Sagt er (mit lauter Monsterstimme): Ich bin der Vernichter.
Sag ich: Du bist in mir ein Hall und Jammer. Ich halt dich ein, werd innen schwarz, bleib außen Alabaster, bis die Glut durch dringt. Dann stehst du da. Verbrennst die mir zu Hilfe eilen wollten. So vermehrst du dich als Infektion, Entzündung aller Wunden.
Sagt er: Du hast es dir schon ausgemalt.
Sag ich: Kenn’ dich wie Abel. Kenn’ dich doch ewig.
Sagt er mir (sanft an mich gelehnt, sein Atem köstlich, so warm im Nacken alles wie immer alles, nicht ohne Melodie): Ich bin der Funke. Im Dunkeln bin ich der hellste Punkt.
(aus Nora Gomringer «Gottesanbieterin», Voland & Quist, Berlin, Dresden & Leipzig, 2020) Immer öfter lässt sich Nora Gomringer die Gretchen-Frage stellen, sie antwortet in Essays, Reden, Geschichten und natürlich: in Gedichten. Das geschieht oft komisch und mit einem Augenzwinkern, ihr und jedes Gläubigsein ist persönlich. Die Lyrikerin hat sich zuletzt mit irdischen Ängsten, Krankheiten und Phänomenen des Oberflächlichen beschäftigt, doch das Metaphysische wohnte dem schon immer inne – und denken wir an Gomringers Wanderung mit einem lispelnden, über die Einsamkeit des Menschen sprechenden Hermelin, so wundert es kaum, dass erneut eine tierische Begegnung Auslöser für die in diesem Band versammelten Gedichte ist: Schon vor vielen Jahren traf die Dichterin auf eine riesige Heuschrecke im US-amerikanischen Hinterhof ihrer damaligen Gastfamilie: die Gottesanbeterin. Es war diese einstündige Begegnung des Schweigens, die Gomringer zur Hinterfragung des irdischen Seins und der Vielgestaltigkeit von Religion gebracht hat, jenem »geschmacksverstärkenden, mal verträglichen, mal unverträglichen Glutamat des Seins«. (Verlagstext)
Liebesrost
Liebesrost Über Nacht Bist du oxidiert Neben mir
Hast auf mich reagiert Bist rostig geworden Du sagst Golden Ich lecke an deinem Hals Du schmeckst wie der Wetterhahn
(aus Nora Gomringer «Mein Gedicht fragt nicht lange reloaded», Voland & Quist, Dresden & Leipzig. 2015. S. 168) Nora Gomringers Gedichte sind viel herumgekommen. Daher haben sie Sieben-Meilen-Stiefel an den Versfüßen und manchmal einen recht breitbeinigen Gang. Dazu eine laute Stimme und manchmal ganz schön viel Attitüde. Doch manche von ihnen haben Katzensohlen, zarte, bebende Haut, sind verweht, fast noch bevor sie ausgesprochen wurden, sind zum Still-für-sich-Lesen statt zum Deklamieren geeignet. (Verlagstext)
Nora Gomringer, geboren 1980, hat zahlreiche Lyrikbände vorgelegt und schreibt für Rundfunk und Feuilleton. Neben zahlreichen anderen Auszeichnungen sowie Aufenthaltsstipendien in Venedig, New York, Ahrenshoop, Nowosibirsk und Kyoto wurde ihr 2012 der Joachim-Ringelnatz-Preis für Lyrik zuerkannt. 2015 erhielt sie den Ingeborg-Bachmann-Preisund 2019 war sie Max-Kade-Professorin des Oberlin College and Conservatory in Ohio. 2022 wurde Nora Gomringer mit dem Else Lasker-Schüler-Preis ausgezeichnet. Nora Gomringer lebt in Bamberg, wo sie das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia als Direktorin leitet.
Wenn zu Beginn des neuen Jahres Hoffnungen und Erwartungen auf Ungewissheit und Unsicherheit treffen, ist es ein gutes Gefühl, am Horizont einen Leuchtturm zu sehen. Die Rauriser Literaturtage unternehmen auch dieses Jahr wieder den mutigen Versuch, mithilfe der Literatur Orientierung im dichten Nebel unserer Zeit zu geben.
Mit ihren Geschichten vom Zusammenleben gelingt es den diesjährigen Autorinnen und Autoren durch die Möglichkeiten der Sprache eine Nähe zu schaffen, die in unserer Welt selten geworden ist. In einer Gesellschaft, die immer mehr auseinanderdriftet, wo soziale Medien eine Art des Zusammenlebens propagieren, die nicht nur physische, sondern auch emotionale Distanz zur Grundlage hat, vermag es die Literatur, unsere Empathiefähigkeit und Empfindsamkeit zu stärken. Die diesjährigen Texte laden ein, sich in fremde Personen hineinzufühlen, um ihr Denken und Handeln besser zu verstehen.
Den Rauriser Literaturpreis 2024 (vergeben vom Land Salzburg, dotiert mit € 10.000,-) erhält Matthias Gruber für seinen Roman «Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art» (Jung und Jung Verlag, 2023).
Matthias Gruber «Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art», Jung und Jung, 2023, 304 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-99027-280-0
Begründung der Jury (Julia Encke, Jürgen Thaler, Isabelle Vonlanthen): „In Matthias Grubers «Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art» tritt uns ein Erzähler mit lebendiger Wirksamkeit entgegen, der uns teilnehmen lässt am Heranwachsen von Arielle, einer jungen Frau, deren Äußeres nicht dem entspricht, was die Gesellschaft für sich als schön ausverhandelt hat. Der Autor führt uns durch ein trauriges wie fröhliches, ein witziges wie desaströses Leben, dessen Ende gleichzeitig überraschend und fantasievoll ist. Vom Rand der Gesellschaft her, von der Einsamkeit der Schrottplätze, der Pyramidenspiele und Entrümpelungsdienste, macht er uns in vielfach gelungenen Szenen und Episoden darauf aufmerksam, wie brüchig und rutschig unser Verständnis von Identität, wie zerbrechlich unser Begriff vom Menschsein überhaupt ist. Matthias Gruber ist ein Roman gelungen, der, wohl der Grund seines Erzählens, auf einer großen Empathie seinen Figuren gegenüber aufbaut und an bedeutende Genres der Literatur anschließt: das Märchen, die Fabel, die Legende. Er bringt diese Urformen des Erzählens so geschickt, leichthändig und verwandelt ins literarische Spiel mit sozialen Medien, gesellschaftlichen Problemen und Herausforderungen der heutigen Zeit ein, dass man über den ästhetischen Gewinn der Lektüre nur staunen kann. Dieses Buch wirft einen neuen Blick auf das Leben und was es sein kann.“
Matthias Gruber, geb. 1984 in Wien, aufgewachsen in Salzburg, wo er heute mit seiner Familie lebt. Studium der Theaterwissenschaften, arbeitete als Rezeptionist, im Onlinemarketing und in einer Notschlafstelle. Er ist Mitbegründer der Salzburger Stadt-Magazine fraeuleinflora.at und QWANT. 2020 Gewinner des FM4-Kurzgeschichtenwettbewerbs „Wortlaut“. 2018 erschien die Prosasammlung «Das Meer vor dem Fenster» (edition mosaik), 2023 das Romandebüt «Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art» im Verlag Jung und Jung.
Den Rauriser Förderungspreis 2024 (vergeben vom Land Salzburg und von der Marktgemeinde Rauris, dotiert mit € 5.000,-) zum Thema „Miteinander“ erhält Luka Leben für ihren Text Nachts nur das Rauschen.
