Jürgen Bauer «Portrait», Septime

Bin ich der, der ich sein möchte? Sehen mich meine Mitmenschen, meine Vertrauten so, wie ich mich selber sehe? Welches Bild macht man sich von mir? Wie sehr verstecke ich mich hinter einer Fassade, hinter Pappkulissen? Jürgen Bauer geht in seinem neuen Roman „Portrait“ genau diesen Fragen und vielen mehr nach. Ein kunstvoll konstruierter Einblick in die verwundeten Seelen der Gegenwart.

Das Buch erzählt von Georg, der nach dem Krieg irgendwo in der österreichischen Provinz in einem Bauerndorf aufwächst, zusammen mit seinem älteren Bruder und seiner Mutter, die nach dem Krieg nicht mehr hofft, dass ihr Mann wieder auftaucht. Georg ist anders als sein Bruder, aber wenigstens ein Junge, der auf dem Hof mitanpacken kann, jetzt wo alles auf der Schultern der Mutter liegt und sie zu erdrücken droht. Aber Georg ist nicht wie sein Bruder, auch nicht wie seine Mutter. Er wird auch nicht, was sich die Mutter erhoffte, ganz anders wie der Bruder, der wirklich anzupacken weiss. Georg ist gut in der Schule, ein Einzelgänger, vom Onkel ans Gymnasium geschickt, vom Onkel, der im Hintergrund gerade so viel hilft, dass der Hof mit der Mariedl und den beiden Söhnen nicht untergeht. Georg bleibt weg, studiert an der Universität in Wien, wird ein „Städter“ und taucht kaum mehr auf auf dem Hof, auf dem sich die Mutter abrackert und der Bruder ohne Frau und Familie bleibt.

Das wäre schon Stoff genug; die Entfremdung zwischen Mutter und Sohn, der Alp eines verschwundenen Vaters, der aus der Sicht des Sohnes ein Held des Widerstands ist, aus der Sicht der Mutter ein Versager, einer der seinen Mund nicht halten konnte, der seine Familie im Stich liess. Aber Jürgen Bauer erzählt viel mehr, denn „Portrait“ erzählt nicht direkt von Georg, der sich in der Stadt lieber Schorsch nennt. Jürgen Bauer erzählt die Geschichte, das Leben des verlorenen Sohnes im ersten Teil des Romans aus der Sicht seiner Mutter, im mittleren Teil aus der seines Liebhabers Gabriel und im letzten aus der seiner Ehefrau Sara. Sie alle drei erzählen ihre Geschichte und die Geschichte Georgs. Mariedl aus der Sicht einer verbitterten und hart gewordenen Frau, der nichts geschenkt, aber alles genommen wird. Gabriel aus der Sicht Georgs Liebhabers, eines Wiener Strichjungen, der wie ein Streunender durch sein Leben hechelt, immer auf der Suche nach dem Kick. Und aus der Sicht seiner Ehefrau Sara, die Georg heiratet, weil sie beide die verzweifelte Liebe verbindet, weil Georg eine Frau braucht, um die Fassade in der Hauptstadt aufrecht erhalten zu können und weil Sara einen Mann braucht, der ihr Sicherheit gibt, der sie achtet, den sie formen kann.

Jürgen Bauer «Portrait», Septime, 2020, 305 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-902711-93-9

Jürgen Bauer öffnet in seinem facettenreichen Roman derart viele Räume, dass ich als Leser förmlich hin- und hergepeitscht werde. Nicht zuletzt deshalb, weil Jürgen Bauer die drei Teile in genau dem Ton erzählt, der zu den drei Erzählenden passt. Georgs Mutter Mariedl ist bis auf die Knochen verbittert und enttäuscht. Ihre Sprache, ihr Gestus ist hart, hölzern. Da schwingt nichts mehr mit von Liebe,Verständnis, Fürsorge oder Hoffnung. Das Leben ist blosser Kampf, nichts als harte Arbeit, weit weg von allem, was an Liebe erinnert. Sie macht auch nie einen Hehl daraus, dass sie das Leben ihres jüngeren Sohnes missraten findet, so wie das Leben ihres nichtsnutzigen Ehemannes, der in den Wirren des Krieges verschwand.
Georgs Liebhaber Gabriel wächst auch auf dem Land auf, entflieht diesem, weil er genau weiss, dass er mit seinem Schwulsein nur in der Stadt, in der Hauptstadt das findet, wonach der permanente Durst ihn treibt. Gabriels Sprache ist schnodderig, ungehemmt, seine Gedanken kreisen zumindest in seiner ungestümen Jugend nur um das Vergnügen, den nächsten Rausch. Wien ist sein Tummelplatz, auch wenn man ihm in den 70ern in den Wiener Gassen ungehemmt nachschreit, solche wie ihn hätte man gescheiter alle vergast.

Und Sara? Sara ist Bankierstochter, ursprünglich aus reichem Haus in Amsterdam, in Wien hängen geblieben, weil sie sich eine Karriere als Opernsängerin erhoffte, es aber nie reichte, zum einen weil ihr Aussehen den Massstäben nicht entsprach, zum andern aber auch ihre Stimme. Und weil Sara genau merkt, dass Georg in seinem Leben eine Stütze, einen Halt, Rückendeckung braucht, weil er Karriere macht und ihn sein Kippleben zwischen Laster und Fassade zu zerreissen droht, ist sie die, die sich als Ehefrau anbietet. Sie erzählt als die Gebildete, die Frau, die alles unter Kontrolle zu halten versucht, weil sie aus Erfahrung weiss, wie tief man fallen kann.

„Portrait“ schildert das harte Leben einer Alleingelassenen im Nachkriegseuropa, das bittere Dasein aller nicht Heteros in den 70ern und 80ern, erst recht, als die „Schwulenpest“ Aids all jenen in die Hände spielte, die schon immer wussten, was richtig und falsch ist und den Leidensweg einer Frau, die nie dort ist, wo sie sein will, der der Kampf um Sicherheit, ihr Kampf um ihr Leben wird.

Sie alle erzählen von Georg. Einem Mann, der sich nach nichts mehr sehnt, als dort zu sein, wo man ihn nimmt, wie er wirklich ist, den Ort aber nie findet. Der es nie schafft, als „verlorener Sohn“ zurückzukommen, der sich immer verstecken muss, nie genügt, nie ankommt. „Portrait“ ist harte Kost, ein Sittengemälde der jüngsten Vergangenheit. Virtuos geschrieben, ganz nah am Leben, unmittelbar!

Interview

Sie erzählen Georgs Geschichte, ohne direkt von ihm selbst zu erzählen. Seine Geschichte aus drei verschiedenen Perspektiven, aus der Sicht jener, die ihm am nächsten kommen. Georg ist aus verschiedenen Perspektiven aber nicht immer der selbe Georg. So wie wir selbst aus der Perspektive aller, die uns kennen oder von uns wissen, ganz verschieden sein können. Selbst die Sicht auf sich selbst kann mit einem Mal zu wanken beginnen, durch Lebenskrisen, markante Einschnitte. Ist jede Person nur ein Konstrukt aus Wahrnehmung und Inszenierung?

Selbstgemalte Kleinigkeiten – im Lockdown anlässlich des Buches gemalt © Jürgen Bauer

Es ist eine uralte Frage, ob es das Ich überhaupt gibt – und wenn ja, welches Ich. Da braucht man nicht bis zu Kleists «Amphytrion» zurückgehen. Ich wollte es eine Nummer kleiner haben … Ausgangspunkt des Romans war die Beobachtung, dass selbst engste Freunde und Familienmitglieder völlig unterschiedliche Beschreibungen widergeben, wenn sie einen Menschen portraitieren sollen. In «Portrait» ist das ins Extrem getrieben: Ein Mann, der selbst nicht mehr weiss, wer er ist, weil er der Welt zu lange so viele verschiedene Gesichter präsentiert hat. Und das kombiniert mit der Frage, ob wir überhaupt von anderen Menschen erzählen können – oder insgeheim doch immer von uns selber reden, wenn wir ein fremdes Leben widergeben. Ob das heisst, dass wir alle nur Konstrukt und Inszenierung sind? Ich tu mir schwer mit so allgemeinen Aussagen. Bei «Portrait» ist es jedenfalls so, und es hat einen riesen Spass gemacht, das zu schreiben – mit all den literarischen Verwirrungen, die man daraus basteln kann. 

Geschichten vom Widerstand während des Nationalsozialismus kennen wir. Georgs Mutter, die erste, die in Ihrem Roman von ihrem missratenen Sohn erzählt, ist eine vom Leben gestrafte Frau. Verbittert und vernarbt. Ihr Mann, untergetaucht, weil er „den Mund nicht halten konnte“, liess sie damals schwanger mit Hof und Familie allein. Eine Frau, die sich selbst nach dem Krieg noch gestraft fühlte. Das zeigt sich auch in der Erzählstimme. Gab es da ein reales Vorbild, einen Sound im Ohr? Mit Jahrgang 1981 muss eine solche Stimme wie aus einem anderen Jahrtausend „klingen“.

Notizbücher © Jürgen Bauer

Die Stimme Mariedls klang beim Schreiben nie fremd, im Gegenteil! Meine Grosseltern väterlicherseits hatten einen Bauernhof im Burgenland, in einem kleinen Dorf. Ich kenne den Klang, die Redensweise. Meine Grossmutter, andere Verwandte, Dorfbewohner – sie alle habe ich «angezapft». Und musste dennoch viel recherchieren. Es gibt, den Archiven sei Dank, viele Bücher, auch Ton- und Videoaufnahmen von alten Bäuerinnen. Mir war es extrem wichtig, die Stimmen der drei Erzähler genau zu treffen. Ich hasse Bücher mit verschiedenen Ich-Erzählern, die schlussendlich alle wie die Autorin oder der Autor klingen. Es war die Hauptarbeit im Schreibprozess, die Stimmen zu entwickeln.

Georg ist schwul. Er wächst nach dem Krieg in einem Dorf auf, in dem ein solches Anderssein mehr als bloss ein Makel ist. Dazu die Ablehnung und das Gefühl des permanenten Nicht-Genügen, dass von seiner Mutter über ihn gegossen wurde. Da muss unweigerlich ein Trauma wachsen. Er lernt in Wien Gabriel kennen. In einer Stadt, die seine Feindschaft der Homosexualität gegenüber ganz offen und in aller Hässlichkeit zeigt. Noch immer ist die Stigmatisierung des „Ungewöhnlichen“ tief im Menschen verankert, auch wenn eine gewisse Öffnung zu spüren ist. Glauben sie an eine Gesellschaft, in der Menschen als das geschätzt werden, was sie sind?

Ich weiss nicht, ob wir je für das geschätzt werden, was wir wirklich sind. Wir spielen meist Rollen – und die sind gesellschaftlich geprägt. Sogar die Befreiung der Schwulen und Lesben war ja nur möglich, weil diese Gruppen plötzlich für ihre Kaufkraft geschätzt wurden – ökonomische Gründe spielen bei gesellschaftlicher Anerkennung ja immer eine Rolle! Wer Geld hat, wird geschätzt. Wie schon Pollesch sagt: «Liebe ist kälter als das Kapital.» Aber der Roman zeigt ja nicht nur die Ablehnung, sondern auch die anarchische, lustvolle, verspielte Schwulenszene der siebziger Jahre. Es hat Spass gemacht, die wilden Aktionen, Bälle, Proteste zu beschreiben, den Zusammenhalt und Streit der Szene. Wir werden vielleicht nicht von allen akzeptiert für das, was wir sind – aber von manchen schon. Und Qualität ist besser als Quantität. Für alles andere muss man kämpfen – und die besonders Bornierten reizen, provozieren, ihnen metaphorisch ins Gesicht schlagen, wie mein Erzähler Gabriel sagen würde.

Georg tut fast alles, um seine Fassade aufrecht zu halten. Das tat schon seine Mutter auf ihre eigene Weise. Das tut Georgs Freund Gabriel und Georgs Frau Sara. Künstler tun es sehr oft auch. Man pflegt das Klischee des Übermenschen. Schwäche, Unsicherheit, Zweifel kaschiert man gerne mit dicker Fassade. Selbst Schriftstellerinnen und Schriftsteller tun es mit jovialer Geste am Fernsehen, in Talkshows oder im Feuilleton. Belügen wir uns selbst?

