Sandra Hughes «Kopflos», sommerliche Krimigeschichte, Plattform Gegenzauber

«Alex Breitenstein, Kriminalpolizei Basel-Stadt. Frau Vogel?»
Heidi blinzelte in den blauen Himmel. Sie konnte das Gesicht des Herrn Breitenstein nicht erkennen, bloß einen schwarzen Umriss vor der Sonne. 
«Bleiben Sie ruhig liegen.»
Herr Breitenstein ging neben Heidi in die Hocke. Ein netter Mann. Keiner, der eine alte Dame schikanieren wollte. Heidi hatte sich auf ihrem Liegestuhl niedergelassen, noch immer schockiert von den Ereignissen des Morgens. 
«Die Bademeisterin hat mich an Sie verwiesen. Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?»
Natürlich. Für Fragen war Heidi bereit. 
«Sie haben heute früh das Gartenbad betreten. Was ist passiert? Erzählen Sie möglichst genau.»
Oh, es hatte lange vor dem Betreten des Gartenbades begonnen. Aber Heidi konnte sich gerne auf einen Teil der Geschichte beschränken, und der ging so: Heidi war heute ins Tram Linie 2 gestiegen und bis zur Station Eglisee gefahren, wie sie es jeden zweiten Mittwoch in der Früh im Sommer tat, wenn die Sonne schien. An jedem zweiten Mittwoch im Monat hatte sie sich einen Morgen ganz für sich allein erkämpft. Er dauerte drei Stunden. Jeweils um elf Uhr brach sie zurück nach Hause auf, um ihrem Mann eine warme Mahlzeit aufzutischen. Ihr Mann bestand darauf. Eine warme Mahlzeit am Mittag musste sein, mit Suppe. Selbstverständlich alles selbst gekocht. Bloß einmal hatte Heidi es gewagt, ihm ein Stück Käsekuchen von der Migros vorzusetzen. Immer wieder hatte sie versucht, ihm Spiegeleier schmackhaft zu machen, die er sich selbst anbraten konnte. Sie hatte Eintöpfe zubereitet, einfach zum Aufwärmen. Vergeblich. Ihr Mann wollte, dass Heidi für ihn da war, jeden Mittag. 
«Wie schön, Frau Vogel», sagte Herr Breitenstein. «Aber wir waren beim Gartenbad.»
Genau. Heute früh also hatte Heidi um neun Uhr den Eingangsbereich des Gartenbad Eglisee betreten und einen Eintritt gelöst. Nach der Kasse bog sie wie immer rechts ab ins Frauenbad. Das Frauenbad war ihre Glücksinsel. Von Saisonbeginn bis September kam sie jeden zweiten Mittwochmorgen hierher, wenn die Sonne schien. Der einzige Ort, an den ihr Mann ihr nicht folgen konnte. Hier musste sie seinen bösen Blick nicht sehen, wenn das Salz auf dem Tisch fehlte, der Brokkoli zu weich gegart war. Immer fehlte etwas, und egal, was Heidi tat, es genügte nie. Wenn Heidi redete, war es dummes Zeug, und wenn sie schwieg, griff er sie mit bös gemeinten Sätzen an. Er kommentierte jeden Handgriff von Heidi, nichts führte sie korrekt aus. Er quälte sie seit seiner Pensionierung, das Eheleben davor schien Heidi im Rückblick wie ein Zuckerschlecken. Die Sprüche von früher waren Streicheleinheiten im Vergleich. Wohin Heidi in der Dreizimmerwohnung ging, dahin verfolgte er sie. Er legte an, einen verbalen Pfeil nach dem anderen, und zielte präzise. Jeder Schuss ein Treffer in Heidis Herz. Heidi wappnete sich mit dicker Haut, verschloss ihre Ohren, übte eigene Bosheiten ein, damit sie zurückschiessen konnte. Keine Strategie taugte. Nichts half. 
«Also eine schwierige Ehe», sagte Herr Breitenstein. «Aber konzentrieren Sie sich bitte, Frau Vogel. Das Frauenbad.» 
Nach der Kasse war Heidi rechts ab ins Frauenbad abgebogen. Wie schön es war, frühmorgens hier zu sein. Noch bevor die Musliminnen und die alten Baslerinnen eintrafen. Sie führten gegeneinander Krieg, Burkiniträgerinnen gegen Barbusige, umkreist von Wächterinnen mit Kampfstiefeln und Schlagstöcken. Die einen zählten fremde Haare im Wasser. Die anderen machten sich breit, feierten Picknickorgien und beschimpften Bademeister, bloss weil sie Männer waren.
«Frauen», sagte Herr Breitenstein. Er hatte sich neben Heidis Liegestuhl auf dem Rasen niedergelassen. «Kommen Sie zur Sache, Frau Vogel. Konzentrieren Sie sich!»
Heidi ertappte ihn bei einem verächtlichen Blick auf ihre nackten Brüste. Ihre knapp achtzigjährigen Körperteile, von den Spuren des Lebens gezeichnet und in Würde gealtert, hatte niemand so zu behandeln. Das ließ sie den Herrn Breitenstein auch gleich wissen. Genau so wenig wie es niemandem zustand, ihre Speckrollen rund um Bauch und Hüfte zu verachten. Sie waren die schönste Verwandlung von Mokkatorten, Meringue und Sauerbraten, die Heidi in stiller Verzweiflung während all der Stunden in ihrer kleinen Küche schuf. Immer dann, wenn ihr Mann drohte, sich aus dem Fenster zu stürzen, falls sie ihn schon wieder allein zu Hause zurückließ, um mit einer Freundin zu spazieren. Heidi ertappte sich wiederholt bei der Hoffnung, dass er verschwunden war, wenn sie auf Kommando um sechzehn Uhr mit Kaffee und Kuchen aus der Küche trat. Aber er war immer da. 
«Frau Vogel. Kommen Sie endlich zum Punkt!»
Herr Breitenstein schaute jetzt so böse wie Heidis Mann. Es fehlte bloß noch, dass er einen Vortrag dazu hielt, wie dumm Heidi war. Also: Sie wollte heute früh schwimmen, wie immer als Erste. Sie platzierte ihren Liegestuhl auf dem gewohnten Platz. Dann stieg sie die Stufen hinunter ins Schwimmbecken, ließ sich ins kühle Wasser gleiten, schwamm eine Länge hin und eine Länge zurück. Für den Ausstieg suchte sie mit den Zehen nach der untersten Stufe, ganz sachte, weil man sich an der harten Kante stoßen konnte. Heidis Augen waren nicht mehr die besten. Aber fühlen, das konnte sie noch. Sie tastete sich also vor, um sicheren Tritt zu fassen. Da spürte sie unter ihrer Fußsohle etwas, einen Widerstand, der zugleich weich war. Glitschig und klebrig in einem. Ihr Fuß zuckte zurück, aber zu spät. Sie hatte diesen – Heidi blieb das Wort in der Kehle stecken – diese Sache unter ihrem Gewicht zerquetscht. 
«Zerquetscht?» Breitensteins Gesicht war nun ganz nah bei Heidi. «Und danach?»
Danach hatte Heidi geschrien. Ihr Schrei gellte über das gesamte Areal und weit ins Kleinbasel. Auch die Angestellten vom Familienbad drüben kamen angerannt, um gemeinsam ins Wasser zu starren, das nun von rosaroten Schlieren getrübt war. Es folgten vielstimmiges Entsetzen und nüchterne Mutmassungen. Nach viel Gerede kam es der Bademeisterin in den Sinn, den Zugang zum Frauenbad zu sperren, die 117 anzurufen und im Laufschritt ein Netz holen zu gehen. Heidi war schneller als die Bademeisterin. Sie beugte sich vornüber, griff tief ins Wasser und holte diesen – diese Sache – aus dem Becken. 
«Sie haben ihn angefasst?» Herrn Breitenstein flossen Schweißbäche übers Gesicht. «Zuerst treten sie ihn halb zu Brei, und danach befingern Sie ihn?»
Es tat Heidi leid. Ehrlich. 
«Sie haben wertvolle Hinweise auf den Tathergang verwässert!»
Heidi schaute zum Schwimmbecken hinüber und unterdrückte ein Kichern. Tatsächlich. 
«Herrgott, Frau Vogel!» Herr Breitenstein war aufgesprungen. «Denken Sie das nächste Mal, bevor Sie handeln!»
Heidi sah ihm nach, wie er über den Rasen davoneilte, das Handy am Ohr. Herr Breitenstein musste jetzt das Opfer finden, zu dem Heidis Fundobjekt gehörte. Heidi musste ihm beipflichten: Sie hatte gehandelt, ohne nachzudenken. Kopflos, wie ihr Mann gesagt hätte. Heidi hatte schon lange keinen Kopf mehr, wenn es nach ihrem Mann ging. Aber ihr Mann irrte sich, sie hatte noch einen Kopf. Heidi hatte bloß kein Herz mehr. Sie lehnte sich im Liegestuhl zurück, schaute in den blauen Himmel hoch und dann zur Uhr, deren silberne Zeiger in der Sonne glänzten. 
Heute würde Heidi nicht um elf Uhr nach Hause aufbrechen, um ihrem Mann eine warme Mahlzeit samt Suppe aufzutischen. Auch keine Mokkatorten, Meringue und Sauerbraten würde sie mehr still in ihrer kleinen Küche schaffen. Heute blieb Heidi auf ihrer Glücksinsel liegen. Morgen würde sie wiederkommen und übermorgen auch. Immer wenn die Sonne schien und mit ihrer Wärme dazu beitrug, den zerfetzten Klumpen in Heidis Brust wieder zu einem Herzen zusammenzusetzen.

«Mord in der Badi. Sommerliche Krimigeschichten aus der Schweiz», herausgegeben von Miriam Kunz, Atlantis Verlag, 2023, 176 Seiten, CHF ca. 22.90, ISBN 978-3-7152-5513-2

Sandra Hughes, geboren 1966, wuchs in Luzern auf und lebt mit ihrer Familie in Allschwil bei Basel. Bisher erschienen die Romane «Lee Gustavo» (2006), «Maus im Kopf» (2009), «Zimmer 307» (2012) und «Fallen» (2016). Bei Kampa sind bisher 3 Krimis um Tschopp & Bianchi erschienen. Mit der Polizistin Emma Tschopp teilt sie die Vorliebe für Bistecca (saignant) und Blauschimmelkäse. Neben Krimis und Romanen schreibt Sandra Hughes auch für Kinder. 2013 erhielt sie den Kulturpreis des Kantons Basel-Landschaft für Literatur, 2017/2018 das Atelierstipendium der Landis & Gyr Stiftung für Schweizer Kulturschaffende in London.

