Die Kinder im Dorf hatten alle braune und grüne Augen, ich war die Einzige mit klarem Blau im Blick. Das hatte ich von meinem Vater geerbt. Die Augen und den englischen Nachnamen. Darüber verlor ich aber kein Wort. Es hätte nur weiteren Anlass zu Spott gegeben. Es hieß, dass nur die Stadtkinder blaue Augen hätten, das käme vom vielen Waschen. Man schrieb den Städtern einen regelrechten Reinlichkeitsfimmel zu. Gut, was meine Mutter betraf, stimmte das vielleicht. Ich war davon aber sicherlich nicht betroffen. Dass die Kinder selbst jeden Morgen das Gesicht in kaltes Brunnenwasser tauchten, kam ihnen dabei wohl nicht in den Sinn. „Blaue Augen, blaues Blut“, lästerten sie, wenn sie mich wieder einmal des Stalles verwiesen, weil eine Kuh kalbte oder ein neuer Stier dabei war, sich einzuleben. Das Umfeld wäre zu gefährlich für mich. Sie hatten nicht ganz Unrecht damit. Es war nicht nur einmal passiert, dass ein Tier ausgebüchst war, durch die Bretterwand gekracht, schon in den ersten Tagen. Die Restaurationsarbeiten waren schnell geschehen. Die neue Wand hielt aber nicht mehr aus, als die zuvor zerstörte. Es gab nur eine Box mit Stangen aus Metall, speziell für Neuankünfte, was normalerweise ausreichend war. Es kamen nicht oft neue Tiere ins Dorf. Die Gutshöfe mussten Geld zusammenlegen, um sich qualitatives Neuvieh leisten zu können. Man teilte sich die Stallarbeit und das Futter. Meine Tante Mila erzählte, sie wäre einmal fast niedergetrampelt worden, hatte sich gerade noch ins Haus retten können, bevor ein junger Stier durch den Garten gerast war. Die Beete waren im Eimer und das übermütige Tier kaum einzufangen. Sogar die Kühe rannten vor ihm davon, er war ihnen wohl nicht ganz geheuer. „Ziemlich umtriebig, der gute Bursche“, bestätigte auch mein Onkel. Einige Kühe wurden trächtig. Sie waren wohl doch dem Charme des Stieres erlegen, befand ich. Mila schüttelte zweifelnd den Kopf, schwieg aber.
Homage» von Katharina J. FernerKatharina J. Ferner «Der Anbeginn», Limbus, 2020, 190 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-9903918-4-6
Katharina J. Ferner, 1991 geboren, lebt als Poetin und Performerin in Salzburg. Sie ist Redaktionsmitglied der Literaturzeitschrift &Radieschen sowie der österreichischen Dialektzeitschrift Morgenschtean. 2016–2019 Mitbetreuung der Lesereihe ADIDO (Anno-Dialekt-Donnerstag) in Wien. 2017 Stadtschreiberin in Hausach (D), 2019 Lyrikstipendium am Schriftstellerhaus Stuttgart. Bei Limbus erschien ihr vielbeachtetes Lyrikdebüt «nur einmal fliegenpilz zum frühstück» (2019) und der Roman «Der Anbeginn».
Als die Hubschrauber über der Stadt kreisten und Staatschefs durch die Strassen eskortiert wurden – Katrin Seddig nutzt die bis heute diskutierten Auseinandersetzungen um das G20-Treffen 2017 in Hamburg für einen fulminanten Familienroman: „Sicherheitszone“.
Frank Keil
„Menschen enttäuschen andere Menschen“ von Frank Keil, freier Journalist
Als es zum eigentlichen Geschehen geht, haben wir schon 216 Seiten gelesen. Sind wir eingetaucht in das Leben der Familie Koschmieder, sind vertraut worden mit den verschiedenen Mitgliedern, jung und alt, Männer und Frauen. Haben unsere Sympathien mal diesem, mal jenem zuweilen recht grossherzig gegeben – und sie bald wieder abgezogen. Denn Familie – oha! Da weiss man nie, da fühlt man sich schnell selbst angesprochen – und ertappt.