Jürgen Bauers Kunstwand als Inspiration © Jürgen Bauer

Ich habe das Gefühl, dass es in Zeiten von Social Media und medialer Dauerpräsenz eine Gegentendenz gibt. Die dauernde Selbstentblössung, das Zu-Markte-Tragen der eigenen Verletzungen, das Zu-Geld-Machen des eigenen Lebens inklusive aller Verletzungen. Es wurde fast zum Imperativ: Sei du selbst, zeige dein Innerstes. Nicht umsonst ist der Buchmarkt voll mit Authentizitätsliteratur, mit Ich-Büchern. Das wollte ich nicht bedienen. Vielleicht ist es nicht die schlechteste Entwicklung, Masken als Schutz und Selbstschutz zu nutzen. Extreme sind selten gut – und die Figuren in «Portrait» kämpfen darum, zwischen Verlust des Ichs und völliger Selbstentblössung einen Weg zu finden, den sie leben können. Sara zum Beispiel gelingt das ja ganz gut, den Umständen entsprechend.

Sara heiratet Georg. Eine Ehe als gegenseitige Sicherheit, als Rückendeckung, Eckpfeiler einer perfekten Kulisse. Und gleichzeitig akzeptiert Sara die Lüge, weil sie weiss, dass sie zum Gefüge ihrer Ehe gehört, ein Teil des Fundaments ist. Wir verbinden Lüge mit Unwahrheit, dabei baut jede und jeder an seiner Lebenslüge. Ist die Lüge nicht Teil des menschlichen Seins? Viel mehr als eine lasterhafte Sünde?

Ich habe nichts gegen die Lüge. Man kann in der Gesellschaft nicht ohne Lüge leben. Wenn man immer man selbst ist, erträgt man die Verletzungen irgendwann nicht mehr. Lügen können helfen, Schmerz zu vermeiden – und anderen Schmerz zu ersparen. Und manchmal macht das Lügen, das Maskenspiel, das Vortäuschen ja auch einfach nur Spass. Wie immer macht die Dosis das Gift!

Welches Buch hat sie in den letzten Monaten aus den Socken gerissen? Und warum?

Annie Ernaux – «Die Scham»
Weil sie ein riesen Einfluss für mich war. Weil sie die eigene Psyche seziert – und dazu die ganze Gesellschaft. Weil sie über Klasse schreiben kann, wie das nur Franzosen hinkriegen, neben ihr Didier Eribon, Eduard Louis usw…

Gabriele Kögel – «Gipskind»
Weil es Parallelen zu meinem Roman gibt, der dann doch ganz anders ist. Weil sie mich zum Weinen gebracht hat, ohne kitschig zu werden. 

 Christoph Szalay – «Raendern»
Weil er Heimat definiert und seziert, weil die Sprache dieses Textes zwischen Lyrik und Prosa einfach der Wahnsinn ist.

 Und noch viele andere: Sandra Gugic, Helena Adler, Dennis Cooper – dessen „Die Schlampen“ zum Beispiel ist ein wildes, dreckiges Gegenbeispiel zu den gerade so beliebten „braven“ Romanen über schwules Leben von zumeist heterosexuellen Frauen 😉

© Daniel Schönherr

Jürgen Bauer wurde 1981 geboren und lebt in Wien. Im Septime Verlag erschien sein Debütroman «Das Fenster zur Welt» und drei weitere Romane. Im Rahmen des Studiums der Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien, Amsterdam und Utrecht spezialisierte er sich auserdem auf Jüdisches Theater und veröffentlichte hierzu zahlreiche Artikel und Buchbeiträge. 2008 erschien sein Buch «No Escape. Aspekte des Jüdischen im Theater von Barrie Kosky» in der Edition Steinbauer. Jürgen Bauer erhielt zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen, 2014 unter anderem ein Aufenthaltsstipendium des Literarischen Colloquiums Berlin. 

Rezension von «Ein guter Mensch» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Alexa Hennig von Lange «Die Wahnsinnige», Dumont

Johanna von Kastilien war Königin von Kastilien, Aragón und León. Als sie 1555 starb, hatte sie fast 50 Jahre in einem Kloster verbracht. Nicht etwa aus Frömmigkeit, sondern weil das Leben sie in jene Isolation getrieben hatte – nicht die einzige Isolation, die die Frau erdulden musste. Mit „Die Wahnsinnige“ schrieb Alexa Hennig von Lange einen beeindruckenden Roman über ein exemplarisches Opfer der Geschichte.

Königin oder König sein. Uneingeschränkt regieren über Land und Untertanen. Ein Reich nach eigenem Gutdünken formen und gestalten. Eine beinahe kindliche Illusion! Johanna von Kastilien wurde 1479 in Toledo geboren, war Tochter von Königin Isabella I, die drei Jahrzehnte lang, bis zu ihrem Tod 1504 auf der spanischen Halbinsel gestreng und mit eiserner Hand regierte. Mutter Isabella beschäftigte sich viel mehr mit ihren Aufgaben als Regentin und führte die Inquisition ein, als dass sie eine liebende und sorgende Mutter gewesen wäre. So sehr ihr Leben in die Zwänge einer Königin eingespannt war, so sehr machte sie das Leben ihrer Tochter Johanna zu einer ungebrochenen Folge von Fremdbestimmung und Zweck. Nicht verwunderlich, dass Johanna schon früh als introvertiert, sensibel und verschlossen galt.
Sehr jung verheiratete man sie aus strategischen und politischen Gründen mit Philipp dem Schönen. Eine Ehe, die durchaus mit heftigen Gefühlen füreinander einherging, aber auch mit ebenso leidenschaftlicher Eifersucht, denn ihr Gemahl Philipp nahm den Treueschwur alles andere als ernst. Johanna gebar in der Folge sechs Kinder. Kinder, denen sie eigentlich eine gute Mutter sein wollte, denen sie all das geben wollte, was ihr ihre eigene Mutter verweigerte. Aber weil Johannas Wesen unberechenbar zu sein schien, sperrte man sie in die Festung La Mota in Kastilien, weit weg von ihren ersten Kindern, die in Flandern bei Gouvernanten am Hof ihres Ehemannes aufwuchsen.  

Alexa Hennig von Lange «Die Wahnsinnige» Dumont, 2020, 208 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-8321-8127-7

Alexa Hennig von Lange setzt mit ihrem Roman in jenen Tagen ein, in denen Johanna klar wird, dass die Festung La Mota nicht Zwischenstation ist, sondern ein Gefängnis, sie die Geisel der Politik ihrer Mutter. Dass man sie im ganzen Land „Die Wahnsinnige“ nennt, ist ebenso Strategie wie Verurteilung. Wen wundert es aus heutiger Sicht, wenn man Regentin ohne Macht ist, von seinen Kindern, der Liebe abgeschnitten, mehr bewacht als umsorgt und von den Priestern ihrer Mutter zur Beichte gedrängt und bedrängt.

Aber warum einen Roman schreiben, der im ausgehenden Mittelalter spielt? „Die Wahnsinnige“ ist ein Roman über das Leben einer Frau in den Zwängen von Geschichte, Politik und Gesellschaft. Solche Schicksale sind mit dem Mittelalter nicht verschwunden. „Die Wahnsinnige“ ist der Roman über eine starke Frau, die alles daran setzt, aus den ihr vorbestimmten Wegen auszubrechen, die ein eigenes, selbstbestimmtes Leben führen will und daran scheitert. Auch solche Geschichten sind Tatsache in der Gegenwart. Und es ist die Geschichte einer jungen Frau, einer jungen Mutter, die bereit ist, alles daran zu setzten, nicht in die Fussstapfen anderer treten zu müssen. Eine Geschichte der Emanzipation. Bin ich, was ist will? Lebe ich jenes Leben, das es sein sollte? Was zwängt und bedrängt mich, damit ich bleibe, wo ich bin?

Johannas Rolle als Königin war ein Fluch, hat ihr Leben zu einem einzigen Martyrium gemacht. Alexa Hennig von Langes Roman ist fiktionale Geschichte. Ich als Leser begleite das Leben Johannas derart nahe, dass es schmerzt. „Die Wahnsinnige“ ist ein universales Muster des Scheiterns. Alexa Hennig von Langes Johanna ist knapp über zwanzig und leidet an all dem, was das Leben einer jungen Frau traumatisch machen kann. Johanna von Kastilien lebte ein Leben lang auf dünnem Eis mit der ständigen Angst einzubrechen, unsäglich weit weg von den Menschen, die ihr am Ufer dieses kalten Sees zuschauen.

„Ich glaube, ich wär eine gute Regentin.“

Alexa Hennig von Lange, geboren 1973, wurde mit ihrem Debütroman «Relax» 1997 zu einer der erfolgreichsten Autorinnen ihrer Generation. Es folgten zahlreiche weitere Romane, Erzählungen, Theaterstücke und Jugendbücher. 2002 wurde Alexa Hennig von Lange mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Bei DuMont erschienen die Romane «Risiko» (2007), «Peace» (2009), «Kampfsterne» (2018) und «Die Weihnachtsgeschwister» (2019). Die Schriftstellerin lebt mit ihrem Mann und ihren fünf Kindern in Berlin.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Marcus Höhn

Annette Mingels «Dieses entsetzliche Glück», Penguin

Annette Mingels schrieb mit „Dieses entsetzliche Glück“ einen Episodenroman. Fünfzehn Geschichten, fünfzehn Leben. Leben, die oftmals ganz nah aneinander vorbeischrammen, sich für kurze Zeit mehr oder weniger begegnen. Leben, denen man aus verschiedenen Perspektiven begegnet, als würde man von Person zu Person springen und sich durch den Kosmos einer Kleinstadt tragen lassen. Grossartig gezeichnet!

Hollyhock liegt irgendwo in Virginia. Aber Hollyhock liegt überall, genauso in Schlesien oder im Thurgau, irgendwo, etwas abseits, ziemlich weit weg von der nächsten grossen Stadt und in der letzten Zeit ganz ordentlich gewachsen. Eine Kleinstadt, in der alle alle kennen, in der nur wenig verborgen bleibt, und wenn es aufbricht, dann weil es ein Leben lang moderte. 

«Ich bin zurück», flüsterte er, und als ihre Augenlider flatterten, lehnte er sich dicht neben sie, einen Arm um sie geschlungen, als könnte er sie beide auf diese Weise retten.»

Man lebt während Jahrzehnten in einer Beziehung, um dann irgendwann festzustellen, dass es das falsche Leben war, dass man austreten will. Nicht weil Hass, Enttäuschung oder Verzweiflung alles verändert, sondern weil mit dem Auszug der Kinder die alles bestimmende Aufgabe genommen wurde, die Aufgabe, die alles zusammenhielt.
Man lebt sein Leben lang ein Leben, dem man eigentlich eine andere Richtung geben will.
Man lebt ein Leben, in das man hineinrutschte, dass irgendwann wie ein fremder Mantel zu seinem eigenen wurde, der aber doch nie passte, zu gross, zu klein, oder einfach falsch.
Eine Ehe zerbricht, weil die eine Seite sich von der andern Seite abwendet, weil man im Bruch von Konventionen Auffrischung erhofft, die dann aber mehr zerstört als zulässt.

«Und nachdem sie einige Minuten auf dem Sofa gesessen und geweint hatte, verliess sie das Haus, das ganz so aussah, als wäre nichts geschehen.»

Annette Mingels «Dieses entsetzliche Glück», Penguin, 2020, 352 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-328-60100-5

Annette Mingels beschreibt die amerikanische Mittelschicht. Man lebt in guten Berufen, verdient gutes Geld, lebt in grossen, manchmal auch viel zu grossen Häusern. Die Strassen sind sauber und in den Gärten wehen die Wimpel zu den Präsidentschaftswahlen vor vier Jahren. Trotzdem fehlt den Menschen die Zufriedenheit, das Glück. Es sind bloss ganz kurze Momente, die das Glück ausmachen und sie stehen in keinem Zusammenhang mit Status, Erfolg, nicht einmal mit der Liebe zu anderen Menschen. Annette Mingels beschreibt Menschen, die nicht angekommen sind, die sich in Umlaufbahnen verlieren.

«Sie stellte ihn sich vor: einsam und nass. Den Kopf vorgereckt, irgendetwas witternd, bereit zur Flucht.»

Wer eine in sich geschlossene Geschichte erhofft, wird enttäuscht sein. Aber genau dieses scheinbar Zufällige macht den Reiz dieses Romans aus. Er zeigt genau das; wie jeder von uns in seinem Leben eingespannt ist. Man begegnet Menschen und ihren Geschichten. Die einen haben mit den anderen zu tun, die Getroffenen selbst sehen sich nur aus der Distanz. Ich mache mir mein Bild, mache mir Geschichten, mache mir meinen Reim. Keine einzige Geschichte, nicht einmal die eigene, erzählt sich chronologisch. Die Chronologie zwingt sich durch unseren Ordnungswillen auf.