Sandra Hughes verfasste beim Schweizerischen Jugendschriftwerk SJW auch zwei preisgekrönte Erstlese- und Vorlesebüchlein:

 

 

 

 

 

Beitragsbild © Kampa Verlag/Sven Schnyder

Rebekka Salm «1943», Auszug aus einer noch unveröffentlichten Arbeit, Plattform Gegenzauber

Vor dem Zugfenster lagen Äcker, nackte Sträucher und Bäume, vereinzelte Häuser und Ställe mit eingefallenen Ziegeldächern, wie in besseren Zeiten hingeworfen und dann vergessen. Alles schien mit Mehlstaub überzogen. In zwei Wochen war Weihnachten. Ihre Schwägerin Lieke hatte Emma angeboten, die Feiertage bei ihr zu verbringen. Doch Emma wusste, dass Lieke kaum genug für sich und die Kinder hatte.
Nicht genug Geld.
Nicht genug Kraft.
Sie sah Bahnhofsgebäude vorbeiziehen, ohne Rauchwolken an den Schornsteinen, als hielten sie den ganzen Winter durch den Atem an. Bahnübergänge mit hochgezogenen Schranken verharrten im lautlosen Gruss an den Führer. Krähen flogen auf. Träge schoben sie sich in den bleiernen Himmel über ihnen. Und obwohl die Vögel in Bewegung waren, schien die Welt leblos, eingefroren wie das Bild auf der Leinwand, wenn der Film riss.
Cees und Emma hatten sich im Kino kennengelernt.
Emma hatte sich an einem Sonntagnachmittag im September mit einer Freundin im Ufa-Kino am Rembrandtplein mit den samtroten Sitzen und dem abgebröckelten Stuck an der Decke verabredet. Es lief «Hauptsache glücklich» mit Hans Rühmann. Ein durchwegs banaler Film. Gerade als die beiden Hauptdarsteller erfuhren, dass die von ihnen erst geliehene und dann verlorene Brosche ein Vermögen wert war, fror das Bild auf der Leinwand ein und die Lichter im Saal gingen an.
«Wussten Sie, dass jedes Mal, wenn der Film reisst, er durch das Kleben ein Stückchen kürzer wird?»
Der Mann, der Emma angesprochen hatte, sass zu ihrer Linken. Er war so gross, dass sie sofort Mitleid hatte, mit der Person, die das Pech hatte, den Platz hinter ihm erwischt zu haben. Seine Haare waren blond und millimeterkurz geschnitten, die Augen blau. Die Schneidezähne standen schief und wenn er schluckte, hüpfte sein Adamsapfel lustig auf und ab. Die Schuhe, die kaum Platz fanden zwischen den Sitzreihen, waren zerkratzt und an zwei Stellen blitzen die Socken durchs aufgeplatzte Leder.
«Und wie oft muss dieser Film noch reissen, bis er verschwindet?», fragte Emma nun ihrerseits. Der Fremde lachte und hielt ihr die Hand hin. Elf Monate später hatten sie geheiratet. Nur sie beiden und die Trauzeugen, Cees Schwester Lieke und Emmas Bruder Willem.
Emma zog den Goldring aus ihrer Manteltasche, der an einem Haken neben dem Fenster hing. Sie probierte ihn an all ihren Fingern an. Das Material war kühl und abweisend, wie es auch Cees gewesen war, als sie sich im Krematorium an der Pienemanstraat von ihm verabschiedet hatte.
Sie konnte die Gravur auf der Innenseite des Rings lesen, ohne ihn vom Zeigfinger abstreifen zu müssen. «Vor altjid» stand darin. «Für immer». Und das Datum ihrer Hochzeit. Natürlich hatte Emma gewusst, dass «Für immer» lediglich eine Metapher für eine sehr lange Zeitdauer war. Fünfzig Jahre. Vielleicht mehr. Aber dreizehn Monate, da war sich Emma sicher, war weit entfernt von einer Ewigkeit. Sie fühlte sich betrogen. Von Gott. Nicht dass Emma an ihn glaubte, aber für einen Irrtum in dieser Grössenordnung konnte dennoch niemand anders verantwortlich sein als er.
Sie griff ein weiteres Mal in die Manteltasche und fischte Foto und Postkarte raus. Das Foto zeigte Cees und war im Jahr ihrer Hochzeit entstanden, als sie mit den Fahrrädern zur Karger Seenplatte gefahren waren. Cees hatte die Unterarme auf den Lenker gestützt, im Mundwinkel ein Grashalm. Das Haar etwas länger als bei ihrem ersten Treffen, vom Fahrtwind zerzaust. Die Augen direkt auf die Kamera gerichtet, einen Hunger im Blick. Hunger auf sie.
Hunger auf das Leben, das vor ihm lag.
Cees war nicht satt geworden.
Je mehr Emma sich zu erinnern versuchte, an die vielen Details, die alle zusammen Cees ausgemacht hatten, umso weniger gelang es ihr. Er war zu einem dunklen Fleck vor ihrem inneren Auge geworden. Ganz so, als hätte sie ihn zu lange im Gegenlicht betrachtet und dann den Blick auf den Schnee vor dem Zugfenster gerichtet. Mit jedem Meter, den sie sie sich ratternd von Cees entfernte, sah sie die Umrisse der Leerstelle, die er hinterliess, deutlicher.
Distanz schaffte Klarheit.
Heilung verschaffte sie nicht.
Ihr gebrochenes Herz rief mit jedem Schlag nach Cees wie ein kaputtes Morsegerät.
Emma hatte ihn einäschern lassen. Bei der Beerdigung hatte es geregnet wie aus Kübeln. Sie war mit ihrer Schwägerin am Grab gestanden. Beide hatten sie sich an ihre Schirme geklammert, in der Hoffnung, sie mögen ihnen Halt vor dem Ertrinken bieten. Emmas Bruder war zu dieser Zeit bereits im Untergrund und schrieb für die Widerstandszeitung «Het Parool». Ob er noch lebte oder nicht, Emma wusste es nicht. Nur mit einem Koffer war sie danach zu Lieke und den drei Kindern gezogen. Der Jüngste konnte noch nicht einmal laufen. Ihr Mann, ein jüdischer Kaufmann, war bereits Monate zuvor in Richtung Schweiz geflohen. Noch immer wartete Lieke auf eine Nachricht von ihm. Täglich stand sie am Fenster, gab vor, die Gardinen zu richten, die Nippes auf dem Fensterbrett neu zu arrangieren. Jeden Tag war der Briefträger an ihrer Haustür vorbeigegangen, unbeeindruckt vom regelmässigen Faltenwurf des Wohnzimmervorhangs oder der exakten Ausrichtung der Häkeldeckchen.
Emma hatte sich bei Lieke ins Wohnzimmer gesetzt, auf den Sessel aus grünem Samt und mit den schwarzlackierten Armstützen. Dort hatte sie ihre ganze Kraft darauf verwendet, nicht auseinanderzubrechen.
Sie spürte die Risse, die sich unter ihrer Haut über den ganzen Körper zogen, sich mehrfach kreuzten über der Brust. Die Bruchkanten rieben sich an ihrem Fleisch, machten sie wund, so dass jede Berührung, jede Umarmung ihren Schmerz vergrösserte. Sie sprach nur, wenn man sie etwas fragte, weinte nur, wenn niemand in der Nähe war. Das Ticken der Wanduhr mit den goldenen Zeigern, die im Wohnzimmer über dem Buffet aus Walnussholz hing, waren die Sprossen, an denen sie sich aus der Dunkelheit hinaus zurück ins Leben hangelte.
Tick-tick-tick.
Jeden Tag aufs Neue. Nur um nachts wieder ins Bodenlose zu fallen. Sie war eine Art weiblicher Sisyphos. Mit dem Unterschied, dass sie dem Tod kein Schnippchen geschlagen hatte, sondern der Tod ihr.
Ab und zu spielte sie mit den Kindern. Doch wenn sie ehrlich war, ertrug sie den Anblick der drei Buben kaum. Mit ihren hellblonden kurzen Haaren und den blauen Augen erinnerten sie Emma zu sehr an Cees. Ruben, der älteste, schien sogar die schiefe Zahnstellung seines Onkels geerbt zu haben. Auch sie hatten Kinder gewollt. Emma zwei, Cees drei. Sobald der Krieg vorbei war, so war der Plan gewesen, wollten sie ihre Koffer packen und nach Frankreich fahren. Sie wollte nach Paris, den Eiffelturm besteigen, durch den Louvre schlendern und unter herausgedrehten Markisen Milchkaffee trinken und dabei den Tauben zusehen, die von der Schönheit der Stadt unbeeindruckt nach den Krumen zwischen den Pflastersteinen pickten. Cees wollte in die Bretagne, gegen den Wind der Küste entlangwandern, Weissbrot in Sud tunken, in dem Muscheln mit weit aufgerissenen Mündern lagen und den Schiffen zusehen, wie sie schrumpften und in die Naht schlüpften, die Himmel und Erde am äussersten Ende der Welt zusammenhielt.
Italien hatte bereits kapituliert, Mussolini war in Gefangenschaft. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis auch Hitler von den Alliierten besiegt und Europa befriedet werden würde. Und dann würden sie losziehen, Emma und Cees. Für immer war eine lange Zeit, da liess sich eine ordentliche Reise machen. Und danach eben Kinder. Zwei oder drei.
Gott hatte anders entschieden.
Dieser Gott, der anstelle eines Herzens ein harter Laib Brot in der Brust hatte.
Sie glättete den wollenen Rock und kniff die Augen zusammen. Nicht weinen. Die ältere Dame auf der anderen Seite des Gangs blickte schon wieder von ihrer Zeitung hoch und warf Emma missbilligende Blicke zu. Der Stoff hinter ihrem Kopf, der das Polster vor Abnutzung schützte, war so zerknittert wie ihr mürrisches Gesicht.
Draussen zerteilte Schneeregen den Himmel von oben links nach unten rechts. Die Flocken am Fenster konnten sich nicht halten, ergaben sich der Wärme, die aus dem Zugabteil zu ihnen herausdrückte und rutschten weg, hinterliessen nichts als feuchte Spuren auf Emmas Spiegelbild.
Ein Tropfen fiel auf die Postkarte auf ihrem Schoss.
Sie war von Beatrix. Auf der Vorderseite das Bild einer Holzbrücke, die über einen Fluss führte, dahinter ein Kirchturm, der über Häuserdächer ragte.
Berge waren nirgends zu sehen. Emma hatte immer geglaubt, dass die Schweiz aus nichts als Berge bestehe. Und aus Tälern zwischen den Bergen.
Beatrix war eine Freundin ihrer Mutter. Als Kind waren die beiden in Leiden in dieselbe Schulklasse gegangen und anschliessend hatten sie im gleichen Betrieb eine Ausbildung zur Damenschneiderin gemacht. Beatrix war die Trauzeugin gewesen, als Emmas Eltern geheiratet hatten. Anfangs der zwanziger Jahre war sie dann ihrem Ehemann, einem Geschichtsprofessor, in die Schweiz gefolgt. Emma hatte Beatrix danach nur noch einmal gesehen, an der Beerdigung ihrer Mutter. Da war Deutschland gerade in Polen einmarschiert.
Nach Cees Tod hatte Emma ihr einen Brief geschrieben. Die Antwort hatte der Briefträger vor wenigen Tagen in Liekes Briefschlitz in der Haustür geschoben. Liekes hatte geweint.
Aus Freude, dass Emma einen Weg nach draussen offenstand.
Aus Enttäuschung, dass die Postkarte nicht den Namen ihres Mannes als Absender trug.

Rebekka Salm, wohnhaft in Olten, studierte Islamwissenschaften und Geschichte in Basel und Bern, arbeitet als Texterin und Erwachsenenbildnerin im Migrationsbereich und ist Mutter einer Tochter. Publikationen in verschiedenen Literaturformaten, 2019 gewann sie den Schreibwettbewerb des Schweizer Schriftstellerwegs. Ihre Siegergeschichte ist im Buch «Das Schaukelpferd in Bichsels Garten» (2021) erschienen. 2022 erschien bei Knapp ihr Debüt «Die Dinge beim Namen«. 2023 erhielt sie von den Kantonen Baselland und Solothurn je den Förderpreis Literatur. 