Begründung der Jury (Helmut Neundlinger, Regina Pintar, Gudrun Seidenauer): „Der Text «Nachts nur das Rauschen» thematisiert in zurückhaltender, doch deutlich sprachbewusster und manchmal zuspitzender Diktion das Leben mit einem Kleinkind, das von einer sprachlich-motorischen Einschränkung betroffen ist. Wir lesen ein sensibles und dennoch immer nüchternes und exaktes Protokoll des Alltags in einer herausfordernden Situation, die trotz väterlichen Einsatzes stärker auf den Schultern und auch der Psyche der weiblichen Protagonistin zu lasten scheint. […] Der Text erfasst mit großer Genauigkeit und sinnlicher Präzision gleichermaßen die inneren Bewegungen, die Gedanken und bisweilen emotionalen Verwerfungen der Protagonistin, die doch über jede Überforderung hinaus immerzu ‚funktioniert‘. Die Glaubwürdigkeit und Schonungslosigkeit der Erzählung beeindrucken und berühren besonders, da die Autorin eine dem komplexen und facettenreichen Thema angemessene und immer souveräne Tonlage wählt, die nie sentimental wirkt oder überhöht, auch da nicht, wo Extremsituationen, Sprachlosigkeit, Missverstehen und Einsamkeit spürbar werden. Dennoch gibt es auch Berührung, Verbundenheit und Momente der Hoffnung auf ein ‚Miteinander‘, das gewiss nicht leicht, aber doch stark und stabil zu sein scheint. Hier schreibt jemand, der die Sprache der Literatur außerordentlich gewandt in den Dienst eines überzeugenden Anliegens zu stellen versteht, ohne es auf eine plumpe ‚Botschaft‘ zu reduzieren.“
Luka Leben, geb. 1989 in Salzburg. Studium der Kunst und kommunikativen Praxis an der Universität für angewandte Kunst in Wien und der Bildnerischen Erziehung und Germanistik in Salzburg. Sie unterrichtet Deutsch, Literatur und Kreatives Schreiben an einem Salzburger Gymnasium. 2017 erschien ihre Textsammlung «Unter der Zunge» (edition mosaik) mit eigenen Illustrationen. Auch für andere Bücher hat sie Zeichnungen geschaffen (u. a. Die Insel der verschwundenen Klänge von Wolfgang Wenger, Das Leben ist schön und andere Märchen von Elisabeth Escher).
Wem wäre er nicht auf die Nerven gegangen? Er mit seiner Fragerei? Wer hätte sich nicht früher oder später von ihm abgesetzt? Wäre geflohen vor seinen Fragen, die uns nichts angingen, uns mit seinen Sorgen quälten, von uns Antworten erwarteten, die niemand zu geben wusste? Können Sie sich vorstellen, was das heißt? Diese Fragerei von früh bis spät? Dieses aufsässige Fordern nach Antwort? Wären nicht auch Ihnen die Nerven durchgegangen? Hätten nicht auch Sie einen Punkt gesetzt? Ihn ins Leere laufen lassen mit seinen Fragen? Was hätten Sie getan an unserer Stelle? Warum antworten Sie nicht?
(erschienen in «Popcorn», Waldgut 2013)
Rudolf Bussmann, 1947 in Olten geboren, studierte Germanistik, Romanistik und Geschichte. Nach der Promotion bildete er sich zum Gymnasiallehrer aus und war an verschiedenen Berufs- und Höheren Fachschulen tätig. Er schreibt Romane, Kurzprosa, Lyrik und ist als Herausgeber und Übersetzer tätig. Zuletzt erschienen sind «Eine Brücke für das Gedicht, 75 zeitgenössische Gedichte befragt von Rudolf Bussmann» (2014) und «Das andere Du», Roman (2016). Rudolf Bussmann leitet Schreibseminare und Lesezirkel, er lebt in Basel.
Rudolf Bussmann «Verheißenes Land», Gedichte, edition bücherlese, erscheint im März 2024
Rudolf Bussmann «Verheißenes Land», Gedichte, edition bücherlese Die Passkontrolle ist vorbei, die Passagiere treten ins Mittagslicht. Die Reise durch Israel und Palästina beginnt. Sieben Tage dauert sie. Vorbei an Barrieren, Grenzposten, Mauern führt sie auf die Zinnen einer Altstadt. Sie führt in die bunte Vielfalt eines Suks, sie führt in das Quartier orthodoxer Gläubiger, sie führt in besetzte Gebiete. Eine verlassene Mühle kommt in den Blick, die Stimme eines Vertriebenen ist zu hören, eine schattige Eiche lädt zum Verweilen ein. Das Ich, unterwegs zu Fuß, mit Auto oder Bus, wird gewahr, wie sich ihm ein alter Kulturraum öffnet, der keine festen Grenzen kennt und in vorbiblische Zeiten zurückreicht. Gleichzeitig wird es von der politischen Hochspannung, die das Land im Griff hat, erfasst. Rudolf Bussmann hat Israel und die Westbank 2018 bereist und die Niederschrift des Buches vor dem Überfall der Hamas vom Oktober 2023 beendet. Seine Gedichte begegnen den Widersprüchen und Konflikten mit einer Sprache, die in starken Bildern Schönheiten genauso wie Abgründe dokumentiert. Sie holen die Vision vom verheißenen Land aus der Versenkung und versuchen ihr in einem eindrücklichen Statement neue Konturen zu geben.
Der israelischen Schriftstellerin Zeruya Shalev fehlen die Worte, wenn es um den Angriff der Hamas geht. Trotzdem setzt sich die dreifache Mutter, die selbst einmal Opfer eines Anschlags war, für Versöhnung ein.
Gastbeitrag von Manuela Tschida-Swoboda
Ihr Debütroman «Nicht ich» erschien schon vor 30 Jahren auf Hebräisch, aber erst jetzt auf Deutsch. Beim Lesen hat man das Gefühl, in einen seltsamen Traum geraten zu sein. ZERUYA SHALEV: Ja, das Buch unterscheidet sich in vielem von meinen späteren. Manchmal ist es realistisch, manchmal nicht, manchmal ist es ein Traum, dann wieder ein Albtraum. Das Buch ist bruchstückhaft, aber die seelischen Inhalte sind dicht gepresst.
Erzählt wird die Geschichte einer Frau, die Mann und Tochter für einen Geliebten verlässt, mit dem dann aber nichts wird. Das Thema des Verlusts zieht sich von Beginn an durch Ihr Werk. Wieso eigentlich? Hm. Ich denke, weil es eines der wesentlichsten Themen im Leben ist. In meinem Roman trägt die Frau besonders schwer an der Last des Verlusts, weil es vermutlich auch noch ihre Schuld war. Auf der anderen Seite gibt sie ihrem großen Traum nach, findet sich letztlich aber in einer unglaublichen Leere wieder. Sie hat alles verloren und muss fortan mit den Konsequenzen ihrer Entscheidungen leben, und das bringt sie fast um.
Ihr Roman ist wie eine Traumnovelle, die von Sigmund Freud interpretiert werden will, oder? Ja, vielleicht. In gewisser Weise ist das Buch auch ein innerer Monolog, ein Bewusstseinsstrom. Als ich den Roman nach 30 Jahren noch einmal gelesen habe, mochte ich die Zerbrechlichkeit meiner Hauptfigur sehr, und auch ihren Galgenhumor.
Der Holocaust und der Konflikt mit den Palästinensern durch- dringen diesen Roman, ohne dass beides explizit erwähnt wird. Ge- schah das bewusst oder unbewusst? Alles in diesem Roman ist hauptsächlich unbewusst passiert. Ich schrieb das Buch als junge Mutter. Meine Tochter war drei, vier Jahre alt. Und ich erinnere ich mich noch gut daran, wie ängstlich ich als Mutter plötzlich wurde. In Israel gab es immer schon Krieg, Terror und schreckliche Erinnerungen, aber für eine Mutter ist das alles ein Albtraum.
Als Sie das erste Mal Mutter wurden, brach die erste Intifada aus, der Aufstand der Palästinenser gegen Israel. Wie war das? Ich sehe noch die Schlagzeilen der Zeitungen, die auf meinem Bett im Krankenhaus lagen, während ich meine Tochter stillte. Der Terror rundum wurde von da an immer stärker. Als meine Tochter drei wurde, kam es zum Golfkrieg. Und ich weiß noch, wie ich versuchte, eine Gasmaske auf ihren kleinen Kopf zu bekommen.