«Hinein ins Helle und Warme. Wenigstens für kurze Zeit.»

Was bei Annette Mingels Erzählen beeindruckt, ist ihre Nähe zu den Personen und ihr Geschick, sich nicht durch Deutung und Psychologie aufzudrängen. Jede Episode hat das Zeug zu einem ganz eigenen Drama; Dramen, die ausbrechen, Dramen, die sich anbahnen, Dramen, die sich abwenden oder ersticken. Jede dieser Episoden hätte das Potential zu einem eigenen Roman.

Manchmal, wenn nachts der Zug in einer Vorstadt stehen bleibt und man mit einem Mal die Gelegenheit hat, in die hell erleuchteten Wohnungen hineinzublicken, sucht der Blick nach den kleinen und grossen Theatern, die sich im Scheinwerferlicht der Normalität abspielen. Annette Mingels tut genau dies. Sie blickt hinein. Sie tut es ohne Voyeurismus, tut es mit aller Behutsamkeit. Der Titel des Romans „Dieses entsetzliche Glück“ beschreibt genau jenen Kippzustand, jenen Moment, der je nach Perspektive in ganz anderm Licht steht, dann ist der Titel zu diesem äusserst gelungenen Kunstwerk perfekt.

«Dieses entsetzliche Glück, hier zu stehen und Kenji wieder nah zu sein.»

Und dann sind da die letzten Sätze zu den Geschichten, von denen einige hier in die Rezension eingefügt sind. Wie die leuchten!

Interview

Sie lebten in Deutschland und in der Schweiz und seit ein paar Jahren in San Francisco. Warum ist Ihr Roman ausgerechnet in Virginia angesiedelt?

Vor einiger Zeit wohnte ich für zwei Jahre in der Nähe von New York – es war eine Gegend, die ich von meiner Kindheit her kannte; meine Verwandten lebten dort und ich hatte sie mehrere Male besucht. Mir waren von damals viele Erinnerungen geblieben und eine Vorliebe für die kleinen Städte im Osten des Landes. Virginia habe ich während einer Reise kennen gelernt, und als ich nach einem Ort in Amerika suchte, an dem mein Roman spielen könnte, kam mir eine Kleinstadt dort in den Sinn. Hollyhock ist eine Mischung aus Realem, Erinnertem und Imaginiertem geworden.

Ihr Roman ist aufgebaut wie ein „Episodenfilm“. Als ich vor bald zwanzig Jahren den Film „L.A. Crash“ sah, war der Film eine Offenbarung. Auch wenn die Dramen in ihrem Episodenroman viel subtiler und stiller sind – was reizte Sie an dieser Erzählform?

Ich habe zwei literarische Vorlieben, die Eingang in das Buch fanden: in stilistischer Hinsicht liebe ich sowohl den weiten Bogen des Romans als auch die Pointiertheit der Kurzgeschichte; ein Episodenroman kann beides wunderbar verbinden. Und in inhaltlicher Hinsicht liebe ich die Darstellung konkreter Personen, konkreter Lebensumstände, die den Fokus eher auf den Einzelnen als auf das grosse Ganze richtet. Ich mag es sehr, Personen in kurzen Episoden nahe zu kommen – es sind Einblicke in verschiedene Leben, nichts ist auserzählt. Den Film „L.A.Crash»  kenne ich nicht, aber den Film „Shortcuts“ habe ich damals sehr gemocht.  

Ihr Roman spiegelt das Leben einer gehobenen Mittelschicht in den USA. Ist er jene Gesellschaft, weil Sie ein Teil dieser sind oder weil es eine wegbrechende Spezies ist?

Es ist nicht nur die gehobene Mittelschicht, die vorkommt, sondern auch eher einfache Leute, wie eine Drogeriemitarbeiterin oder ein Schreiner. Aber es stimmt schon: Ich habe nicht über Leute am Rand der Gesellschaft geschrieben, und auch die meisten Probleme, die ich darstelle, sind nicht extrem – auch wenn sie sich für den Einzelnen bisweilen so anfühlen können. Ich gehe beim Schreiben nicht so rational vor, dass ich mir vorher überlege, über welche Gesellschaftsschicht ich schreiben möchte. Es ist mehr so, dass mir ein Bild, eine Situation, eine Figur in den Kopf kommt, und sich daraus eine Geschichte entwickelt, die mich bisweilen selbst überrascht. Und das sind dann vielleicht tatsächlich eher Themen und Personen, die mir irgendwie vertraut sind. Zudem habe ich gewisse Hemmungen, über Dinge zu schreiben, die ich nur von aussen beobachtet oder mir angelesen habe.

Obwohl Sie ganz nah gehen, verlieren Sie sich nie in Details. Trotz der Nähe bleibe ich als Leser auf Distanz, weil sie weder deuten noch erklären, schon gar nicht psychologisieren. Wie sehr mussten Sie sich während des Schreibens vor allzu grosser Nähe zu Ihrem ProtagonistInnen „schützen“?

Irgendwo habe ich mal gelesen, dass man über eine Figur, über die man schreibt, viel mehr wissen muss, als man dann in der Geschichte selbst beschreibt. So ist das bei mir auch: viele meiner Figuren, eigentlich alle, sind mir sehr vertraut, aber nicht alles an ihnen breite ich für den Leser oder die Leserin aus, es schwingt eher mit. Die Konkretion, mit der ich die Figuren in ihrem Handeln vor mir sehe, verhindert vielleicht, dass ich als Erzählerin zu sehr erkläre und erläutere: es ist mehr so, dass ich das, was ich vor meinem geistigen Auge sehe, hinschreibe. Am ehesten kann man das vielleicht mit einem Film vergleichen, in dem ja auch mehr gezeigt als erklärt wird. 

Und doch spürt man wenig von dem, was man als Europäer nach den vergangenen Präsidentschaftswahlen beinah befürchtete; diesen Riss durch die Gesellschaft, der ein Land zu spalten droht. Ist das nur die Sicht aus der Ferne oder Realität?

Ich glaube durchaus, dass es diesen Riss gibt – und nicht erst seit Trump. Es gibt zahlreiche politische und soziale Gründe dafür – angefangen beim Zweiparteiensystem über ein insuffizientes Gesundheitssystem bis hin zu den Bildungseinrichtungen, die je nach finanzieller Situation der Eltern ganz unterschiedliche Möglichkeiten bieten. In meinem Buch gib es schon ein paar Hinweise auf ethnische, ökonomische und soziale Gefälle, aber diese sind meist auf den Kosmos der Kleinstadt beschränkt. Eine Analyse der amerikanischen Gesellschaft zu geben, war nicht mein Anspruch – ich traue es mir als Europäerin auch nicht zu. Ich beschränke mich in meinem Schreiben auf die privaten Konflikte und Nöte der Figuren, wobei diese ja durchaus von gesellschaftlichen Faktoren beeinflusst sind. Hätte ich dieses Buch in den letzten Monaten und nicht schon im vergangenen Jahr geschrieben, würden politische Themen jedoch wohl mehr Eingang gefunden haben, ganz einfach, weil die Politik und ökonomischen Nöte in 2020 ein dominanteres Thema für jeden Einzelnen hier in den USA waren. 

Welches Buch aus Ihrem Bücherregal lässt sie momentan nicht los?

Ich lese gerade das neue Buch von Ali Smith, „Winter», und die neue Erzählsammlung von Richard Ford „Irische Passagiere“. Beide liebe ich sehr – Ford für seine Eleganz, die er in Kurzgeschichten viel eher hat als in seinen viel zu langen Romanen. Und Smith’ Bücher liebe ich dafür, dass sie so seltsam sind; sie haben stets etwas leicht Skurriles an sich, das man nicht so recht zu fassen bekommt.  

Annette Mingels, geboren 1971 in Köln, studierte Germanistik, Linguistik und Soziologie in Frankfurt, Köln, Bern und Fribourg. Promotion in Germanistik. Nach Stationen in der Schweiz, in Montclair (USA) und Hamburg lebt sie seit Mitte 2018 mit ihrem Mann Guido Mingels und den drei Kindern in San Francisco.

Rezension von «Was alles war» von Annette Mingels auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Hendrik Lüders

Polly Clark «Tiger», Eisele

Weit draussen in der sibirischen Taiga stirbt die Gräfin, ein mächtiges Tigerweibchen, deckt mit ihrem gewaltigen Leib und ihrem zerschundenen Schädel den ebenfalls toten Körper eine Frau zu, die ihr Gewehr kurz vor ihrem Tod durch die Wucht des Zusammenstosses mit dem wilden Tier in den Schnee geworfen hatte. Ein tödliches Duell zweier wilder Kreaturen. Der Gräfin, die ein Junges zurücklässt und Edit, die zehn Winter in den Wäldern der Taiga überlebt hatte und ihre Tochter Sina zurücklässt.

Der Amurtiger ist die grösste lebende Raubkatzenart der Welt und lebt in der russischen Taiga bis nach China und Nordkorea. Selbst für die Udehen, ein indigenes Volk im Südosten Sibiriens, bei denen der Tigerkult eine besonders wichtige Rolle in ihren Traditionen spielt, bedeutet eine Begegnung mit dem Tiger nichts Gutes. Und das absichtliche Töten eines Tigers gilt als grösstes Verbrechen.
Ausgerechnet Edit, eine Nachfahrin jener Udehen, muss im Kampf ums Überleben ein Tigerweibchen töten um ihre eigene Tochter vor dem Tod zu schützen. Sie, die von ihrem trinkenden Mann flüchtete und von ihrem Vater auf die Reise geschickt wurde. Sie, die zehn Jahre allein mit ihrem Mädchen in den unwirtlichen Wäldern Sibiriens überlebte und nur deshalb ein Opfer dieses Kampfes wurde, weil ihr eigenes Blut aus ihrem Unterleib floss. Weil sie aus Angst, zusammen mit ihrer Tochter an Hunger sterben zu müssen, sich an einem von der Tigerin gerissenen Bären gütlich tat. Sie beide kämpften um ihren Nachwuchs. Sie beide bezahlten mit ihrem Leben und liessen ihren Nachwuchs im eisigen Winter der Taiga zurück.

Frieda, eine englische Primatenforscherin, die das Verhalten der Bonobos studierte, verliert ihre Stelle, weil sie sich an den Vorräten von Morphin und anderen Substanzen an ihrem Arbeitsplatz bediente, um ihren Hunger nach alles durchdringender Ruhe zu stillen. Nur mit Hilfe eines Freundes findet sie einen Arbeitsplatz in einem privaten Zoo, wo ein ehrgeiziger Direktor durch den Zukauf eines Amurtigers hofft, Staatsgelder und Ruhm zu gewinnen. Sie, die sich eigentlich viel lieber den Bonobos widmen würde, wird vom Zoodirektor verknurrt, sich einem ausgezehrten und entkräfteten Amurtiger anzunehmen. Eine angezählte Wissenschaftlerin, eine angezählte Tigerdame. Was sich auf Augenhöhe zu einer Beziehung entwickeln könnte, wird im Geruch fliessenden Blutes zur Katastrophe.

Polly Clark «Tiger», Eisele, 2020, Deutsch von Ursula C. Sturm, 432 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-96161-099-0

Tomas, der in Diensten seines Vaters in der sibirischen Taiga eine Station betreibt, mit der die Population der Amurtiger gefördert werden soll, ein Reservat inmitten von Wäldern, die den Interessen von Profit und Privatwirtschaft preisgegeben sind, ist in den Wäldern unterwegs, um Fotofallen zu installieren und Informationen zu Tigerfährten zu sammeln. Im Camp seines Vaters hat sich ein General angekündigt, den man von der Wichtigkeit des Unternehmens überzeugen will, nicht zuletzt darum, weil man sich die Zuwendung Putins erhofft oder dereinst vielleicht sogar seinen Besuch von ihm im Camp. Nur weg von seinem Vater kann Tomas frei atmen. Und je weiter er sich vom Camp seines Vaters entfernt, desto öfter steigen Bilder in ihm empor, die von all dem erzählen, was Iwan, sein Vater vernichtete, allem voran eine Liebe und eine Familie. Bis Tomas die Fährte der Gräfin aufnimmt, einer Tigerin, die mit ihren zwei Jungen nach Nahrung sucht. Aber die Fährte des einen Jungen ist mit Blut getränkt. Und als Tomas mitten im sibirischen Nirgendwo den Kadaver des einen, bis auf die Knochen abgemagerten Jungen findet, ahnt er, dass sich nicht weit ein Drama abspielt.