Beitragsbild © Timo Orubolo

«Worte sieben» Zu den Schriftbildern von Ruth Loosli, von Julia Röthinger

«Und doch / müssen wir reden / weil wir Menschen sind», schreibt Ruth Loosli in einem ihrer Gedichte, und macht genau dies in und mit ihrem künstlerischen Werk, das Lyrik und erzählerische Prosa ebenso umfasst wie die stetig anwachsende Zahl an Schriftbildern, von denen hier eine Auswahl zu sehen ist. Leicht, aber nie leichtsinnig, gehaltvoll, aber nie schwer umkreist Ruth Loosli in ihrer Sprach- und Bildkunst die conditio humana, das menschliche Dasein, das geprägt ist von Freud und Leid, von Liebe und Verlust, von Zweisamkeit, aber auch Einsamkeit, von der Ohnmacht des Einzelnen in einer Welt, in der man Krisen und Kriegen hilflos gegenüber steht. Doch es gibt auch Hoffnung. Knochenarbeit; grün lautet der Titel einer der Zeichnungen Ruth Looslis, auf der der grüne Stängel einer Pflanze zu sehen ist, der aber auch ein Knochen sein könnte. Es ist kein gerader Pflanzenknochen, wenn er auch aufrecht ist: er hat einen Knick, ist gebeugt worden, sei es durch Hagel, sei es durch Unachtsamkeit, dass sich jemand mit groben Schritten durch das Gras bewegt und diese aufblühende Pflanze mit einem schweren Tritt geknickt hat. Und doch steht er da, dieser Pflanzenstängel, unbeirrt. Nicht immer ist das Wachsen ein geradliniges, oft genug nimmt es einen Umweg, oft genug ist es auch schwere Arbeit, wie die schwarzen Punkte andeuten: gleich den Jahresringen eines Baumes markieren sie die Entwicklungsschritte, Momente der Verdichtung, bis schliesslich oben die Blüte wächst, ein filigraner Fächer, ein zartes Gebilde, das aus dieser schweren Knochenarbeit hervorgegangen ist. Die Knochenarbeit kennen wir alle, als das Wachsen der Knochen, aber auch als eine intensive und mühevolle Arbeit. Auch Kunst ist eine Knochenarbeit, etwas das wächst und sich ent-wickelt, das gedeiht und oft genug auch Früchte trägt.

«Poesie ist Zuwendung zu Menschen, Dingen, der Natur. Ruth Loosli macht es in ihren wachen Gedichten vor.» Ilma Rakusa

Ruth Loosli «Ein Reiskorn auf meiner Fingerkuppe», Caracol, 128 Seiten, CHF ca. 20.00, ISBN 978-3-907296-28-8

1959 in Aarberg im Berner Seeland geboren, lebt und arbeitet Ruth Loosli seit 2002 in Winterthur. Seit mehr als zehn Jahren tritt sie mit ihrem lyrischen und erzählerischen Werk in Erscheinung, nicht zuletzt auch mit ihren Schriftbildern, in denen Ruth Loosli das Wort von seiner Abstraktheit entkleidet und es in seiner Bildhaftigkeit darstellt, wodurch sie dessen verborgenen, nicht immer offensichtlichen, manchmal überraschenden Kern herausschält. Da folgt ein seufzendes oh auf honolulu und setzt sich fort in immer weiteren oh´s, an die sich wieder neue oh´s anschliessen, bis all diese oh´s eine Insel bilden, eine Insel des Seufzers, eine Insel der Sehnsucht, eine Insel, in der das oh auch zum ho wird: zum Anfangslaut Honolulus, als ginge die Insel aus dem gehauchten Laut hervor. Oder wir lesen: frau steht am fenster und sehen das Fenster in der Schraffur der Worte, indem sich fenster an fenster reiht, ein Rechteck bildend, geschwungene Linien, als fingen sie die Reflexion des Fensterglases ein, und als träte aus dieser Reflexion die Frau hervor, im schwungvoll ausgeführten f. Und so siebt Ruth Loosli die Worte, prüft sie, klopft sie ab, niemals eindeutig, immer mehrdeutig. Ihre Schriftbilder zeigen uns den Resonanzraum, der hinter den einzelnen Worten steht.

 

Stets lotet Ruth Loosli dabei in ihrer Arbeit die Dimensionen des menschlichen Daseins aus, sein Auf und Ab. Kummer und Tränen werden vom Fluss des Lebens mitgetragen und reingewaschen, Narben verwachsen und neue Haut legt sich über alte Wunden. Es ist der feine Humor, der Welt und dem Dasein trotz aller Verletzungen heiter und offen zu begegnen, der eine Leichtigkeit über ihre Kunst legt. In ihren Schriftbildern, die Miniaturen gleichen, entfaltet sie eine ganze Welt und eröffnet einen Gedankenkosmos, der für das Suchen und Umkreisen steht, für die Verortung des Ichs in der Welt, und der einlädt zum Miteinander-Reden. Die Kunst von Ruth Loosli nimmt sich der Welt und des Menschen an und bewahrt sich eine ganz eigene Ästhetik, in der sich die Weite im Detail zeigt. Bleibt zu wünschen, dass Ruth Loosli mit ihrer Arbeit noch möglichst viele Menschen berühren und miteinander verbinden kann.

Julia Röthinger

Die Ausstellung ist immer offen, wenn Lesungen laut Programm des Literaturhauses stattfinden. Die Künstlerin freut sich, mit Interessierten ins Gespräch zu kommen und ist zusätzlich anwesend am:
Samstag,  9. September von 16-18 Uhr
Sonntag, 15. Oktober von 16-18 Uhr (Finissage inklusive Kurzlesung, falls erwünscht); Kontakt für Anfragen: ruth.loosli@gmail.com

Ruth Loosli, geboren 1959 in Aarberg und im Seeland aufgewachsen. Ein erster Gedichtband «Aber die Häuser stehen noch» erschien 2009. Nach weiteren Lyrikveröffentlichungen erschien 2021 ihr erster Roman «Mojas Stimmen». Aktuell ist ihr Gedichtband «Ein Reiskorn auf meiner Fingerkuppe» mit Schriftbildern der Autorin.

Flurina Badel «Be calm / Nur ruhig», übersetzt aus dem Rätoromanischen (Vallader) von Ruth Gantert

In avrigl algua l’ultima naiv, id es da scuar glera. In cumün savura da grascha. Pens vi da pleds cacofonics: puglina, chavallina, chaclana, buatscha. Tscherch ün pled per chaja da muos-chas. Tüpflischiss. I füss da pulir las fanestras. Tuot lascha fastizis. Eir scuar glera. Il strom da la scua lascha inavo lingias onduladas da la puolvra sülla salaschada. Fetsch rinchs sur tuot la plazzetta via.

Sün banc d’porta baiva cafè. In tuotta calma. N’ha increschantüm – da fluors. Da chalamandrins per exaimpel, da chaminella. Bram il cuffort da l’er in lügl, less sezzer illa sumbriva da l’estragun, mas-char salvgia, verer dalöntsch. Vez ün utschè grisch sül prà. O esa ün crap? Ün crap aint il ögl.

Svöd la chartera. Ün bof am tira bod ourd’man la posta, am sbarüffa ils chavels. Daspö mais soffla il vent be plü in üna direcziun. Cul cuors dal flüm chi sbocca aint il Mar Nair. Là baivan delfins minerals da Lucius, Emerita, Sfondraz e Bonifacius chi nu güdan neir na cunter il catar dal mar. Aint ill’aua impestada prospereschan algas, medusas nu stan cun bocca sütta ed our da las boccas riaintas da las ritschas cula moc. Ma quists dis ningün nu pensa al mar cupichà. Il plü da tuot a las minas. Srantadas d’orizis noudna illas uondas agitadas, giran per quai aint. Eu less cha’l vent volvess – las truppas, ils tancs, camiuns e lantscharaketas, ils bombardaders, jets ed elicopters, las corvettas, bastimaints e suotmarins – ils utschels grischs aint il Mar Nair. Quists dis daja protestas cun fögls albs. Sculozza bluotta invezza da pleds scumandats.

Lav giò la vaschella. Pens vi dal pais da l’aua sül muond. Tuot ils mars, lais, flüms, ils auals, las funtanas. E l’aua aint illas nüvlas eir. Tuot quist’aua chi nu vegn schlavazzada our’i’l univers, pervi da la gravitaziun. E perquai cha’l muond rotescha, gira cunter l’ura giò pel scul. Pens vi dal pled gravidanza, vi da la pel s- charpada suot l’umblin. Id es favrer ed eu dundag cun peis scuzs sün linoleum verdaint. Per na far la cupicha, am tegna vi da la duonna da part. Quella disch la gravitaziun güda. Eu nu sa co ch’üna boa chi strangla tira il flà. Rouv per ajer. Inchün divra üna fanestra. Coura, illa cuntraglüm, naiva s-chür.

In gün daja üna tampestada cha’ls granels cloccan vi da las fanestras da stüva. L’uffant vi dal bruost doza cuort il cheu per verer che chi capita, lura tetta’l inavant. Il rest dal di daracha. Vers saira esa nüvel cotschen. Ils pumpiers pumpan l’aua our dal schler inuondà dals vaschins. Cun l’uffant sün bratsch siglia tras ils fundigls sün plazzetta. L’uffant dà üna risada, muossa cun seis daintin vers l’aua. Aua sarà seis prüm pled, ma quai uossa nu savaina amo. In üert vezza cha züchas e zucchettis han föglia s-charpada. Ün pêr fluors decapitadas.

Petal per petal gelg as pierla our dals büttels da l’enotera. I düra be ün pêr secundas fin cha las fluors sun prontas per splendurir tras la not. Ellas sun sömmis da di, insömgiats da dadaint inoura. Da not insömgia da dadoura inaint. Il plümatsch schmatschà insembel la bunura. Mia membra crappa ed il cheu eir. Pleds van a cupicha, petrifichada resta pichà, chajusa segua, sün quel chalamer, s-chandler – i füss da far laina. Tuot douvra alch. Eir il sömgiar. I füss da dostar sia said. Ils sömmis süman.

In gazetta legia knattertrocken. Quists dis ningün nu disch stà. In nossas boccas sun uondas da chalur, mancanza d’aua, sechüra. La prada sechaditscha büschma. O esa l’ajer?
Quists dis durmina nüds. Trais bes-chas sainza pail chi giaschan üna sper tschella. Minchatant duos da quellas fan l’amur, dascus per na sdasdar l’uffant. Bes-chas chi’s guardan aint ils ögls. Guardain ils corps donnagiats. Nöglia da mal – be ün pêr nattas. Il tagl sur meis öss tuorp. Il tagl sur seis spinal. Meis daintulin stort. La pel scorchada da sia schnuoglia. Fin uossa eschna rivats da s-champar.

Baiv giò dal chüern. Giod il gust da fier süls lefs. Id es october ed eu lasch oura l’aua dal bügl, l’ultima jada per quist on. Cun ün barschun sgratta giò las ritschas da las paraids da beton, lav giò las restanzas da crema da sulai dals turists. Spet fin cha’l bügl s’ha darcheu impli, es spejel pel tschêl. Il tschêl es blau. Blau sco las ragischs dal nuscher schmers. Sia tschücha es amo adüna larmuossa. Rinchs clers dadaoura, quels dadaint s- chürs. Iris e pupilla püffan amunt.

Seguisch a mia sumbriva. Ella passa ouravant sur prada stipa. Sglischa sur mürs sechs e stailas da chardun. Ün chan bubla. Ils utschels grischs nu’s laschan disturbar. Il vent nun ha fat la volva. La bouda nu tuorna amunt. I’m para evidaint ch’eu pens il pled crappar. Sun surpraisa cha saint tantüna il tun da quist text ch’eu less scriver daspö avrigl. Davo ch’eu n’ha fat ir a bügl ils impissamaints, sguotna pled per pled culur latun.


Im April schmilzt der letzte Schnee, Kies muss weggefegt werden. Im Dorf riecht es nach Mist. Ich denke an kakofonische Wörter Vogelkot, Pferdeäpfel, Ziegenköttel, Kuhfladen. Suche ein Wort für Fliegendreck. Tüpflischiss. Die Fenster müssten geputzt werden. Alles hinterlässt Spuren. Auch das Kiesfegen. Der Strohbesen lässt staubige Wellenlinien auf dem Pflaster zurück. Zieht Kreise über den ganzen Vorplatz.

Ich trinke Kaffee auf der Bank vor der Tür. In aller Ruhe. Habe Heimweh – nach Blumen. Zum Beispiel nach Klee, nach Kamille. Sehne mich nach dem Trost des Kräuterbeets im Juli, möchte im Schatten des Estragons sitzen, Salbei kauen, in die Ferne schauen. Ein grauer Vogel sitzt auf der Wiese. Oder ist es ein Stein? Ein Stein im Auge.