„Eine deutsche Familie“, so nüchtern sollte er ursprünglich heissen, ihr Familienroman. Der von einer Familie zu erzählen sucht, in dem Moment, wo sie noch besteht und sich zugleich auflöst, aber auch eine Familie bleibt, irgendwie. Katrin Seddig skizziert die Ausgangssituation: „Die Kinder gehen aus dem Haus und die Eltern fangen an sich aus der Familie zu befreien, die ja keine Familie mehr ist.“
Bei den Koschmieders in Hamburg-Marienthal, einem gediegenen und zugleich abgeschiedenen Hamburger Stadtteil, zu dem eine gewisse Unauffälligkeit gehört, wohnen drei Generationen unter einem Dach, noch. Und auch das mit „unter einem Dach“ ist eine nicht ganz eindeutige und damit zu deutende Sache: Denn Thomas Koschmieder, Vater, Ehemann und Sohn in einer Person, wie das oft vorkommt, wohnt neuerdings in der Gästewohnung über der Garage. 52 Jahre ist er alt, was einerseits kein Alter ist, wie man so sagt, aber jung ist er nun mal auch nicht mehr. Weshalb er wohl selbst am meisten überrascht ist, dass er sich so schnell wieder verliebte – und dass dieses Verlieben mit Verlieben beantwortet wurde: von der Lehrerin seiner Tochter, ausgerechnet.
Was ihn auch irritiert: wie er ebenso von Eifersucht geplagt die gleichfalls neue Liebschaft seiner Exfrau Natascha verfolgt, sie beobachtet, die plötzlich so aufblüht, so locker und so entspannt wirkt – und die trotzdem weiter seine Wäsche bügelt! Was er auch nicht versteht: Warum ausgerechnet er bald eine Ladung Pfefferspray ins Gesicht bekommt, als er an einer Polizeikette vorbeikommt, einfach so, eben im Vorübergehen. Und dann sind da noch seine Kinder, die ihm entgleiten und seine Mutter, die ihn bittet, sich bitte-bitte zusammenzureissen. Auch als Chef eines kleinen Antiquitätenladens (er hat ursprünglich Linguistik studiert) ist er nicht unbedingt immer Herr des Geschehens.
„Auf dem Fensterbrett stehen Zimmerpflanzen, die nicht lebten und die nicht tot waren“, so skizziert Katrin Seddig ein Detail in seinem neuen Übergangsheim. Sie lacht: „Solche Zimmerpflanzen kennt man doch! Man muss sich nur entscheiden, ob man sie nun wegwirft oder ob man sie noch mal beschneidet, düngt, sie vielleicht umtopft.“ Aber diese Entscheidung sei, wenn man um die 50 ist, einfach sehr schwer: „Man hat sie schon zu oft umgetopft.“ Überhaupt, der Thomas: „Er ist einsam, er ist mittelalt, aber er fährt Fahrrad“, ist über ihn zu lesen. Sie nickt wieder: „In dem Alter, indem er ist, werden viele Männer noch mal sportlich; sie haben dann ein Rennrad für 1000 Euro.“ Denn es müsse ja nicht immer das neue Auto sein oder die neue junge Frau. „Fahrradfahren ist schon okay, auch wenn es nicht die Revolte ist“, sagt sie. „Thomas ist die Figur, die am nächsten an mir dran ist“, sagt sie langsam. Sagt: „Wenn ich schreibe, sind die Figuren, die ich am meisten verachte, die, in denen ich mich am meisten wiederfinde.“ Es sei dann eine Art von Liebe, von Fürsorge mit im Spiel. „Mich interessiert nicht der Böse, der komplett anders ist als ich, sondern der Mensch, der sich falsch oder lächerlich verhält und in dem ich mich wiedererkenne“, sagt sie.