Zeruya Shalev «Nicht ich», Piper, 2024, aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer, 208 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-8270-1476-4
Es gibt eine starke politische Komponente in Ihrem Buch. Die Tochter wird entführt, sie wird von Soldaten vom Spielplatz weggeholt. Sie schreiben von unterirdischen Gängen unter dem Kindergarten, in denen Kinder verschwinden – unheimlich aktuell. Wie geht es Ihnen jetzt damit? Es schockiert mich, dass etwas, das ich eigentlich nur metaphorisch verwendet habe, plötzlich Wirklichkeit geworden ist. Im Buch spielt sich alles in der Fantasie der Mutter ab, aber jetzt, nach der schrecklichen Attacke der Hamas, ist plötzlich alles real. Was soll ich sagen? Es ist alles so traurig.
Sie haben drei Kinder: Wo sind die jetzt? Sie sind nicht in der Armee. Mein jüngster Sohn, er ist erst 17, muss erst im nächsten Jahr dahin. Und der ältere war in keiner Kampfeinheit, er war Lehrer in der Armee. Für jede Mutter ist Krieg die Hölle.
Wollten Sie nie weg von Israel, wo Trauer und Schmerz so treue Gefährten sind? Nein. Das Leben hier ist wirklich schwierig, aber ich spüre ganz stark: Das ist mein Land, das ist mein Platz. Wir erinnern uns alle daran, was mit jüdischen Menschen passiert, wenn sie kein Land haben. Das war ja auch der Grund, warum Israel gegründet wurde. Unglücklicherweise sind wir aber auch hier nicht sicher. Aber ich kann nicht aufgeben, auch die anderen können das nicht. Ich spüre eine tiefe Verbundenheit mit diesem Land. Und ich hoffe, dass es für Israelis einmal besser wird, und auch für die Palästinenser.
Der ehemalige israelische Premier Yitzhak Rabin war davon überzeugt, dass sich Israels Konflikt mit den Palästinensern nicht lösen lasse, sondern nur managen. Wie sehen Sie das? Aber ich denke, man muss versuchen, diesen Konflikt zu lösen, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob das je gelingt. Wir müssen versuchen, eine Vereinbarung zu finden, denn auf Dauer kann dieser Konflikt nicht gemanagt werden, ohne eine klare Vereinbarung. Wir haben letztlich keine andere Wahl.
Sie selbst wurden 2004 bei einem Attentat eines Palästinensers schwer verletzt, setzen sich aber trotzdem immer für die Versöhnung zwischen Israelis und Palästinensern ein. Wie geht es Ihnen jetzt? Ich sehe nicht hinter jedem Araber einen Terroristen. Natürlich bin ich tief schockiert von der sadistischen, barbarischen Attacke der Hamas. Mir fehlen die Worte für dieses Grauen. Ich bin tief schockiert. Aber es gibt einen Unterschied zwischen der Hamas und der arabischen Zivilbevölkerung. Es gibt so viele Menschen, auch viele Frauen, die sich dafür starkmachen, dass der jüdisch-arabische Dialog nicht abbricht. Letztlich habe ich die Hoffnung, dass es nach diesen furchtbaren Schrecken doch auch die Chance auf Frieden gibt.
Kann aus soviel Schrecklichem je etwas Gutes entstehen? Ich bin keine große Historikerin, aber überall in der Welt kam nach dem Krieg auch wieder der Friede. Meine Hoffnung gilt auch den nächsten Wahlen und einer neuen Regierung in Israel. Denn die ist notwendig, wenn der Staat wieder gesund werden soll. In Israel folgt auf den Krieg nicht immer gleich Friede, aber die Kriege haben immer zu Wahlen geführt. Ich hoffe, dass dieser fürchterliche Krieg dazu führt, dass sich alle in der Region gegen die extremen Fundamentalisten vereinen, auch die Bevölkerung in Gaza gegen die Hamas, die die Menschen dort als Schutzschilde missbraucht. Und ich hoffe, dass wir Netanyahu und seine Regierung loswerden.
Ein Leitmotiv in Ihren Büchern ist stets die Melancholie, a kind of blue: Ist der Sound von Shalev letztlich der Sound von Israel? Ich habe noch nie darüber nachgedacht, aber wenn ich das jetzt so höre, kommt es mir sehr wahrscheinlich vor.
Wie ist Ihr Leben in Haifa seit dem Angriff der Hamas? Mein Leben hat sich komplett verändert. Ich schreibe nichts, außer kleine Artikel. Die Zeit von damals bis heute fühlt sich an wie ein einziger langer Tag. Es scheint, als höre man in den Ereignissen vom 7. Oktober das Echo der gesamten jüdischen Geschichte. Und diese Geschichte ist lang und tragisch.
Zeruya Shalev, 1959 in einem Kibbuz am See Genezareth geboren, studierte Bibelwissenschaften und lebt mit ihrer Familie in Haifa. Ihre vielfach ausgezeichnete Trilogie über die moderne Liebe – «Liebesleben», «Mann und Frau», «Späte Familie» – wurde in über zwanzig Sprachen übertragen. Zuletzt erschienen ihre Romane «Schmerz» (2015) und «Schicksal» (2021). Zeruya Shalev gehört weltweit zu den bedeutendsten Erzählerinnen unserer Zeit.
Unsere Mutter ist vor zwei Monaten ins Altersheim gezogen, und mein Bruder hat mir aus ihrer letzten Wohnung eine Kiste mitgebracht, randvoll mit Dingen, die man ungerne einfach entsorgt. Fotoalben, Schulzeugnisse, Briefe, außerdem eine Wanderkarte: UNTERSEE HEGAU-RHEIN. Es ist diese Karte, die er, kaum hat er die Kiste hingestellt, rausfischt und sie wie eine besonders fette Beute auf den Tisch klatscht. Und dabei grinst. Oder lächelt. Eine Wanderkarte 1: 50`000, 1963 herausgegeben vom Verkehrsverein Untersee und Rhein, Verkaufspreis: Fr. 3.50/DM 3.30. Sie ist speckig-vergilbt und alle Falzkanten wurden irgendwann mit Klebestreifen verstärkt, die sich an verschiedenen Stellen längst wieder gelöst haben.
Riechst du das?, fragt mein Bruder und hält sich die Karte unter die Nase. Gib her, sage ich. Und tatsächlich. Das Papier riecht noch, was, wonach? Es riecht nach Lavendel, Sandelholz, eine Komponente Leder (Wanderschuhe). Es riecht nach dem Rosmarin-Öl, mit dem Vater sich abends die Hände einrieb. Mühelos hat der Geruch die Zeiten überdauert – mein Bruder ist jetzt in seinen Sechzigern, ich unwesentlich jünger. Vorsichtig, als wäre dieses fragile Gebilde unendlich kostbar, falte ich es auseinander. Und da liegt sie, die Topografie unserer Kindheit.
Jeden Samstagabend saß Vater am Wohnzimmertisch über die Karte gebeugt und plante Routen. Er plante die Wege, die uns am Sonntag alle unsere Kräfte kosten sollten. Es waren nicht einfach Spaziergänge, nach denen ihm der Sinn stand, es waren Gewaltmärsche, die ihn und uns allwöchentlich an den Rand der Erschöpfung brachten, nicht selten darüber hinaus. Bei Einbruch der Nacht stolperten wir noch immer durch irgendeinen Wald, weil Vater sich zeitlich verkalkuliert oder wir uns schlicht und ergreifend verirrt hatten. Trotz Karte. Es war, als ob er sich jeden Sonntag erneut die überragende Leistungsfähigkeit seines Körpers beweisen müsste.