Ich leere den Briefkasten. Eine Böe reisst mir fast die Post aus der Hand, zerzaust mir die Haare. Seit Monaten weht der Wind nur noch in eine Richtung. In diejenige des Flusslaufs, der ins Schwarze Meer mündet. Da trinken Delphine Minerale von Lucius, Emerita, Sfondraz und Bonifacius, die auch nicht helfen gegen den Meereskatarrh. Im verseuchten Wasser gedeihen Algen, Quallen treiben im Trüben und aus den lieblichen Mündern der Nixen quillt Schleim. Aber in diesen Tagen denkt niemand ans hinfällige Meer. Höchstens an die Minen. Von Gewittern entfesselt schwimmen sie in den wilden Wellen, irren umher. Ich wollte, der Wind drehte – die Truppen, Tanks, Lastwagen und Raketenwerfer, die Bomber, Jets und Helikopter, die Korvetten, Schiffe und U-Boote – die grauen Vögel im Schwarzen Meer. In diesen Tagen gibt es Proteste mit weissen Blättern. Blankes Grauen statt verbotener Wörter.

Ich wasche das Geschirr. Denke an das Gewicht des Wassers auf der Welt. Alle Meere, Flüsse, Bäche, Quellen. Und auch das Wasser in den Wolken. All das Wasser, das nicht ins Universum geschleudert wird, wegen der Schwerkraft. Und weil die Welt sich dreht, fliesst sie im Gegenuhrzeigersinn durch den Gully. Ich denke an das Wort Schwangerschaft, an die zerfetzte Haut unter dem Bauchnabel. Es ist Februar und ich wanke mit nackten Füssen über das grünliche Linoleum. Halte mich, um nicht hinzufallen, an der Hebamme fest. Sie sagt, die Schwerkraft hilft. Ich weiss nicht, wie eine Schlange beim Würgen atmet. Bitte um Luft. Jemand öffnet das Fenster. Draussen, im Gegenlicht, schneit es dunkel.

Im Juni hämmert ein Sturm seine Hagelkörner gegen die Stubenfenster. Das Kind an der Brust hebt kurz den Kopf um zu sehen, was los ist, dann saugt es weiter. Den restlichen Tag regnet es. Später leuchten die Wolken rot. Die Feuerwehrleute pumpen Wasser aus dem überfluteten Keller der Nachbarn. Mit dem Kind auf dem Arm springe ich über die Pfützen auf dem Vorplatz. Das Kind lacht auf, zeigt mit dem Fingerchen auf das Wasser. Aua, Wasser, wird sein erstes Wort sein, aber das wissen wir jetzt noch nicht. Im Garten sehe ich die zerfetzten Blätter der Kürbisse und Zucchetti. Ein paar geköpfte Blumen.

Ein gelbes Blütenblatt nach dem andern wirbelt aus den Knospen der Nachtkerze. Es dauert nur einige Sekunden, bis die Blumen bereit sind, durch die Nacht zu leuchten. Sie sind von innen nach aussen geträumte Tagträume. In der Nacht träume ich von aussen nach innen. Am Morgen ist das Kissen zusammengedrückt. Meine Glieder aus Stein, und auch der Kopf. Wörter fallen übereinander, Salzsäule bleibt stehen, Schisshase folgt, darauf Schreibstau, Scheiterhaufen, Holz müsste gehackt werden. Alles hat seine Bedürfnisse. Auch das Träumen. Dessen Durst müsste gestillt werden. Die Träume vertrocknen.

In der Zeitung lese ich knattertrocken. In diesen Tagen sagt niemand Sommer. In unseren Mündern sind Hitzewellen, Wassermangel, Trockenheit. Die verdorrten Wiesen wispern. Oder ist es die Luft?
In diesen Tagen schlafen wir nackt. Drei Tiere ohne Pelz, die nebeneinander liegen. Manchmal lieben sich zwei von ihnen, leise, um das Kind nicht zu wecken. Tiere, die sich in die Augen sehen. Wir schauen die versehrten Körper an. Nichts Schlimmes – nur ein paar Narben. Der Schnitt auf meinem Schambein. Der Schnitt auf seiner Wirbelsäule. Mein krummer kleiner Finger. Die aufgeschürfte Haut auf seinem Knie. Bis jetzt sind wir davongekommen.

Ich trinke vom Brunnenrohr. Geniesse den Geschmack des Eisens auf den Lippen. Es ist Oktober und ich lasse das Brunnenwasser aus, zum letzten Mal dieses Jahr. Kratze mit einer Bürste die Algen von den Betonwänden, spüle die Sonnencreme-Resten der Touristen aus. Warte, bis der Brunnen sich wieder gefüllt hat, ein Spiegel für den Himmel. Der Himmel ist blau. Blau wie die Wurzeln des gefällten Nussbaums. Sein Stumpf tränt noch immer. Helle Ringe aussen, die inneren dunkel. Iris und Pupille starren hinauf.

Ich folge meinem Schatten. Er geht voran auf steiler Wiese. Gleitet über Trockenmauern und Distelsterne. Ein Hund bellt. Die grauen Vögel lassen sich nicht stören. Der Wind hat nicht gedreht. Der Steinschlag kehrt nicht bergwärts zurück. Es scheint mir naheliegend, dass ich das Wort erschlagen denke. Ich bin überrascht, dass ich endlich den Ton dieses Textes höre, den ich seit April schreiben möchte. Nachdem ich die Gedanken getränkt habe, tropft Wort für Wort, messingfarben.

Dichterin und ihre Übersetzerin
Flurina Badel «tinnitus tropic / tropischer tinnitus, poesias / lyrik», Übersetzung von Ruth Gantert, Flurina Badel, Visueller Beitrag von Jérémie Sarbach. Nachwort von Dumenic Andry, 156 Seiten, Zürich, Edition Howeg, 2023

Flurina Badel, 1983 geboren, lebt in Guarda im Engadin. Nach einer Erstausbildung zur Journalistin war sie als freischaffende Dokumentarfilmerin und Moderatorin tätig. 2015 absolvierte sie den Master of Fine Arts am Institut Kunst der HGK FHNW in Basel und war 2017/2018 Gaststudentin am Institut für Sprachkunst der Universität für angewandte Kunst Wien. Seit 2014 arbeitet sie hauptberuflich im Künstler-Duo Badel/Sarbach, dem unter anderem der Manor-Kulturpreis 2019 verliehen wurde. Seit 2016 ist Flurina Badel die zuständige Redaktorin der rätoromanischen Literatursendung «Impuls» bei Radiotelevisiun Svizra Rumantscha und sie moderiert oder kuratiert kulturelle Anlässe wie zum Beispiel das Symposium LitteraturA Nairs. Flurina Badel schreibt zweisprachig, auf Rätoromanisch und Deutsch. Für ihre Texte wurde sie 2018 mit dem OpenNet-Preis der Solothurner Literaturtage und mit dem Double-Stipendium des Migros-Kulturprozent, 2020 mit dem Schweizer Literaturpreis und 2022 mit dem rätoromanischen Literaturpreis Term Bel ausgezeichnet.

Ruth Gantert wurde 1967 in Zürich geboren, wo sie heute lebt. Sie studierte Romanistik in Zürich, Paris und Pisa. Sie war Dozentin für französische Literatur an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen. Heute ist sie Literaturvermittlerin, Redaktorin und Übersetzerin.

Webseite der Autorin 

Beitragsbild © Jérémie Sarbach

Cornelius Müller «Heimat – ein Reisetagebuch», Plattform Gegenzauber

Es gibt keinen ruhigeren Ort für einen Spaziergang als das Neubaugebiet um achtzehn Uhr dreißig. Die Häuser stehen in Zehnerblöcken, weißer Putz, schwarze Dachziegel. Wer es ausgefallen mag, versieht die Fassade mit einem Farbstreifen auf halber Höhe. Fetzig, so muss der Auftrag gelautet haben, fetzig soll es aussehen. Man kann sie riechen, die fetzige Farbe, so wie man den Rasen, den Asphalt, die freigelegte Erde aus den Baugruben riecht. 
Noch sind die Hecken nicht hoch genug, noch lassen sich hinter den Glasfronten die frischen Familien beobachten. Die Kinder mit geraden Rücken und baumelnden Beinen, die Eltern mit großen Gesten am Herumreichen, hier die Butter, dort der Landschinken, gern schneid ich dir noch eine Scheibe vom Brot ab, ist das nicht toll, aus dem Holzofen, nein, schmieren musst du es schon selbst. Im Garten davor steht der Spielturm aus dem Baumarkt, der alles hat, wirklich alles: Schaukel, Rutsche, Klettergriffe, Häuschen, Sandkasten. Warmes Abendlicht legt sich über den Holzkoloss. Irgendwo piepst ein Marderschreckgerät. Eine Perserkatze huscht über den Gehweg, das Fell noch kurz, auch sie eine Neuanschaffung. Ein Elektroauto surrt in seine Einfahrt. Daneben stehen die Jungbäume Spalier, an Pfähle geknotet, so wachsen sie gerade. Die Straßen heißen Bertolt Brecht, Theodor Fontane und Friedrich Schiller.

Was macht eigentlich Anna Blum? Immer wieder treibt mich die Frage um während meines Besuchs in Dornhan. Anna war das strohblonde Mädchen, lebhaft und auf eine meist gute Weise frech, das den Jungs aus der Realschule Paroli bot, wenn die in der großen Pause zu uns Grundschülern rüberkamen. Sie hatte denselben Schulweg wie ich und ab und zu war ich wohl ein bisschen verliebt, wenn sie vor ihrem Haus unter dem Straßenschild wartete, damit wir zusammen gehen konnten. 
Das erste Mal fahre ich auf dem Weg vom Bahnhof daran vorbei, als mein Vater mich vom Bahnhof abholt. Später noch einmal mit dem Fahrrad. Irgendwann fällt mir auf: Ich nehme immer denselben Weg, obwohl es viele andere gäbe. Da ist das schicksalhafte Gefühl, dass ich ihr begegnen werde. Dort vor ihrer Einfahrt, vielleicht sogar unter dem Straßenschild. Oder später, beim Laufen mit dem Hund. Da bin ich mir fast sicher, dass sie mir gleich entgegenkommen wird, und dann werde ich sagen: „Anna Blum! Mensch, wie geht’s dir, Anna Blum? Und was machst du eigentlich mittlerweile?“ Wir werden ein paar Sätze wechseln und uns gutmütig zulächeln und wieder unserer Wege gehen, und ich werde denken: Ah ja, das macht sie also! 
Am Samstagabend treffe ich im Spitz, der speckigen Stammkneipe neben der Kreissparkasse, den Chrisi und den Jerke. Chrisi hat zwar immer noch seine Tunnelohrringe, ist aber mittlerweile nach Stuttgart gezogen und hat bei seinem Arbeitgeber vier Tage Homeoffice pro Woche rausgehandelt. Jerke hat das Abi abgebrochen, dann ein FSJ gemacht, dann ein Informatik-Studium abgebrochen, jetzt aber eine Ausbildung zum Jugendbetreuer in Stuttgart begonnen, wo alles super ist bis auf den Nachbarn. Der ist ein richtiges Arschloch, das in seinen Beschwerde-Mails an die Hausverwaltung die verschiedenen Geräusche, die er um halb eins gehört haben will, nach Typen sortiert aufzählt: Möbelrücken, mehrstimmige Unterhaltungen, Türquietschen, lautes Gelächter. 
Wir trinken Weinschorle und Pils und den ganzen Standardkram. Darüber vergessen wir das Championsleague-Finale, das die restlichen Kneipengäste an den Fernseher fesselt. Einer nach dem anderen packen wir die alten Geschichten auf den Tisch. Die Europatour mit der Jungschar. Die Partys bei Chrisi im Keller mit Billigvodka und miesem Tomorrowland-Techno. Überhaupt die Partys. Auf den Grillplätzen, in den Bauwägen, den Turnhallen und den Festzelten, und nichts anderes zählte als dabei zu sein, dabei so hart und so lange wie möglich. Dabei, damit man sich am Montag erzählen konnte, wie der Luca am Straßenrand eingepennt oder der so und so sich die Ina geklärt hatte. 
Irgendwann spät am Abend, wir sitzen angetrunken und zugekifft am Kneipentisch und träumen von den Zeiten, in denen der Spitz noch Bockwurst mit Senf verkaufte, sagt Jerke: „Leute, wisst ihr, was ich mich immer wieder frag, wenn ich daheim aufm Bett lieg und an früher zurückdenk?“
„Ne Digger, was denn?“
„Was macht eigentlich Anna Blum?“