Und das ist entsprechend das Schöne an Katrin Seddigs Romanen: Sie sind weder Aufrechnungen noch Abrechnungen, wo Eins und Eins unbedingt Zwei und keine andere Summe ergibt. Das gilt auch für ihre Heldin Helga, die Mutter von Thomas, die zu Zusammen-Reisserin. 87 Jahre ist sie alt, die verlässlich ihre Pillen nehmen muss, aber die das immer wieder vergisst und dann durch die Siedlung irrt, bis eine gnädige Nachbarin sie dann auf eine Tasse Kaffee rettet. Entsprechend verstört, aber auch verbittert schaut sie auf das Leben, dass sich für sie dem Ende entgegen neigt. Obwohl selbst Flüchtlingskind, damals auf einem Treck aus Ostpreussen, die kämpfenden Truppen im Nacken und eingehüllt in eine Wolke aus Angst, Panik und Entsetzen, schlägt ihr Herz nicht für Geflüchtete. Im Gegenteil: die sollen verschwinden, dies Packzeug. Eines ihrer Lebensmottos lautet daher: „Gefühle sind was für Kinder.“ Und wenn sich ihr Sohn ihr mal anvertrauen will, heißt es schnauzend: „Red‘ mir doch nicht von Liebe!“
Katrin Seddig holt tief Luft: „Ich kenne diese Einstellung dieser Generation, eine recht harte Generation.“ Liebe werde nicht so romantisiert, wie wir das heute tun würden: „Da hat man zu seinem Partner gestanden, weil das eine Art von Pflicht war; man hat auch nicht die Familie verlassen, weil es für viele von Vorteil war, für die Kinder zum Beispiel“, sagt sie. „Ich hätte Helga auch als alte Nazi-Frau skizzieren können, sie ist wirklich politisch ungebildet, da geht vieles durcheinander“, erzählt sie weiter. Aber – Helga liebt ihren Enkel Alexander; ist dann voller Mitgefühl und Verständnis für ihn, der seine ganz eigenen Probleme hat: Alexander ist Polizist, er wird beim G20-Gipfel eingesetzt werden, aber weit mehr beschäftigt ihn, ob sich sein Kollege Simon auch in ihn verliebt hat, wenn er denn in Simon verliebt ist. Da ist sie: die Kompliziertheit der Welt, die Katrin Seddig schreibend antreibt. Jedenfalls Helga: „Menschen sind sehr schwierig. Sie sind vielschichtig, ambivalent in ihren Einstellungen, deswegen sind sie so schwer zu fassen, wenn man ihnen gerecht werden will“, greift Katrin Seddig den Faden wieder auf. Oder wie sie es noch eine andere Heldin, Thomas Tochter, die 17jährige Imke, engagiert bei „Jugend gegen G20“, sagen lässt: „Menschen enttäuschen andere Menschen.“ Katrin Seddig nickt. Nickt nochmals.
Und das eben wird erzählt im Schatten wie im Scheinwerferlicht des G20-Gipfels, was am Anfang, als Katrin Seddig erste Szenen entwarf, so gar nicht vorgesehen war. Aber dann ist viel unterwegs, in den frühen Juli-Tagen 2017, als tage- und vor allem nächtelang die Hubschrauber über der Stadt kreisten, das Schanzenviertel in eben Sicherheitszonen eingeteilt war und als selbst Hamburger Medien, die sonst so heimattreu berichten, kritische Fragen stellten von wegen: muss das alles wirklich sein? Und was holt man sich mit Trump, Putin und Bolsonaro eigentlich für Leute ins Haus?
Katrin Seddig war nicht als Aktivistin auf den Beinen, sondern als Beobachterin. Sie hat entsprechend vieles gesehen und vieles auch nicht gesehen, an Friedlichem, an Heftigem, von dem dann überall erzählt wurde. „Ich war sehr verwirrt in dieser Zeit“, gesteht sie, „weil ich so viele verschiedene Geschichten gehört habe und sich auch mein Standpunkt ständig verschoben hat.“ Was sie daher bis heute auch beschäftigt: „Bei G20 war es oft so, dass Leute, die nicht in Hamburg leben, die auch nicht vor Ort waren, genau wussten, was hier losgewesen ist.“ Sie schüttelt den Kopf: „Sie wissen, was hier passiert ist, obwohl sie nicht da waren und auch nichts gesehen haben.“ Noch immer staunt sie darüber.
