimative Konfrontation. Da die Realität von Armut und Krankheit, hier das Archaische der Natur, dort das Märchenhafte, die Hoffnung auf Erlösung in einem Roman, der einem bis zur letzten Seite atemlos lesen lässt.

Julia Phillips, geboren 1988, lebt mit ihrer Familie in Brooklyn, New York. Ihr gefeiertes Debüt «Das Verschwinden der Erde» (2021) war ein SPIEGEL-Bestseller. Die Autorin schreibt u.a. für die New York Times, The Atlantic und The Paris Review und unterrichtet am Randolph College.

Webseite der Autorin

Pociao (Sylvia de Hollanda) übersetzte u.a. Paul Bowles, William S. Burroughs und Evelyn Waugh und gewann 2017 den Don DeLillo-Übersetzungswettbewerb.

Roberto de Hollanda übersetzte u.a. Almudena Grandes, Jack Kerouac und Eugenio Fuentes.

Beitragsbild © Nina Subin

«Stirb nicht, bitte stirb nicht.» Han Kang in «Weiß»(14)

Lieber Gallus

Nun liegt es auf dem Tisch: ein edles Buch in Weiss mit drei Wörtern in Schwarz und einer zarten weissen Feder darüber. Ich nehme es sehr sorgfältig in die Hand.

So verlassen wir den festen Grund, den unser Leben uns bis dahin geboten hat, und tun diesen letzten gefährlichen Schritt ins Leere, ohne zu zögern. Nicht weil wir besonders mutig wären, sondern weil es keine Alternative gibt. Ohne Wenn und Aber wage ich den Schritt in eine Zeit, die ich noch nicht gelebt habe, und in ein Buch, das ich noch nicht geschrieben habe.

Han Kang «Weiß», Aufbau 2020, aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee, 151 Seiten, CHF ca. 27.90, ISBN 978-3-351-03722-2

Dieses 2020 auf Deutsch erschienene Werk der diesjährigen Nobelpreisträgerin erschüttert, beglückt und tröstet. In sehr persönlichen und tief bewegenden Bildern gelingt es der Autorin, die prägende Erinnerung an ihre Schwester, die in den Armen der Mutter als Neugeborenes starb, poetisch in Sprache umzusetzen. Das weisse Cover mit der schwarzen Schrift unter einer filigranen Feder und die Fotos von Han Kang und Douglas Seok bilden zusammen mit dem Text ein kostbares Schatzkästchen, dessen Reichtum durch langsame mehrmalige Lektüre jedes Mal aufs neue bewegt.

Stirb nicht, bitte stirb nicht. Diese Worte, die sie nicht verstand, waren das Einzige, was sie in ihrem Leben hören sollte.

Meine Mutter lag auf der Seite, ihr Kind an die Brust gedrückt, und fühlte, wie die Kälte in den kleinen Körper kroch. Tränen hatte sie keine mehr.

Ein Jahr nach dem Verlust ihrer ersten Tochter hatte meine Mutter eine weitere Frühgeburt. Dieses Mal war es ein Junge.

Wenn du noch lebtest, könnte folglich ich nicht sein. Da ich jetzt lebe, darfst du nicht existieren.

In allen Dingen werde ich dich spüren und für dich weiteratmen.

In kurzen Zitaten mit weissen Dingen als Titel und gegliedert in 3 Abschnitte «Ich», «Sie» und «Alles weiss» zeigt mir Han Kang ihre ergreifenden Reflexionen über Menschsein, Geworfenheit und Vergänglichkeit. Ich bin dankbar, durch den Nobelpreis auf diese wunderbare Autorin aufmerksam geworden zu sein.
Wirklich grossartig und lesenswert!

Herzlich

Bär

***

Lieber Bär

Seit ihrem Roman „Die Vegetarierin“ gehört Han Kang zu Koreas wichtigsten literarischen Stimmen. Während eines Aufenthalts in einer europäischen Stadt, konfrontiert mit der Erinnerung an ihre Schwester, die in den Armen ihrer Mutter starb, entstand „Weiß“, ein Buch, reduziert bis auf das, was sich nicht mehr wegdenken lässt. 

Die Frau, von der erzählt wird, ist in der Fremde, an einem Ort, an dem während der Hälfte des Jahres Kälte herrscht; der Nebel, die Wolken, der Schnee. In einer Stadt, in der sie die Sprache nicht versteht, in der kein Schild zu entziffern ist, in der sie sich fremd und verunsichert fühlt, tauchen im Weiss Bilder auf, die sie in die Erinnerungen zurückreissen.


An die Mutter, die noch ganz jung, ganz allein, weit weg und ohne Zugang zu medizinischer Hilfe lange vor dem Geburtstermin ein Mädchen zur Welt bringt, unvorbereitet und in stiller Verzweiflung. Aber nicht einmal zwei Stunden lang dauert das kurze Leben des Mädchens. Es stirbt. Und nachdem Stunden später der Vater nach Hause kommt, hüllt er dieses in weisse Wickeltücher und beerdigt es auf einem nahen Hügel. Eine Tragödie, von der sich die Mutter nie ganz erholt, die immer wieder im Konjunktiv aufflackert. Eine Tragödie, die auch die Erzählende begleitet, denn trotz ihres kurzen Lebens bleibt das namenlose Mädchen ihre Schwester. Noch mehr, denn es hätte sie selbst nicht gegeben, hätte die Erstgeborene weiter gelebt.

Jahrzehnte später in den kalten Wintermonaten in einer fernen Stadt, allein gelassen mit sich selbst und mit Bildern, die sonst verborgen bleiben, tauchen Erinnerungen wieder auf. Erinnerungen gekoppelt mit der Farbe Weiss. Während die Erzählerin als erstes eine Liste erstellt mit Dingen, die sie mit Weiss verbindet, tauchen weisse Fetzen aus dem Vergessen auf. Aus der Liste werden die Überschriften zu den kurzen Kapiteln, die sich wie Meditationen, Betrachtungen lesen; Wickeltuch, Babyhemdchen, Mondförmiger Reiskuchen, Nebel, Weisse Stadt, Weisse Kerze…

„Hättest du doch nicht aufgehört zu atmen.“

Die Texte reflektieren nicht nur Erinnerung, sie beschäftigen sich auch mit dem Warum, warum sich ausgerechnet in dieser fremden Stadt, diesem fremden Land längst Vergessenes an die Oberfläche drängt. Woher dieses Bedürfnis, dieses Sehnen nach Reinheit und Sauberem, Makellosigkeit und Keuschheit.

Von den Erzählungen der Mutter weiss die Erzählende, wie sehr die Mutter flehte: Stirb nicht, bitte stirb nicht. Mit dem Schreiben, dem Erzählen wandelt sich dieses Flehen an die Erinnerung: Stirb nicht, bitte stirb nicht. Selbst wenn die Augen des kleinen Mädchens nur kurz schauten, der Atem wieder versiegte und die Haut des Mädchens erkaltete – die Erinnerung darf es nicht. Stirb nicht, bitte stirb nicht, wird zum Amulett, zuerst für die Mutter, dann für die zweite Tochter.

„Weiß“ ist ein ganz zartes Buch, ein Hauch im kalten Winter. Der Beweis dafür das wir leben, nicht bloss existieren. 

Wer das Buch liest, scheut sich, es so einfach in ein Regal zu schieben.

Han Kang wurde 1970 in Gwangju, Südkorea, geboren und ist die wichtigste literarische Stimme Koreas. 1993 debütierte sie als Dichterin, ihr erster Roman erschien 1994. Für »Die Vegetarierin« erhielt sie gemeinsam mit ihrer Übersetzerin 2016 den Man Booker International Prize, »Menschenwerk« erhielt den renommierten italienischen Malaparte-Preis. »Weiß« war ebenfalls für den Booker Prize nominiert. 2024 erhielt Han Kang den Nobelpreis für Literatur. Sie lebt in Seoul. 

Ki-Hyang Lee, geboren 1967 in Seoul, studierte Germanistik in Seoul, Würzburg und München. Sie lebt in München und arbeitet als Lektorin, Übersetzerin und Verlegerin. Für ihre Übersetzungen wurde sie 2024 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet.

Beitragsbild © Yeseul Jeon

Mariann Bühler «Verschiebung im Gestein», Atlantis #SchweizerBuchpreis 24/09

Mariann Bühler wurde für ihr Debüt «Verschiebung im Gestein» anlässlich der Weinfelder Buchtage der Weinfelder Buchpreis verliehen, eine Auszeichnung, die im Hinblick auf den Schweizer Buchpreis durchaus als Hinweis verstanden werden kann.

Angesichts unserer eigenen Endlichkeit erscheint das, was wir an Welt wahrnehmen, in eine Ewigkeit getaucht, unverrückbar, „in Stein gegossen“. Aber selbst das, was fest erscheint, ist einem Fliessen unterworfen. Mariann Bühler beschreibt drei Leben, die aufbrechen, zu fliessen beginnen, die sich verschieben, eine neue Richtung bekommen. Mariann Bühler tut dies derart souverän, dass das Staunen zum Schaudern wird! Tektonische Verschiebungen, die ganz langsam, kaum wahrnehmbar vonstatten gehen. Mariann Bühler beschreibt genau jene feinen Risse, die mit der Verschiebungen im Gestein einhergehen.

Ihr heute preisgekrönter Roman ist Mariann Bühlers Debüt. Debüt ja, aber bereits ein Meisterstück! Mariann Bühlers Buch besticht vielfach; zum einen die Konstruktion, das Übereinanderschichten verschiedener Leben, die Schichtungen im Buch selbst, zwischen den drei scheinbar unabhängigen Leben und den sanften, zarten Schilderungen, die die drei Leben in einen grösseren Zusammenhang, in einem grossen Bild zusammenfügen. Weiter die Sprache, die sich ganz dem Feinen zuwendet, nichts Reisserisches braucht und mit grosser Empathie maximale Nähe zum Geschehen erzeugt. Es sind die Geschichten von Suchenden, die auf ganz unterschiedliche Weise durch die Sedimente des Lebens geführt, geschoben und gezogen werden. Mariann Bühlers Roman ist Lesegenuss der Extraklasse. Ein Versprechen! Ein Versprechen, das nicht nur dieser Preis hier in Weinfalden gibt, nicht zuletzt auch die intakten Chancen, dass im November noch ein weiteres Ausrufezeichen dazukommen könnte, der Schweizer Buchpreis 2024.