Bei Oma und Opa ist neben der Klopapierrolle jetzt ein Haltegriff in die Fliesen geschraubt. Auf der Kloschlüssel liegt ein sperriger weißer Aufsatz. Oma plant ihre Tage so, dass sie nur einmal die Treppe runtersteigen muss. Am Dienstagmorgen, bevor der Mann vom Pflegedienst kommt, frühstücken wir deshalb im Schlafzimmer. Sie im Sessel, Opa und ich auf der Bettkante. Opa zieht das Rouleau hoch. Ein breiter Streifen Morgenlicht fällt auf den Teppichboden. 
„Ich mag das ja nicht, wenn man hier so reingucken kann ohne den Rollo.“
„Och Alida, nun lass doch mal gut sein. Hier guckt doch niemand rein, was haben die denn davon.»
„Ja. Aber ich muss denn nachher auch sehn, dass ich rechtzeitig fertig bin, bevor der Mann von der Pflege kommt.“
„Alida. Der kommt um zehn Uhr. Das ist noch über eine Stunde, das wird uns ja wohl reichen.“
Die Löffel klimpern in den Müslischalen, dann Oma, wie zu sich selbst: „Ich mag das einfach nicht leiden, Termine am Morgen.“
Später auf der Terrasse herrscht konzentriertes Schweigen. Augen zusammenkneifen hinter Lesebrillen. Opa mit der Lokalpolitik, Oma mit dem ADAC-Prospekt. Bis vor einem Jahr waren es hier Oma, Opa, Tante Anne, Onkel Carl. Der Doppelhaustraum, dann der Unfall. Um eins holt Anne Carl aus dem Pflegeheim. Die Sportsonnenbrille und die Kappe sitzen schief. Er gibt ein dünnes „Moin!“ von sich und legt eine Reihe Schneide- und Eckzähne frei. Gemeinsam hieven wir ihn die Rampe von der Garage zur Terrasse herauf, dann rollt Anne ihn an seinen Platz im Schatten der Markise. Sie rückt die Kappe und die Sonnenbrille zurecht, schiebt ihm ein Kissen unter die Hände. 
„Alles gut, Carl?“, frage ich.
„Ne!“, sagt er. 
Oma hat derweil einen Bericht über die Mecklenburgische Seenplatte entdeckt.
„Ach, wenn ich all die Urlaubsorte sehe, da möchte man glatt nochmal reisen.“ Ihre Stimme wackelt verdächtig. Opa bedient sich seiner altbewährten Abwehrstrategie, ein bisschen Humor hat noch niemandem geschadet: „Ja, da musst du das wie Friedel machen, die war da überall schon.“
Friedel sitzt im Altersheim und schaut dort allabendlich ihre Reisereportagen. Seit einem halben Jahr lässt eine fortschreitende Makuladegeneration ihr Sichtfeld verschwimmen. Wenn die Stimme aus dem Off sagt, dass die Mecklenburgische Seenplatte aus über tausend Seen besteht, die durch ein engmaschiges Netz aus Flüssen, Bachläufen und Kanälen verbunden sind, sieht Friedel auf dem Fernseher grüne, braune und blaue Schlieren; den Rest ergänzt ihr Gedächtnis.
Abends, nachdem Oma die Reise Richtung Bett angetreten und Opa sich, „Ou, jetzt kommt mein Barnaby!“, vor den Fernseher gesetzt hat, sitze ich mit Anne auf der Terrasse. Wir trinken Whiskey Sour. 
„Das ist anders geworden, das ist wirklich alles ganz anders geworden. In den letzten zwei Jahren, da hat sich das alles verändert hier bei uns. Willst du noch einen?“ 
Wir diskutieren das Mischverhältnis und die Familiengeschichte und den Sternenhimmel und das Flugverhalten der Fledermäuse. Anne schenkt nach.

Cornelius Müller studiert Psychologie an der Universität Konstanz mit einem Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes. Er veröffentlicht Kurzgeschichten im Konstanzer NUN-Magazin und hat im Laufe seines Studiums diverse Schreibseminare besucht, zuletzt die Schreibakademie Kurzgeschichte bei Hanns-Josef Ortheil. Im Rahmen seines Projekts „Heimat – ein Reisetagebuch“ sammelt er Eindrücke, die zwischen seinem Studienort, seinem Heimatdorf im Schwarzwald und dem Wohnort seiner Großeltern an der Nordseeküste pendeln.

Beitragsbild © privat

Walle Sayer „Die Spätauslese des Gesehenen – vier Gedichte“, Plattform Gegenzauber

Litanei

Auch Wurstfinger haben ihre Feinmotorik.
Auch die verrauchte Stammkneipe ist Fakultät.
Auch Friedhofsbänkchen oder Mauervorsprung bieten Logenplätze.
Auch der Katzenradius um den heißen Brei zeichnet eine Umlaufbahn.
Auch die Einkaufsliste des Alleinstehenden ließe sich deklamieren.
Auch Geld verschwenden sei mitunter eine Art, es zu verachten.
Auch Schlafsack und Fallschirm sind entfernte Verwandte.
Auch die kahle Glühbirne an der Zimmerdecke wäre ein Gestirn.
Auch ein herumgereichter Plastikbecher könnte als Kelch dienen. 
Auch den Sichtschutz aus Klarheit kann es geben. 

 

Steht, stand, gestanden

                                      Das ist eine Geschichte, dieser eine Satz.
                                              Peter Bichsel

Auf dem Podest einer Gartenmauer, 
unter dunkel aufziehenden Regenwolken,
steht da in sich verstummt ein Karton 
voll aussortierter Kinderbücher.

Die Erschöpfung stand am Küchentisch,
hielt inne und starrte in den Strudelteig,
schloß für einen Moment die Augen,
als könne man auch so untergehen.

Mit dem Einläuten der letzten Runde ist einer auf-
gestanden und klopfte, bevor er ging,
mit seinen hellen Fingerknöcheln
dreimal auf die Tischplatte.

 

Begegnungsstätte

Durch einfallendes
Straßenlampenlicht erhellt,
im Halbdunkel von Praxisräumen,
in einem dämmernden Gemeindesaal,
dies aufatmende Stilleben,
nachdem der abendliche Gesprächskreis
aufgelöst wurde, gegangen ist,
rundum die Stühle zurückließ,
die jetzt alleingelassen 
sich auf sich selbst gesetzt haben,
mit ihren müden Lehnen,
den schwebenden Sitzflächen,
ihrem ersten Schattenentwurf,
ein eigenes Zentrum bilden, 
sich konstituierten,
aber nichts erwidern,
nichts entgegnen,
keine knifflige Antwort wüßten
auf die ungestellte Frage,
einander nur groß anschweigen 
in ihrer Verbliebenheit.

 

Die Spätauslese des Gesehenen

Der morgens schon vollgestellte Parkplatz vorm Amtsgericht.
Der Neubau einer Freikirche, die dastand als Gebetsfiliale.
Ein Toupetträger, dem man ansah, daß er ein Toupet trug.
Das aufgebrochene Geheimfach eines verweinten Gesichtes.
Etwas Zentrierendes, wie eine stillende Mutter im Raum.
Das einzige Grab in der Reihe, das von Bienen angeflogen wurde.
Das stotternde Fahrschulauto, das am Kapellenberg das Anfahren übte.
Die Mauer, als träte sie hinter den Schatten zurück, den sie warf.
Inmitten des nicht abgeräumten Tisches: die Grazie eines Weinglases.
Die abgenutzte Zahnbürste, die deinen Blick erwiderte.
Vertrocknete Mäusekötel in einer Werkzeugkiste.
Der Schnullerabdruck um den Babymund.

 

Walle Sayer, 1960 in Bierlingen bei Tübingen geboren, lebt in Horb am Neckar und schreibt Gedichte und Prosa. Veröffentlichungen seit 1984. Seit 1994, seit dem legendären Erfolg seiner Prosa «Kohlrabenweißes», erscheinen seine Bücher in enger verlegerischer Zusammenarbeit mit Hubert Klöpfer. Zuletzt erschienen „Mitbringsel“ (2019 ), „Nichts, nur“ (2021) und „Das Zusammenfalten der Zeit“ (2022).
Walle Sayer erhielt über die Jahre namhafte Stipendien und Auszeichnungen, u. a. den Berthold-Auerbach-Preis, den Thaddäus-Troll-Preis, den Basler und den Gerlinger Lyrikpreis, 2020/21 das Jahresstipendium des Deutschen Literaturfonds. Er ist Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller und im Deutschen PEN.

Beitragsbild © Charly Kuball

Walter Fabian Schmid «Die Lost Places zucken noch», Plattform Gegenzauber

TOKAMAK

Du hast unseren Frieden in den Vorhof
gepflanzt. Abgesteckte Beete. Wie Kammern,
aus denen unbekannte Namen flimmern.

Wir Auferstandenen steigen weiter und weiter auf.

An den Rändern schwarzer Löcher verglühen
unsere Herzen. Nur Plasma. Energie
für unsere Kinder, die nie mehr kommen.
Die nie diese Wärme spüren. 150 Millionen
Grad. Gemessen in der Zeit,
die wir als Menschen verbrachten.

 

AUCH TOURISTEN VERSTRÖMTEN WÄRME

Im Sonnenbrand der Winteräpfel
warfen die Meere Blasen,
verbrühten die Gletscher und
verdampften an der Himmelskruste.

Wir sassen in unseren Autos
und bestaunten die Feuer.

»Was für ein Postkartenmotiv!«

Auf halbem Weg ging die Sendung verloren.
Auch unsere Restsouvenirs gingen zu Bruch.

Tollpatschig fielen die Felswände um.
Berge besuchten uns öfter
im Tal. Die Gäste fuhren schon früher
mit E-Bikes dem Sturz entgegen.

Im Winter legte sich Frost
über das Magma. Ein roter
Spiegel voller Risse,
die blicken liessen
auf die eingeschmolzenen
Feldspaten abgewanderter Bauern.

 

WIR TRUGEN DÜNNERE HÄUTE

Seen schwitzten das Klima aus.
Wälder nur qualmende Stummel.

»Wer verträgt schon diese Gluten?«

Sommerfrischler bestiegen ausgekühlte Halden.
Ihr Schweiss schwemmte Fahrbahnen frei
für Aschetransporter. »Feinstes Karbon!«

Die Staublungen der Erdhörnchen keuchten.
Schwer scharrten sie alte Apparate aus.
iPhones auf Stand-by. Ein Beistand
für grausame Bilder.

Wir zählten die Baumringe unter den Augen,
als die Schattenseite der Äpfel schon brannte.

Die Luft trug einen reizenden Feststoff
aus und wir schlüpften in dünnere Häute.

 

MAN HÄNGTE UNS EINFACH SO AB

In unseren Stuben lagen die
Leitungen blank.

Aus Dielen rieselten Schritte.
Wege, die sich wie Frassgänge
in unser Holz gekerbt hatten.

Erinnerung legte sich
nur noch den Tieren in die Instinkte.

Dem Marder, der nach den Kabeln schürfte,
um am versiegten Stromfluss zu lecken.