Polly Clark erzählt von Beginn weg ganz unterschiedliche Geschichten, die alle um Tiger kreisen, jene königlichen Gestalten, die sich wie Geisterwesen durch die Tiefen der Tundra bewegen; Tiger in Freiheit, Tiger in Gefangenschaft, Tiger, die man allem beraubt, was sie als stolze Wesen in den Weiten Sibiriens ausmacht. Erst mit fortlaufender Lektüre erschliesst sich der Zusammenhang der verschiedenen Erzählstränge, klärt sich das Muster, mit dem Polly Clark ihren grossartigen Roman aufbaut. „Tiger“ packt mich von der ersten Seite weg. Ich spüre den heissen Atem des Tigers, die staubtrockene Winterkälte der sibirischen Tundra und rieche den Schweiss im Wams des Jägers. „Tiger“ ist betörend und erfüllt das reisserische Versprechen auf dem Cover!

© Polly Clark

Polly Clark wurde in Toronto geboren und lebt abwechselnd an der schottischen Westküste und auf einem Hausboot in London. Ihre Lyrik wurde mit bedeutenden Preisen ausgezeichnet, und ihr erster Roman «Larchfield», für den sie den MsLexia Prize gewann, u.a. von Margaret Atwood, John Boyne und Richard Ford hochgelobt. Während ihrer Arbeit als Wärterin im Edinburgher Zoo begann sie sich für den vom Aussterben bedrohten Sibirischen Tiger zu interessieren. Für die Recherchen an «Tiger» reiste sie in die russische Taiga, wo sie im tiefsten Winter bei Temperaturen von -35°C lernte, wie man die Spur eines Tigers verfolgt. «Tiger» stand 2019 auf der Shortlist für den Scottish National Book Award.

«Tiger», übersetzt von Ursula C. Strum

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Polly Clark

Frédéric Zwicker «Radost», Zytglogge

Fabian verliert seinen Job bei einer Lokalzeitung. Und weil ihm der Zufall eine Reise schenkt, macht er sich mehrfach auf; zweimal an den Strand von Sansibar und viel länger als beabsichtigt nach Zagreb, einer Stadt, die ihn aufnimmt und ihm etwas schenkt, was in seinem Städtchen zuhause nicht erreichbar schien. Frédéric Zwickers zweiter Roman „Radost“ berührt.

Fabian gewinnt eher zufällig einen Weihnachtswettbewerb: Einen Flug nach Sansibar und sechs Nächte Unterkunft im Hotel Emerson Spice in Stone Town. Fabian fliegt hin, weil es eine Schande gewesen wäre, das Geschenk in den Wind zu schlagen und weil er Mahmut, seinen Nachhilfeschüler nicht enttäuschen wollte, der für ihn beim Wettbewerb mitgemacht hatte.
 In Sansibar am Strand lernt er einen aufdringlichen, lauten Landsmann kennen. Einen Schweizer im Massai-Kostüm, mit Kurzschwert an der Hüfte und langem, dünnen Gehstab. Es bleibt nicht die einzige Begegnung zwischen Fabian und Max, dem auf- und abgedrehten Landsmann am Stand. Fabian rettet ihm wahrscheinlich sogar das Leben, denn der «weisse Massai» bleibt nach zwei Messerstichen im Sand liegen.
Jahre später, nach einem Konzert von Johan, Maxens Bruder, treffen sich die beiden wieder im „Ochsen“ und Max schlägt ihm vor, nachdem Fabian eine durchaus erfolgreiche Reportage über ihn, den seltsamen Landsmann geschrieben hatte, eine Biographie über ihn zu schreiben. Fabian ahnt, dass er sich in eine wirre Geschichte hineinziehen lassen könnte, lehnt vorerst ab. Aber nachdem seine Stelle in einer Lokalzeitung nach der Fusion mit einer andern Lokalzeitung den „Synergien“ zum Opfer fällt, wird aus dem schnell abgelehnten Angebot ein Rettungsanker. Max stammt aus reichem Haus! Sein Vater war Besitzer einer kleinen aber feinen Privatbank!

Frédéric Zwicker «Radost», Zytglogge, 2020, 288 Seiten, CHF 32.00, ISBN 978-3-7296-5055-8

Max ist nicht irgend ein Max. Max tritt auch nicht einfach so als weisser Massai am Stand von Sansibar auf. Max ist ein Getriebener, ein von einer Krankheit Gebeutelter: Er leidet unter schizoaffektiven Störungen, macht sich in manischen Phasen zum Narren. Max erklärt: „Es kommt mir vor, als gingen die Menschen in unserer Gesellschaft alle gradeaus, mit ausgestreckten Speeren. Wenn jemand aus dem Trott fällt, stehen bleibt oder die Richtung wechselt, wird er aufgespiesst.“ Das ist seine positive Sicht. Doch Max endet des öftern im Abseits; auf dem Polizeiposten, im Gefängnis oder in der Klinik. Und weil sich Max durch das Suchen und Finden eines anderen Klärung in seinem Leben verspricht, soll Fabian sein Biograph sein, Nachforschungen darüber anstellen, was in jenen Zeiten geschah, als das Leben von Max aufgespiesst wurde.

Fabian bekommt Geld, Kontaktdaten, Adressen und macht sich auf, weil auch sein eigenes Leben aus Tritt und Trott gefallen ist, auf die Spurensuche eines seltsamen Zeit- und Artgenossen. Zurück ins reiche Elternhaus, ins Nobelinternat in St. Gallen, seinen ersten Emanzipationsversuchen. Schlussendlich wird daraus eine Radtour über Kärnten bis nach Zagreb und wieder zurück an den Stand von Sansibar, wo zwei Messerstiche beinahe das Ende bedeutet hätten.

Fabian macht sich auf, weil ihn die Reise lockt, das Abenteuer, die Spur, das Fremde. Diese eine verrückte Radost nach Zagreb, für mehrere Monate weich finanziert in einer Stadt, die er bisher nur mit Trainerhosentypen verband und  für ihn wie damals für Max zur Offenbarung wird. Er, dem es bisher nicht leicht fiel, Freundschaften zu schliessen, wird Teil einer ganzen Klicke, lernt Ana kennen, taucht ein in fremde Leben, erfasst immer mehr von Mad Max, macht eine Reise; eine Reise für Max, die dieser nicht zu tun vermag, eine Reise für sich, weg aus seinen starren Banden und eine Reise in die Welt – über Zagreb bis nach Sansibar.

„Radost“ heisst auf kroatisch „Freude“. Und es macht Freude, in Frédéric Zwickers zweiten Roman einzusteigen, um sich eine Reise lang in seinen Windschatten zu begeben. Wie schon in seinem Debüt „Hier können Sie im Kreis gehen“ erzählt Frédéric Zwicker witzig und pointenreich. „Radost“ löst die Rätsel um Max nicht. Max bleibt ein Rätsel, so wie letztlich alle Rätsel bleiben, selbst die nächsten, selbst jene, an die man sich verliert. Frédéric Zwickers Reise ist nicht überfrachtet, bleibt behutsam. Wer erfahren will, erfährt unweigerlich auch vieles über sich selbst. Wer aufbricht, gewinnt immer, wenn auch nicht dort, wo man sich den Gewinn erhofft.

Interview mit Frédéric Zwicker:

Dass es Sansibar und Zagreb sein müssen, scheint alles andere als zufällig. Ich weiss, dass es dich vor allem musikalisch in den vergangenen Jahren immer wieder nach Zagreb gezogen hat. Aber warum Sansibar? Liegt es an der Magie des Namens, der, zumindest für mich, Sehnsucht suggeriert?

Im Jahr 2013 war ich für einen sechsmonatigen Arbeits- und Reiseaufenthalt im östlichen und südlichen Afrika unterwegs. Zwei Wochen verbrachte ich auf Sansibar. Dort hörte ich die Geschichte der falschen Massai, also jener Männer, die keine Massai sind, sich aber als solche verkleiden, um erfolgreicher im Souvenir- und im Sextourismus-Geschäft zu sein. Diese Geschichte ging mir nicht mehr aus dem Kopf und wurde zur Initialzündung für «Radost».
Sansibar steht für mich in gewisser Weise stellvertretend für die Erfahrungen, die ich während meiner Afrika-Reise in sechs verschiedenen Ländern machte. Meine Vorstellungen und Vorurteile zerschellten täglich an den Realitäten, denen ich begegnete. Da liegt für mich die Parallele zu Zagreb und zu Ex-Jugoslawien. Auch dort zeigte die intensive Auseinandersetzung mit Menschen und Kultur bald, dass mein Balkan-Bild völlig klischiert und verzerrt gewesen war.
Die Magie des Namens, wie du es nennst, spielte aber durchaus auch eine Rolle. Ich wollte sie einem kritischen Blick unterziehen und schauen, was am Ende davon übrigbleibt.

Max beauftragt Fabian, über ihn eine Biographie zu schreiben. Max ist aber weder uralt noch berühmt. Er braucht diesen Text wahrscheinlich nur, weil er sich selbst verstehen will, sein Leben, seine Krankheit, seine Aussetzer, das, was er durch sein Tun auslöste und bewirkte. Und Max hat Geld. Ist dein Schreiben auch der Auftrag an dich, dein eigenes Leben besser zu verstehen? Eine Art Sicht von „aussen“?

Nein. Mir geht es beim Schreiben nicht um mich, auch wenn der Einfluss, den ich mit meinem Denken und Fühlen auf meine Texte habe, natürlich gross ist. Aber umgekehrt ist das auch der Fall. Ich bin für die Arbeit an „Radost“ mit dem Velo von Rapperswil nach Zagreb gefahren, habe dort ein halbes Jahr, auf Sansibar fünf Wochen gelebt und gearbeitet. Das hätte ich nicht getan, wenn ich nicht dieses Buch hätte schreiben wollen. Mein Leben beeinflusst also mein Schreiben, mein Schreiben aber auch mein Leben. Durchs Schreiben lerne ich so durchaus sehr viel über mich. Das ist aber nur da und dort das, was am Ende zwischen den Buchdeckeln steht.

Das „Städtchen“ hier und Zagreb dort. Das eine Rapperswil, das andere eine Metropole. Was hat das eine, was dem andern fehlt?

Zuerst eine Parallele: In beiden Städten gibt es Menschen, die sich für eine vielfältige, kritische Kultur interessieren und einsetzen. Und da wie dort gibt es politischen Widerstand gegen zu viel Lebendigkeit. Aber in Zagreb ist das kulturelle Angebot viel reichhaltiger als hier. Es gibt dort mehr Freiräume, auch wenn sich meine Freunde in Zagreb darüber beklagen, dass diese ständig schrumpfen. Ebenfalls ein Unterschied: In Rapperswil sind fast alle Häuserfassaden makellos. Zagreb bröckelt vielerorts. Könnte es sein, dass die Fassade in der Schweiz generell wichtiger ist als in Ländern, wo die Wirtschaft nicht gar so tonangebend ist?

Ist Max erfunden oder ein Zusammenzug verschiedenster Charakteren? Oder steckt in dieser nur schwer fassbaren Person gar ein Spiegelbild?

Max ist inspiriert von einem Freund von mir. Der war nie in Sansibar und hat Zagreb das erste Mal gesehen, als er mich dort besucht hat. Auch seine Familiengeschichte, wie sie im Buch dargestellt ist, ist frei erfunden. Aber im Kern ist Max› Biographie, die Fabian im Buch recherchiert und aufschreibt, eine wahre Geschichte.
 

Max passt nicht in die von unserer Gesellschaft vorgegebenen Schemen. Zumindest dann nicht, wenn ihn seine Krankheit packt und Dinge tun und sagen lässt, die sich allen Konventionen entziehen. Dabei tragen doch die meisten Menschen die Lust mit sich, aus Konventionen auszusteigen, sei es auch nur für einen kurzen Moment, alle Hemmungen zu verlieren. Wie sehr rüttelt diese Lust an dir? Ist deine Musik ein Ventil dafür?