Es ist dieses Staunen und es ist der Versuch zu fassen, was passiert sein mag, im grossen Politischen wie im scheinbar kleinen, Familiären, das diesen Roman immer wieder anfeuert. Und der eben auch davon erzählt, wie schnell Gewissheiten ins Wanken geraten, wie uneindeutig Eindeutigkeiten werden, wenn man nur mal auf die Rückseite schaut und was es daher an Aufmerksamkeit braucht, um halbwegs für sich eine vage Gewissheit von etwas formulieren zu können, die vielleicht auch morgen noch Bestand hat. Das letzte Wort gehört daher Natascha Koschmieder, Thomas Ex-Frau, jedenfalls ist sie das noch zu dem Zeitpunkt, wo wir das Romangeschehen leider wieder verlassen müssen. Sie sagt zwischendurch, schreibt Katrin Seddig: „Man müsste jede einzelne Geschichte jedes einzelnen Menschen erzählen.“
Katrin Seddig, geboren in Strausberg, studierte Philosophie in Hamburg, wo sie auch heute mit ihrer Familie lebt. Über ihren Roman «Runterkommen» (2010) schrieb die «taz»: Ein brillantes Debüt … Anrührend, witzig und nüchtern. Über «Eheroman» (2012) meinte «Der Tagesspiegel»: Grandios, wie Katrin Seddig jeder ihrer Figuren einen eigenen Ton verleiht; zuletzt erschien 2017 «Das Dorf». Katrin Seddig wurde mit dem Calwer Hermann-Hesse-Stipendium 2020 und für den noch nicht veröffentlichten Roman «Sicherheitszone» mit dem Hamburger Literaturpreis 2019 ausgezeichnet.
Siebzehn Jahre ist es jetzt her. Ich verbrachte meine ersten Island-Weihnachten im tiefen Fjord Hvalfjörður, eine knappe Autostunde von Reykjavik entfernt. Der Winter war bisher kalt und windig gewesen, bissig, aber verglichen mit Graubünden schneearm. Der Bauernhof lag seit Wochen im Schatten des Bergmassivs Esja. Manchmal tunkten die tiefen Wolken den ganzen Fjord in ein aprikosengoldenes Licht. An der Küste gefror selbst das salzige Meerwasser, doch die seltsam poröse Eisschicht zerbrach durch das Spiel der Gezeiten in tellergrosse Schollen, der Fjord gefror nie ganz zu. Gab es Schnee, verwehte ihn der Wind und häufte ihn hinterm Stall zu einem enormen Haufen an. Einmal öffnete ich die hintere Stalltür von innen – und stand jäh vor einer Wand aus Schnee. Das war nicht so schlimm: Die Kühe wollten sowieso nicht raus. Sie wiederkäuten gelassen ob den pfeifenden Winterstürmen. Der Bauer erzählte mir, dass sich Kühe in Island am 13. Weihnachtstag miteinander in Menschensprache unterhielten, aber sofort verstummten, sobald sie einen bemerkten. Wie gerne hätte ich mich mit ihnen unterhalten!
Die Weihnachten fern der Heimat zu verbringen, war ein seltsamer Gefühlskoktail aus Melancholie und Entspanntheit, Neugier und Heimweh. Zwar genoss ich die Ruhe, ich las Bücher, schaute Filme, hörte Musik, schrieb Briefe, aber ich schleppte ein schweres Herz mit mir rum. Ich wartete sehnsüchtig auf Briefpost oder Telefonanrufe aus der Heimat, und war zugleich fasziniert über die Isländer und ihre Bräuche. Einsamkeit macht zudem kreativ. Ich spürte den Drang zu schreiben, zu musizieren, zu singen. In der kleinen Holzkirche der Gemeinde, weiter hinten im Tal hatte ich eine Orgel entdeckt. Oft sass ich mutterseelenallein in dieser Kirche und machte Lärm, griff völlig enthemmt in die Tasten, keine Menschenseele weit und breit. Herrlich. Hätte jemand die Kirchtür aufgestossen, wäre ich so plötzlich verstummt, wie die Kühe am 13. Weihnachtstag. Der Priester lud mich einmal in seine Stube ein, tischte Tee auf und verwickelte mich in ein Gespräch über Gott und die Welt. Er konnte gut Deutsch, war an mir interessiert. Dieser Besuch war wie Balsam auf meine vereinsamte Seele. An Weihnachten lud mich der Bauer ein, ihn in die Messe zu begleiten, doch ich zog es vor, meine freien Stunden in der vereisten Winterlandschaft zu verbringen, hinauszuwandern, vorbei an erstarrten Wasserfällen und baumlose Berghängen. Ich erklomm einen alten Vulkankegel, der während der letzten Eiszeit entstanden war. Die Lava hatte sich einen Weg nach oben durch den Eiszeitgletscher gefressen und dabei Unmassen an Gletschereis weggeschmolzen, möglicherweise eine Gletscherflut ausgelöst. In den Flanken waren bizarre Steinformationen zu finden, schockerstarrte Lava, fremde Welt. Der Wind auf dem Vulkan war so schneidend, dass es mir den Atem verschlug. Meine klammen Finger schmerzten. Beim Abstieg trat ich unüberlegt auf eine Schneefläche, worunter sich blankes Eis verbarg. Meine Füsse schnellten in die Höhe, ich klatschte hart auf die Eisfläche und rutschte sofort die Vulkanflanke hinunter, gewann augenblicklich an Tempo. Mit Händen und Füssen versuchte ich, die Talfahrt zu verlangsamen. Vergebens. Erst der schneefreie, nackte Erdboden weiter unten stoppte mich. Ich schlitterte übers Geröll, die Steine prügelten mich, aber schliesslich kam ich zum Stillstand. Ich blieb dann eine Weile sitzen. Nichts gebrochen.