Elisabeth lebt und arbeitet in einem Dorf. Der Tod ihres Mannes bringt sie gänzlich aus dem Trott, lässt sie taumeln, obwohl die Ehe mit ihm nicht das gebracht hatte, was sie sich noch zu Beginn erhofft hatte. Sie führten über Jahrzehnte die Bäckerei im Dorf, ein Geschäft, das Jakob so wie immer führen wollte und die vorsichtigen Änderungs- und Anpassungsvorschläge seiner Frau stets mit Trotz und aufbrausenden Drohungen quittierte. Drohungen, die Jakob mitunter auch mit Schlägen verdeutlichte. Elisabeth, ein halbes Leben in die Pflichten einer Familienfrau, Mutter, Ehefrau und „Angestellte“ eingebunden, muss sich nach dem Auszug ihrer Tochter und dem Tod ihres Mannes neu aufstellen. Das alte Leben soll enden, auch die Rolle, die Elisabeth im Dorf einzunehmen hatte. Nach Wochen, in denen die Notiz an der Einganzstür zur Bäckerei langsam zu vergilben begann, öffnet Elisabeth wieder die Tür zur Bäckerei. Nur mit dem Unterschied, dass sie es ist, die nun den Lauf der Dinge bestimmt.

„Anfangs erschrak Elisabeth, wenn Jakob spurlos im Bäcker verschwand. Mit den Jahren entwickelte sie ein Frühwarnsystem, wie es das für Erdbeben gibt.“

Mariann Bühler «Verschiebung im Gestein», Atlantis, 2025, 208 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-7152-5040-3

Alois ist Bauer. Ob er den Hof damals hätte übernehmen wollen, stand nie zur Frage. Er wuchs über die Jahre in diese Rolle hinein. So wie seine Eltern alt und gebrechlich wurden und mit der Zeit nicht mehr die Kraft hatten, so gab er sich immer mehr in die Aufgaben des Bauern hinein. Eine Aufgabe, die mehr und mehr zur seinen wurde, eine Selbstverständlichkeit, ein Naturgesetz. Aber in Alois stiller Ergebenheit blieb stets ein Rest Zweifel. Sollte es das gewesen sein? Nur schon die dauernden Sticheleien der Eltern, weil sich keine Bäuerin finden wollte, oder die Erzählungen im Musikverein von grossen Abenteuern, stellen Alois Innenleben auf eine harte Probe. Selbst seine Schwester, die mit ihrer Familie im gleichen Dorf lebt, spürt, dass da etwas ist, was ausbrechen will. Bis sich Jakob entschliesst, den Hof zumindest für ein Jahr zu verpachten und reissaus zu nehmen, all die Pflichten hinter sich zu lassen.

„Wenn er Halt zu verlieren drohte, hielt er sich an Heugabeln, Besen, Steuerrädern fest.“

Und da ist Ruth, von der Mariann Bühler manchmal in der dritten Person, als Ruth erzählt, und manchmal in der Du-Form, als wäre die junge Frau gleich neben der Erzählstimme, würde sie sie durch das Geschehen schieben. Die junge Frau kehrt ins Dorf zurück, holt sich die Schlüssel für das schon lange unbewohnte Ferienhaus hoch über dem Dorf. Ein kleines Haus, in dem die Zeit still gestanden ist, die Luft sich über Jahre nicht bewegte. Das Haus soll verkauft werden. Ruth trägt ihr Leben hinauf in dieses Haus, die Suche nach ihrem Platz, die Bilder und Stimmen aus ihrer Vergangenheit, einer Familie, in der sich der Schmerz tief eingegraben hatte.

„Du hast dich mit deiner Schwester vom Wald verschlucken lassen, vom Tobel, vom Bach und den moosigen Steinen. Ihr habt eure Mädchenhaut mit den Gummistiefeln abgestreift und seid zu Zwergen geschrumpft, habt aus Tannennadeln und Lehm Häuser gebaut, seid als Löwen mit Mähnen aus Farn durch den Urwald geschlichen, als Hexe mit Tannenzapfennase und Astbesen.“

Jeder Ausschnitt aus diesem Buch zeigt, wie bildhaft Mariann Bühler erzählt, wie sie mit malerischer, zeichnerischer Freude mit Sprache umgeht, wie nah sie sich den Menschen und ihrer Geschichte zuwendet.
Mariann Bühler erzählt von drei Leben, die sich erst nach und nach miteinander verweben. Drei Leben, die sich über- und untereinder verschieben, aufeinanderstossen und sich aufwerfen. Erst über die Zeit wirksame Kräfte, die an ihren Rändern brechen und Abgründe sichtbar machen. 

Ein beeindruckendes Kunststück! Ein Buch, dass das Herz öffnet.

Interview

Nun ist er draussen, Dein erster Roman, an dem Du ganz offensichtlich sehr lange und intensiv gearbeitet hast. Was bis vor kurzem noch ganz Dir gehörte, liegt nun auf Tischen in Buchhandlungen zum Kauf bereit, wartet auf Nachttischchen und in Bücherstapeln auf die Lektüre und auf den Schreibtischen der Rezensenten auf Zuspruch oder Ablehnung. Wie sehr verändert die Veröffentlichung Deines Buches Dein Leben, oder zumindest die zeitliche Ausrichtung?
Diese Frage würde ich in einem Jahr vermutlich anders beantworten, jetzt, kurz nach Erscheinen des Buches beantworte ich sie so: Ich freue mich darüber, dass ich diesen Text und seine Figuren nun mit allen, die ihn lesen wollen, teilen kann. Und ich freue mich auf die Reaktionen darauf – darauf, dass ich dank den Leser*innen den Text selbst noch einmal mit neuen Augen sehen kann. Ich bin gespannt, was auf mich zukommt, welche Wege dieser Roman nehmen wird. Und wie das weitergeht mit meinem Schreiben.

© Mariann Bühler

Die Menschen, von denen Du erzählst, sind Gefangene. Sie alle versuchen auf die eine oder andere Weise auszubrechen, geschoben oder gezogen. Ich bin sicher, dass Du mit dem Thema Deines Romans eine menschliche Ursehnsucht ansprichst, seien es nun kleine oder grosse Ausbrüche, haben wir Menschen doch wie kein anderes Lebewesen die Fähigkeit, uns selbst zu fesseln, zu blockieren – bis zur vollkommenen Lähmung?
Wir alle sind Teil eines Gefüges – da sind zwischenmenschlich Beziehungen, die über Jahre wachsen und uns prägen, ein soziales, berufliches, familiäres Umfeld, das uns ebenso formt wie wir unseren Platz in der Welt mitformen. In manchen Situationen verspricht das Verharren im Bekannten mehr Sicherheit als eine Verschiebung ins Unbekannte. Gleichzeitig geschehen manche Veränderungen, ob wir wollen oder nicht. Auch wenn die Situation eng aussieht, wenn es scheint, dass alles stillsteht, gibt es einen kleinen Spielraum. Ich mag das englische Wort für Spielraum, «wiggle room», wiggle heisst wackeln oder schlängeln, ich stelle mir einen ganz kleinen Raum vor, der sich durch konstante, kleine Bewegungen verändern und erweitern lässt. Ich mag dieses Bild, darin ist eine Zuversicht.

Warum schaffen wir es nicht, Veränderungen selbst zu provozieren? Warum gelingt uns eine Veränderung meist erst dann, wenn wir sie im Windschatten anderer Ereignisse vollziehen können, wenn das Beben bereits stattgefunden hat, wenn die Risse in den Versteinerungen aufgebrochen sind?
Wir können alle nicht aus unserer Haut. Unser bisheriges Leben hat sich in uns eingeschrieben, hat unsere Möglichkeiten und Grenzen geformt. Tiefgreifende Veränderungen geschehen nicht notwendigerweise mit Pauken und Trompeten und einem einzigen umgelegten Hebel, sondern leise, über eine lange Zeit, unter der Oberfläche. 
Für meine Figuren kommt das Beben nicht plötzlich. Auf den ersten Blick vielleicht, aber bei genauerem Hinsehen wird klar, dass sich das schon lange angebahnt hat. Wie die tektonischen Verschiebungen, die lange bevor wir sie begreifen konnten, stattgefunden haben, braucht es manchmal Zeit, die Risse, die Aufbrüche als solche wahrzunehmen.

Ich bin tief beeindruckt von der Sprache und der Erzähltechnik Deines Romans. Wie weit bist Du Deiner Intuition gefolgt? Oder war da eine Strategie, ein Plan? Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Roman das Resultat eines chronologischen Schreibens sein kann. Viel mehr macht er den Eindruck, als wäre es der Sud eines langen Entstehungsprozesses, ohne dass der Roman dabei seine Leichtigkeit eingebüsst hätte.
Der Entstehungsprozess war alles andere als geradlinig. Ich bin im Arbeitsleben die, die für alles eine Liste und einen Plan erstellt. Im Schreiben funktioniere ich offenbar anders. Erst ganz am Schluss gab es eine Liste, die mir den Überblick über die Kapitel erleichterte und die Struktur, die Schichtung, zeigte. 
Davor war alles in Bewegung. So viel in der Schwebe zu halten, war manchmal schwer erträglich, im Nachhinein aber wichtig: Ich konnte Szenen, die nicht funktionieren wollten, an einen anderen Ort schieben, in ein anderes Lebensalter der Figur – oder sie einer ganz anderen Figur zuordnen. So wurde manchmal ein scheinbar unwichtiges Motiv, von dem ich mich nicht recht trennen konnte, wie die Narbe an Alois’ Finger, zentral. Bei jeder Figur gab es einen – manchmal ziemlich ausgedehnten – Moment, wo es nicht weiter ging, wo sich etwas in meiner Wahrnehmung verschieben musste, damit etwas, das ich nicht geplant und manchmal nicht einmal geahnt hatte, Form annehmen konnte. Auf das Geologische bin ich per Zufall gestossen. Ich bin staunend in diese Sprache eingetaucht, die mir genau die Bilder und Prozesse geliefert hat, die mir fehlten. 
Der Text hat die lange Gärphase gebraucht, ich habe sie gebraucht, um besser zu verstehen, was ich schreibe und wie ich schreibe. Welche Möglichkeiten ich habe und wie ich sie nutzen kann. Dem Prozess zu vertrauen und nichts voreilig festzumachen.