Der Ausbruch aus der Norm ist etwas, was mich schon in meiner Kindheit antrieb. In der ersten Klasse sang ich dem Samichlaus vor versammelter Klasse eine Version von „Was isch das für es Liechtli“ vor, bei der der Samichlaus am Ende stirbt. Der Lehrer rief meine Mutter an und klagte, ich hätte etwas wahnsinnig Schlimmes gemacht. Sie dachte an sexuellen Missbrauch oder schwere Körperverletzung und konnte das Lachen knapp unterdrücken, als er ihr erzählte, was passiert war. Solche Geschichten gibt es viele. Und ja, meine Musik und die Auftritte auf der Bühne sind sicher auch von der Lust am Unkonventionellen und auch an der Hemmungslosigkeit geprägt. Allerdings bin ich in den letzten Jahren viel ruhiger geworden. Mein Interesse am Unkonventionellen ist aber unvermindert gross.

Welcher Buchtitel lässt dich warum nicht los? Welcher Song?

Das kann ich eigentlich unmöglich beantworten, weil es von beidem zu viele gibt. Aber wenn ich ein Buch nennen müsste, wäre es wohl «Frederick“ von Leo Lionni. Ich habe das Bilderbuch über die Maus, die keine Nüsse, dafür Farben und Wörter sammelt und Geschichten erzählt, zur Taufe geschenkt gekriegt. Wundersamerweise wurde es mir ein wenig zur Biographie.

Und ich entscheide mich für den Song „Ovaj ples dame biraju“ der wohl berühmtesten jugoslawischen Rockband „Bijelo Dugme“. Das war eines der ersten jugoslawischen Lieder, die ich hörte. Später befasste ich mich intensiv mit der Musik Ex-Jugoslawiens. Es lohnt sich sehr, das Musikvideo zum Song auf Youtube anzuschauen.

Frédéric Zwicker als Bandmitglied von «Hekto Super» mit «Kleine Männer»

Frédéric Zwicker, geb. 1983 in Lausanne, aufgewachsen in Rapperswil-Jona am Zürichsee, wo er heute wieder lebt. Er studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie. 2006 gründete er die Band ‹Knuts Koffer›. Seit 2008 ist er Kolumnist bei der ‹Linthzeitung› und der ‹Südostschweiz Glarus›. Er arbeitete u.a. als Werbetexter, Journalist, Reisejournalist in Ostafrika, Musiklehrer, Slam-Poet, Pointenschreiber für die Satiresendung Giacobbo/Müller, Drehbuchautor. Sein Romandebüt «Hier können Sie im Kreis gehen» erschien 2016 bei Nagel & Kimche.

Rezension von «Hier können Sie im Kreis gehen» auf literaturblatt.ch

Samira El-Maawi «In der Heimat meines Vaters riecht die Erde wie der Himmel», Zytglogge

Ein Vater zieht für seine Familie von Sansibar in die Schweiz. „Langsam aber sicher verwurzelt er sich“, verspricht die Mutter, eine Schweizerin. Aber der Mann von der Insel vor Tansania bleibt auf einer Insel. Einer Insel, von der sich seine Familie, seine Frau und seine beiden Töchter ausgeschlossen fühlen. Eine Insel, der sich die Schweiz verweigert.

Speziell, dass man einen Roman vorgesetzt bekommt, der mit einer Anmerkung beginnt, als wolle man mit einem Beipackzettel vor allfälligen Nebenwirkungen warnen. Aber mir wird mit einem Mal bewusst, was „Weiss“ und „Schwarz“ als Begriffe alles mit sich herumschleppen, ganz besonders dann, wenn sie eine Unterscheidung in Sachen Hausfarbe beschreiben wollen. Unterscheidungen, die es doch eigentlich gar nicht gibt, denn die eigentlichen, die wirklich unterscheiden, die trennen und innerhalb der Gattung Mensch unvereinbar machen, sind jene in den Köpfen und Herzen. Nicht die sichtbaren, sondern die unsichtbaren Unterscheidungen. Nicht die scheinbar offensichtlichen, sondern die verborgenen, die die gären, motten und die Seelen von innen zerfressen.

„Meine Hautfarbe läuft überall mir mir mit, und alle sehen sie zuerst.“

Samira El-Maawi «In der Heimat meines Vaters riecht die Erde wie der Himmel», Zytglogge, 2020, 144 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-7296-5049-7

Vielleicht handelt der Roman von Samira El-Maawi davon. Von der Kluft, die das Schubladendenken aufreisst, der menschliche Zwang, alles Leben in Kategorien aufzuteilen und die daraus resultierende Versuchung, dieses Leben auch noch in eine Art Rangliste zu setzen, das eine Leben wertvoller einzustufen als das andere. Eine Diskussion, die sich unendlich ausbreiten und ausweiten lässt. Aber vielleicht ist Samira El-Maawis Roman auch gar kein Roman im herkömmlichen Sinn, sondern vielmehr eine buchlange Meditation darüber, was es heisst, in einer Familie aufzuwachsen, in der der Vater seine Wurzeln im afrikanischen Sansibar weiss und die Mutter eine Schweizerin ist, die alles dafür gibt, den ignoranten Blick auf den Kontinent Afrika aufzuweichen. Der Vater ein Entwurzelter, die Mutter eine Aktivistin.

„Die Wut steckt meinen Vater in ein Gefängnis.“

„In der Heimat meines Vaters riecht die Erde wie der Himmel“, erzählt die Tochter aus der Familie im Buch. Von der Sehnsucht überall, der Sehnsucht zuhause zu sein, zusammen zu gehören, sicher zu sein. Sie erzählt aus der Sicht einer jungen Frau oder eines reifen Mädchens, einer Zehnjährigen, die genau spürt, wie zerbrechlich und fragil ihre Welt ist, wie sehr sie bedroht wird. Ihr Vater, ein gelernter Chemiker bekommt in der Schweiz nur Arbeit in einer Grossküche, in der er sich streng an die Vorgaben seines Vorgesetzten zu halten hat und nicht einmal die Salatsosse um die Nuance eines Gewürzes verändern darf. Einziger Ort, an dem ihr Vater seine Freiheit ausleben kann, ist die Küche zuhause. Dort ist sein Labor. Dort lassen sich die Gerüche seiner Heimat herstellen. Dort schreibt ihm niemand etwas vor. „Dort koche ich mir die Schweiz zur Heimat.“ 

Die Mutter versucht alles, um der Familie Halt zu geben. Sie besucht zusammen mit ihrem Mann Schulen und Kindergärten, sie als Afrikaspezialistin, er als Einheimischer aus Sansibar. Dazu trägt sie Mutter Massai-Armbänder und schlingt sich über Jeans und Bluse eine Kanga, ein rechteckiges, buntes Baumwolltuch. „Die Kanga macht sie zu einer weissen Afrikanerin.“ Ein Versuch aber, der keinen Frieden stiftet im Kampf ihres Vaters; keine Wurzeln schlagen zu können mit der Angst, am andern Ort die letzten Wurzeln zu verlieren. Ihr Vater verschwindet, nachdem er wegen einer Bagatelle arbeitslos geworden ist. Mit einem Mal ist er weg. „Mein Vater hat mein Land mitgenommen.“ Und die Erzählerin fürchtet, dass dies nur ein weiterer Schritt in einer endlos scheinenden Kette von Katastrophen sein wird.

„Gott ist für meinen Vater ein Ausländer.“

„In der Heimat meines Vaters riecht die Erde wie der Himmel“ ist immer wieder durchsetzt von Sätzen, die wie Mantras auftauchen und manchmal ist ein Satz wie ein Monolith aus einer Seit ganz allein. Eine Geschichte, aus der die Autorin nicht aussteigen kann. Eine Geschichte, die einem bewusst macht, wie zerbrechlich das Fundament einer Zehnjährigen sein kann und wie viel Kraft eine junge Seele aufbringen muss, um zusammenzuhalten, was auseinanderzubrechen droht. Nicht nur in ihrem Umfeld, sondern in ihr selbst. Ein wichtiges Buch, weil es von der Ignoranz einer Mehrheit erzählt und dem Schmerz eines jungen Menschen, der sich wie ein Schwelbrand in ein Leben hineinbrennt. Und nicht zuletzt beschreibt Samira El-Maawi die Ausgrenzung aus ihrer eigenen Familie mit Beschreibungen, die mir unter die Haut fahren, die mich anders sehen lernen.

Ein wichtiges Buch zur richtigen Zeit!

© Daniel Meurer

Interview mit Samira El-Maawi:

Sie erzählen Ihren Roman aus der Sicht einer Zehnjährigen. Warum diese Perspektive und nicht die einer erwachsenen Frau?

In meiner Arbeit ist es mir wichtig, auch ernsthafte Dinge zu thematisieren, diese aber in einer Leichtigkeit. Ich möchte nicht moralisieren oder die Welt von oben herab erklären. Deshalb drehe und wende ich die Thematik so lange in mir, bis sie kompakt wird, so, dass ich sie quasi transformiert habe. (zum Beispiel die Widersprüche, die Ungerechtigkeiten, die da sind und meine Stimme nicht mehr brauchen, weil sie eigenständig wirken), bis ich sie selber so verarbeitet habe, dass ich sie leicht, ja vielleicht sogar verspielt aus mir herausgeben kann; oder manchmal auch, bis ich weiss, wie ich darüber schreiben kann, sodass wir uns berührt, aber nicht angegriffen fühlen.

Für diese Geschichte suchte ich deshalb eine Sprache, die es mir ermöglichte, beobachtend und nicht bewertend zu schreiben. Ich musste an den Kern gelangen. Ich schälte das Thema, aber auch die Sprache und vermutlich auch die Perspektive, und so kam ich darauf, dass ich in dieser Perspektive am besten schreiben kann. Aber auch einer der Gründe aus einer Kinderperspektive zu schreiben war, dass es mittlerweile schon einige Bücher aus der Perspektive erwachsener Menschen gibt. Ich wollte grundlegend anders an das Thema rangehen. Diese Perspektive schenkte mir eine Freiheit, und so wie es aussieht, auch den Leser*innen.

Ich las Ihren Roman nicht wie einen Roman sonst. Ihr Buch erschien mir viel eher als Vatermeditation. Eine Vatersuche nach innen. Gab es später dann auch die Vatersuche nach aussen?

Die Bezeichnung „Vatermeditation“ ist interessant. Stimmt, die Erzählerin sucht ihren Vater, obwohl er ja physisch anwesend ist. Sie will ihn verstehen, seine Geschichte, ihre andere Seite, seine Heimat, die sie nur durch das Kochen, die Düfte kennt. Ob sie ihren Vater später suchen wird – das weiss ich nicht – dafür müsste ich einen Folgeband schreiben, denke aber nicht darüber nach.

Ich unterrichte an einer Schule, an der auch nicht-weisse Kinder zur Schule gehen. Mit ihrem Buch glaubte ich, etwas von ihrer Verunsicherung in ihrem Blick interpretieren zu können. Liegt nicht genau hier eine Gefahr, wenn Leserinnen und Leser plötzlich glauben, verstehen zu können? Gibt es Verstehen?

Ja, ich glaube es gibt ein Verstehen. Verstehen hat ja auch mit Zuhören zu tun; und Zuhören mit darauf eingehen, ernst nehmen, innehalten, über den Tellerrand hinwegsehen. Darin sehe ich also keine Gefahr, natürlich ist es kein selbst durchlebtes Verstehen. Aber um das geht es ja auch nicht. Die Gefahr lauert dort, so finde ich, wenn Leser*innen denken, es seien einfach Geschichten von Betroffenen, sich zwar von ihnen berühren lassen, aber nicht in die Reflexion gelangen, dass man selber etwas damit zu tun hat. Für mich gehört die Selbstreflexion dazu, nur so kann aus dem Verstehen Bewegung entstehen.

Ihr Buch ist eine Meditation über den Schmerz. Vielfachen Schmerz. Und doch spricht weder Bitterkeit noch Verbitterung. Umso mehr eine ungeheure Kraft und die unbeugsame Hoffnung, den Vater auch in seiner Distanz nicht zu verlieren. Wie viel potenziellen Schmerz man in Vaterschaft mit sich herumträgt, weiss ich als Vater erwachsener Kinder sehr wohl, denn wenn Kinder erwachsen werden, werden die Versäumnisse eines Vaters „unbarmherzig“ gespiegelt. Haben Sie sich mit diesem Buch emanzipiert?

Das Buch ist ja keine 1:1 Biografie, ich hätte es aber vor ein paar Jahren nicht so schreiben können, weil ich selber in einem Prozess war: als Tochter, als Schwarze Schweizerin, als Autorin, als Frau.

Ich sehe es so, dass ich mich mit diesem Buch als Schwarze, Schweizerin und als Autorin emanzipiert habe. Ich habe mir Platz genommen und mir selber eine Stimme gegeben. Jedes Kind muss oder sollte sich irgendwann eine eigene Stimme geben.