Vom Berghang rollten
verlorene Echos, krochen durch
Röhren unserer Fernseher,
die niemand mehr reparierte.

Abgehängt hinterliessen auch wir
nur die hellen Flecken auf der Tapete.

 

WIR WURDEN ZU STAUB,
AUS DEM WIR UNS MACHTEN

Im Herbst kam den Feldern
das Suppenkraut hoch.

Mit schiefem Kreuz
humpelten Alte zur Kirche.

Der Mief holte sich noch einmal Luft
von entlaufenen Kindern.

Wir aber waren schon abgefahren
mit unseren Zweitaktern und
holten die Auferstandenen
unmöglich ein.

 

(Die wiedergegebenen Gedichte sind aus «Die Lost Places zucken noch», edition offenes feld. Dortmund 2023.)

Walter Fabian Schmid, geboren 1983 in Regen, ist Schweizer und Deutscher und lebt im Kanton Bern. Er studierte Diplom-Germanistik in Bamberg, arbeitete als Redaktor, Literaturvermittler und Texter. Er erhielt den Calwer-Hermann-Hesse-Preis 2010 als Mitredaktor der Literaturzeitschrift poet, war nominiert für den Leonce-und-Lena-Preis 2011 und 2015 sowie den open mike 2014 und den Dresdner Lyrikpreis 2020. Gemeinsam mit Tristan Marquardt gründete er die Lesereihe «meine drei lyrischen ichs».

Beitragsbild © Sascha Kokot

Karl Ove Knausgård «Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit», Luchterhand

1050 Seiten sattes Leben voller Verzweiflung und voller Hoffnungen: Karl Ove Knausgård schickt uns in ein sympathisch-chaotisches Universum und switcht dabei zwischen dem Südnorwegen der mittleren 1980er-Jahre und dem heutigen Russland – ein Stern am Himmel inklusive. 

Gastrezension von Frank Keil

Er erwacht, als die Lautsprecherstimme den Landeanflug ankündigt. Ein wenig enttäuscht ist er von sich, dass er eingeschlafen ist, statt den Flug zu genießen, den Blick auf die russische Landschaft, auf langgestreckte Wälder und sich schlängelnde Flüsse, vielleicht zwischendurch eine kleine Stadt, die auftauchen und dann wieder verschwinden würde. Syvert heißt unser Held, mit Nachnamen Løyning; verheiratet, die Kinder sind groß und also aus dem Haus, sein Bestattungsunternehmen läuft gut, sehr gut sogar, und nun ist er unterwegs zu seiner Schwester, die er noch nie gesehen hat. Er hat sich in Moskau in einem Hotel einquartiert, dass sich nicht weit vom Bolschoi Theater und vom Roten Platz entfernt befindet, das also recht zentral liegt. Er meldet sich via Facetime bei seiner Frau, gut angekommen sei er, vielleicht sollten sie sich ein Segelboot kaufen, wäre das nicht eine gute Idee? Er isst noch im Flughafen einen Hamburger, dazu Pommes und eine Cola. Dann lässt er sich zum Hotel fahren, checkt ein, schreibt seiner Schwester eine Nachricht, er sei jetzt in der Stadt, er freue ich auf das morgige Treffen, ein Zeichen soll es sein, mehr ist es nicht. Er nennt sie „little sister“. Wir sind auf Seite 924 angekommen, wir sind gespannt, was nun passieren wird.

In Südnorwegen beginnt alles zuvor, im Jahr 1986, in einer kleinen, vordergründig gesichtslosen Stadt an der Küste kommen wir hinzu, wo Syvert aufgewachsen ist: einerseits ist das lange her, in einer irgendwie anderen Zeit. Und andererseits ist alles wieder da, kaum hat er seine Tasche abgestellt, ist alles so wie neulich, weil sich in solchen Nestern mit Tankstelle und Videothek und der Schnellstraße und dem Fußballverein (Karl Ove Knausgård ist Fußballfan), wo er sofort wieder seinen Platz zugewiesen bekommt, dann doch wenig ändert, so wie auch die Kumpels von damals sich sofort umhören, wo er einen Job finden könnte, übergangsweise, bis er eine Idee hat, wie es weitergehen könnte mit seinem Leben (er hat keine Idee, gar keine), na ja, und da bietet sich der Job beim hiesigen Bestatter an, der immer Hilfe gebrauchen kann; besser als nichts, und im örtlichen Werk, wo sonst alle unterkommen ist gerade nichts frei, und seiner Mutter will er nicht länger auf der Tasche liegen, wie man so sagt, auch weil auf seine Mutter etwas zurollt, das sie zu verschlingen droht und sie hat doch schon ihr ganzes Leben so hart geackert, da will er sie unterstützen.

Syvert ist 19 Jahre alt, hat gerade seinen Militärdienst absolviert, als Koch bei der Marine. Kochen also kann er, als er zurückkehrt in sein Elternhaus, dass genaugenommen sein Mutterhaus ist, denn sein Vater ist seit einigen Jahren tot, bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, nur noch schwach kann er sich an ihn erinnern, was sich ändern wird. Weil er nun nach und nach manches erfährt, dass er nicht wusste und was seinen Blick auf die Welt und besonders auf seine Eltern neu ausrichten wird, ob er das will oder nicht (er will es nicht, aber das Leben fragt ihn nicht, sondern es geht seinen Weg und nimmt ihn entsprechend an die Hand, falls er stolpert, und das tut er).

Er muss sich nur irgendwas halbwegs Überzeugendes ausdenken, was er Lisa sagt, was er jetzt arbeitet, übergangweise; Bestatter-Gehilfe klingt und wirkt da vielleicht nicht ganz so gut, wenn er mit ihr ausgehen will, dabei hat sie ihm klipp und klar gesagt, dass er absolut nicht ihr Typ ist und er sich keinerlei Hoffnung machen soll, aber so wie sie ist, wenn sie sich treffen, kann das eigentlich nicht sein.

Karl Ove Knausgård „Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“, aus dem Norwegischen von Paul Berf, Luchterhand, 2023, 1056 Seiten, CHF ca. 39.00, ISBN 978-3-630-87635-1

Ach ja: Karl Ove Knausgård, das ist der norwegische Romancier, dessen autofiktionales Werk „Min Kamp“, auf Deutsch zu übersetzen mit „Mein Kampf“, die Literaturgemeinde so tief spaltete: Sechs je kiloschwere Bände erschienen zwischen 2009 und 2011: „Sterben“, „Lieben“, Spielen“, „Leben“, „Träumen“ und dann „Kämpfen“, in denen er jeweils sein eigenes (Er)Leben zum Ausgangspunkt und noch mehr zum Fundus seiner Romane machte. Für die einen war das nicht mehr als manische und eitle Selbstbespiegelung von begrenztem Wert, für andere dagegen belebte er die Grundtechnik des Erzählens neu, gab er dem bis heute anhaltenden Siegeszug des autofiktionalen Erzählens den Grundimpuls. Nun hat sich Knausgård nach einer Art Zwischenschritt (einer Tetralogie von romanähnlichen Büchern, benannt nach den Jahreszeiten) dem rein fiktionalen Erzählen zugewandt und eine neue Reihe mit ebenfalls sechs Bänden angekündigt: der vorliegende ist nach „Der Morgenstern“ der zweite Band, so wie auch Syvert in Moskau einen Stern am Himmel sehen wird, der nicht weichen will und der die Millionenstadt in ein eigenes Licht tauchen wird.

Und dann ist damals noch etwas passiert, als wir Syvert als jungen Mann auf seinem Weg durch sein anfangs so zielloses Leben begleiten, in einem fernen, im mittleren Teil der Sowjetunion (mit dem Norwegen nordostwärts ein schmales Stück Grenze hat), in einem Krenkraftwerk in einem Ort bei Kiew mit Namen ‚Tschernobyl‘ und ist das nun beruhigend oder ist beunruhigend, was Syvert dazu im Radio hört, was die Experten sagen und was sind das zugleich für Briefe, die er beim Aufräumen in der Scheune bei den Sachen seines Vaters findet: Briefe auf Kyrillisch, Briefe offenbar von einer Frau, wer könnte die für ihn übersetzen und will er wirklich wissen, was dann da auf dem Papier vor ihm steht?

Und als wir wissen, was da zu lesen ist, so wie nun Syvert es weiß, eine Flasche Rotwein hat ihn dieses Wissen gekostet, verlassen wir ihn vorerst (keine Sorge: Wir treffen ihn wie schon erwähnt wieder, viele Jahre und eben einige Hundert Seiten später, die Sowjetunion gibt es entsprechend nicht mehr, und wir lernen Alevtina kennen, als desillusionierte Dozentin in der Post-Sowjetunion, doch Jahre vorher als aufgeweckte und vorwärtsstrebende Studentin, die zu Pilzen und ihren Verbindungen zu Bäumen forschte („Leben. Leben. Leben“, das sei der Sinn des Daseins, da ist sie sich sicher, als sie während einer Forschungs-Exkursion durch die einen nordkarelischen Wald taumelt und in Folge dieser Erkenntnis, wird sie sich bücken und einige der aus dem Boden ans Licht wachsenden Pilze essen), die nun gleichfalls in ihren Heimatort zurückkehren wird, um mit ihrem Vater dessen 80sten Geburtstag zu feiern, ein Geschenk hat sie nicht mit, dass muss sie noch besorgen (dringend!), am besten ein Buch (nur welches?), denn ihr Vater ist ein Büchermensch, ist es durch und durch, draußen liegt Schnee, es ist kalt, es ist richtig kalt, förmlich gefroren ist die Welt, und bei ihr ist es die Mutter, die schon lange tot ist, was nicht heißt, dass es auch zu ihr eine irgendwie magische Verbindung gibt, schwer zu erklären.  

Ein ganz spezielles Verhältnis haben entsprechend Tochter und Vater, dieser ein einstiger Komponist, wie in diesem Roman alle auftretenden Personen zu ihren Mitmenschen ein spezielles Verhältnis haben, wie sie sich begegnen, wie sie miteinander leben, wie sie wieder auseinandergehen, zunächst oder vorübergehend oder endgültig.

Und das sind nur einige, wenige Handlungsfäden, die hier stellvertretend skizziert und ausgerollt werden sollen (man könnte auch andere nehmen, es sind genug da), denn kaum hat man angefangen zu lesen, die ersten 50, dann 100 Seiten, hat man einerseits die Übersicht über das sich vor einem ausbreitenden Geschehen verloren und es gleichzeitig absolut genau erfasst.
Wie Knausgård so seinen Helden vertraut, wie er sie in die Welt schickt, wo sie sich verlieren, wo sie sich wiederfinden (und umgekehrt), suchen sie in beiden Fällen nach Orientierung – entlang der großen Fragen: Wer bestimmt mein Leben? Wovon hängen meine Entscheidungen ab? Weiß ich, was ich tue? Und wenn nicht, wer dann?

Und was ist mit dem Tod? Wie lässt er sich erklären – und wie lässt er sich überwinden? ‚Komismus‘ ist ein Stichwort, das zwei-, dreimal fällt, eine zunächst philosophische und damit gedankliche Richtung, entstanden und auf den Weg gebracht im Russland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die nichts Geringeres forderte (und fordert), als: Unsterblichkeit für alle! Dann in den praktischen Wissenschaften weitergeführt im sowjetischen Kommunismus, in der Biologie, der Physik, mal offiziell, mal im Verborgenen, je nach Stand der Kämpfe im innersowjetischen Machtgefüge. So dass dieser Roman in einer ganz eigenen Schwebe gehalten wird: Wir betreten die intime Alltagswelt unserer Helden, versuchen es uns dort wohnlich zu machen, was Seite für Seite immer besser gelingt – und zugleich wirkt und durchdringt all das ein so rätselhaftes wie magisches Denksystem, das verwirrt und angenehm verstört. 