© Mariann Bühler

Da gibt es Szenen in der Backstube oder im Stall, die unmöglich ohne persönliche Erfahrungen hätten entstehen können. Ganz offensichtlich wolltest Du nicht nur bei deinen ProtagonistInnen nah rangehen, sondern auch in dem, was sie tun. Kannst Du melken und grosse Mengen Brot backen?
Mir war es wichtig, diese Arbeitsprozesse abzubilden, weil sie viel über die Figuren erzählen und auch als Gegenstück zu den geologischen Verschiebungen. Das Backen und Melken sind auf den ersten Blick repetitive Arbeiten, die jeden Tag gleich geschehen. Gleichzeitig verändern sie sich dauernd: Wer backt oder melkt, braucht ein grosses Erfahrungswissen und ist sich einer Vielzahl von Faktoren bewusst, trifft dauernd kleinste Entscheidungen, um den Prozess an die aktuellen Gegebenheiten anzupassen, führt also dauernd die für das Gelingen nötigen Veränderungen herbei. So durch und durch gekonntes Handeln finde ich sehr schön – fast wie ein Tanz. 
Ich habe selbst zwar einmal gelernt, ein Melkmaschinenaggregat an ein Euter zu hängen, und würde von Hand etwas Milch aus einer Kuh bekommen, aber wirklich melken kann ich nicht. Beim Backen ist es ähnlich, ich backe gerne mal einen Zopf, aber in grossen Mengen Brot backen, das kann ich nicht. Da war ich beim Schreiben auf das Wissen anderer angewiesen. Ich habe zum Beispiel eine Bäuerin besucht, die jede Woche aus mehreren hundert Kilo Mehl Brot backt, konnte ihr bei der Arbeit zuschauen und Fragen stellen. Das war sehr wichtig: Den blossen Ablauf dieser Arbeit hätte ich aus Texten und Videos zusammenschustern können, aber beim Beobachten wurden die Bewegungen, Konsistenzen, Materialitäten, das ganze verkörperte Wissen, wahrnehmbar. 
Beim Melken und auch beim Holzen war es ähnlich: Die Bewegungen und Körperhaltungen kenne ich seit meiner Kindheit, meinte, mich an die Abläufe erinnern zu können – und musste dann feststellen, dass meine Erinnerung ungenau war. Zum Glück hatte ich einen Testleser für die landwirtschaftlichen Dinge, der mir Reihenfolgen und Aufgabenteilungen geradegerückt hat. Das lässt sich nicht googeln, um das zu vermitteln braucht es Menschen mit entsprechendem Wissen.

Was mich ebenfalls beeindruckte, sind beschriebene Stimmungen. Seien es Stimmungen in Szenerien oder solche in den Innenwelten deiner ProtagonistInnen. Klar ist Empathie eine Voraussetzung, um sich in solche Innenwelten hineinzubegeben. Wann merkst Du, dass das Gleichgewicht zwischen Nähe und der nötigen Erzähldistanz erreicht ist?
Da muss ich nachdenken. Die Stimmungen waren mir wichtig, vielleicht, weil sich damit manchmal die Innenwelten nach aussen übersetzen lassen, wenn den Figuren nicht nach Reden ist. Die können und wollen nicht alles in Worte fassen, was in ihnen vorgeht. Da habe ich versucht, ihre Umgebung so zu beschreiben, dass nachvollziehbar wird, was in den Figuren vorgeht. 
Ich glaube, bei den Figuren entsteht das Gleichgewicht in der Bewegung, im Wechsel zwischen Nähe und Distanz. Die richtige Erzähldistanz zu finden war nicht ganz einfach. Der Vorteil war, dass ich zwischen den Strängen hin und her wechseln konnte. Wenn ich bei Elisabeth nicht weiterkam, konnte ich beispielsweise zu Alois wechseln und schauen, ob der gerade gesprächiger ist. Das brauchte Geduld: So, wie wir anderen Menschen nicht im ersten Gespräch unsere tiefsten Geheimnisse verraten, musste ich die Figuren erst kennenlernen, langsam erarbeiten, was sie umtreibt und mich manchmal ebenso selbst überraschen lassen wie auch mal einzugreifen als Autorin, bewusst eine Weiche stellen im Text. 
Die Distanz zu den Figuren verändert sich noch immer: Anfangs war es nicht leicht, ihnen nah genug zu kommen. Kurz vor dem Ende der zweiten Fassung waren sie mir so nah, dass ich abends nicht einschlafen konnte vor Sorge um sie, ob das alles gut kommt – eigentlich absurd, schliesslich gab es sie nur in meinem Kopf und in einer Datei. Und jetzt, wo das Buch da ist, gehen sie ihre eigenen Wege.

Mariann Bühler, geboren 1982 in der Nähe von Luzern, hat in Basel und Berlin Englische Literatur­ und Sprachwissenschaft, Islamwissenschaft und Gender Studies studiert. Sie lebt als Autorin, Literaturvermittlerin und Veranstalterin in Basel. «Verschiebung im Gestein» ist ihr Romandebüt; für einen Auszug aus dem Manuskript wurde sie mit dem Zentralschweizer Literaturpreis ausgezeichnet.

Weinfelder Buchtage 2024

Webseite der Autorin

André David Winter «Die Kunst, eine schwarze Katze», Edition Bücherlese

Wann ist Kunst Kunst? Kann ich es oder renne ich nur einem Traum, einer Vorstellung hinterher? Was geschieht mit einem Leben, das weder Tritt noch Richtung findet? André David Winter setzt sich in seinem neuen Roman „Die Kunst, eine schwarze Katze“ mit einem Leben auseinander, das nach Klärung sucht, mitten in Zwängen des Gegenwärtigen.

Anina ist jung und ihr zuhause so gar nicht das, was man sich unter einem warmen Nest vorstellt. Vater und Mutter zerfleischen sich gegenseitig, eine Zerrissenheit, die sich tief in das Mädchen und die junge Frau hineinfrisst. Anina spürt, dass sie etwas finden will und muss, das sie zu sich selbst zurückführt. Aber auch ihre Karriere als Schülerin verläuft alles andere als problemlos, sodass ihr Papa immer und immer wieder der wird, der ihr aus der Verzweiflung darüber hilft, dass das Begonnene nicht dem Gewünschten entspricht.

Anina spürt schon als junges Mädchen, dass ihr das Zeichnen etwas schenkt, was sich mit keinem anderen Tun vergleichen lässt. Durch das Zeichnen erfährt sie eine Welt, die sich ihr auftut und sich nicht wie ihr Elternhaus mehr und mehr verschliesst. Sie bittet ihren Vater um die Finanzierung eines Kunststudiums in Paris, an der École Nationale Supérieure des Beaus-Art, schafft es durch die Prüfungen und landet in der Klasse eines ebenso angesehenen wie angefeindeten Professors, der es versteht, ihr eine Art des Sehens zu vermitteln, die Anina immer mehr hoffen lässt, dereinst aus ihrem Talent einen Beruf zu machen. Aber ausgerechnet jener Professor entpuppt sich als Fälscher, fällt in Ungnade und reisst die junge Studentin in eine tiefe Krise. Die Rückkehr von Paris nach Zürich ist verschüttet, genauso das, was in der Fremde ganz zaghaft zu erblühen begann.

„Schwer zu fangen diese Katze, und doch versuchen wir es, manchmal ein Leben lang. Ich mit Büchern und Sie mit Malen.“

André David Winter «Die Kunst, eine schwarze Katze», Edition Bücherlese, 2024, 192 Seiten, CHF ca. 30.90, ISBN 978-3-906907-96-3

Anina nimmt ihr Leben im permanten Zweifel wieder auf, erst recht als sie ihren Jugendfreund heiratet, schwanger wird und sich in einem Leben der Kompromisse einfügt. André David Winter zeichnet eine Frau, die erst mit der Loslösung von ihrem Mann, mit der unfreiwilligen Distanz zu ihrer pubertierenden Tochter und einem erneuten Aufbruch in die Fremde, das wieder zurückerobert, was ihr Mutlosigkeit, Frustration und Ernüchterung genommen hatten. Er zeichnet den Kampf all jener, die genau spüren, dass ihnen etwas geschenkt wäre, was sich nur durch grössten Zweifel und innere Zerrissenheit an die Oberfläche wagt. Eine junge Frau, die nicht weiss, ob das, was sie tut, „nur“ Leidenschaft oder wirklich Kunst ist.

Anina trifft jene Freundin wieder, mit der sie vor Jahren in Paris an eine Zukunft als Künsterin zu träumen wagte. Eine junge Frau wie sie, die aber mit Mann und Familie schafft, was ihr verwehrt blieb, nicht nur eine eigene Handschrift, ein Leben als Künstlerin, sondern das Selbstbewusstsein, eine Künstlerin zu sein, erst recht mit einer Familie. Anina spürt, dass sie einen Kampf aufnehmen muss, nicht nur gegen die eigene Mutlosigkeit, auch gegen Dämonen aus ihrer Vergangenheit, ihre Verletzungen, ihre tiefe Angst vor Verlust. Was zaghaft aufzubrechen beginnt, wird mehr und mehr zu einer Gewissheit.

„Während sie redete, gingen ihr Bilder der letzten Stunden durch den Kopf, und plötzlich wusste sie, dass sie und was sie malen wollte. Malen musste. Das, was niemand sieht.“

André David Winter setzt sich in seinem kunstvoll konstruierten Roman auch mit der Frage auseinander, was Kunst sein muss und soll. Welchen Formen des Sehens und Spürens man folgen muss, dass aus reiner Produktion Kunst wird. Er schickt eine junge Frau auf eine Entdeckungsreise, zurück in die Vergangenheit, hinein in ihr eigenes Leben, zurück auf die für die Kunst existenziellen Fragen, wo Geschaffenes ein Eigenleben bekommt, nicht bloss Abgebildetes ist.

André David Winter leuchtet in die Tiefen einer zerrissenen Seele und offenbart, was in seiner eigenen immer und immer wieder auflodert.

André David Winter, geboren 1962 in der Schweiz, verbrachte die ersten acht Lebensjahre in Berlin. Nach Stationen auf Bauernhöfen in der Schweiz und in Italien folgten die Ausbildung in der Psychiatrie und die Arbeit als Lehrer für Gesundheits- und Krankenpflege sowie als Gerontologe. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit – der erste Roman erschien 2007 – arbeitet Winter heute als Kursleiter und Erwachsenenbildner im Gesundheitswesen.
Er lebt mit seiner Familie im Kanton Luzern.