Eine Ehe zwischen einem Afrikaner von Sansibar und einer Schweizerin und eine gewachsene Familie mit zwei Töchtern sieht aus wie „fleischgewordene Völkerverständigung“. Was braucht es wirklich?

Oh eine schwierige Frage, auf die ich keine wirklich gute Antwort habe, weil ich selbst viele Fragen noch mit mir herumtrage. Sicherlich braucht es das Wissen, dass es um Entwurzelung geht, dass es auch um Abhängigkeit und Macht gehen kann, natürlich abgesehen von der Liebe und der Verbundenheit!

Was waren die Widerhaken im Schreiben an diesem Buch?

Sich immerzu in eine Kindersprache zu bewegen und den Stil durchzuziehen, mit dem Wissen, dass es keine gängige Form ist. Mir treu zu bleiben, egal was die anderen sagen, egal, dass es ein experimentierfreudiges Buch wird und eine Kinderstimme vielleicht weniger ernst genommen wird. 

Aber auch, dass ich einerseits politisch korrekt bin und anderseits das Thema so behandeln wollte, wie es sonst weniger behandelt wird. Mein Anspruch war auch innerhalb des Familiensystems zu zeigen, was ist, wenn ein Elternteil das Kind nicht stärkt, es mit reinzieht in sein Dilemma. Also nicht nur die Gesellschaft nicht entpowernd ist, sondern auch die Familie.

Grundlegend wollte ich in keinen Kampf treten, sondern still hinhalten und diese Stille aushalten, wie auch zutrauen. 

Lesetipp von Samira El-Maawi: Leslie Feinberg «Stone Butch Blues – Träume in den erwachenden Morgen», Krug & Schadenberg, 2020, 480 Seiten, CHF 23.90, ISBN 978-3-930041-35-0

Welches Buch lässt Sie nicht los?

„Stone Butch Blues – Träume in den erwachenden Morgen“ von Leslie Feinberg. Es geht um Zugehörigkeit, um Ausgrenzung, um die Stärke in der Gemeinschaft, um eine Welt, die noch nicht bereit war für Diversität – ein Stück Zeitgeschichte. Es ist ein Buch, das berührt und zeigt, wie sich ein Mensch trotz Widrigkeit seinen/ihren Platz, seinen/ihren Raum einnimmt. Ein erstaunliches und mutiges Buch!

Samira El-Maawi, geboren 1980 im Kanton Zürich, absolvierte eine 3-jährige Detailhandelslehre, produzierte danach ihren ersten Dokumentarfilm. Es folgte das Grundstudium an der F&F Filmklasse, Tätigkeiten als Regieassistentin beim Theater und als Casting-/Produktionsassistentin bei Werbefilmen. Sie arbeitete als Schreibcoach und Projektmitarbeiterin im Arbeitsatelier «Verein leben wie du und ich». Heute coacht sie Schreib- und psychosoziale Prozesse und ist als freischaffende Autorin tätig.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Franziska Reichel

Sandra Gugić «Zorn und Stille», Hoffmann und Campe

Man findet sich, lernt sich zu lieben, bekommt Kinder, kleine, zarte Geschöpfe. Man sieht die Kinder wachsen. Sie werden zu Jugendlichen, zu Erwachsenen. Und mit einem Male muss man sich eingestehen, sie ganz loslassen zu müssen, vielleicht sogar verloren zu haben, unwiederbringlich. Und wenn hinter dem Ganzen auch noch ein Krieg sein Gift über die Familie speit, dann ätzt sich der Schmerz tief in die Seelen.

Davon erzählt Sandra Gugić, vom Zersetzungsprozess in einer Familie. Ein Prozess, der nicht selbst gewählt wird, für den man in den meisten Fallen nicht die Schuld allein trägt, weil man immer Teil eines Ganzen ist, Teil einer Geschichte, Teil einer Gesellschaft, Teil eines Prozesses in einem Land und dessen politischen Wirren. Wie sehr „Zorn und Stille“ die eigenen Erlebnisse der Autorin umsetzt, ist irrelevant. Aber weil Sandra Gugić ihre Geschichte so sehr vorstell- und nachvollziehbar macht, wird ihr Roman exemplarisch für all jene Familien, die in den Stürmen ihrer eigenen Geschichte auseinanderbrechen, in denen sich all die einstmals guten Absichten ins Gegenteil umzukehren scheinen.

„Wahrscheinlich sind wir alle ebenso verbunden, wie wir voneinander getrennt sind, ob wir es nun anerkennen oder nicht.“

Billy Bana ist Fotografin, eine junge Frau, die die Welt durch ein Okular sieht, ein Auge das immer einzurahmen versucht, zu inszenieren. Fotografie als Versuch der Ordnung. Aber Billy Bana ist auch auf der Flucht, aus der Ordnung geraten. Auf der Flucht vor sich selbst und ihrer Geschichte. Billy Bana hiess einst Biljana Banadinović, die ihr Familienband abreissen liess, um unter anderem Namen eine neue Existenz als Künstlerin aufzubauen. Sie liess abbrechen, sogar ihre starke Bindung zu ihrem jüngeren Bruder, mit dem sie sich als Kind unzertrennlich fühlte. Mit siebzehn verlässt sie das Elternhaus, um nicht wiederzukehren. Einziger Fixstern in Billys neuem Leben ist Ira, eine junge Frau, in die sich verliebt, die einzige, von der sie sich ganz verstanden und „gelesen“ fühlt.

„Mein Leben bestand aus … versteckten Räumen, doppelten Böden und gesiegelten Perspektiven.“

Sandra Gugić «Zorn und Stille», Hoffmann und Campe, 2020, 240 Seiten, CHF 35.90, ISBN 978-3-455-00976-7

Der Ausbruch aus ihrem Elternhaus war ein Bruch mit dem nach totaler Integration trachtender Eltern, von Eltern die sich ihrer Herkunft aus Exjugoslawien mit allen Mitteln zu entfernen versuchten. Biljanas Eltern wurden ihr peinlich, fremd. Als Billy versucht sie sich  zu emanzipieren, scheint ihr das zu gelingen, auch wenn ihre Eltern auf die ihr jeweils eigene Art versuchen, die Bande nicht gänzlich reissen zu lassen. Bis zu dem Moment, wo Billy erfährt, dass ihr Vater gestorben und ihr kleiner Bruder nach einem letzten Treffen mir ihr spurlos verschwunden ist. Jene neue Ordnung, die sie aufzubauen versuchte, zerbricht. Ist ihr Bruder Opfer eines Verbrechens oder Opfer seiner selbst? Hat sie nicht wahrgenommen, dass ihr eigenes Leiden das ihres Bruder verdeckte?

„Alles, was wir machen, tun wir nur, um glücklicher zu werden. Selbst derjenige, der sich umbringt, tut das, weil er glaubt, im Tod glücklicher zu sein.“

Alles in Billys Leben ist flirrend. Das einzige, was klare Konturen bekommt, sind ihre Fotografien. Sandra Gugić erzählt aus den Perspektiven aller in der Familie. „Zorn und Stille“ ist ein Erklärungsversuch – keine Erklärung. Ebenso ein Versuch, Ordnung in ein Lebenschaos zu bringen, wie es das Fotografieren oftmals versucht. Eine Auslegeordnung, denn hinter den verkrampften Integrationsbemühungen Billys Eltern stecken wiederum Geschichten, setzt sich fort, was sich über Generationen anbahnte, glüht weiter, was in der Vergangenheit brannte. Auch das Leben ihrer Mutter Azra und das ihres Vaters Sima war ein Versuch sich zu emanzipieren. Aber weil der Mensch nur den nebelhaften Rauch sieht, verschwindet der Nachhall jener Feuer, die in der Vergangenheit brannten.

„Vielleicht hätte er besser achtgeben müssen und versuchen, all die Augenblicke und kleinen Ereignisse zu bemerken, die Veränderungen zu lesen, die sich ankündigten.»

Sandra Gugić beschreibt unsägliche Momente, schildert Situationen, die sich einprägen, weil sie stellvertretend sind für vieles, was Leserinnen und Leser in ihrem eigenen Leben gespiegelt finden. Unauslöschlich der Moment, als Billys Vater am Tag vor ihrem 18. Geburtstag ein Treffen mit seiner Tochter provoziert und ihr in einem Café ein dickes Kuvert über den Tisch schiebt auf dem in Blockbuchstaben Alles Gute steht. Was als Versuch der Annäherung beginnt, als linkischer Liebesbeweis, als Rückeroberung, wird zum unverzeihlichen Fiasko.

„Zwischen den Farben und dem Lärm des Draussen habe ich die Vergangenheit vorsichtig begraben.“

Ich las den Roman unter Schmerzen, weil ich sie alle verstand und verstehe. Die nach Freiheit ringende Tochter, die verzweifelnden Eltern, den halt- und ratlosen Bruder. Sandra Gugić schreibt mit inniger Empathie ohne je die Grenze zur Sentimentalität zu überschreiten. „Zorn und Stille“ beschreibt schon im Titel wie weit es der Schriftstellerin gelingt, den Bogen zu spannen. Auch wenn sie alle scheitern, tun sie es nicht in der Ansicht zerstören zu wollen. Alles ist ein Schrei nach Liebe.

Grossartig!

«Zorn und Stille» auf dem 54. analogen Literaturblatt

Sandra Gugić, geboren 1976 in Wien, ist eine österreichische Autorin serbischer Herkunft. 2009 begann sie zu schreiben. Sie studierte an der Universität für Angewandte Kunst in Wien und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Für ihre Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet. 2012 gewann sie den Open Mike. Ihr erster Roman «Astronauten» erschien 2015 und erhielt den Reinhard-Priessnitz-Preis. 2019 erschien ihr Lyrikdebüt «Protokolle der Gegenwart» im Verlagshaus Berlin. Zuletzt wurden ihr das Stipendium des Berliner Senats und das Heinrich-Heine-Stipendium zugesprochen. Sandra Gugić lebt als freie Autorin mit ihrer Familie in Berlin.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Dirk Skiba

Zora del Buono «Die Marschallin», C. H. Beck

Zora del Buono schreibt über Zora Del Buono, ihre Grossmutter. „Die Marschallin“ ist die Geschichte einer Frau, die die Geschicke einer ganzen Sippe durch ein wirres Jahrhundert zu führen versuchte, herrisch und temperamentvoll, in einer Zeit, in der es nicht üblich war, dass sich starke Frauen über Konventionen hinwegsetzten.

Die beiden Veranstaltungen werden auf den 29. Juli 2021 ins die Kartause Ittingen «verschoben». Informationen dazu bald auf den Webseiten vom Literaturhaus Thurgau und dem Kunstmuseum Kartause Ittingen.

Sie schrieb sich das Del in ihrem Namen gross, um sich von einer adeligen Herkunft zu distanzieren. Nicht weil Zora Del Buono eine Frau des Volkes sein wollte, aber weil sie als überzeugte Kommunistin und Verehrerin Marschall Titos an ein Leben glaubte, das sich neu gestaltet, an eine Ordnung, die sich allen feudalen Gesellschaftsformen entgegenstellt. So wie Josip Broz Tito sich selbst ins Zentrum eines ganzen Landes stellte, so unumstösslich sah Zora Del Buono ihre Stellung innerhalb ihrer Sippe. Sie sah sich als Sonne im System. Die Planeten  sollten sich um sie drehen, um dann gegen Ende des Lebens festzustellen, dass sich das System doch nicht um sie allein drehen wollte, dass es Kräfte in Politik, Gesellschaft und der Familie selbst gab, die sich ihrem Diktat verweigerten.
Ganz am Schluss des Romans sitzt die greise gewordenen Zora in einem Altersheim im slowenischen Nova Gorica, an der italienischen Grenze. Von ihrer einstmals grossen Familie ist wenig übrig geblieben; ihr dement gewordener Ehemann Pietro Del Buono in Bari, ganz im Süden Italiens, ist weit weg, zwei ihrer drei Söhne tot, die Welt, auf die sie setzte weggebrochen und untergegangen. Ihr Blick zurück ist ein bitterer geworden, ihr Leben ein einsames, der Stern leuchtet kaum noch.