Meine ersten Weihnachten in Island lehrten mich, dass ein einziger, fataler Fehltritt genügt, um den Kurs des Lebens zu ändern. Als ich zurück auf dem Bauernhof war, erzählte mir der Bauer, dass der Priester nach mir gefragt habe, verwundert darüber, mich nicht an der Weihnachtsandacht gesehen zu haben. Er habe ihm daraufhin mitgeteilt, dass Joachim seinen Gott draussen in der Natur suchen gegangen sei, und darüber war ich ihm dankbar. Am Abend machte ich die Stallarbeit, fütterte und molk die Kühe. Seltsam. An jenem Abend fühlte ich mich, als wäre ich in Island angekommen, mit Leib und Seele, zufrieden, lebendig, aber müde. Ich freute mich auf meine Bücher, mein Bett und meine weiteren Jahre in Island. «Nur mal ganz sachte, Junge. Rupf nicht so!», sagte eine tiefe Stimme. Ich schaute mich um. Der Bauer war in der Milchkammer. «Wer ist da?», rief ich. Keine Antwort. Niemand war da. Nur die Kuh, der ich soeben das Melkzeug etwas unsanft abgenommen hatte, ich muss in Gedanken versunken gewesen sein, drehte ihren Kopf zu mir, schaute mich an, wiederkäute, steckte sich die Zunge nacheinander in beide Nasenlöcher, schnaubte – und schaute wieder nach vorn.
«Gleðileg jól og farsælt komandi ár!»
Joachim B. Schmidt «Kalmann», Diogenes, 2020, 352 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-257-07138-2
Joachim B. Schmidt, geboren 1981 in Graubünden, ist Journalist und Schriftsteller. Seine ersten drei Romane erschienen in einem kleinen Verlag aus dem bernischen Emmental (Landverlag). 2020 war «Kalmann» aus dem Hause Diogenes dann der lang ersehnte Durchbruch zu einem grösseren Publikum. Seit 2007 lebt Joachim B. Schmidt in Island, wo er mit seiner Familie in Reykjavik lebt und Touristen über die Insel führt.
Dem aus Süddeutschland stammenden Autor P. B.W. Klemann gelang ein lesenswertes Debüt aus der Perspektive eines Pfarrersohns im 17. Jahrhundert, mit dem er die Lesenden in die Welt des Dreißigjährigen Krieges in einem gewinnenden Erzählton zu verführen vermochte. Zu diesem Buch mit Kulissen von Süddeutschland, dem Bodensee und der Schweiz gibt der Autor Auskunft.
Urs Heinz Aerni: Es ist Ihr erster großer Roman, obwohl Sie schon länger am Schreiben sind. Wie viel Mut braucht es, das Vollbrachte der Welt zu übergeben?
P.B.W. Klemann: Ich habe mit 25 Jahren angefangen regelmäßig zu schreiben. Vier Bücher habe ich angefangen und keines zu Ende gebracht oder mich getraut eines zur Veröffentlichung anzubieten. Ich glaube, wenn einem ständig Geschichten im Kopf herum spuken, man von Abenteuern und Charakteren träumt, seine eigenen Welten erschafft und darin Zeit verbringt, beginnt man notwendigerweise mit dem Schreiben, und somit notwendigerweise mit dem Verfassen eines Romans, ohne dass dazu Mut erforderlich wäre.