Rezension André David Winter «Die Leben des Gaston Chevalier»

Beitragsbild © Ayșe Yavaș

Michelle Steinbeck «Favorita», park x ullstein #SchweizerBuchpreis 24/09

Eine Geschichte aus Wirklichkeit und Traum, Wahn, Fantasie und Halluzination. Angeschrieben gegen die Realität nicht ernst genommener Femizide, erzählt in einer Sprache, die funkelt und blendet, in Bildern, die sich festsetzen und bleiben. „Favorita“ ist ein literarisches Schwergewicht.

Als hätte Michelle Steinbeck eine Weile an der Seite von Quentin Tarantino geschrieben. Fila, eine junge Frau, die bei ihrer italienischen Grossmutter in der Schweiz aufgewachsen ist, bekommt einen Anruf aus einem Spital in Neapel, dass ihre Mutter getötet worden sei. Sie solle der aufgetischten Diagnose „Schrumpfleber“ nur ja nicht trauen. Fila macht sich auf nach Italien auf der Suche nach Erklärungen, Spuren, Hinweisen über ihre Mutter. Eine Mutter, die nie für sie da war, von der sie und ihre Grossmutter nur hie und da Postkarten von immer wechselnden Grossstädten bekamen, von der die Grossmutter nur immer und immer wieder warnte, sie Fila solle nicht so werden wie die vom Weg abgekommene, gefallene Mutter.

Fila taucht in die Zwischenwelt Neapels, mit der Urne ihrer Mutter. Dort trifft sie im Milieu auf Frauen, die ihre Mutter nicht nur kennen, sondern in ihrem Dienst standen, die Fila ziemlich schnell klar machen, dass ihre Mutter durch die Hände ihres siebten Ehemannes starb und es nur einen Weg zur Klärung geben würde, wenn sich Fila an ihre hochhackigen Fersen kleben würde. Fila taucht in eine Welt der Abgründe. Nach einer wilden Flucht und einem Inferno in einer besetzten, ehemaligen Salamifabrik wird Fila im Auto eines fremden Mannes in ein abgelegenes Dorf gefahren, in ein grosses Haus, in eine Villa, in der sie sich verstecken soll.

Michelle Steinbeck «Favorita», park x ullstein, 2024, 464 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-98816-000-3

In jenem Dorf erfährt Fila vom Schicksal einer jungen Frau, die kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in einem Wald bei eben diesem Dorf ermordet wurde. Ein kleines, unscheinbares Mahnmal erinnert an den grausamen Tod und an die Tatsache, dass nie abschliessend ermittelt werden konnte, wer der hübschen jungen Frau unmittelbar vor ihrer Hochzeit die Kehle durchgeschnitten hatte. Fila beginnt in den Archiven zu forschen und erfährt von einem Prozess gegen den Verlobten der damals Getöteten, der wohl verurteilt, aber nicht einmal zwei Jahre nach dem Urteil bei Wiederaufnahme des Prozesses aus Mangel an Beweisen wieder freigelassen wurde. Nicht nur weil die Beweise gegen ihn nicht hieb- und stichfest gewesen wären, sondern weil der Druck der Öffentlichkeit, die nicht haben wollte, dass so ein «armer» Mann im Gefängnis schmort, weil seine Verlobte die Finger nicht von anderen Männern lassen konnte, immer grösser wurde.

Für Fila wird das Schicksal jener jungen Frau untrennbar verwoben mit dem Schicksal ihrer Mutter, denn es wird immer deutlicher, dass ein Mann, der letzte Mann ihrer Mutter, die Ursache für den Tod ihrer Mutter war und man alles daran setzte, diesen Mord zu vertuschen. Fila lässt nicht locker, erst recht nicht, als sich „ihr Vater“, jener Mann im Gefolge eines ganzen Trosses neofaschistischer Gesinnungsgenossen zu einem geheimen Treffen in jener Villa ankündigt, in die man Fila versteckt hatte. Fila wird zum Racheengel. Was sich über 450 Seiten zuspitzt, wird in den letzten Seiten zu einem Finale, an dem auch Tarantino seine Freude hätte.

Das ist die Geschichte, eine Geschichte, für die es aber nicht unbedingt 450 Seiten gebraucht hätte. Da ist auch das mit eingeschriebener Wut gegen eine Gesellschaft, die Gewalt gegen Frauen nicht ernst nimmt, die die Schuld fast reflexartig in den Opfern selbst sieht und Täter nie wirklich zur Rechenschaft zieht. Aber dafür hätte es auch nicht 450 Seiten gebraucht. Was mich diesen Roman über 450 Seiten mit Hochgenuss lesen lässt, und das ist als Mann nicht ganz einfach, ist die Sprache, dieses Mäandern zwischen den verschiedensten Ebenen der Wahrnehmung. Da sprechen Geister, da driftet das Geschehen ins Fantastische ab, da schillern Spiegelungen. Man spürt neben der Wut die Lust. Es knallen die Farben ebenso wie die Dichte überzeugt. Michelle Steinbeck will weder gefallen noch unterhalten. Sie malt ein Sittenbild der Gegenwart, auf das man sich einlassen muss – und für das es sich mehrfach lohnt, 450 Seiten zu lesen!

Michelle Steinbeck, geboren 1990, aufgewachsen in Zürich, schreibt Prosa, Lyrik, und für Theater, Magazine und Zeitungen. Ihr Debütroman «Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch» war nominiert für den Schweizer sowie den Deutschen Buchpreis 2016; 2018 folgte der Gedichtband «Eingesperrte Vögel singen mehr«. Ihre Bücher und Reportagen wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Sie ist Kolumnistin der WOZ – Die Wochenzeitung und Mitbegründerin des Autorinnenkollektivs RAUF in Zürich. Nach längeren Aufenthalten in Rom, Paris, Hamburg lebt sie zurzeit in Basel.

Illustrationen © leale.ch

Peter Weibel «Kaltfront», edition bücherlese

Vera beginnt nach dem Studium ihre Arbeit in ihrer eigenen Praxis. Sie freut sich. Endlich. Veras Anfang als Hausärztin in einem Dorf in der Provinz ist mehr als ein Anfang. Es ist die Erfüllung eines Traums, der Start in ein Leben, auf das bisher alles hinzielte. Wenn da nur die Realität nicht wäre. „Kaltfront“ legt sich wie eine klamme Decke über mich. Ein literarischer Leckerbissen, an dem man kauen muss.

Als Vera zum ersten Mal in den Räumen ihrer zukünftigen Praxis die Tür hinter sich schliesst, legt sie sich irgendwann auf den Boden der noch leeren Räume. Sie liegt auf dem Rücken und ist angekommen. Hier wird beginnen, was sich aus ihrem Sein kristallisierte. Hier will sie tun, wonach ihr schon so lange dürstet. Hier will sie ihre Aufgabe als Hausärztin zu ihrem Leben machen. Ein Beginn voller Enthusiasmus, ein Beginn, der sie entlöhnen soll für all das, was sie in der Vergangenheit auf sich genommen hatte.

Es dauert auch nicht lange, bis sich ihr Kalender mit Terminen füllt. Am meisten freut sie sich auf die Fahrten ins Land, wenn sie nach den Terminen in der Praxis mit Auto und Koffer Hausbesuche macht, weil sie spürt, mit wie viel Dankbarkeit und Herzlichkeit sie empfangen wird. Bei diesen Fahrten setzt sie sich zwischendurch auf einen Stein oder eine Bank, ergibt sich dem Moment, schreibt in ihr Tagebuch, um sich danach bis in späte Abendstunden weiter jenen Menschen zu widmen, die sie ganz brauchen, so wie sie es auch selbst gerne hätte, wäre sie an ihrer Stelle. 

Peter Weibel «Kaltfront», edition bücherlese, 2024, 100 Seiten, CHF ca. 24.00, ISBN 978-3-906907-99-4

Bist du glücklich?, fragt sie Luca, ihr Freund, der zwischendurch immer wieder für ein paar Tage zu ihr fährt. Luca ist Grafiker in der Stadt, lebt in einer virtuellen Welt, in einer ganz anderen als Vera. Vera stellt sich diese Frage nicht, denn sie fühlt sich einfach dort, wo sie glaubt hinzugehören. Sie misst das Glück an den Gesichtern ihrer Patienten. Selbst in jenen Tagen, wo im Wartzimmer das Getuschel beginnt. Als man in den Medien liest und hört, dass in der Ferne ein Virus zu wüten beginnt. Als man ihr Fragen stellt, ob das Virus auch bis nach Wolfach kommen werde.

Vera lässt sich nicht abschrecken, besucht weiterhin ihre Patienten im Spital, im Pflegeheim und in den Häusern weitherum. Und als sie sich von einem ehemaligen Studienkollegen als Helferin bei Impfkampagnen anheuern lässt, ist es nicht nur Luca, ihr Freund, der ihr Leichtsinn vorwirft. Als sich das Virus wie ein Heuschreckenschwarm über das Land legt und sie zusehen muss, wie Leben dahingerafft wird, das Leben jener Patienten, die ihr ans Herz wuchsen, sind jene, die mit Transparenten und Hassparolen vor dem Spitaleingang stehen, ihrem Zorn gegen die Medizin und den Staat Luft machen, mehr als nur Stiche in ihr Herz. Boris, ein Arzt im Ruhestand, ein alter Mann, der Vera mehr und mehr zu einem Vertrauten wird, sagt: Du musst nicht nur für die Gesundheit der Patienten, du musst auch gegen die bösen Geister kämpfen, die mit dem Virus gekommen sind. Sie heissen Ungewissheit, Fatalismus und Empörung.

Als der Eingang zu ihrer Praxis verwüstet wird und grosse Steine durch die Fenster geworfen werden, als man sie auf allen möglichen Kanälen anonym zu beschimpfen und diffamieren versucht, wird die Frage Wie weiter? zur Existenzfrage. Aber für Vera gibt es nur den einen Weg; sie will helfen. Sie will alles in ihrer Macht Stehende tun. Sie will weitermachen, womit sie begonnen hat. Auch wenn sich die direkte Konfrontation immer deutlicher abzeichnet.