Zora del Buono, die Enkelin, zeichnet das Panorama eines Jahrhunderts. Einer Frau, die die Weltkriege miterlebte, die im faschistischen Italien mit einer grossbürgerlichen Vergangenheit und Gegenwart an die Ideen des Kommunismus glaubte, die Aufstieg und Niedergang des Duce erlebte, von Benito Mussolini, der ganz offen mit Hitler fraternisierte und Italien zu einem Trümmerfeld machte, die als gebürtige Slowenin mitansehen musste, wie ihre Landsleute in Lager gepfercht wurden und es nur einen einzigen Weg in die Freiheit zu geben schien; den an der Seite Titos, der Jugoslawien zu einem Musterstaat machen wollte, blockunabhängig.

Zora del Buono «Die Marschallin», C. H. Beck, 2020, 382 Seiten, CHF 35.90, ISBN 978-3-406-75482-1

„Die Marschallin“ ist auch der Roman einer Familie, die in den Wirren der Geschichte zerrieben wird, an den fixen Vorstellungen eine Patriarchin. Von einer Familie, die von sich ein Bild erzeugen will, die durch ein Jahrhundert wankt, nicht nur weil die Geschichte verrückt spielt, sondern das Schicksal mit aller Härte genau dort sein Opfer sucht, wo es am meisten schmerzt. Zora Del Buonos Ehe mit dem Radiologen Pietro Del Buono, den sie gegen Ende des ersten Weltkriegs kennenlernt, dem sie nach Bari folgt und zusammen eine Klinik eröffnet, mit dem sie sich den Kommunisten anschliesst, sich ganz nah an den Führungskräften jener Bewegung orientiert und aktiv am Widerstand gegen den grassierenden Faschismus teilnimmt, ist keine leichte. Zora lässt sich weder ein- noch unterordnen. Sie bleibt eigenwillig, so sehr, dass sie einmal sogar die Koffer packt, voll mit Medikamenten aus den Arzneischränken ihres Ehemannes, um den Partisanen in ihrer Heimat in Slowenien zu helfen. So sehr, dass die Jahrzehnte später zusammen mit ihrem Mann aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen wird, weil sie zu einem verbrecherischen Puzzleteil einer Geldbeschaffungsaktion wird.

«Die Marschallin» auf dem 54. analogen Literaturblatt

Das Leben nimmt nicht jenen Verlauf, den Zora ihrem Leben aufdrücken will. Nicht das politische Leben, nicht das gesellschaftliche, nicht einmal das Leben in der Familie. Bis hin zu ihren Enkelkindern. Zora, die Schriftstellerin, erzählt von von ihrer Grossmutter Zora Del Buono, eine Geschichte, in der eine ganze Familie in der Hitze von Gewalt, Krieg und Intrige zu verdampfen droht.

Man spürt als Leser das Feuer in diesem Roman, die Hitze der Leidenschaft; jene der alten Zora in ihrem Tun, jene der jungen Zora in ihrem Erzählen!

Zora del Buono, geboren 1962 in Zürich, lebt in Berlin und Zürich. Studium der Architektur an der ETH Zürich, fünf Jahre Bauleiterin im Nachwende-Berlin. Gründungsmitglied und Kulturredakteurin der Zeitschrift «mare». In der Reihe «Naturkunden» bei Matthes & Seitz veröffentlichte sie den Band «Das Leben der Mächtigen. Reisen zu alten Bäumen».

«Death valley coffee shock» von Zora del Buono auf der Plattform Gegenzauber

Rezension von «Hinter den Büschen, an eine Hauswand gelehnt» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Illustrationen © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Kurt Marti: Gedichte und Prosa zu seinem 100sten Geburtstag, Wallstein

Zwei Grosse der Schweizer Literatur feiern dieses Jahr ihren 100sten Geburtstag. Der eine ein Pfarrerssohn, der andere Pfarrer selbst. Der eine weit über den ganzen Globus bekannt als Säule der Weltliteratur des 20. Jahrhunderts, der andere nicht weniger geschliffen mit seiner Sprache, aber stets im Schatten anderer geblieben. Friedrich Dürrenmatt und Kurt Marti. Der eine Stern leuchtet hell, der andere hätte auch das Zeug zu einem Fixstern.

Friedrich Dürrenmatt liebte die grosse Bühne, sei es als Theaterautor oder als Stimme der Nation. Was er drei Wochen vor seinem Tod anlässlich einer Rede auf Vaclav Havel zur Verleihung des Gottlieb-Duttweilers-Preises dem staunenden Publikum vortrug, grub sich tief in das Bewusstsein der Gesellschaft ein. Unter dem Titel „Die Schweiz – ein Gefängnis“ rechnete Friedrich Dürrenmatt mit der Selbstgefälligkeit der Schweiz gnadenlos ab. Man lachte und applaudierte, aber im Nachgang der Rede fielen die Reaktionen schweizweit heftig aus. Der Pfarrerssohn aus Konolfingen hielt in seiner letzten „Predigt“ der Schweiz einen unangenehm flirrenden Spiegel hin. Zum letzten Mal, beissend pointiert, brillant formuliert. Friedrich Dürrenmatts Literatur ist durchaus moralisierend. Auch seine Bilder, sein malerisches und zeichnerisches Schaffen spart nicht mit unverhohlener Anklage. Dürrenmatt zeigt nicht nur auf die wunden Flecken, er bohrt mit Vorliebe tief darin.

Kurt Marti, von dem man als Pfarrer durchaus erwarten könnte, dass er mit dem Moralfinger mahnt, sich hoch auf der Kanzel an die armen SünderInnen richtet, die in ihrer Begrenztheit am Kleinen und Grossen scheitern. Aber Kurt Marti tat dies nie, oder dann mit so viel Verständnis für die Schwächen der Menschen, dass das Moralische in der Liebe, die in seinem Schreiben steckt, kaum sicht- und hörbar wird. Kurt Marti predigt nicht, weder in seiner Prosa noch in seiner Lyrik. Umso mehr ist sie durchsetzt von der Menschenliebe des Mannes, seiner überaus feinen Wahrnehmung, seinem Witz und Schalk und seinem Gespür für das Surreale im Realen. Zugegeben, ich bin kein Marti-Fachmann. Zugegeben, bisher stand nur ein einziges Buch im Regal meiner Bibliothek („Ein Topf voll Zeit“). Aber das muss und soll sich ändern. Kurt Marti hat ein reiches Werk hinterlassen. Und wer sich wie ich in den Kosmos Kurt Marti hineinstürzen will, dem erleichtert der Wallstein Verlag mit zwei sorgfältig edierten Werken aus Kurt Martis Nachlass diesen Einstieg.

Nun veröffentlicht der Wallstein Verlag „Alphornpalast“ mit Prosatexten und einem Vorwort von Franz Hohler; Texte, die bisher unveröffentlicht oder kaum nachzulesen waren und „Hannis Äpfel“, Lyrik aus dem Nachlass mit einem Nachwort von Nora Gomringer. Wohl kaum ein besserer Einstieg in das vielfältige Werk Kurt Martis. Beispielhaft aus dem Prosaband „Alphornland“ hier ein Text, den der Wallstein Verlag literaturblatt.ch freundlicherweise zur Verfügung stellte:

Irrläufer

Mit vermutlich gross gedachten, dann aber nur fahrig ausgefallenen Gesten ging er laut redend durch belebte Gassen. In der Absicht offenbar, beschwören und aufrütteln zu wollen, sprach er auf das Volk ein, das jedoch an ihm vorübereilte. Manche dachten wohl, er sei besoffen. Andere wichen ihm aus, verlegen oder sogar ärgerlich und schimpfend. Aber er redete nur noch heftiger, noch lauter, geriet zeitweilig ins Brüllen. Sturmvogel oder sturmer Vogel? Eine ziemlich kauzige Erscheinung mittleren Alters jedenfalls, mit strähnig wirren Haaren und abgetragener Lederjacke. Wie, wenn sein Reden vielleicht doch bedenkenswert gewesen wäre? Gibt es denn nicht genug Alarmzeichen dafür, dass wir einer Katastrophe entgegentreiben? Alarmzeichen, die uns erschrecken und zu einem Sinneswandel bewegen müssten? Nur eben, wer schon möchte einem kauzigen Schreihals zuhören, der sich zu einer so ungeeigneten Tageszeit, es war kurz nach Mittag, die Angestellten strebten wieder ihren Büros zu, auf eine Weise ereiferte, die lächerlich wirkte? So überanstrengte er seine Stimme noch mehr, sie überschlug sich immer öfter, bis dass er nur noch heiser zu krächzen vermochte. Und plötzlich dann war er in ein schattendunkles Seitengässlein enteilt und verschwunden. Niemand folgte ihm, nicht einmal ein Polizist.

(aus „Kurt Marti Alphornpalast“, Prosatexte aus dem Nachlass, © Wallstein Verlag)

Kurt Marti und Mani Matter (1970), © Kurt Marti-Stiftung

Vielen seiner Texte entspringt unmittelbare Aktualität. Es ist, als ob Kurt Marti auch mit diesem Text nicht nur die Gegenwart, sondern einen, den Nerv der Zeit trifft. Ein Entrückter mitten in den Eingespannten. Die Szenerie erinnert an einen Künstler, der auf seiner einsamen Bühne performt, nur zur falschen Zeit, am falschen Ort. Was tut Kultur anderes, als oftmals aufschrecken, um dann hinter einem Vorhang im Halbdunkel wieder abzutauchen. Dort applaudiert die Menge, um danach alles beim Alten zu lassen. 
Kurt Martis Texte rütteln am Normalen, schlagen ein anderes Licht in die Szenerie der Normalität.

2017, nach Kurt Martis Tod, am 11.Februar, fand man in seinem Nachlass in seinem Arbeitszimmer mehrere Ordner, die er nicht wie fast alles andere, dem Schweizerischen Literaturarchiv übergeben hatte. Die folgenden zwei Gedichte, die der Wallstein Verlag literaturblatt.ch ebenfalls zur Verfügung stellte, zeigen auf der einen Seite den Schalk, den Wortwitz und seine Nähe zur Konkreten Poesie und auf der anderen Seite seine grosse Liebe zu seiner Frau Hanni Morgenthaler, mit der er Jahrzehnte verheiratet war und deren Tod ihn 2007 zum Zurückgebliebenen machte.

etüde für ballhorn

aller umfang ist schwer
man soll den tag nicht vor dem absinth loben
ein unglück kommt selten um eins
reich und reich gesellt sich gern
was hänschen nicht lernt lernt hans immer mehr
muhe recht und scheue niemand
was lange weilt wird endlich wut
wie man sich fettet so siegt man
alte liebe kostet nicht
morgenstund hat blond im mund

(aus „Hanni“)

Versuch neulich,
den Atem anzuhalten,
möglichst lange, um dir
nachfolgen zu können.
Kinderei! So simpel
lassen Atem und Leben
sich nicht abschalten,
bin kein Apparat, 
aber auch kein indischer Yogi, 
bin Witwer jetzt –
ein Zu- und Zivilstand, 
der mir total missfällt.
Das einzig Gute an ihm:
Dir ist dadurch
die Witwenschaft zum Glück
erspart geblieben.

(aus „Kurt Marti Hannis Äpfel“, Gedichte aus dem Nachlass, © Wallstein Verlag)

Kurt Martis Engagement war eingetaucht in Liebe; der Liebe zu seinen Nächsten, dem Menschen überhaupt, der Schöpfung. Sein Engagement war politisch, gesellschaftlich und wirkt bis heute in die Kultur, der Literatur im Besonderen. 

© Hektor Leibundgut

Kurt Marti wurde 1921 in Bern geboren. Nach dem Theologiestudium in Basel bei Karl Barth wurde er Pfarrer in Niederlenz bei Lenzburg und später an der Nydeggkirche in Bern. Seit den 1950er Jahren veröffentlichte er neben theologischen und publizistischen Texten auch literarische Werke, erste Poesie- und Prosabände entstanden. Er erhielt mehrere Auszeichnungen und Ehrungen, darunter den Literaturpreis des Kantons Bern (1967 und 2010), den Johann-Peter-Hebel-Preis (1972) sowie den Kurt-Tucholsky-Preis (1997). Marti lebte bis zu seinem Tod 2017 in Bern.

Kurt Marti Stiftung

Beitragsbild© Im ElfenauPark, Bern (2011), © Urs Baumann

Sien Volders «Norden», Residenz

Eine junge Frau flieht vor einer grossen Entscheidung. Kann man so einfach aus einem Leben aussteigen? Welchen Preis zahlt man beim Versuch, neu anzufangen. „Norden“ erzählt von einer Sehnsucht, die viele mit sich herumtragen. Nicht zuletzt davon, in ein Auto zu steigen und einfach loszufahren, bis die Strasse endet.