Aerni: Aber Mut…
Klemann: Mut braucht es dann, wenn es darum geht, sein Geschaffenes auch zu präsentieren. Für mich lag darin die eigentliche Hürde.
Wie würden Sie die Ursuppe bezeichnen, aus der Ihr Buch entstanden ist?
Vor allem die Lektüre des Schriftstellers Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen und seiner „Simplizissimus-Trilogie“ hat mich inspiriert. Ich fand alle Bücher großartig, und die Vorstellung, dass ich einen Menschen lese, der tatsächlich den Krieg miterlebt und sogar darin gekämpft hat, fand ich insbesondere faszinierend. Bemerkenswert fand ich zudem, dass, obwohl selbst Trossjunge und Soldat, und er zweifellos bei manchem Kampf dabei gewesen sein muss, Grimmelshausen nur sehr indirekt über Kämpfe und Schlachten schreibt. Überhaupt wird der ganze Schrecken – und dieser muss ungeheuer gewesen sein – mit Ironie und Witz stets auf Distanz gehalten und selten, wenn überhaupt, wird ein Einblick in die wirklichen Empfindungen der Charaktere gewährt. Und eben dies war es auch, was ich in meinem Buch anders haben wollte, ein möglicher Blick in die Empfindungswelt während so harten und extremen Zeiten.
Wir kennen und lieben die Romane wie «Name der Rose» von Umberto Eco oder «Der blaue Stein» von Gilbert Ginoué oder «Das Parfum» von Patrick Süskind. Sie erzählen uns eine Geschichte aus dem Dreißigjährigen Krieg. Warum?
Auch durch die Lektüre der Bücher von Grimmelshausens brachten mich in diese Zeit. Nachdem ich ihn gelesen hatte, recherchierte ich ein wenig über den Dreißigjährigen Krieg, und war ganz erstaunt, wie wenig ich darüber wusste, obwohl er so verheerend für Deutschland – oder was man damals die «Teutschen Lande» nannte – war, so riesigen Einfluss auf unsere Geschichte hatte und so sehr in Kultur und Sprachgebrauch eingegangen ist. Noch heute finden sich seine Spuren überall.
Die uns gar nicht bewusst zu sein scheinen.
Richtig. Dennoch gibt es erstaunlich wenig Unterhaltungs-Bücher oder Filme über das, was man heute «die Frühe Neuzeit» nennt. Über das Mittelalter, die Wikingerzeit, die Antike, oder über spätere Epochen, das viktorianische England, den ersten und zweiten Weltkrieg, darüber gibt es unzählige wunderbare Geschichten, doch über die Zeit des Dreißigjährigen Krieges, so zumindest mein Empfinden, recht wenig. Auch deshalb wollte ich mich dieser Zeit widmen.
Das Recherchieren ist das Eine. Das Andere ist das Schreiben. Wie lange saßen Sie denn an diesem Projekt?
Ich habe dreieinhalb Jahre lang an «Rosenegg» geschrieben. Im ersten Jahr gerade einmal 80 Seiten, da ich hauptsächlich Recherche betrieb.
Wie nahe bewegen Sie beim Erzählen bei tatsächlich gelebten Menschen?
Die Hauptpersonen Kaspar Geißler und der Graf von Rosenegg sind fiktive Gestalten, ebenso alle Räuber und die Soldaten der späteren «Compania». Auch David von Schellenberg ist erdacht. Die meisten übrigen Gestalten sind wirkliche historische Personen, beziehungsweise Interpretationen von ihnen meinerseits. Besonders am Herzen lag mir die Darstellung von René Descartes – wohl auch, weil ich Philosophie studiert habe – , der bei dem Feldzug von 1620 zwar dabei war, über dessen Erlebnisse es jedoch keinerlei Zeugnisse gibt.