Als ich ganz zu Beginn der Pandemie auf der Strasse mit einem befreundeten Autor darüber sprach, was da auf uns zurollt und ob das einen Einfluss auf sein Schreiben hätte, meinte dieser: „Worüber soll man den angesichts dessen, was genau jetzt passiert, noch schreiben?“ Coronaromane wollte niemand lesen, denn alles was man las und sah, war eingetaucht in die Ratlosigkeit jener Gegenwart und in den Schrecken der Nachrichten. „Kaltfront“ ist kein Coronaroman. „Kaltfront» erzählt von einer jungen Ärzten, die trotz allen guten Willens zerrieben wird zwischen Angst, Zorn und Hass. Peter Weibel begleitet eine junge Ärztin, deren Kampf zur Lebensaufgabe (Man verstehe dieses Wort zweideutig!) wird. Ein Erzählen gespickt mit Tagebuchaufzeichnungen und den Verlautbarungen von Behörden, die um Erklärungen ringen. Das Protokoll einer Katastrophe, die wie ein unabwendbarer Sturm auf Vera zurollt.

Peter Weibel wertet nicht, urteilt nicht. Aber hinter seinen Schilderungen wabbert die Frage, wie es dazu kommen konnte. Nicht medizinisch, aber menschlich. Er tut das mit dem Wissen eines Arztes und der Empathie eines Freundes, eines Menschenfreundes. Wie kann es sein, dass sich Menschen derart entzweien, so unvereinbar in verschiedenen Welten Leben, dass alles Gemeinsame nichtig wird? Schon angesichts der politischen und gesellschaftlichen Debatten ein wichtiges Buch!

Peter Weibel liest an der Hauslesung vom 26. Oktober 2024 zum ersten Mal vor Publikum aus seinem neuen Buch.

Peter Weibel (1947) schreibt, aquarelliert und zeichnet. Seit über vierzig Jahren veröffentlicht er Texte in Prosa und Lyrik, oft mit Cover und Illustrationen aus eigener Hand. In der edition bücherlese erschienen bisher fünf Prosabände, zuletzt die Erzählung «Akonos Berg» (2022). Für seine Werke wurde er verschiedentlich ausgezeichnet, unter anderem mit einem Buchpreis des Kantons Bern für den Erzählband «Die blauen Flügel» (2013) und für «Mensch Keun» (2017) mit dem ersten Kurt Marti Literaturpreis. Peter Weibel, geboren 1947, studierte Medizin und arbeitet seit vielen Jahren als Allgemeinpraktiker und in der Geriatrie. Er lebt und arbeitet in Bern.

Peter Weibel im Gespräch mit Gallus Frei

Beitragsbilder © Sandra Kottonau

Zora del Buono «Seinetwegen», C. H. Beck #SchweizerBuchpreis 24/08

Zora del Buonos Roman „Seinetwegen“ ist ein Vaterbuch. Vaterbücher gibt es viele. Aber weil sie damals, als ihr Vater nach einem Autounfall starb, noch nicht einmal ein Jahr alt war, blieb dieser wie ein Geist im Hintergrund verborgen. „Seinetwegen“ ist eine literarische Vergegenwärtigung, eine vielfache Auseinandersetzung zwischen Opfer und Täter – der Roman in seiner Art ganz eigen.

Das Unglück, den Vater mit acht Monaten zu verlieren, bleibt nicht nur an der Tochter ein ganzes Leben haften. Damals verlor sie ihren Vater. Ihre Mutter ihren Mann. Er wurde 33 Jahre alt und war vielversprechender Radiologe am Kantonsspital in Zürich. Ihre Mutter heiratete nie mehr. Und während die Autorin mit ihrem 60. Geburtstag immer mehr den Wunsch nach Klärung verspürt, sinkt ihre Mutter im Heim in eine Demenz. Wer war der Mann, der bei einem waghalsigen Überholmanöver mit dem Auto ihres Vaters kollidierte? Lebt er noch? Wie lebt es sich, wenn man vor Gericht seine Schuld bekennt? Und wie konnte es sein, dass jener Mann, der mutmasslich zu schnell und mit ungenügenden Bremsen unterwegs war, mit 200 Franken Busse und einer bedingten Strafe davonkam? Warum war der Tod des Vaters nie ein Thema zwischen Mutter und Tochter?

Zora del Buono «Seinetwegen», C. H. Beck, 2024, 204 Seiten, mit Abbildungen, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-406-82240-7

Am Steuer jenes weissen VW-Käfers sass damals der Bruder der Mutter. Er überlebte schwer verletzt, während Zora del Buonos Vater im Spital nach einer Woche an seinen Verletzungen starb. Vom Unfallverursacher, den die Autorin nicht Täter, sondern Töter nennt, weiss sie, dass er ebenso alt war wie ihr Vater damals und sie kennt seine Initialen; E. T. Was die Tochter über ihren Vater weiss, ist, das, was man sich erzählt, nicht die Mutter, aber in der Familie. Einige Fotos, aus denen mit den Jahren Erinnerungen werden. Zora del Buono besucht ihre demente Mutter, eine Frau, die ein ganzes Leben eine elegante Erscheinung war, attraktiv, die sich aber nie mehr wirklich auf einen Mann einliess, geschah das doch in einer Zeit, in der man erwartet hätte, dass die Witwe noch einmal heiraten würde, nur schon wegen der kleinen Tochter.

Zora del Buono macht sich auf die Suche. Auf die Suche nach Antworten auf immer und immer wieder gestellte Fragen, nach Klärung, nach jenem Mann, der sich hinter den Initialen E.T. verbirgt, nach Gründen, warum die Geschichte ihrer Familie und ihre eigene Geschichte jene Richtung eingeschlagen hatte. Warum das Schweigen überall durchbrochen werden muss. Warum das Wohin ins Wanken gerät, wenn das Woher im Dunkeln bleibt. Was wäre geworden, wenn der Unfall nicht passiert wäre? Was wäre aus ihrem Leben geworden, einem Leben, das in keine Familie münden sollte?

Aber „Seinetwegen“ ist nicht einfach eine literarische Recherche. Zora del Buono mäandert. Ihre Suche ist alles andere als geradlinig, manchmal durchaus entschlossen, mutig und unnachgibig. Dann wieder zerstreut, auf Nebenstrassen und Umwegen, zögerlich. Eine Mischung aus Fragmenten aus Leben, die aus dem Nebel auftauchen, Recherchefetzen, die hängen bleiben, Notaten, die nur noch rudimentär mit dem Ursprünglichen zu tun haben, bis hin zu Statistiken über Verkehrstote, in denen sich die Autorin Fingerzeige erhofft oder Geschichten prominenter Opfer wie Albert Camus oder James Dean. Sie macht sich auch örtlich auf den Weg, mit dem Auto auf jener Strasse, auf der die beiden Autos zusammenkrachten, bis in den Kanton Glarus, jenes Tal, aus dem der Töter gefahren kam, mit seinem protzigen Chevrolet. Sie fragt nach, im Tal, auf Ämtern, in Archiven. Bis aus dem Töter ein Mensch wird. Bis aus den Initialen ein Name wird. Aus der Untat ein Leben.

„Seinetwegen“ ist voller Spiegelungen in die Lebensgeschichte der Autorin, ihre Vergangenheit in Bari, ihre Familie, das Leben ihres Vaters, der aus dem grossgeschrieben Del ein kleingeschriebens machte, das Leben ihrer Mutter bis in die Demenz der Gegenwart und jenen Moment, wo eine Einweisung ins Heim unausweichlich wird. „Seinetwegen“ ist weder Abrechnung noch Anklage. Dafür ein vielstimmiges Eintauchen, eine beinahe zärtliche Annäherung, nicht nur an den Vater, auch an die Mutter und all die Schicksale ihrer Familie.

Grossartig geschrieben und eine Einladung!

Interview

Du mäanderst, Du lauscht allen Stimmen, auch jenen, die Dich nicht zielgenau auf den Punkt bringen. Und Du stellst Dich Fragen, denen sich viele nicht stellen wollen, Fragen gegen das Schweigen. Auch dein letzter Roman „Die Marschallin“ beschäftigt sich mit Deiner Familie, Deiner Herkunft. Es gibt zwei Philosophien, sich mit seiner Vergangenheit zu beschäftigen. Die eine sagt „Blick nach vorne“, „Bloss keinen Dreck aufwühlen“, „Lass die Vergangenheit ruhen“. Die andere mahnt, dass es keinen klaren Blick nach vorne gibt, wenn das Woher vernebelt ist. Die Politik zeigt uns sehr gut, was mit vernebelten Blicken in die Vergangenheit geschieht. Steckt in Deinem Buch auch ein Stück Mahnung?
Als Mahnung ist es nicht gedacht, höchstens als Mahnung an Autofahrer, verantwortungsvoll zu sein, weil ein Moment der Unaufmerksamkeit viele Leben zerstören oder beenden kann – ein Thema, das in unserer Gesellschaft zu wenig beachtet wird. Das Auto ist eine heilige Kuh. Deswegen habe ich auch Statistiken eingebaut. Aber ja, ich denke, es ist meistens besser, sich dem Vergangenen zu stellen. Allerdings gibt es auch gute Gründe, Dinge ruhen zu lassen, zum Beispiel, wenn sie zu mächtig sind für einen, zu angsteinflössend, einen zu überwölben drohen. Dann kommt vielleicht später der Zeitpunkt, sich ihrer anzunehmen.

Mich erstaunt die Resonanz, die seit dem Erscheinen Deines Romans die Scheinwerfer lenkt. Ist es das Vaterthema? Die Vielfalt an Themen, mit denen Du Dich in Deinem Buch auseinandersetzt?
Das musst du eigentlich die LeserInnen und das Feuilleton fragen. 
Ich denke nicht, dass es das Vaterthema ist, sondern eher die Vielfalt, die daraus folgende Architektur des Textes. Die Konzentration. Die Ehrlichkeit. Und die Dynamik. Es ist ja ein schnelles Buch. Ich versuche, die Leser und Leserinnen mitzunehmen auf meine Reise, lade sie gewissermassen dazu ein, mit mir die Welt zu entdecken, die äussere und die innere, das spüren sie vielleicht. Und es ist versöhnlich (in diesen so unversöhnlichen Zeiten), das haben mir Leute nach der Lektüre geschrieben, tröstlich auch. Es spricht viele Themen an: Verlust, Tod, Alleinsein, Mut, Schuld, Lebenslust, Liebe, Liebe auch zur Landschaft (und zu Hunden), aber auch Dinge wie der Umgang mit demenzkranken Angehörigen und Familie überhaupt. Das sind Themen, die uns alle betreffen, universelle Themen. Da geht es um viel mehr als um meine eigene kleine Biografie. 