Nun war wandern damals ja noch keine besonders coole Freizeitbeschäftigung. Meine Klassenkameradinnen und Kameraden fuhren samstags, natürlich im Auto, mit ihren Eltern ins Shoppi nach Spreitenbach, sonntags schliefen sie lange, es gab ein üppiges Mittagessen, man spazierte maximal eine Stunde dem Rhein entlang und gegen vier Uhr gab es schon wieder Kaffee und Kuchen. Abends Fernsehen. Wir hingegen standen bei jedem Wetter vor sieben Uhr auf, um den Zug nach Immendingen oder Tuttlingen nicht zu verpassen. Im Rucksack Vollkornbrot, Äpfel, Möhren. Und die Karte.
Unser ökologischer Fußabdruck, hätte man dergleichen damals schon gekannt, wäre sozusagen Unternull gewesen; wir waren Vegetarier, industriell verarbeitete Lebensmittel waren tabu. Wir hatten kein eigenes Haus, besaßen weder Fernseher noch Auto, fliegen kam selbstverständlich nicht in Frage. Ein gutes Leben war für unseren Vater das Gegenteil dessen, was die Mehrheit in den siebziger/achtziger Jahren als gutes Leben empfand. Statt für mehr, war er für weniger. Oder: Er wollte immer mehr vom Weniger.
Heiß und innig war dabei sein Hass auf die degenerierten Massen, wie eine Monstranz trug er seine Minderheitenposition vor sich her, und er bestand darauf, auch noch innerhalb des Kreises der paar Veganer und Vegetarier, die es damals gab, eine Minderheit zu sein. Für ihn war niemand ernst zu nehmen, der auch nur das winzigste Bisschen kompromissbereiter war als er.
Warum hatten wir uns nicht gewehrt, frage ich mich. Warum hat sich mein Bruder nicht eines Sonntagmorgens trotzig auf den Boden gesetzt: Nein, keine Lust, heute komme ich nicht mit. Oder Mutter: Ich will aber jetzt auch endlich ein Auto! Unvorstellbar. Sünde wäre das gewesen.
Seine Obsession sicherte unser Vater ab mit einer Art Moral. Mit einer Moral der totalen Vernunft, die er ganz exklusiv für sich beanspruchte. Schaut mal, sagte er beispielsweise, der saure Regen! Und zeigte auf eine Tanne mit wunderbar grün sprießenden Trieben. Wie kann ein vernünftiger Mensch, fügte er hinzu, heutzutage noch Auto fahren und die Luft verpesten, während der Wald verreckt. Wir sahen hin, wir versuchten, gelbe Stellen zu finden im grünen Nadelkleid des Baumes, Zeichen der Krankheit, des Verfalls, wir wollten gelbe Stellen entdecken, unbedingt. Ja, dort, rief mein Bruder und dann sah ich es auch, ganz deutlich: gelbe Stellen im großen Grün. Und froh waren wir, nicht schuld am Verderben des Waldes und dem absehbaren Verderben einer Menschheit zu sein, die, meinte Vater, das Verderben mehr als verdient hat.
Aber er hatte doch recht, sage ich, wegen der Umwelt, heute ist das doch keine Frage mehr, manchmal muss man halt extrem sein, damit was in Gang kommt, oder nicht? Mein Bruder beugt sich über die Karte. Erinnerst du dich, als noch Dampfloks fuhren, sagt er, statt einer Antwort, und legt den Finger auf den Bahnhof Tuttlingen. Ja, sage ich, Dampfloks, die haben ja auch krass die Luft verpestet. Du soo klein, zeigt er mit der flachen Hand knapp überm Boden. Was du für einen Aufstand gemacht hast, wenn wir von einem Wagen in den anderen mussten. Seitlich diese dicken schwarzen Gummiwülste, über die scheppernde Blechbrücke, während Dampf durch die Zwischenräume hochfauchte. Ich erinnere mich nicht. Du hast gebrüllt, lacht er, zetermordio, wir mussten aussteigen und außen rumgehen. Und das findest du jetzt lustig, sage ich. Damals war mein Bruder ja wesentlich älter als ich, vier Jahre. Ich erinnere mich noch immer nicht, aber glaube ihm. Und bin erstaunt, dass ich derart unvernünftig Theater gemacht haben soll – und auch noch Erfolg hatte damit. So gnädig, weiß ich, wäre Vater ein paar Jahre später nicht mehr gewesen, grob hätte er mich über das Blech gezerrt, klar, war ja schließlich keine Hölle, nur Physik. Ein paar Jahre später hätte ich das verstanden.
(Erstmals erschienen als Carte Blanche im „Kulturtipp“)
Eine Frau, mitten im Leben, ist bereit, für die Kunst alles aufzugeben – sogar sich selbst. «Fangspiele» ist ein packend erzählter Roman über manipulative Macht und die bestürzende Bereitschaft, ihr zu verfallen. Erscheint im Frühling 2024!
Ursula Fricker, 1965 in Schaffhausen geboren, hat bisher fünf Romane veröffentlicht, u.a. ihr viel beachtetes Debüt «Fliehende Wasser» (2004), «Außer sich» (2012), nominiert für den Schweizer Buchpreis, und «Gesund genug» (2022). Die in der Märkischen Schweiz bei Berlin lebende Autorin wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Georg Fischer Kulturpreis der Stadt Schaffhausen. Für Fangspiele erhielt sie einen Werkbeitrag der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia und den Brandenburgischen Kunst-Förderpreis für Literatur.
«Lauernde Einsamkeit» – In ihrem ersten Roman zeichnet Martina Dénervaud literarisch eine Tristesse, aus der es auszubrechen gilt und gibt in knappen Worten Auskunft dazu.
Gastbeitrag von Urs Heinz Aerni
Urs Heinz Aerni: Wir treffen uns in Zürich, genauer am Bahnhof Altstetten und spazieren unter den Platanen. Sie sind eine frischgebackene Schriftstellerin mit Ihrem Roman «Glas Mauern». Lässt sich im Wissen, dass ein eigenes Buch nun in den Buchhandlungen liegt, etwas anders flanieren?
Martina Dénervaud: Eigentlich nicht. Ich glaube der eigentliche Kraftakt war für mich wohl eher das Buch fertig zu schreiben. Die Geschichte begleitet mich schon sehr lange. Ich bin froh, dass ich sie nun loslassen kann. Das mit dem Buchladen ist mir eher ein wenig unheimlich…
Aerni: Es ist keine leichte Lektüre, was die Gemütsverfassung angeht. Ein Stefan will aus dem Elend des Elternhauses und dem trostlosen Dorf entfliehen mit Blick auf den Hochglanz des grossen Geschäfts der Grossstadt. Wie fanden Sie zu diesem Stefan?
Martina Dénervaud «Glas Mauern», Kiener Verlag, 304 Seiten, CHF ca. 26.90, ISBN 978-3-948442-42-2, 304 Seiten.
Dénervaud: Es ist wohl eher so, dass er mich gefunden hat. Die unzähligen Begegnungen und Gespräche in meinem Berufsalltag sind irgendwann zu Stefan geworden.
Aerni: «Dave ist der Versuchung der Stadt erlegen, ihrer stummen Verführung.» heisst es bei einer Stelle. Wie sehen Sie die Wirkungskraft von Städten auf uns Menschen?
Dénervaud: Jede Stadt ist anders, hat ihre eigene Stimmung. In Städten ist alles möglich. Sie verführen dazu uns glauben zu lassen, dass sie uns eine Identität geben, und wir lassen uns gerne täuschen. Darum mag ich grosse Städte, man weiss nie, was oder wem man in ihnen begegnet.
Aerni: Sie beschreiben in einer klaren und ruhigen Sprache vom Ringen nach Identität, vom Scheitern, ja bis an den Tod heran. Wussten Sie schon von Anfang an, dass es diese Tonalität sein muss?
Dénervaud: Ja unbedingt. Die Geschichte lässt sich nicht mit Weichfiltern in Szene setzen. Stefan lebt in einer Welt mit Licht aus Neonröhren.
Aerni: Es könnte als ein Roman verstanden sein, der uns die Jämmerlichkeit widerspiegelt, von unserem Strampeln nach Karriere, Anerkennung und der Suche nach dem Kick eines modernen Lebens…?