Wunderbar geschrieben (übrigens), dramaturgisch hervorragend komponiert (dito), von einer sprachlichen Wucht getragen, die seinesgleichen sucht – und so sollte man sich vom Umfang dieses Werkes (!) so gar nicht beeindrucken oder gar einschüchtern lassen: Wenn es auf das Ende zugeht, möchte man nicht, dass es endet, möchte man, dass es weitergeht, dass es immer weitergeht (dass auch die Geschichte(n) von Jewgenij und von Vasilisa weitererzählt werden und sich weitere Erzählfäden vernetzen) und welches Buch vermag das schon, einen in so einen nüchternen Rausch zu versetzen. Was ein Glück also, dass Karl Ove Knausgård weitere Bände angekündigt hat, die sicherlich je ganz andere Wege gehen, vielleicht begegnen wir den uns gerade liebgewonnen Helden wieder, vielleicht auch gerade nicht, wie auch immer, es wird ein Fest werden.

Karl Ove Knausgård wurde 1968 geboren und gilt als wichtigster norwegischer Autor der Gegenwart. Die Romane seines sechsbändigen, autobiographischen Projektes wurden weltweit zur Sensation. Sie sind in über 30 Sprachen übersetzt und vielfach preisgekrönt. 2015 erhielt Karl Ove Knausgård den WELT-Literaturpreis, 2017 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Er lebt in London.

Paul Berf, geboren 1963 in Frechen bei Köln, lebt nach seinem Skandinavistikstudium als freier Übersetzer in Köln. Er übertrug u. a. Henning Mankell, Kjell Westö, Aris Fioretos und Selma Lagerlöf ins Deutsche. 2005 wurde er mit dem Übersetzerpreis der Schwedischen Akademie ausgezeichnet.

Beitragsbild © Sølve Sundsbø

Thomas Kunst «Irische Traumung. Ein Küstenspiel», Plattform Gegenzauber

I

Geduckter Rauch

Trafen sich ein Mann.
Trafen sich und hatten nur den Namen bei. Ihm Düren.
Trafen sich in dieser hochbegabten Steppe aus kurz
Geschorener Musik. Wie das klingt. Frag Ihm doch.
Ihm seine Augen, ich beginne immer mit den
Augen, wirkten, aber waren braun und
Zerstritten.
Als hätte
Ihm
In einer verschärften Situation
Die Brille zu lange auf –
Behalten. (Siehst du.) Die enge Allee
Durch den stahlblonden Heimat ist eine
Verschorfte Situation. Da passen zwei März Ärzte
Ohne Schwestern nebeneinander. Warum ausgerechnet
Zwei. Das kann ich dir sofort sagen, weil du nur so, schon von
Weitem mit Mitte rechnest. Heimat kannst du schon auswendig
Lernen, sobald sie nur über Wörter verfügt, die
Freiwillig bei dir bleiben. Draußen, aber nicht unbedingt, zerriss der
Schnee. Ich wusste, dass du nur Gas lachst, die blasse Allee in einer
Angenehmenen Stadt, von der links und 
Rechts Flammen ab –
Gehen. Pass doch auf, wo du hin 
Trittst, Kleiner, das
Schöne Feuer.
Zuerst ist es ganz sacht und spielt mit dir Mutter, Vater,
Mitte. Dann ist es ganz Mitte und spielt mit dir Mutter, Vater,
Feuer. Ist die Asche schon fertig. Wie lange braucht
Ihr denn noch. Einsblondundachtzig. Das müsste doch in
Einem Land zu machen sein, auch wenn es
Hier nicht ganz für die sieben Winden reicht, aber vier,
Dürre, flache würden sich schon auf –
Treiben lassen. Einer davon hat Strandgut geatmet, ein wenig
Schaum, ein wenig Flaschen –
Rost. Dieser wäre Ihm sicher der liebste. Ich habe das
Land nicht im Reim erstickt. Dabei ersticke ich
Es gar nicht so gern. Ihm hat es so gewollt.
Trafen sich ein Mann.
Trafen sich und hatten nur den Namen bei. Ihm Düren.
Trafen sich in dieser kurzbegabten Steppe aus hoch –
Geschorener Musik.

 

II

Ihrisches Crescendo

Trafen sich eine Frau.
Trafen sich und hatten nur den Namen bei. Ihr Belwas.
Trafen sich in dieser hochgesteppten Musik aus kurz –
Geschorener Begabung. Ich habe das Land nicht
Im Reim erstickt. Dabei ersticke ich es gar nicht so
Gern. Ihm hat es so gewollt. Ihr hat es so
Gewollt. Schaum, 
Elektrischer Süden rückt von den Rändern nach 
Innen, Lehn –
Sucht bleibt unser Ledergewächs, das Lager
Hinauf, frisch
Gerissene Ängste ändern die Sätze 
Auf, was ist
Schon eher zu Ende (sag an) als kaum zu
Beginnen, Belwas.
Ihr hatte ihr glänzendes Haar, ich beginne immer mit dem
Haar, aus frischen Kastanien gezogen. Weiß lag noch Mehl
Auf dem Nabel. Ihrs Monat war der Oktober, geflochten aus Segel –
Bekleideten Stürmen und den Überresten der Stranddorn –
Kolonnen. Ihrs Heirat war folgerichtig mit dem Tag zusammen –
Gefallen, da sie sich entschlossen hatte, allein zu
Lieben. Doch nun trug sie einmal den Ring. Und das
War schon immer so. Ihr hatte darauf bestanden, 
Ihren Mann nicht weiter zu erwähnen. Ich hatte
Ihrs Schmerzen längst begriffen und willigte ein, natürlich
Auch, um ihr, als Figur weiter folgen zu dürfen, ihr, der von
Vornherein nichts anderes übrigblieb, sie bis ins
Feinste auszukosten, die Technik des Scheiterns,
Belwas, wenn du das durch –
Hältst, finde ich dich zum Kosten. Schmerz gegen
Schmerz ergibt irgendwann weit hinten an der Küste
Einen neutralen Aufprall. In Ihrs Fall war es anders, sie
Konnte nicht schwimmen, und das machte sich
Ihr zunutze. Nach drei Tagen wurde
Ihr, an den Strand geworfen, gefunden. Weiß platzte
Der Schaum auf dem Nabel. 
Trafen sich eine Frau.
Trafen sich und hatten nur den Namen bei. Ihr Belwas.
Trafen sich in dieser hoch –
Begabten Steppe aus kurz –
Geschorener Musik. Frag Ihm doch. Frag
Ihr doch.

 

III

Verwaschene Grafschaft

Traf sich eine Mann und ein Frau.
Traf sich und hatte nur den Namen bei. Ihm Düren. Ihr 
Belwas.
Der golfene Strom hatte seine flache Wärme ins Land
Gespült und das Januarmittel aufgeheizt auf sieben Komma sieben 
Grad, so dass Sich selbst hier, in dieser 
Abgeraschelten, bröckeligen Gegend Palme
Und Rhododendron als zarte Requisiten entfalten konnten, was sich als
Äußerst günstig erwies, denn dieser subtropische Hauch hatte die
Beiden Toten ein wenig grün betastet. Verwesung ist doch auch nichts
Anderes als nachlassende Kondition. Ihm hatte ein aschfahles Gesicht. Ich
Beginne immer mit Asche. Ihrs Körper hatte die ausgeschlafene Form fleisch –
Farbenen Wassers. Ich beginne immer mit Wasser. Nur, dass sie nicht weinte, schien
Ihren Körper noch zusammenzuhalten. Es ist natürlich einfach, zwei
Verendete Körper leger in dieselbe Landschaft zu streuen. Ich hatte ziemlich
Genau darauf geachtet, dass es sich dabei um eine Region
Handelte, so wie die Grafschaft Galway, die ziemlich dünn besiedelt
War, so dass ich einigermaßen sicher sein konnte, nicht in die Lage zu
Geraten, ländliche Bauern und deren Hütten skizzieren zu müssen, sobald
Es Ihm und Ihr darauf anlegten, auf etwas Lebendiges zuzuhalten. Obwohl
Eine schon vor Jahren verlassene Lehmmauer doch auch etwas
Hat. Dass sich Ihm und Ihr vorher noch nie gesehen hatten, blieb erstmal
Ihre einzige Verwandtschaft. Doch was willst du mit zwei Menschen
Anfangen, die frieren, Hunger haben, doch keine Hütte aus ungefähr gleich –
Langem Holz. Hier ist ein Hochlandrind zum Umwickeln. Hier
Sind die Beeren. Hier sind neun besonders eng stehende
Bäume. Bevor ich die Beiden jedoch sich näherkommen
Ließ in der geölten Mechanik der Küste, nahm ich von
Schafen, nahm von den Schultern und Säften, das, was sich eignet zur
Scham. Jetzt bist du dran, Düren. Darf ich Sie zu einem Fell
Einladen. Darf ich Sie zu den Beeren einladen. Darf ich Sie zu den
Neun besonders eng stehenden Bäumen einladen. Am Ende solcher
Sätze, die auch immer in einen Dschungel von nicht –
Gesagten Sätzen münden, die jedoch nie den gemeinsamen
Kern preisgeben, am Ende solcher Sätze entzündete sich immer
Beinahe das schmale Fest des Fleisches. Ein wenig zuckten
Die Lenden auf, in ihrer deutlichen, ledernen
Sprache. Jetzt bist du dran, Belwas. Ihr sagte zwar
Nichts. Ihr berührte zart mit dem Ellenbogen
Ihms Kinn.

 

IV

Tage ja Monatelahm

trug ständig das Meer die gleichen Klänge nach innen, vor
Die Hütte aus ungefähr gleichlangem Holz.
Die neun besonders eng stehenden Bäume hatten Ihm und
Ihr mit Schlamm und Steinwerk höhergezogen, so dass keine
Behaarten Sterne mehr dazwischenfahren konnten, nur die Geräusche
Gestrandeter Seevögel hatten noch gute Aussichten eingelassen zu
Werden. Düren hatte mit Feuer, das Feuer habe ich ihnen zukommen
Lassen, falls es Fragen gibt, Düren hatte mit Feuer einen majestätischen Stamm
Gehöhlt, den er in den frühen Stunden der kaum behinderten Sonne zum
Fischen benutzte, bis das Netz, das Netz habe ich ihnen zukommen lassen, falls 
Es Fragen gibt, bis das Netz gefüllt war mit beweglichem Bronzebesteck. Belwas
Hatte in Ihms Abwesenheit ihr glänzendes Haar zu weichen, fließenden Kastanien
Geflochten, die langsam und feucht auf die Lenden zu –
Strömten. Den ganzen Tag nur die braune See, der Regen roh und in Würfel
Geschnitten. So hielt die Insel ihren genauen
Unterricht ab. Düren, nach vorn, an die Tafel, an welche denn
Sonst. Hat ein Wort wie Heimat, wenn es dich ständig in einer beengenden
Situation betrifft, nicht auch außerhalb solcher Zustände seine
Neutrale Geschlossenheit. Sind nicht die Worte selbst zu 
Einem Täuschungsobjekt einer nicht eingestandenen, einer
Verhinderten Liebe geworden, runtergehandelt zu dem Preis, für etwas
Anderes nur Schmiere zu stehen. Erst wenn die Scham zerrissen,
Zuckend vor unseren Füßen liegt, krümmt sich die Sprache
Zurück in ihren tierisch zarten Zustand, gehört so noch
Enger an die Zähne. Die wesende Geburt des Herbstes, beige faulten
Die Bäume ineinander über, hatte es längst bewiesen, selbst die Liebe war
Nur eine Schlichtungsform der Neugier. Jetzt, nach überstandenen Monaten
Der Ähnlichkeit, hielt ich es für angebracht, ihm und ihr eine gleich –
Mäßige und bedächtige Zerstörung der Insel durch das Wasser vorzu –
Schlagen. Ihms und Ihrs Reaktionen darauf waren diesem
Traurigen Programm angemessen. Belwas löste ihre erstaunlichen Kastanien 
Zu einem allmählichen Wasser. Golf, Rhododendron und eine
Schon vor Jahren verlassene Lehmmauer hatten sich in feinen
Fasern verbunden. Auch wenn es hier nicht ganz
Für die sieben Winde reicht. Aber vier dürre, flache
Würden sich schon auftreiben lassen. Und es kam wie ein trockenes, hoch –
Triftiges Gas, das in den feinen Fasern ein zittriges Sirren
Erzeugte und beim Berühren das Wasser
Verähnelte in eine starre, elektrische
Weide. Tage ja monatelahm trug ständig das Meer die gleichen
Klänge nach Hütte, vor die Holz aus ungefähr gleich –
Langem Innen. Jetzt bist du dran, Ihm. Darf ich Sie zu den nass
Gewordenen Beeren einladen. Darf ich sich zu den neun besonders eng
Unter Wasser stehenden Bäumen einladen. Darf ich dich in das Fell
Tun. Ein wenig zuckten die Lenden auf, in ihrer
Deutlichen, ledernen Sprache. Sehgestöber, Sanddornperlen von der Schnur
Gelassen, Schlamm und Steinwerk in weicher
Veränderung, Geräusche aufgespülter Seevögel, nur, dass 
Sie nicht weinte, schien Ihrs Körper noch zusammenzu –
Halten. Es gelang ihr nicht mehr, ihm zu zeigen, wie sehr
Sich über ihnen die See schloss. Das gefiel ihm an
Ihr. Und ihr machte es Spaß, Ihm nicht zeigen zu
Müssen, wie sehr sich über ihnen die See schloss.
(Dürwas)