Literatur beschäftigt sich immer mit der Frage, dem Thema „Was wäre wenn“. Auch wenn in der Gegenwart das autofiktionale Schreiben die reine Fiktion fast zu verdrängen scheint. So wie in Filmen mit „nach einer wahren Begebenheit“ Sentimentalitäten noch gefühlsschwerer werden. Obwohl Du Dich mit Deiner Geschichte beschäftigst, vermeidest Du alles, was emotional abdriften könnte. Ist dieses „Mäandern“ ein Stilmittel gegen zu viel Emotion?
Sehr schön gesagt. Ich versachliche zu emotionale Themen, zum Beispiel mit der «Liste der eigenen Deformationen». Das wird dann nüchterner. Hätte ich diese Stelle als Fliesstext geschrieben, hätte es ins Weinerliche umschlagen können, ins Sentimentale. So betrachte ich mich von Aussen, nüchtern eben. Ich mag Nüchternheit.

© Zora del Buono

Der „Töter“ Deines Vaters macht im Buch eine erstaunliche Wandlung durch. Nicht er als Person, aber Deine Wahrnehmung, Deine Sicht. War das für Dich im Schreibprozess überraschend? Geschah die Wandlung während des Schreibens oder war sie Teil Deiner Absicht?
Es war für mich die grosse Überraschung. Was ich über ihn rausgefunden habe, hat ihn mir näher gebracht. Ein zeitlebens negativ besetztes Phantom wird im Laufe der Recherche Mensch. Das war bewegend. Auch traurig. Weil ich sah, was die Schuld mit ihm angerichtet hat. 
Es hat sich alles während des Schreibens entwickelt. Drum war das Schreiben auch so schön, weil es für mich selber überraschend war, immer wieder passierten neue Dinge, knüpften sich verblüffende Fäden, geschahen unglaubliche Zufälle, wahrscheinlich, weil ich ganz offen war. Das ganze Buch war ein einziges schnelles Abenteuer. 

Du mischst ganz verschiedene Stilmittel. Manches liest sich wie ein Essay, anderes wie eine Reportage. Man findet Protokolle neben Erinnerungen. Du wolltest nicht in erster Linie die Geschichte Deiner Familie nachzeichnen. Schon gar nicht Verlustschmerz oder den Fall einer fahrlässigen Tötung und deren Auswirkungen beschreiben. War das geplante Absicht oder begann das Buch erst an einem gewissen Punkt Gestalt anzunehmen?
Ich bin eine sprunghafte Person. Diese Textform entspricht meinem Wesen sehr. Ich hüpfe von hier nach da, finde etwas Interessantes, gehe dem nach, kehre wieder zurück und nehme den roten Faden wieder auf, finde wieder etwas Neues, sause hin (auch im wörtlichen Sinn, gehe also raus in die Welt, schaue mir Orte an, rede mit Leuten). So ist auch der Text geworden, das hat sich ganz organisch entwickelt. Zudem liebe ich Bücher mit kurzen Absätzen. Habe ich immer geliebt, das gehört zu meiner literarischen Sozialisation. Das zweite Tagebuch von Max Frisch etwa. Fragmente einer Sprache der Liebe von Roland Barthes oder Träume von Räumen von George Perec. Ich habe sowieso mehrere Seelen in meiner Brust, ich bin Architektin, Redakteurin, Reporterin, Schriftstellerin. Jede von ihnen schaut anders, schreibt anders. Grundsätzlich hat sowieso jede Textform ihre Berechtigung und Schönheit. Und ich konnte einige davon in einem Buch vereinigen, das war herrlich. 

Mit diesem Roman schaust Du in einen Spiegel. Es gibt Menschen, die brauchen den Spiegel bloss, um Pickel auszudrücken oder die Haare zu richten. Die Politik ist voller Menschen, die den Spiegel nur noch für die Frage brauchen „Wer ist die/der Schönste im Land?“. Dein Schreiben ist Selbstreflexion in Reinkultur. War da nie ein bisschen Angst, zu viel preiszugeben?
Doch, natürlich hatte (und habe) ich Angst davor, zu viel preiszugeben. Ich bin sehr nackt in dem Buch. Aber das gehört zum autofiktionalen Schreiben eben dazu. Dass man ein Risiko eingeht.

© Zora del Buono

Zora del Buono, geboren 1962 in Zürich. Studium der Architektur an der ETH Zürich, fünf Jahre Bauleiterin im Nachwende-Berlin. Gründungsmitglied und Kulturredakteurin der Zeitschrift mare. Autorin von Romanen und Reisebüchern.

Zora del Buono „Die Marschallin“, Rezension auf literaturblatt.ch

Zora del Buoni «Hinter den Büschen die Hauswand», Rezension auf literaturblatt.ch

Zora del Buono «Death Valley coffee shock», Gastbeitrag auf der Plattform Gegenzauber

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Stefan Bohrer / Illustration © leale.ch

Tine Melzer «Do Re Mi Fa So», Jungundjung

Diogenes sass in seinem Fass, bei Italo Calvino der Baron auf einem Baum. Bei Tine Melzer bleibt ein Mann in seinem Badezimmer, verlässt es nicht mehr, zieht sich zurück, kapselt sich ab und fröhnt dem süssen Nichtstun, auch wenn sich zusehends Bitternis einmischt. Nach ihrem furiosen Debüt „Alpha Bravo Charlie“ wagt Tine Melzer mit „Do Re Mi Fa So“ ein fast barockes Sprachabenteuer.

Tine Melzer ist nicht einfach Autorin. Sie schreibt nicht einfach Geschichten, will nicht bloss unterhalten. Tine Melzer ist Künstlerin. Die Sprache selbst muss Kunstwerk sein. Die Geschichte ist das Konstrukt, das das Kunstwerk trägt. Aber selbst das Konstrukt, die Partitur dieses Kunstwerks, der Plan, ist Wagnis, Experiment, vielleicht eine Spur Provokation, aber ganz gewiss die Aufforderung, mir selbst den Spiegel vorzuhalten.

„In jeder Rekapitulation steckt eine Kapitulation.“

Sebastian Saum ist erfolgreicher Sänger, ein gefragter Bariton. Er wohnt schon seit Jahren in Symbiose zusammen mit seinem Freund Franz Gold in einem grossen Haus, Franz unten, er oben. Auf der Klingel am Eingang steht Gold Saum. Das Haus ist geerbt. Sebastians Leben läuft in festen, geordneten Bahnen. Er hält sich die Welt auf Distanz.

Eines Morgens, nach einem Bad, beschliesst er, nicht mehr aus der Wanne aufzustehen, liegenzubleiben, zumindest das Bad mit Toilette und Fenster nicht mehr zu verlassen. Eine Laune. Vielleicht der Entschluss, seinem Leben im Stillstand eine neue Richtung zu geben; minimales Risiko mit maximalem Erfolg. Franz hilft ihm dabei, liefert an Decken, Kissen und Fellen, was er braucht, um sich in der Wanne niederzulassen, trägt ihm auf einem Serviertablett Essen und Getränke in die kleine Kammer und nimmt fürs erste hin, was nichts anderes als eine Marotte, eine Verstimmung, vielleicht ein Mini-Burnout sein kann. 

„Fanz ist in perfektem Alter. Wäre er ein Brot, müsste man ihn jetzt aus dem Ofen nehmen.“

Sebastian bleibt nackt. Er gedenkt nicht mehr, sich zu kleiden, zu verkleiden, auch wenn ihm und seinem Freund die Garderobe bisher sehr viel bedeutete, vielleicht gar etwas davon ausmachte, was er als Künstler zu repräsentieren hatte. Zwar liegt da ein Laptop und ein Telefon, aber Sebastian hängt fast immer seinen Gedanken nach. Gedanken, die sich erstaunlich wenig um sich selbst drehen, viel mehr das Nachdenken darüber sind, was sein Leben bisher ausmachte.

Tine Melzer «Do Re Mi Fa So», Jung und Jung, 2024, 192 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-99027-406-4

Das Badezimmer wird zur Inszenierung. Zu einem Protest seinem eigenen Dasein gegenüber. Auch wenn er sich immer mal wieder um seinen Freund sorgt, ob er auch weiterhin auf die Hilfe seines Mitbewohners zählen kann. Wir, die wir Leben und Existenz mit aller Selbstverständlichkeit stets mit Leistung, Fleiss und Erfolg koppeln, werden Zeuge eines Selbstexperiments, einer stillen Demonstration, einer Inszenierung, die sich gegen gesellschaftliche Zwänge wendet, wenn auch nicht gegen aussen. Sebastian denkt nach, macht Listen, über die Kleider in seinen Schränken, über die Tode jener Menschen, die in den letzten Jahren starben, über die schlechte Angewohnheit des Pfeifens, über all die Lieder in seinem Kopf, über Redundanz, über all die Menschen, Freundinnen und Freunde, die er aus den Augen verloren hat. Seltsame Listen, die das Aussen nach innen holen.

„Perfektionismus ist eine Sache von Leuten, die sich ihrer Sache nicht restlos sicher sind.“

Gleichzeitig nagt der Zweifel, klopft der Wahn. Vor der Tür hört er seinen Freund telefonieren, meist mit seiner Schwester. Irgendwann bekommt Sebstian trotz Protest Besuch von einer Frau, die sich im Bad auf den Klodeckel setzt und verkündet, man müsse mit Hilfe von Chemie ein Lösung finden.

„Do Re Mi Fa So“ ist maximal entfernt von autofiktionalem Schreiben. Dieser Roman ist eine Inszenierung. Ähnlich eines begehbaren Bildes. Ich sehe Sebastian Saum in seiner übergrossen Wanne, inmitten von Kissen und Decken liegen, eine Hand lässig über dem Wannenrand, ein Glas Wein auf dem Toilettendeckel. Die Welt kommt nur durch seinen Kopf in diese kleine Kammer, auch wenn das Fenster das eine oder andere Mal offen ist und Sebastian bei seinen zaghaften Turnübungen den Bauer aus der Nachbarschaft arbeiten sieht. Auch hier maximale Gegensätze.