Dénervaud: Das ist definitiv ein Aspekt davon. Jämmerlich ist es, weil Karriere und die Annehmlichkeiten eines modernen Lebens unsere Löcher nicht stopfen.
Aerni: Sie arbeiten im Bereich Human Resources und das unter anderem in der Finanzbranche und zwar international. Sie sammelten also reichlich Erfahrungen für Ihr Buch. Was tun Sie, damit Sie nicht dahin driften, wie es Ihren Protagonisten passierte?
Dénervaud: Im Gegensatz zu meinen Protagonisten ist mein Leben sehr farbig und ich weiss was mich glücklich macht. Die Zeit, in der ich mich hauptsächlich über meine Arbeit definiert habe, ist vorbei.
Aerni: Einsamkeit, Unternehmensalltag, Intrigen, Machtgier und der Wunsch nach Anerkennung bilden den Topos Ihres Romans. Wie gross sehen Sie die Chancen, dass wir da wieder hinausfinden?
Dénervaud: Da bin ich tatsächlich ziemlich desillusioniert. Bei Grossfirmen ist es doch so wie auf Instagram, alles muss glänzen und eine Nummer besser sein. Doch hinter der Fassade lauert die Einsamkeit und die gleichen alten Themen, ungeschönt.
Aerni: Bevor wir Sie wieder in die S-Bahn steigen, noch eine Frage: Wenn ich ein Gemälde malen würde, mit einem lesenden Menschen mit Ihrem Buch in den Händen, wie müsste es aussehen?
Dénervaud: Das Bild hat wenig Farben, ist auf das wesentliche reduziert. Lassen sie ausreichend freien Raum auf dem Gemälde. Der Leser braucht viel Platz, damit er seinen eigenen Gedanken zuhören kann.
Martina Dénervaud, 1976 in Zürich geboren, arbeitet als Führungskraft im Bereich Human Resources. Dabei ist sie im Finanzdienstleistungssektor in unterschiedlichen nationalen und internationalen Rollen tätig. Mit mehr als 20 Jahren Einblick ins Innerste von Unternehmen begleitet sie Menschen auf der Suche nach der eigenen Sinnhaftigkeit. Der Kampf gegen die Einsamkeit, die jeder von ihnen in diesem fordernden Mikrokosmos mit sich trägt, berührt sie immer wieder aufs Neue. «Glas Mauern» ist ihr erster Roman.
Ich werde dich eines Tages fragen, wer mein Vater war. Vielleicht bei einem Abendessen zwischen zwei Bissen, oder vielleicht zwischen Tür und Angel. Du wirst dich im Stuhl zurücklehnen, das Essen sorgfältig kauen. Du wirst es so lange kauen, bis du eine Antwort gefunden hast. Eine für mich zugeschnittene Antwort, oder vielleicht sogar die ganze Wahrheit auf einmal. Happen für Happen. Vielleicht wirst du mich fest an dich drücken und mit feuchten Augen den Spuren der Regentropfen folgen, die an die Fensterscheibe prasseln. Der Regen wird dich erinnern. An Zeiten, in denen es häufig regnete und niemand auf der Strasse tanzte und sich darüber freute. Vielleicht wirst du mir, wie schon so oft, von den Jahreszeiten erzählen. So klar und prägnant wie sie einst waren. Jede für sich.
Sie werden wiederkommen, wirst du mir sagen.
Die Erde wird sich erholen, wirst du mir mit Nachdruck versichern. Jetzt, da viele von uns fort sind. Ganz bestimmt.
Du wirst deine Hände verwerfen, dir eine Strähne aus dem Gesicht streifen und dich entschuldigen. Entschuldigen, dass du abgeschweift bist. Ich werde mich fragen, ob du das tatsächlich bist, oder du einfach deine Gefühle vor mir verbergen wolltest. Vielleicht kam Sehnsucht über dich, wie schon so oft. Das Heimweh nach einer alten Heimat. Ein sicheres Zuhause, das schon längst keines mehr war.
Vielleicht hat der Regen mit meinem Vater zu tun.
Ich weiss, dass er ihn am Tag seiner Abreise das letzte Mal sah. Er konnte ihn nicht spüren, nicht riechen, vielleicht nicht einmal hören. Nur sehen. Und sich erinnern wie es war. Vielleicht, werde ich mich fragen, vielleicht hielt er einen Moment inne, um sich diesen einen Augenblick einzuprägen. Ich werde mich fragen, ob er auch heute noch an diesen Moment zurückdenkt, wenn er die feinen Eiskristalle auf dem roten Staub sieht. Sieht, wie sie aus dünnen Wolken niederrieseln.
Lautlos und sanft.
Vielleicht wird ihm ein Gedanke kommen.
Lautlos und sanft.
Ich werde dich fragen, ob er von mir gewusst hatte. Ob er mich wortlos beiseitegeschoben und heimlich in die Sterne getragen hatte. Du wirst lächeln, aber nur mit dem Mund, nicht mit den Augen, und meine Hand streicheln. Vielleicht wirst du auch deinen Blick senken und nervös an den Knöpfen deines Kleides herumspielen. Vielleicht wirst du schweigen, werden wir schweigen. Darüber, was ich schon weiss, oder auch nicht. Ob ich dir vom Brief erzählen soll, werde ich mich fragen. Abgegriffen und versteckt in deiner Schublade. Eine letzte Nachricht an dich, bevor mein Vater in die neue Welt hinaustrat.
Bevor der Regen eine Erinnerung wurde.
Bevor wir eine Erinnerung wurden.
Du wirst den Brief erkennen. Wirst vorsichtig eine Hand drauflegen, wie ein schützendes Schild. Du wirst mir seinen Inhalt erzählen. Wirst mir erzählen, was ich schon weiss und was nicht. Von der Erde, wie sie vor langer Zeit war, und wie sie damals war, als es für meinen Vater das letzte Mal regnete. Und wie sie nach der grossen Reise der Männer und Frauen war.
Wie sie nach meinem Vater war.
Vielleicht wirst du mir beichten, dass du hättest mitgehen können. Dass mein Vater hätte bleiben können. Dass eure Hoffnungen in unterschiedliche Richtungen liefen. Deine zur bekannten Welt, der Erde. Seine zu den Sternen, in die Weiten der Galaxie.
Ob du mich wortlos an ihm vorbeigeschoben hattest, werde ich dich fragen. Ob du mich heimlich in dir getragen hattest.
Wirst du es mir je sagen?
Ich lebe auf einem blauen Planeten, der einst noch blauer war. Den ich so nicht kenne und vielleicht so nie kennen werde. So wie ich auch meinen Vater nie kennen werde, fern auf einem roten Planeten.
Wir müssen reden, du und ich. Eines Tages.
Noreen Sheikh, geboren 1989 in Rorschach SG, lebt mit ihrer Familie in einem 1000-Seelendorf im Kanton St. Gallen. Die begeisterte Amateur-Balletttänzerin widmet sich nebst dem Muttersein nun ganz dem Schreiben. Sie absolvierte an der Migros Klubschule St. Gallen den Kurs Drehbuch schreiben. Derzeit besucht sie den Lehrgang Literarisches Schreiben an der Schule für Angewandte Linguistik (SAL) in Zürich und arbeitet an ihrem ersten Roman. Ihre Geschichten handeln von alltäglichen Tragödien, von Höhen und Tiefen, die das menschliche Dasein ausmachen.
Seit einer Woche bereitet Josephine das Weihnachtsfest vor. Alles muss seine Richtigkeit haben. Paul, ihr Mann, legt großen Wert darauf. Heute an Heiligabend wird mit ihrem Mann Paul und den beiden Kindern Maria und Thomas gefeiert. Am ersten Weihnachtstag mit ihren Eltern und Geschwistern und am zweiten Weihnachtstag mit Pauls großer Familie. Im ganzen Haus duftet es nach Zimt, Orangen und frisch gebackenem Konfekt. Überall sind Nippes aufgestellt. Selbstgebastelte Sterne hängen von der Decke und an den Fenstern sind Klebebilder angebracht. Ab Mitte November bis Ende Dezember läuft beständig Weihnachtsmusik, dass einem die Ohren abfallen.