Sarah ist Silberschmiedin, versteht sich als Künstlerin, unabhängig, nicht um Investitionen und Bankkonten an die Kundinnen zu hängen, sondern um die Persönlichkeit ihrer Kundinnen zu unterstreichen. Und weil sich plötzlich eine grosse Schmuckfirma für ihre Unikate interessiert und ihr den grossen Durchbruch verspricht, zieht es Sarah weg von ihrer Stadt, weg von ihrer Werkstatt, um eine Entscheidung zu treffen. Sarah will Zeit, will wissen, wohin sie sich tragen lassen soll. Sie packt ihre Sachen, den Brief von der Schmuckfirma und fährt mit ihrem olivgrünen 1969er Dodge Challenger weg von allen glatt asphaltierten Strassen an den Rand der Zivilisation. Nach Forty Mile, ganz im Norden, an der Grenze zu Alaska.

Forty Mile ist ein altes Goldgräberstädtchen, das seine besten Zeiten schon längst hinter sich brachte. Ein klein gewordenes Nest, ein paar Häuser, ein Gasthaus, eine Tankstelle und ein Laden, in dem sich die Einheimischen mit dem Nötigsten eindecken können. Ein Ort am Zusammenfluss von Forteile River und dem Yukon, der im Frühling für Monate unpassierbar wird, weil riesige Eisschollen auf dem Strom den Ort zur Sackgasse machen. Sarah findet ein Zimmer bei Mary, die dort mit viel Esprit den Ladern führt und für die Menschen weit mehr ist als bloss die Frau, die den Laden führt.

Sarah ist auch in einer Sackgasse, sucht nach einer Spur, die sie aus ihrem Stillstand herausführt, denn es ist nicht nur der Brief von der Schmuckfirma, der nach einer Entscheidung ruft. 

Sien Volders «Norden», Residenz, 2020, 281 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-7017-1734-7

Sarah lernt die Menschen in Forty Mile kennen. Und die Menschen in Forty Mile sind neugierig auf die junge Frau, die auch noch nach Wochen bleibt und mehr und mehr die Herzen jener gewinnt, die an dem Ort am Rand hängengeblieben sind. Zum einen ist da Mary, in deren Zimmer im Obergeschoss des Ladens ein verhülltes Bild verrät, dass in der Vergangenheit der Ladenbesitzerin ein altes Leben endete. Oder Adam, ein junger Musiker, ein Geiger, der Sarah mehr als nur die Gegend zeigt, den Sarah mehr und mehr in ihre Nähe lässt, um festzustellen, dass neben ihr und der Musik aber noch eine dritte Kraft Adam an sich bindet; der Alkohol. Oder Walker, ein Mann, der in den Wäldern lebt, Fallen stellt und für die Menschen dort so etwas wie die Verkörperung eines Ideals ist; ein Trapper, ein Stück real gebliebener Romantik.

Sie alle haben etwas zurückgelassen. Mary, die Ladenbesitzerin, hiess einst Marion Goodwin und war vor ihrer Flucht nach Forty Mile eine gefeierte Malerin, bis sie im Kreuzfeuer von Kommerz und Kunst den Rückzug suchte und ein Leben hinter sich liess. Sarah macht sich auf die Suche nach Spuren ihrer Vermieterin, eigentlich auch auf die Suche nach sich selbst, denn sie spürt unweigerlich, dass das Schicksal dieser Marion Goodwin auch ihr eigenes werden könnte. Und als Adam einmal mehr seinen Halt verliert und im Alkohol zu ertrinken droht, als er sich auf die andere Seite des Flusses rettet, überstürzen sich die Ereignisse.

„Norden“ ist ein Roman über Selbstfindung. Wo liegt die Bestimmung eines Lebens? Gibt es den unwiederbringlichen Moment, der eine Entscheidung fordert, die nicht zu korrigieren ist? Kann man einem Menschen, selbst wenn man ihn liebt, helfen das zu tun, was nach Bestimmung aussieht? 

Die junge Holländerin Sien Volders hat einen unverkrampften Roman geschrieben. Man riecht das Harz der Wälder, man hört den Rhythmus der Musik, die in der Kneipe im Ort bis in die Nacht den Takt angibt und spürt den kalten Wind, der über den Yukon zieht. Sien Volders romantisiert nicht, obwohl ich meiner eigenen Versuchung, jenes Stück Wildnis zwischen Nordkanada und Alaska nicht automatisch zu verklären, immer wieder entsagen muss. „Norden“ riecht nach Sehnsucht und dem Wissen, dass jeder mit seinen Entscheidungen letztlich allein bleibt. 

Auch wenn der Roman wahrscheinlich in zu vielen Geschichten ein Ende sucht, hat die Lektüre Freude gemacht! 

Interview

Eine junge Frau verlässt für eine Entscheidung ihre Welt in der Stadt Vancouver und fährt in die ehemalige Goldgräberstadt Forty Mile an der Grenze zu Alaska. Von der totalen Zivilisation an den Rand der Zivilisation. Die Stadt verlässt sie nicht wirklich, so wie sie nie wirklich in Forty Mile ankommt. Sind Sehnsuchtsorte nicht verdammt,  Enttäuschungsorte zu werden?

Für mich ist der Norden in diesem Buch das, was einst der Wilde Westen war: ein Ort, an dem der Mensch auf sich selbst zurückgeworfen ist. Zunächst geht es ums Überleben, Mensch gegen Natur, um dann zu einer Symbiose überzugehen, in der Mensch und Natur leben können und aus der langsam eine neue Gesellschaft erwachsen kann. Es ist kein Zufall, dass Forty Mile am Rande der wirklichen Wildnis liegt: der am weitesten entfernte Ort, an dem man noch zusammenleben kann, und wo manche sehnsüchtig in den höheren Norden blicken, wo das wirkliche wilde Leben ist. 
Ob ein Sehnsuchtsort zur Enttäuschung wird, hängt sehr stark von der Erwartung ab, ob sie realistisch ist oder nicht: Sarah geht unerwartet dorthin, weil sie Luft und Raum will, um nachdenken zu können, und sie findet es dort. Mary ist vor langer Zeit dorthin geflohen, um eine zerstörerische Spirale zu durchbrechen und hat schliesslich ein neues Leben gefunden. Für beide Frauen ist der Ort eher ein Ort der Kontemplation als ein Ort des Heils. Für Adam ist es tatsächlich ein Ort der Enttäuschung, denn er jagt einer Illusion hinterher: dem Norden als Erlösung, als Sinn. Irgendwann wird es so sein, aber nicht so, wie er es sich vorgestellt hat.

Sarah bleibt zwischen zwei Männern hängen, in einer Art Schwebezustand, noch einem Ort, der Schmerz verursacht. Auch deshalb, weil sie beiden Männern nicht helfen kann. Sarah drängt Hilfe nicht auf und trotzdem finden beide Männer aus Krisen hinaus. Auch Mary, die einst eine gefeierte Malerin war, hat sich in der Abgeschiedenheit von Forty Mile zurückgezogen. Ist Schreiben ein Versuch auch eine Form des „Rückzugs“, Ordnung zu finden?

Wie gesagt, der Norden ist ein Ort, an dem man auf sich selbst zurückgeworfen wird. Es ist eine Übertreibung der Art und Weise, wie Menschen miteinander in Beziehung treten. Das Heil liegt nicht im anderen, sollte nie im anderen liegen müssen. 
Überspitzt gesagt, kann man nur dann wirklich für den anderen da sein, wenn man frei und selbstbewusst, nach Selbstbeobachtung und eventuellem Rückzug, für sich festgestellt hat, was das eigene feste Fundament ist.
Schreiben ist für mich eine sehr analytische Tätigkeit, bei der ich neben dem Erschaffen einer Geschichte immer wieder hinterfragen muss, wie sich Menschen zu sich selbst und zueinander verhalten. 

Sarah kommt an einen Ort, an den sich eine ehemalige Künstlerin zurückgezogen hat. Nachdem sie im Kreuzfeuer von Kritik, Anfeindungen und Unverständnis, nach einem kometenhaften Aufstieg und dem Versuch sie zu instrumentalisieren, wegtauchte, ist sie in Forty Miles so etwas wie die Mutter aller. Auch Sarah droht im Konflikt zwischen Kommerz und Kunst zu zerbrechen. Gibt es eine Grenze zwischen Kunst und Kommerz?

Sarah merkt, wie die berufliche Seite ihres Lebens (ihr Talent und ihre Kunst) sie dazu zu bringen scheint, einen Weg einzuschlagen, den sie nicht unbedingt für sich selbst gewählt hat, und das in einem Tempo, das sie selbst nicht mehr kontrollieren kann. 
Das hat sie mit Mary, der ehemaligen Künstlerin, gemeinsam. Beide Frauen gehen nach Norden, um darüber nachzudenken. Es gibt eine klare Grenze zwischen Kunst und Kommerz, aber das muss kein Problem sein. In Sarahs Silberschmiedekunst können Kunst und Kommerz problemlos koexistieren, vorausgesetzt, Sarah selbst ist damit im Reinen. Jede Figur im Buch sucht auf ihre eigene Art und Weise nach Freiheit. Ohne das zu sehr vorschreiben zu wollen, scheint es mir, dass es ein guter Weg ist, Frieden in den Entscheidungen, die man im Leben trifft, zu haben.

Noch eine Person, die zu zerbrechen droht, ist Adam, der Musiker, der Geiger, der das Geheimnis einer ganz besonderen Musikrichtung lüften und zu eigen machen will. Bei ihm ist es der Alkohol. Ist Alkohol an den Grenzen der Zivilisation ein ganz besonderes Trostmittel?

Schaut man sich das Leben rund um den Polarkreis an, sei es in Kanada, Skandinavien oder Russland, ist die besondere Beziehung zum Alkohol durchaus spürbar. 
So nah am Norden, sind die Sommer kurz, heiss und wild, die Winter lang, dunkel und kalt. Alkohol hilft, das Leben zu feiern, wenn die Dinge gut laufen, und die scharfen Kanten zu mildern, wenn es nötig ist. Obwohl der Umgang damit sehr unterschiedlich sein kann (in Skandinavien ist er eher streng), scheint das Verlangen nach dem Rausch ein wenig grösser zu sein als anderswo.
Die Art und Weise, wie Adam sich darin zu verlieren droht, während er einer Illusion hinterherjagt, ist in diesen Gefilden sicherlich sehr gut zu erkennen.

Was faszinierte sie an diesem Ort? An Forty Mile?

Forty Mile ist inspiriert von Dawson City, einer Stadt im hohen Norden Kanadas, in der ich einmal zufällig gelandet bin, weil ein lieber kanadischer Freund von mir plötzlich dorthin zog. Ich bin schon mein ganzes Leben lang ein Fan von Jack Londons Büchern, und als ich dort war, wurde mir klar, dass es dieser Ort ist, dass dies der aktuelle Wilde Westen ist. Ich selbst gehöre eher zu der Sorte von Sarah, die es als Ort der Kontemplation sieht. Ich sehne mich danach, und ich bin so begierig, dorthin zu kommen, weil ich weiss, dass ich immer wieder gehen werde.

Welche Lektüre bewegte Sie in den vergangenen Monaten?

Ich bin eine ausdauernde Wiederleserin und das Buch, das ich in diesen Tagen am häufigsten lese, ist «Sula» von Toni Morisson. Eine sehr kluge, schön geschriebene Novelle, in der die beschriebenen Frauen als Kriegerinnen, als Freundinnen, als Mütter und Töchter, aber vor allem als Geschichtenerzählerinnen vorgestellt werden.
Im Moment geniesse ich Marek Sindelkas Debüt «Chyba» (Klimakummer, auf Niederländisch) sehr.

Sien Volders, geboren 1983, lebt und arbeitet in Gent. Nach dem Studium der Kunstgeschichte und Anthropologie arbeitete Sien Volders als Innenarchitektin, Journalistin und Lektorin. 2017 erschien ihr hochgelobter Debütroman „Noord“, der 2020 unter dem Titel „Norden“ aus dem Niederländischen übersetzt im Residenz Verlag erscheint.

Bettina Bach, aufgewachsen in Deutschland und Frankreich, lebt in Jena. Studium der Kulturwissenschaften an der Universität Amsterdam. Bettina Bach übersetzt aus dem Niederländischen und Französischen, u.a. Jan Siebelink und Tommy Wieringa. Für die Übersetzung von Arjan Vissers «Der blaue Vogel kehrt zurück» wurde sie 2014 mit dem Else-Otten-Preis ausgezeichnet.