„Das mit der Nähe ist so eine Sache – wer nicht aufpasst, dem drängt sie sich auf.“

Und dann die Opulenz, die Kraft der Farben. Tine Melzers ganz eigenes Gespür für Textilien, Oberflächen, die Haptik. Das Skurrile dieser Inszenierung. Auch hier die maximale Entfernung von einer Welt, die wuselt und stampft. Die maximale Entfernung von dem, was ich als Leser selbst unter Rückzug und Reflexion verstehen würde. „Do Re Mi Fa So“ ist Kunst. Ein Buch, dass es verdient hätte, auf der Liste der Nominierten zum Schweizer Buchpreis zu erscheinen!

© Tine Melzer I Have Changed My Mind 2005 Mann

Interview (mit Arbeiten der Künstlerin Tine Melzer)

Ich las dein Buch ausgesprochen gerne. Nicht zuletzt, weil es sich gleich vielfach von den meisten anderen Büchern, die sich anbieten, unterscheidet.

Danke!

Sebastian Saum ist ein satter Zeitgenosse. Man muss es sich leisten können, für eine unbestimmte Zeit weich gepolstert in seinem Badezimmer abzutauchen, mit Aussicht auf die Wiesen und Felder jener, die eine derartige Pause wohl gar nie verstehen würden. Dabei trägt wohl fast jede und jeder diesen Wunsch mit sich herum, für einmal einfach alles sein zu lassen, die Welt draussen zu lassen, nur seinen Gedanken nachzuhängen. Aber wir leben in einer Gesellschaft, die sich über Leistung definiert, über Erfolg und Resonanz. Die Kunst genauso. Wie weit ist dein Roman eine Versuchsanordnung?
Eine Versuchsanordnung prüft eine Hypothese; in manchem versucht der Roman so etwas. Was wird geprüft? Unser Verantwortungsgefühl, Fragen der Freundschaft und Treue. Mechanismen der Verdrängung und Scham, der Roman ist also auch eine Kritik. Saum ist zwar aus einer Laune in der Wanne gelandet, kommt dann aber nicht mehr so leicht heraus. Er geht von sich selbst aus und landet in einem Karussell der Erinnerungen und Beziehungskonstellationen. Es geht also auch um Entscheidungen und Bedingungen. Er kann es sich leisten, trotzdem läuft er Gefahr, darüber verrückt zu werden, oder depressiv.

Klar, du erzählst eine Geschichte. Sie bleibt seltsam kühl und distanziert. Das Drama, das sich dabei abspielen könnte, ist in den Decken und Kissen in der Badewanne abgefedert. Wer weiss, wäre Sebastian nie mehr aufgestanden. Was wäre geschehen, hätte ihn sein ergebener Freund nicht so fürsorglich unterstützt. Mir scheint, es ging dir gar nicht so sehr um das Drama. War es das Bild, das dich faszinierte, das Gedankenexperiment? Der Typus Mensch, der seine Gedanken in Richtungen schweifen lässt, die überraschend sind? Ging es um die Sprache, die Beschreibungen, die in dem begrenzten Bild des Badezimmers einen ebenso begrenzten Raum benötigen?
Sein Freund rettet ihn zunächst durch seine Bewirtung, versucht immer wieder neue Tricks ihn herauszulocken, ist ohnmächtig und gefangen in dieser neuen Abhängigkeit. Schliesslich rettet er ihn mit dem letzten Mittel, ihn (vorübergehend?) zu verlassen. Das ist natürlich ein Spoiler, nicht verraten. Es geht mir um das Drama, das einsetzt, sobald wir uns mit unseren Zweifeln auseinandersetzen und dadurch die Welt schrumpft oder bedrängend wird. Das steht nicht nur einem bestimmten Typus Mensch zu, alle Privilegierten könnten das, um andere Entscheidungen zu treffen. Und um das Drama, verstanden werden zu wollen. Das Badezimmer ist der ideale (Rückzugs-)Ort dieses Kammerspiels, durch seine Kühle und zugleich Intimität ein passender Ort für diese Parabel, diese Übertreibung. Die Nacktheit ist nicht nur konkret, sondern auch im übertragenen Sinn das, was ihn verletzlich macht.

© Tine Melzer 2018 Protest Nudelhölzerr

Dein Roman ist ausgesprochen stofflich, mehrdeutig gemeint, textil, voll von sinnlichen Beschreibungen. Sprache ist auch ein Stoff, mal seidenweich, mal bretthart, aschfahl oder grell bunt. Dein Erzählen lebt von Listen, Aufzählungen, die sich wie Kaskaden lesen. Faszinierend, aber wohl für viele „Unterhaltungsleser*innen“ fremd. Ist dein Schreiben für dich einfach der sprachlicher Ausdruck deiner Kunst, eine Art Malerei mit Sprache?
Vergleiche, Listen und Ähnlichkeiten sind gute Methoden, um Bedeutungs-Varianten zu zeigen, Verwandtschaften und Gegensätze. Ich suche Pluralität und Mehrdeutigkeit. Auf meinem beruflichen Hintergrund untersuche ich seit langem in verschiedenen Kontexten die Zusammenhänge zwischen verbaler und nonverbaler Sprache, also Bilder in der Sprache. Weniger die Malerei, als die Auffassung von Sprache als (konkretes) Material hat mich zur Literatur geführt. Dort ist die Schrift das Medium, in jedem Satz wird neu verhandelt, wie wir die Sprache als Gewebe zwischen einander nutzen, verstehen, verschieben können. Die Sprache verbindet und trennt gleichzeitig; wo Saum sie wörtlich nimmt, scheinen Bilder darin auf. Die Sprache enthält unser Weltbild. Also sind es eher mentale Bilder, Aha-Erlebnisse, die ich ‘male’. Und die plötzlich nicht nur die Figur betreffen oder treffen.

Ich bewundere Sebastians Freund Franz, der mit ihm unter dem gleichen Dach wohnt, wie lange er mit stoischer Geduld die Eskapde seines Freundes trägt, wie er ihn mit dem Nötigsten versorgt, ihn kulinarisch verwöhnt, bis ihm dann doch ziemlich deutlich der Kragen platzt: „Ich ziehe dich nur nutzlos herum, wie einen toten Elefanten.“ Doch auch ein Satz, der sehr gut ins Argumentarium kulturkritischer Kreise passen würde!
Beide nehmen mehr oder weniger offensichtlich Bezug auf die Rolle der Kunstschaffenden und deren Wert für die ‘Gesellschaft’, die beide alimentiert. Das Essen spielt im Roman eine zentrale Rolle, es verbindet den Menschen mit einem Grundbedürfnis und macht ihn tierähnlich, es ist auch Analogie zur Ermöglichung von Kunst. ‹Aus der Badewanne kann niemand die Welt retten›, ausser es wird darin ordentlich sublimiert, so die Erwartung. Ich schätze Kunst, die aus existentiellen Beweggründen gemacht wird oder unterstützt. Für undogmatische Vielfalt. Und gegen das kollektive Wegschauen. Saum hat also nicht nur Gelegenheit, ’seinen Gedanken nachzuhängen›, sondern gerät an unangenehme Zusammenhänge zwischen sich selbst und der Welt.

Ich liebe dein Buch aus vielerlei Gründen. Nicht zuletzt darum, weil sich in deinem Buch Sätze finden, die ich am liebsten gross an eine Wand schreiben würde. Sätze, die wie Türen wirken, an denen ich kurz verweilen musste, um hineinzusehen oder hineinzugehen. Ist dein Schreiben mehr Lust oder harte Arbeit? Was passiert mit Tine Melzer, wenn sie schreibt?
Die grösste Lust ist das Zusammensetzen der Texte zu einem Gesamtbild. Das Buch ist dann eine Komposition, eine Zusammensetzung wie ein Stück, das dem Publikum überlassen wird, und zugemutet. Ich schreibe nicht ‘plotgesteuert’, ich weiss anfangs nicht, wie sich die Figuren oder deren Handlungen entwickeln werden. Ich folge der Sprache und schaue ihr dabei zu, wie sie sich durchsetzt, sich behauptet, manchmal ‘gegen’ eine Idee oder Geschichte. Wenn ich schreibe, umschwirren mich manche Worte wie Fliegen, die ich aufschreiben muss, damit sie mich in Ruhe lassen. Ich vertraue der Sprache, ja, als Stoff, nehme Worte buchstäblich, folge dem Credo Wittgensteins, dass manches sich sagen lässt, anderes zeigen. Das Schreiben sucht die Grenzen der gewohnten Sprache auf, u.a. weil es materialisiert, wovon wir sonst wenig Zeugnis haben oder ablegen. Die harte Arbeit ist es, den Tag zu überstehen und diszipliniert Nischen zu finden, in denen ich schreiben kann.

© Tine Melzer Dictators 2012

Tine Melzer, geboren 1978, lebt und arbeitet in Zürich. Sie studierte Kunst und Philosophie in Amsterdam, promovierte in Plymouth über Ludwig Wittgenstein und Gertrude Stein und ist Dozentin an der Hochschule der Künste Bern. Ihr 2023 erschienener Debütroman «Alpha Bravo Charlie» wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Franz-Tumler-Literaturpreis, und war für den Rauriser Literaturpreis nominiert.

Webseite der Autorin / Künstlerin

Beitragsbild © Jakub Kovalík

Marica Bodrožić «Das Herzflorett», Luchterhand

Wie sehr Literatur überraschen kann, beweist Marica Bodrožić mit ihrem neusten Roman „Das Herzflorett“. Pepsi ist ein Mädchen, hin- und hergeschoben zwischen Dalmatien und dem bundesdeutschen Hessen. Ein junges Mädchen, eine junge Frau, die sich wehrlos all den Zwängen ihrer Kultur, ihrer Herkunft, ihrer Familie, der Geschichte und den Wirren in ihrem Heimatland ausgesetzt fühlt.

Pepsi ist noch sehr jung, als sich die Eltern der Arbeit wegen Richtung Norden, nach Deutschland auf den Weg machen. Manchmal lebt sie bei der Grossmutter, machmal bei Tanten. Ihre Eltern sieht sie nur ganz selten, wenn sie mit Taschen vollbepackt von dort herkommen, wo sich in der Ferne ihr Leben abspielt. Pepsi hat gelernt, sich in ihrer kleinen Welt zurechtzufinden, genauso wie ihr Bruder und ihre Schwester. Sie fühlt sich oft allein, ein Gefühl, das erst mit den Jahren zu Einsamkeit wird. Liebe zu ihren Eltern gibt es nicht. Das einzige, was im Leben ihrer Eltern zu zählen scheint, ist die Arbeit in Deutschland. So wie Pepsi in einem Leben dazwischen festhängt, so tun es die Eltern. Pepsi gibt sich ganz in die begrenzte Welt um sie herum, die Natur, die feinen Beobachtungen, aber manchmal auch das vielfache Gefühl von Hunger. Pepsi wird nie nur annähernd satt, sei es körperlich, emotional oder geistig.
Auch Pepsis Versuche einer Annäherung, ihre Liebe zu ihrer Mutter anzusprechen, scheitern schmerzlich.