Nach dem Mittag geht Paul mit den Kindern auf dem Markt, um einen Tannenbaum auszusuchen. Das hat eine lange Tradition. Schon Paul ging mit seinem Vater auf Tannenbaumschau. Dieser wiederum mit seinem Vater. Das reicht weit zurück und Paul ist stolz darauf. Josephine holt derweil den Schmuck vom Dachboden. Sie entscheidet sich für die goldenen Kugeln. Die Kugeln in Silber und Bordeaux bleiben wohl verstaut in ihren Kisten. Die von Großvater gezimmerte Holzkrippe samt Holzfiguren und den Baumschmuck stellt Josephine im Wohnzimmer auf das Sofa. Sie steckt gerade die letzte rote Kerze in den Kerzenhalter, als die Tür auffliegt und Maria hereinstürmt. Sie bringt Kälte und die ersten Schneeflocken mit. Alle befürchteten, dass es dieses Jahr erneut grüne Weihnachten geben würde. »Mama! Wir haben einen riesen Baum ausgesucht. Du wirst staunen.« Ihre Wangen und die Nase sind rosig ab der Kälte. Paul und Thomas bugsieren das Ungetüm ins Wohnzimmer. »Eine Blautanne hatten wir noch nie. Das habt ihr toll gemacht.« Josephine drückt beide Kinder an sich und gibt Paul einen Kuss. »Möchtet ihr eine heiße Schokolade, bevor ihr die Tanne schmückt?« »Ou ja!« Die Kinder flitzen in die Küche und eine lachende Josephine folgt ihnen. Paul bleibt zurück und befreit die Tanne aus dem Netz. Nach der Stärkung kehren sie lachend ins Wohnzimmer zurück. Alle bleiben sie am Türrahmen stehen und bestaunen die Tanne, deren Eleganz erst jetzt zum Tragen kommt. Paul kniet unter den Zweigen und justiert den Stamm im extra dafür vorgesehenen Ständer. »Steht sie gerade?«, fragt er in die Runde. »Perfekt!«, echot es im Chor. Maria inspiziert die Kiste und rümpft umgehend die Nase. »Ich will nicht die goldenen Kugeln!« Sie verschränkt die Arme und stampft mit dem Fuß auf. »Ich will die Bordeauxfarbigen.« »Entschuldige Maria, aber ich dachte, wir wechseln jedes Jahr die Farbe. Das hatten wir gestern besprochen. Mit der Zeit wird es langweilig, wenn wir immer dieselben nehmen.« »Mir egal. Ich will Bordeaux.« Josephine möchte über die Weihnachtszeit kein nörgelndes Kind. Zumal ihr Ältester bis jetzt noch keine Flausen im Kopf hat. Daher holt sie die gewünschten Kugeln. Wenige Minuten später kehrt sie zurück. »Die Farbe der Kerzen passt nicht zu den Kugeln.« Die fünfjährige Tochter stemmt die Hände in die Hüfte und schiebt die Unterlippe vor. »Ich habe keine anderen. Tut mir leid. Wir müssen mit diesen vorlieb nehmen, ob du willst oder nicht.« Sie wirft hilfesuchend einen Blick zu ihrem Mann, doch der verlässt im selben Moment den Raum. Toll! »Ich will Glitzer.« »Du kannst sie mit deinen Zauberstiften anmalen.« »Juhuu!« Hüpfend springt die Kleine davon, um die Stifte zu holen. Glück gehabt, denkt sich Josephine. Thomas hängt die Kugeln auf, welche Maria mittlerweile vergessen hat. Zu beschäftigt ist sie mit dem Bemalen der Kerzen. Zufriedene Minuten, bei denen das wohlige Weihnachtsgefühl in Josephine aufflammt. Leise verlässt sie das Zimmer, um sich einen Tee zu gönnen. »Der Josef gehört nicht dahin. Da kommen die Könige. Mamaaaaa! Thomas macht alles falsch. Mamaaa!« »Nein, das ist korrekt.« »Was ist den nicht okay?« Josephine kniet sich zu den beiden Kindern hin. Die vorherige Idylle dauerte gerade mal eine Tasse Tee aufbrühen. »Kuck doch.« Marias Patschhändchen zeigen auf den Josef. »Ja, der steht nicht an den für ihn vorgesehenen Platz.« Sie blickt ihren Sohn an. Sein spitzbübisches Grinsen verrät ihn sofort. »Maria, du darfst die Figuren umordnen. Danach machen wir uns frisch und ziehen die neuen Kleider an.«
Um fünf Uhr stehen alle chic angezogen vor dem Weihnachtsbaum. Die Geschenke, welche mit Schleifchen und buntem Papier um die Wette glitzern, sind geschmackvoll unter dem Baum verteilt. »Bevor wir die Geschenke öffnen, möchte ich, dass wir ein Lied singen. Oder trägst du, Maria, zuerst ein Stück mit der Blockflöte vor?« »Ich will nicht!« »Na gut, dann singen wir.« Josephine räuspert sich und stimmt ›stille Nacht, Heilige Nacht‹ an. »Halt!«, ruft Thomas. »Ich will mit meiner Gitarre ein Lied vortragen.« »Gerne.« »Dann spiele ich Blockflöte.« Thomas stimmt die ersten Noten an und Maria fängt kurz darauf an. Natürlich nicht dasselbe Lied. Das wäre zu schön gewesen. »Kinder, Kinder. Bitte eines nach dem anderen.« »Ich zuerst!« »Nein, ich. Mami hat mich zuerst gefragt.« »Aber du wolltest nicht und nun bin ich dran.« »Neeeeiiiiinn!« Thomas zieht an Marias Haaren und sie fängt an zu weinen. »Könnt ihr nicht an einem einzigen Abend ohne Streitereien auskommen?«, fragt Paul. »Ich habe gar nichts gemacht«, meint Thomas. Der zwei Jahre älter als seine Schwester ist. »Warum weint dann Maria?« Paul blickt von einem Kind zum anderen. Er zuckt mit den Schultern. »Was riecht hier verbrannt?« Ihr Mann streckt seine Nase in die Höhe und schnuppert. Umgehend ist der Streit vergessen. »Oh nein!« Josephine eilt in die Küche. Ein bissiger Rauch empfängt sie. Sie hält sich den Ärmel vor Mund und Nase. Derweil öffnet sie mit der freien Hand den Backofen und zieht den Braten – wenn man es noch so nennen darf – heraus. »Mist!« Mit verschränkten Armen steht sie vor dem Kohlenstück. »Und was essen wir nun?« Paul ist zu ihr getreten. »Entschuldige. Das ist mir noch nie geschehen.« Josephine fährt sich durch die Haare. »Wir müssen uns wohl mit den Beilagen begnügen.« Sie versucht, zu lächeln, was eher einer Grimasse gleichkommt. »Aber der Braten hat Tradition.« »Meinst du, das weiß ich nicht?«, gibt sie schroff zurück. »Du brauchst mich nicht anzuschnauzen.« »Entschuldige bitte. Ich …« »Mamaaaaaa! Der Baum brennt.« Wie von Taranteln gestochen, rennen sie ins Wohnzimmer. Während sie das Sofa passieren, greift Josephine reflexartig zur Decke und wirft sie über den Baum. Dieser verliert sein Gleichgewicht und fällt zu Boden. Abgebrochene Kerzenstücke und Kugelteile schauen unter der Decke hervor. »Meine schönen Kerzen sind kaputt«, schreit Maria. »Du hast die Kerzen und die Kugeln kaputt gemacht.« Ihre Augen füllen sich erneut mit Tränen. Unglaublich, was das Kind an Augenpipi produzieren kann. »Entschuldige, aber sonst hätte das Wohnzimmer Feuer gefangen. Hättest du das gewollt?« »Und was ist mit den Geschenken?«, will Thomas wissen. »Paul, schau bitte nach.« Josephine ist zu aufgewühlt. Die Worte lösen ihn aus seiner Starre. Er hebt die Decke an und holt die Pakete hervor. »Sind alle ganz. Zum Glück.« »Gut.« Josephines Herzschlag beruhigt sich. Immer wird an ihr herumgenörgelt, obwohl sie den gesamten Haushalt zusammenhält. Sie fühlt sich leer. Würde sich am liebsten ins Bett verkriechen. Aber sie muss stark bleiben. Stark für zwei Kinder und ein großes. »Ich habe Hunger. Wann gibt es zu essen?«, will Thomas wissen. »Ich habe auch Hunger«, jammert Maria. »Was gibt es denn nun? Der Braten ist verkohlt. Nur Beilagen ist langweilig«, zetert Paul. »Pizza?« »An Heiligabend?« Thomas sieht sie mit großen Augen an. »Warum nicht?« »Was ist mit der Tradition?«, will ihr Mann wissen. »Die holen wir Morgen und Übermorgen nach.«