(Veröffentlicht in «Die Verteilung des Lächelns bei Gegenwehr» (Gedichte und Texte 1986-1988, Connewitzer Verlagsbuchhandlung, Leipzig))

Thomas Kunst „Zandschower Klinken“, Suhrkamp, 254 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-518-42992-1

Thomas Kunst wurde am 09.06.1965 in Stralsund geboren. Nach dem Abitur studierte Thomas Kunst zunächst 3 Monate Pädagogik in Leipzig und ist seit 1987 als Bibliotheksassistent der Deutschen Nationalbibliothek tätig. Er schreibt Gedichte und Romane. Kunst debütierte 1991 bei Reclam Leipzig mit dem Buch »Besorg noch für das Segel die Chaussee. Gedichte und eine Erzählung«. Bislang sind 20 Einzeltiteln veröffentlicht worden. 2021 war er mit seinem Roman «Zandschofer Klinken» auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis. 2023 überreichte man ihm den Kleist-Preis. 2024 wir bei Suhrkamp sein neuer Gedichtband «Wü» erscheinen.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Franziska Reck

Paul Bowles «Der Garten» – ein Denkkristall – eine szenische Lesung im Literaturhaus Thurgau

Die Schauspieler Dagny Goulami und Klaus Henner Russius bringen ihn an dem Abend im Literaturhaus Thurgau zusammen mit dem Herausgeber und Übersetzer Florian Vetsch zum Leuchten.

Die Entstehungsgeschichte von The Garden, dem einzigen Theaterstück des US-amerikanischen Schriftstellers Paul Bowles (1910–1999), ist in der Tat bemerkenswert:

Im Herbst 1966 war Bowles in Bangkok angekommen, um ein Buch über Thailand zu schreiben. Da der gesundheitliche Zustand seiner Frau, der Autorin Jane Bowles (1917–1973), instabil war, hatten die beiden beschlossen, dass sie während Pauls Aufenthalt in Asien bei ihrer Mutter in Florida leben würde. Doch Jane bekam bald den Rappel und beschloss bereits im August, nach Tanger zurückzureisen, wo sie seit 1948, Paul seit 1947 lebte. Dort angekommen, bereute sie ihren Entschluss bitter; eine Welt brach über ihr zusammen, Ängste bedrängten sie, fixe Ideen, Mutlosigkeit, Schreibblockaden, Sehschwierigkeiten, Lähmungen – immer wieder aus dem Ruder laufender Alkoholkonsum und unkontrollierte Medikamentencocktails verschlimmerten ihre Lage nur. Mit ihrer verfrühten Rückreise hatte sich die kranke Schriftstellerin „in eben die Lage gebracht, die wir so dringend hatten vermeiden wollen“, schrieb Paul Bowles in seiner Autobiografie Without Stopping (1972). Er machte sich grosse Sorgen um Jane, mit deren Ärztin Dr. Roux er im Austausch war, und beschloss, seinen Thailandaufenthalt, der auf ein Jahr geplant gewesen war, frühzeitig abzubrechen und nach Tanger zurückzukehren. Dass Bowles die Reise nach Tanger per Schiff antreten und kein Flugzeug nehmen sollte, war für seine Art zu reisen bezeichnend.

In dieser Situation erreicht ihn in Chiang Mai Joseph McPhillips‘ Brief mit der Idee, die Short Story The Garden in Tanger auf die Bühne zu bringen. Obschon er anfangs die Idee verwirft, reizt ihn die Vorstellung, und er beginnt das Stück Szene für Szene zu schreiben und es McPhillips in Tranchen zu schicken.

Die Entstehung des Stücks widerspiegelt eine verloren gegangene interkontinentale Brief- und Telegrammkultur, eine andere prädigitale Zeitlichkeit, in der Bowles nichtsdestotrotz alle Szenen rechtzeitig liefert. Doch noch durch seine Aerogramme hindurch ist die Ansteckungskraft von McPhillips zu spüren: Dessen Begeisterungsfähigkeit war der Motor des Ganzen.

Joseph McPhillips (1936–2007) hatte seit 1964 die Aufführungen der Theatergesellschaft der Amerikanischen Schule von Tanger geleitet; bis zu seinem Tod realisierte er für deren Bühne zahlreiche Stücke von der Antike bis zur Postmoderne. Dabei kombinierte er die Professionalität der hinzugezogenen Spitzenleute mit der Hingabe und dem Enthusiasmus der Studenten zu einer einmaligen Symbiose. Dies entsprach der produktiven Auffassung des Princeton-Abgängers von einer elitären Theaterpädagogik, welche den intrinsischen Kräften der Jugend durch qualitativ hochstehende Bühnenbildner, Designer, Autoren, Komponisten etc. Flügel verleihen sollte.

Paul Bowles: «THE GARDEN» – Dokumentation über Entstehung und Uraufführung von Paul Bowles‘ einzigem Bühnenstück DER GARTEN, aus dem Amerikanischen übersetzt und herausgegeben von Florian Vetsch, gestaltet von Dario Benassa, Bilgerverlag, 2022, 184 Seiten, durchgehend farbig illustriert, CHF 56.00, ISBN 978-3-03762-094-6

Die Short Story The Garden spielt in einem kleinen Dorf am Rand einer Oase in der Sahara. Ein Mann arbeitet still und zufrieden in seinem der Wüste mittels Wassergräben abgerungenen Garten und bewundert oft bis nach Sonnenuntergang dessen Schönheit. Seine Frau vermutet, dass er einen Schatz in seinem Garten vergraben habe. Um ihn gesprächig zu machen, wendet sie sich an eine Hexe, die ihr ein schwarzmagisches Gift für ihren Gatten mitgibt. Die Frau verabreicht diesem aber eine Überdosis. Im Glauben, ihn getötet zu haben, verlässt die Frau das Dorf und flieht zu ihrer Familie. Doch das Gift hat den Mann lediglich in einen komatösen Zustand versetzt, aus dem er wieder erwacht; das Gift hat ihn aber das Gedächtnis gekostet. Als der Imam den wieder zu Kräften Gekommenen in seinem Garten besucht und ihn ermahnt, freitags in die Moschee zu kommen und Allah für seinen Garten zu danken, versteht der Mann nicht, worum es geht. Alsbald geht das Gerücht um, er habe seine Frau umgebracht, in Stücke zerlegt und in seinem Garten vergraben. Aus dieser Konstellation entwickelt sich für den ahnungslosen Mann eine tödliche Spirale…

Bowles‘ anfängliche Ablehnung von McPhillips’ Ansinnen zeigt sein vornehmes Understatement: Zwar nicht als Autor, aber auch nicht nur als Zuschauer im Publikum, sondern als Komponist von Bühnenmusik zu Stücken etwa von Tennessee Williams und Orson Welles, als jahrelanger Broadway-Kritiker sowie als Übersetzer von Bühnenstücken u.a. von Jean-Paul Sartre und Federico García Lorca war Bowles mit dem Theater in vielerlei Hinsicht mehr als vertraut. Diese Erfahrungen kamen ihm zugute, als er die Szenen für The Garden unterwegs, wie aus dem Ärmel geschüttelt, niederschrieb – anfangs noch ohne den Text der Short Story, die er 1963 geschrieben hatte, vor Augen zu haben.

1963 hatte Bowles den Sommer in einem schönen, von einem früheren Besitzer aus Bombay indisch eingerichteten Haus an der portugiesischen Ufermauer der Medina von Asilah verbracht – das rund 40 km südlich von Tanger gelegene Städtlein ist bis heute eine Perle am Atlantik. Das Haus liege, wie er am 17. April an William S. Burroughs schrieb, südlich von Raisulis Palast und sei, mit den Wellen, die sich unter den Fenstern auf dem Sand brächen, ein wundervoller Aufenthaltsort für den Sommer. Jane besuchte Paul 1963 in Asilah ab und an mit ihrer Begleiterin Cherifa. Damals sprühte sie noch vor Witz und brillierte mit einem blitzschnellen, messerscharfen Verstand. Doch als Paul Anfang März 1967 endlich in Tanger ankam, traf er seine Frau in einem verzweifelten, völlig zerrütteten Zustand an. Auf Dr. Roux‘ Anraten brachte er sie Mitte April nach Malaga, wo sie ins Sanatorium des Heiligen Herzens, eine psychiatrische Klinik für Frauen, eingewiesen wurde. Paul besuchte sie häufig; erst Ende Juli jedoch sollte es ihr wieder so gut gehen, dass sie nach Tanger zurückkehren konnte. So war Bowles während der letzten Proben und der Aufführung von The Garden allein im Inmueble Itesa, dem Apartmenthaus im Quartier Ain Hayani, wo die Bowleses seit 1960 auf zwei Stockwerken wohnten. Zweifellos war er froh um die Ablenkung, welche die Zusammenarbeit mit der tangerinen Künstlerclique und den Jugendlichen von der „Amschotan“ ihm in der Sorgenzeit bescherte!

Der Hauptprotagonist von The Garden ist, um einen Begriff von Helmut Salzinger einzubringen, kein „Gärtner im Dschungel“: Er lässt die Natur nicht einfach machen, sondern greift in deren Gang ein. Er trotzt der Wüste am Rand einer Oase Land ab, bewässert es durch das Ziehen von Gräben, macht es zu einem biodivers reichhaltigen, fruchtbaren Garten. Dabei betrachtet er diesen nicht primär als Nutzobjekt, sondern als Selbstzweck. Das ästhetische Erlebnis, das ihm der Garten jeden Abend bei Sonnenuntergang schenkt, wenn er die Schleusen öffnet und das Wasser durch die Seguias fliesst, die kontemplative Ruhe, die er tagsüber in ihm findet – dies alles ist ihm wichtiger als der Gewinn, den der Garten abwerfen könnte.

Da der Mann das Ästhetische über das Ökonomische stellt, mag die Parabel The Garden dem einen oder anderen Leser das Scheitern des Künstlers oder des ästhetischen Menschen überhaupt in der Gesellschaft vorführen. In einem weiteren Ansatz deckt die Geschichte die nihilistische Wirkung des islamistischen Fundamentalismus schonungslos auf.

Paul Bowles‘ Geschichte The Garden ist auf jeden Fall ein Denkkristall.

Florian Vetsch