Irgendwann werden die drei Geschwister in ein altes Haus in Deutschland mitgenommen, in eine Wohnung, in der es an allem fehlt, Nähe nur aufgezwungen ist. Das Land, aus dem ihre Eltern zuvor Taschen voller Geschenke mitbrachten, entpuppt sich als grau, fremd und abweisend. Pepsi fühlt sich in der neuen Umgebung noch viel offensichtlicher fremd, als dort in Dalmatien, wo ihr wenigstens die Natur Augenblicke der Geborgenheit schenkte. Pepsi verstummt, trotz der Strenge ihrer Mutter. Erst recht durch den Alkoholismus ihres Vaters, die grünen Flaschen, die den Vater in ein tobendes Ungetüm verwandeln. Einziger Ort, an dem Pepsi Trost und Welt findet, sind Bücher. Erst ein altes Lexikon, das sie verstecken muss, das ihr die Welt der Erwachsenen erschliesst, eine Welt, die ihr in Hessen niemand erklärt. Bücher, Worte, Sätze werden zu einem Tor in eine andere Welt, während die Eltern im Kampf gegen scheinbar drohende Armut immer mehr verhärten. Nur wenn Vater säuft und die Mutter ihren ungefilterten Emotionen freien Lauf lässt, bricht etwas auf. Etwas, das tief verletzt. Nicht nur Pepsi.

Marica Bodrožić «Das Herzflorett», Luchterhand, 2024, 288 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-630-87660-3

Ihre Schwester versucht aufzubegehren, stemmt sich gegen die nicht verhandelbaren Regeln ihrer Eltern. Sie bricht aus. Und als sie zurückgeholt wird, ist sie nicht mehr die selbe, abgesunken in ein tiefes Schweigen, als wolle sie sich ganz auf sich selbst zurückziehen. Pepsi nennt ihre Schwester zärtlich Herzmandel. Aber ihre Schwester scheint ebenso verloren wie sie selbst. Ganz anders der Bruder, der sich als Junge viel leichter in die partiarchischen Strukturen seiner Diaspora einzufügen weiss.

Es sind äussere Begebenheiten, zuerst die Katastrophe von Tschernobyl, später der Jugoslawienkrieg, das Auseinanderbrechen eines Staates, das sich schon lange angekündigt hatte. Die kleine Wohnung in Hessen wird zu einem Dreh- und Angelpunkt vieler Flüchtlinge, die alles verloren haben. Die Familie versinkt in der Pflicht zu helfen und im Kampf selbst überleben zu müssen. Bis sich auch Pepsi mit letzter Kraft aufzulehnen versucht.

„Das Herzflorett“ sticht mitten ins Herz. Dieser Roman ist mit derart viel Empathie geschrieben, das man das Buch zwischenzeitlich weglegen muss. Zum einen die unsägliche Einsamkeit eines Mädchens, einer jungen Frau, zum andern die tiefen Verletzungen durch körperliche und verbale Übergriffe. Und doch schreibt Marica Bodrožić zart, meist in langen Sätzen, voller Bilder, die treffen. Atemlos erzählt, weil die Sprache alles ist, was Pepsi hat, um einer Welt zu begegnen, einer Welt zu entgegenen, die ihr fast keinen Platz lässt. Marica Bodrožić erzählt nicht nur eine schwierige Kindheit und Jugend. „Das Herzflorett“ ist der Palast, den sich Pepsi mit Sprache erschafft.

„Das Herzflorett“ ist ein Geschenk einer Autorin, die mich zu tiefst berührt.

Marica Bodrožić wurde 1973 in Dalmatien geboren. 1983 siedelte sie nach Hessen über. Sie schreibt Gedichte, Romane, Erzählungen und Essays, die in über sechzehn Sprachen übersetzt wurden. Für ihr bisheriges Werk wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Walter-Hasenclever-Literaturpreis, dem Manès-Sperber-Literaturpreis für ihr Gesamtwerk sowie dem Irmtraud-Morgner-Preis. Marica Bodrožić lebt mit ihrer Familie als freie Schriftstellerin in Berlin und in einem kleinen Dorf in Mecklenburg.

«Ich bete mich buchstabenweise ins Nichts»: die Schriftstellerin Marica Bodrožić, von Reinartz, Burkhard /

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Antonio Maria Storch

«Das Linksliegenlassen der Welt ist eine anspruchsvolle Sache» (11)

Lieber Gallus

Erstmals habe ich ein Buch von Arno Geiger gelesen und bin nachhaltig berührt. «Reise nach Laredo» nehme ich immer wieder vom Büchergestell.

Karl hat als König abgedankt, sich in ein Kloster zurückgezogen. Sein hässlicher, stinkender nackter Körper wird ins Bad gehoben, so beginnt dieser Roman. Krank und fiebrig erlebt er dann eine Traumwelt bis zu seinem Tod, wo er sagen kann: Jetzt, Herr, komme ich.

Doch es ist kein historischer Roman, die Fragen, die auf dieser Reise auftauchen, sollte sich jeder von uns stellen, es geht um uns! Das macht das Buch so aktuell. Es geht um das Wesen des Menschseins.

Arno Geiger «Reise nach Laredo», Hanser, 2024, 272 Seiten, CHF ca. 35.00, ISBN 978-3-446-28118-9

Karl erlebt in den Stunden, Tagen bis Laredo erstmals echte Freundschaft und kurze glückliche Momente. Er trinkt, tanzt und fragt sich Beginne ich jetzt zu leben? Was bedeutet das für das Vorher? Die Reise auf einem Pferd durch eine karge, bergige, heisse Gegend wird zu einer schmerzhaften, aber auch versöhnenden Reise zu sich selbst. Die Begegnung mit jungen Leuten und das Trinken im Wirtshaus spiegelt Verpasstes im Leben von Karl, er muss loslassen und gewinnt. Einzigartig die Sterbeszene am Meer: Das war’s.

Was die Mönche in den Händen halten, ist grausam wirklich, ein toter Körper, ein vollständig nebensächliches Ding, in dem alles gestorben ist, auch das Leid, das diesen Körper so zugerichtet hat.

Geschrieben in einer kühlen Sprache, voller realistischer Bilder, teilweise etwas überzeichnet. Die karge baumlose Hügellandschaft im Hintergrund ergibt eine archaische, biblische Atmosphäre. Ein Buch, das auf packende Weise zum Nachdenken anregt.

Ich bin gespannt, was du zu diesem Buch zu sagen hast.
Herzlich

Bär

***

Lieber Bär

Ich besuchte eine Lesung von Arno Geiger in St. Gallen. Er las und erzählte viel von sich. So wie er in diesem «historischen» Roman von sich erzählt. Arno Geiger ist studierter Historiker. Er weiss sehr genau, dass er die Geschichte von Kaiser Karl V nicht einfach «erfinden» kann. Aber Geiger interessiert sich als Schriftsteller nicht für die Geschichte jenes Kaisers (1500 – 1558), der Herrscher über ein Weltreich war. Historiker würden über seinen Werdegang, seine Intrigen, sein politisches Kalkül, seine Kriege berichten. Arno Geiger interessiert sich nur für die beiden Jahre nach seiner Abdankung, nicht für die Zeit mit der Krone, sondern jene ohne. Über einen Mann, so alt wie Arno Geiger selbst, von Macht und zügellosem Leben zerfressen zum Privatmann wird. Mit einem Mal auf sich selbst zurückgeworfen, mit Fragen, die zeitgemässer nicht sein können: Wer bin ich? Was will ich sein? Ein Mann, der sich selbst begegnen will und sehr wohl spürt, dass diese Begegnung nicht ohne ein Gegenüber stattfinden kann.

Eine harte Mission, sich selbst zu begegnen. Mit dem Tod seiner Frau, Königin Isabella, war Karl 38 und trug danach nur noch Schwarz. Unter dem schwarzen Mantel ein Mann von Gicht und Malariaschüben zerfressen. Als Herrscher eines Weltreiches ging es nie um ihn selbst. Karl freundet sich mit seinem elfjährigen Pagen Geronimo an, einem Kind, das nur das Jetzt kennt und ungefiltert zu sprechen wagt. Sie türmen aus dem abgeschiedenen Kloster mit Ross und Maultier Richtung Norden an Spaniens Küste, in die kleine Hafenstadt Laredo. Ein Tripp durch die Wirren der Zeit, ein Tripp, bei dem sich Karl immer wieder in den Begegnungen mit dem menschlichen Elend gespiegelt sieht.

Er habe wenig recherchiert (eine Aussage eines Historikers, die man wahrscheinlich relativieren muss). Aber er brauche einen festen Boden, auf dem er seine inneren Bilder wachsen lassen könne. Es sei auch ein Buch über sich selbst, über das Altern, das Wirken der Selbstreflexion, über das Wissen darum, dass Geist, Körper und Seele nur als Einheit verstanden werden können. Karl weiss, dass er in einem Zwischenreich existiert, nicht mehr der Herrscher, aber auch noch nicht gestorben, einem Fegefeuer mit der Hoffnung auf Läuterung und Erlösung.

Wer den Zenit seines Lebens erreicht hat, weiss, dass es vieles gibt, was nicht mehr zu korrigieren ist. Wer mit Krankheit und langsamem Sterben zu kämpfen hat, hofft unweigerlich auf eine Form der Erlösung. Schon deshalb ein wichtiges und zur Selbstreflexion animierendes Buch. Unbedingt lesenswert.

Liebe Grüsse

Gallus

Arno Geiger, 1968 in Bregenz geboren, studierte Literaturwissenschaft und lebt in Wolfurt und Wien. Er ist Schriftsteller und Videotechniker bei den Sommerfestspielen Bregenz. 1997 erschien sein Debütroman «Kleine Schule des Karussellfahrens». 1998 wurde ihm der New Yorker Abraham Woursell Award verliehen. Für seinen Roman «Es geht uns gut» erhielt er 2005 den Deutschen Buchpreis.