Die Tanne steht wieder an ihrem Platz. Die versengte Seite nach hinten gekehrt und diesmal ohne Kerzen. Davor ist eine Decke ausgebreitet. Darauf steht der Salontisch mit vier Fußschemeln. Josephine legt gerade die Teller und das Besteck auf den Tisch, als es klingelt. Die Kinder eilen zur Tür. Pizza an Heiligabend, wann gab es das denn? »Würdest du bitte die Rechnung begleichen?« »Was?« »Die Rechnung.« »Natürlich.« Paul erhebt sich und geht zur Tür. Die Kinder tragen stolz die Kartonschachteln ins Wohnzimmer. »Riech mal Mama.« »Lecker.«
Die Pizzen sind gegessen. Nun warten die Geschenke, die während des Essens von neugierigen Kinderaugen taxiert wurden. »Ich zuerst!« »Nein, ich zuerst.« »Kinder! Zuerst die Mama. So wie wir es besprochen haben.« Perplex sieht Josephine zu ihrem Mann. Noch nie durfte sie als Erste ein Geschenk auspacken. Selbst an ihrem Geburtstag haben die Kinder für sie die Präsente ausgepackt. Thomas überreicht ihr eine kleine Schatulle. »Mama, ich möchte mich bei dir bedanken und entschuldige mich, dass ich nicht immer lieb zu dir bin.« Josephines Augen glänzen. Sie öffnet die Schatulle und entnimmt einen goldenen Anhänger in der Form eines T. »Vielen lieben Dank mein Schatz. Lass dich drücken.« »Nun ich!« Maria legt ihr sorgfältig eine selbstgebastelte Schachtel aus Papier in die Hand. »Mami. Danke, dass du mir das Essen kochst und die Wäsche machst. Und mich badest und mir vorliest.« Josephine bekundet Mühe, die Tränen zurückzubehalten. »Und ich versuche, nicht mehr böse zu werden. Entschuldige.« »Mein Schatz.« Sie drückt den kleinen Wonneproben an sich. »Du hast mein Geschenk noch nicht geöffnet!« »Sofort.« Zum Vorschein kommt erneut ein goldener Anhänger. Aber diesmal als M. Die Tränen bahnen sich ihren Weg. Glücklich schließt sie die Kinder in die Arme. »Mein Liebling.« Paul kniet vor sie hin. Die Kinder zwischen ihnen. »Ich entschuldige mich bei dir, dass ich dich zu wenig unterstütze und du den Haushalt alleine meistern musst. Ich weiß das sehr zu schätzen. Auch wenn ich es nicht immer zeige. Ich hoffe, du weißt das ganz tief in dir drinnen.« Er räuspert sich. »Kinder, darf ich kurz die Mama umarmen? Ihr dürft nachher wieder.« Murrend schälen sie sich aus Josephines Armen. »Mein Liebling. Als kleine Aufmerksamkeit möchte ich dir diese Kette umlegen.« Er öffnet eine größere Schatulle. Zum Vorschein kommt eine goldene Kette mit zwei Anhängern, J und P, sowie fünf kleinen Herzen. »Würdest du mir bitte die beiden Geschenke der Kinder überreichen?« Paul fädelt die Anfangsbuchstaben und die Herzen geschickt auf. Am Ende ist ein Herz, ein Buchstabe, ein Herz, ein Buchstabe und so weiter aufgereiht. Paul legt Josephine die Kette an, zieht sie in eine feste Umarmung und küsst sie zärtlich. »Danke«, haucht sie, immer noch um Fassung ringend ab der Überraschung. »Ich liebe dich mein Liebling.« »Ich dich auch.«
Heidi Engel, 1984 geboren, ist verheiratet und hat ein Kind. Aktuell arbeitet sie als Leiterin Netze Gas und Wasser. Bisher hat Heidi Engel kein Buch veröffentlicht. Ihr erster Roman ist momentan bei BoD zur Bearbeitung. Die Veröffentlichung erfolgt noch im 2023.
(Alle Texte zum Thema «Tschuligung» sind Einsendungen nach einem Aufruf auf dieser Webseite. literaturblatt.ch begründet eine Nichtberücksichtigung der Texte nicht.)
Bitte lösen Sie vorsichtig die Hülle. Streichen Sie sie sanft glatt. Entnehmen Sie ihr drei bis fünf silbrig leuchtende Bänder. Merci! Betrachten Sie das Glitzern meiner Robe. Wie ich mich dankbar an einem grünen Ast herunterlehne. Erlöst von der Düsterheit eines Dachbodens. Meine Damen und Herren, bitte lassen Sie sich nicht allzu sehr blenden von meinem Kleid. Sein Glanz verkörpert auch Trübes. Keine übermäßige Eitelkeit. Aber einen üblen Umgang mit ‚Christbäumen‘ am 25. Dezember 1944.
Ja, ich weiß. Zum Leben gehört eine Vorder- und Rückseite. Drehen Sie also die Hülle mit der Gebrauchsanweisung um. Sehen Sie die bunte Landschaft mit Rentierschlitten, vorangetrieben von einem rundlichen Weihnachtsmann, sekundiert von einem Engel, über dem der Schriftzug ‚Eislametta‘ schwebt? Betrachten Sie das mir vertraute Milieu. Dann nach dem Entnehmen mein Glitzerkleid. Sein metallisches Leuchten. Denken Sie an die Zwanzigerjahre dieses Jahrhunderts. An Tänzerinnen mit Bubiköpfen. An ihre mit Silberfäden durchwirkten Roben. An ihr Flimmern im Takt von Charleston beim Wechsel von X- zu O-Beinen. Oder an Liza Minnellis ‚Cabaret‘-Auftritt im Kit Kat Club in Berlin 1931, kurz vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Metallisch glänzen für kriegerische Zwecke, das tat ich zu meinem Bedauern 1944. Sonst glitzere ich jedes Jahr zwischen dem 24. und 25. Dezember nach dem Motto: gib und nimm. Lass strahlende Blicke auf Dir ruhen und spiegle sie dankbar zurück. Reziprok leuchten, darin steckt mein Glückselixier! Derart schaukle ich beseelt auf immergrünem Ast. Lasse mich sanft an ihm hinuntergleiten, meine Seele baumeln und vergesse die restlichen 350 bis 358 Tage im Dunkel eines Briefchens. Nicht nur meine papierene Behausung, auch mein Name hat zwei Seiten. Er ist genauso ambivalent wie mein Bildnis. Wer in Italien nach mir ruft, verlangt eine zweischneidige Klinge aus Metall oder Blech. Wer mich auf Deutsch anspricht, – in abgehacktem Tonfall mit der Betonung auf „T“ – rattert meinen Namen militärisch scharfklingig herunter: „la-me-ta“. Wer ihn in sonorem Singsang wie ein Mantra wiederholt, betont den rituellen Charakter. Betont meine alljährliche Wiederkehr zur Weihnachtszeit: „la-me-ta, la-me-ta, la-me-ta!“. Nur im Singular, da klingt er lapidar: ‚Lametta“. Sich reimend auf „die mit zwei Saitn, wett ma“. Schon nach Geburt auf endlosem Band, als Teil eines Aluminiumblechs, offenbarte ich zwei Seiten. Ein Schweizer Industrieller hatte mich, ein Jahrhundert bevor Charleston getanzt wurde, in der deutschen Grenzstadt Singen vom Stapel einer Walze gelassen. Eine Seite rau, die andere glänzend, wett ma. In den Fünfziger und Sechziger Jahren sah man mich von der glänzendsten Seite. Man stöberte auf Weihnachtsmärkten nach ‚Brillant Eislametta‘ oder Qualitäts-Stanniol-Lametta‘, zögerte zwischen silbrig, goldig oder metallblau. Nahm mich wie ein Juwel in die Hände. Legte mich nach Ende der Weihnachtsfeier „schön gebügelt in eine Schachtel“ zurück.
Danach sank mein Renommee in den Keller. Das bügelt sich nicht schön. Meine raue Seite kam zum Vorschein. Im Ersten Weltkrieg geriet mein Name in Gefangenschaft. In die einer Verballhornung. Man verspottete die „Lametta auf der Brust“ von Offizieren, ihren Narzissmus, das „Klimpern der Lametta bei jeder Körperdrehung“. Das war das Vorspiel meiner Schandtat. Das Endspiel fand im Zweiten Weltkrieg statt. 1942 probierte Luftwaffenchef Hermann Göring unseren Kampfeinsatz. Wir Lametta gruppierten uns in sogenannten Düpeln, röhrenförmigen Stangen, um feindliche Radargeräte zu verwirren. Damit begann unser Kampf gegen sogenannte „brennende Christbäume“: gegen Leuchtkerzen, die auf deutsches Gebiet abgeworfen wurden. Von weitem sahen sie wie glitzernde Tannenbäume aus. Dank unserem Flimmern zerstreuten wir diese Sondierungsraketen, behinderten so auch feindliche Bombenabwürfe. Ebenso bot uns ab 1943 die gegnerische Seite auf. Im Auftrag der Alliierten in Wolken-Kommandos. Wie Cumuli regneten wir Metallpapierschnitzel vom Himmel herunter. Dass auch meine Geburtsstadt Singen mehrfach – am schwersten ausgerechnet an Weihnachten – bombardiert wurde, hatte unter anderem mit unserer erfolgreichen Behinderung der deutschen Flugabwehr zu tun. So gelang es am 25. Dezember 1944 den Alliierten in einer Großoffensive, 18 amerikanische Bomber und 90 Sprengbomben auf meine Geburtsstadt abzuwerfen, wobei 37 Menschen starben, 58 verletzt wurden. Nebst meinen widersprüchlichen Kriegsdiensten kam zu Weihnachten noch der zivile Einsatz. Weihnachtsgut war Mangelware. Aber als Sammelgut von Kriegstrümmern greifbar. So barg man auch mich aus Überbleibseln von Stanniol-Streuwolken. Und platzierte mich neben andere Trümmerteile oder kleine Panzer auf grüne Äste. Mein Glanz war nun ohne Gloria. Umständehalber. Ja. Nein. Luftwaffenchef Hermann Göring konnte es nicht lassen. Er hatte als sogenannter „Lametta-Heini“ nicht nur eine Schwäche für Orden und prunkvolle Uniformen. Unter festlich geschmücktem Baum stimmte er auch dieses Loblied auf mich an: „Rechts Lametta, links Lametta, Und der Bauch wird imma fetta, Und in Preußen ist er Meester – Hermann heißt er!“
„Tsssssch….“, zischt mich ungeduldig die Wunderkerze an. Sie nimmt mir den Stab ab: „Du hast genug geredet, ttsssschschschsch … ich habe ja nur zwei Minuten Zeit.“ In der Tat, nur allzu schnell versprüht sie ihre Funken aus Aluminium, Titan und Magnesium. Ich überlasse ihr eilig die Bühne auf dem geteilten Ast. Mein letztes Wort nach ihrem „Tssccch…“ bleibt im Hals stecken: „Tsch‘uldigung.“
Silvia Ittensohn, Fachlektorin für Interkultur, Philosophie und Politik, journalistisch tätig. Nach Lizenziat und Lehrerausbildung Deutschlehrerin für Fremdsprachige im Migrationsbereich. Initiierte nach einem Master in Interkultureller Kommunikation einen lokalen Kultur-Verein Schweiz-China. Seit ihrer Pensionierung schrieb sie eine historisch-fiktionalisierte Broschüre zur Geschichte der «SP-Frauen Schweiz». Im Blaukreuzverlag wurde ihre Kurzgeschichte ‚Zurück in die Zukunft – mit dem Trottinett‘ publiziert. Derzeit schreibt sie Kürzestgeschichten und Kurzgeschichten. Seit knapp einem Jahr arbeite sie an einem lokalhistorischen Roman.
Am Morge vo Heiligaabe het dr euter Sohn gseit, uf eis Gschänk fröi’r sech bsungers. Öb’s öpis sig, won’r sech gwünscht heig, ha ne gfragt. Vo wäm dass’r’s überchöm, ha ne gfragt. U vo won’r überhoupt wüss, dass’r’s überchöm, ha ne gfragt. Aber är het glachet wi eine, wo meh weiss aus angeri.
Am Aabe si ungerem Boum vrschidnigi Gschänk gläge. U hingerem Boum es grosses Päkli, wo em jüngere Sohn ufgfauen isch. Für wän das Päkli sig, het’r wöue wüsse. Aber i ha gseit, das gsäch’r de, itz müess’r haut no chli Geduud ha bis zur Bescheerig.
Bir Bescheerig isch’s dr jünger Sohn gsi, wo aus erschts sini Päkli het wöue vrteile, won’r gmacht het gha im Chindergarte. När hei d Ching d Päkli übercho vo den Erwachsnige. U em Schluss isch’s dr euter Sohn gsi, wo sini Päkli vrteilt het.
Was mit däm grosse Päkli sig hingerem Boum, het dr jünger Sohn gfragt, wo aui angere Päkli si vrteilt gsi. Das gsäch’r grad, het dr euter Sohn gseit, itz gäb’s nämlech non en Überraschig. U när het’r das grosse Päkli hingerem Boum füregno.
Das Gschänk, het dr euter Sohn gseit, mach är öper ganz Bsundrigem: Tschuudigung, sich säuber. U när het’r’s aafa uspacke. Es isch guet iipackt gsi, ire Chischte, mit viu Papier drumume, und usecho isch am Schluss es Chüssi. Won’r säuber het gfärbt u gnäjt gha ir Schueu. Über Wuche. Mir hei ne globt u das Chüssi beschtuunt.
Aber dr jünger Sohn het gfragt, öb me das überhoupt dörf, sich säuber öpis zur Wienachte schänke. Wüu we me das dörf, tschuudigung, de mach är das nächschts Jahr o.
Guy Krneta, 1964 geboren in Bern, lebt in Basel. Krneta war Dramaturg und Co-Leiter an verschiedenen Bühnen in Deutschland und der Schweiz. Er ist Mitbegründer des Spoken-Word-Ensembles «Bern ist überall» und initiierte u.a. das Schweizerische Literaturinstitut in Biel. Krneta schrieb zahlreiche Theaterstücke und Bücher, die mit Preisen ausgezeichnet wurden.
«Die Perücke», Roman, Der Gesunde Menschenversand; Alles oder nichts. Alles fürs Theater macht die Regisseurin Rike. Kompromisslos widmet sie ihm ihr ganzes Leben. Nichts mehr vom Leben erwartet die junge Esther. Kompromisslos bringt sie sich um. Beiden gerecht zu werden versucht ein Ich-Erzähler. An der Seite Rikes wird er vom Regieassistenten zum Autor. Als Freund Esthers schaut er hilflos zu, wie sie verzweifelt. Guy Krneta hat aus einem Stück Lebens- und Theatergeschichte einen bewegten und bewegenden Roman geschrieben.