P.B.W. Klemann wurde 1981 in Singen unter der Festung Hohentwiel geboren. Er lebt mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Bohlingen. Der Autor hat an der Universität Konstanz Philosophie und Mathematik studiert. Seine erste Veröffentlichung war seine Abschlussarbeit zu Marc Aurel und der Stoa, die einen Universitätspreis erhielt. Es folgten Bücher im Bereich der Reiseliteratur sowie journalistische Arbeiten rund um Geschichte und Philosophie. Heute arbeitet er als Verlagsleitung und ist freier Drehbuchautor und Schriftsteller. Rosenegg ist somit nicht ganz ein Debüt aber Klemanns erster historischer Roman.
Zwiebeln sind etwas Gutes. Man findet sie in fast jeder Küche der Welt und gleichzeitig gibt es auf der Welt auch sehr viele Zwiebeln, eine Win-win-Situation ist das. Gekocht schmecken sie süss, gebraten saftig und roh pikant. Ein wirklich erstaunliches Gemüse. Das Zwiebelschälen mögen viele trotzdem nicht. Es gibt sehr viele schlechte Metaphern darüber, die man gar nicht zitieren möchte. Es gibt allgemein viele Metaphern zur Zwiebel, was zeigt, wie wichtig sie für die Menschen ist. Die Zwiebel ist auch wichtig für die Tiere. Nachts singen zum Beispiel die Bauernhoftiere Lieder über die Zwiebel, das ist etwas, was nur ganz wenige wissen. Denn die gekochte Zwiebel gibt der Speise Würze und auch Süsse und sie passt zu jedem Gemüse. Und zu jedem Fleisch, ein Fakt, über den die Bauernhoftiere nachts mit Schrecken singen.
Menschen haben auch schon über die Zwiebel gesungen, aber das kam oft nicht gut heraus. «Ich habe eine Zwiebel auf dem Kopf, ich bin ein Döner» von Tim Toupet ist ein Beispiel. Und das ist eines der wenigen Probleme, die die Zwiebel hat: Sie hat keine Zwiebelgottheit. Denn wenn die Zwiebel eine Zwiebelgottheit hätte, würde sie jeden Menschen, der zu diesem Lied tanzt, auf einen Dönerspiess spiessen und im Fladenbrot verkaufen. Mit viel Rotkraut. Auch das Rotkraut ist ein wunderbares Gewächs. Es sieht super aus und schmeckt trotzdem gut. Wie die Zwiebel ist es, was die Witterung anbelangt, sehr genügsam und im Geschmack rezent bis zum Abwinken. Was so ein Rotkraut und so eine Zwiebel einander wohl alles zu erzählen hätten. Traurig sind sie ob all diesem mediterranen Gemüse, welches man ihnen hierzulande vorzieht. Gemüse ohne Konsistenz, Gemüse, das zu achtzig Prozent aus Wasser besteht und schlapp in den Regalen hiesiger Lebensmittelläden vor sich hin fault. Welche Freude ist da zum Beispiel der Anblick eines wackeren Knollenselleries! Der daneben ganzjährig vor Kraft strotzt und geduldig auf den unteren Regalen auf uns wartet! Auch der Knollensellerie ist ein wunderbar bekömmliches Gemüse, am besten natürlich mit der Zwiebel genossen. Was der Zwiebel nebst einer Gottheit fehlt, ist eine gute Lobby, zum Beispiel in der Regierung. Die Zwiebel-LobbyistInnen hätten hinter den Säulen des Säulengangs des Bundeshauses, dort, wo die ZigarettenlobbyistInnen mit ihren Bauchladen voller Gratiszigaretten und -feuerzeugen warten, die PharmalobbyistInnen mit ihren gratis Modafinil, Ritalin, Temesta und Xanax und die WaffenlobbyistInnen mit ihren … Wir wollen es gar nicht wissen. Also eben dort sollten die Zwiebel-LobbyistInnen kleine Küchen betreiben, dank derer sie sofort tolle Zwiebelgerichte darbieten könnten: Zwiebelsuppe, Zwiebelkuchen, gefüllte Zwiebeln, Zwiebelringe oder Zwiebel-Pakora. Die Zwiebel-LobbyistInnen müssten gar nichts dazu sagen, die Zwiebeln würden sich selbst genügend bewerben. Da sich die Zwiebel selbst aber nicht gern in den Vordergrund drängt, gibt es leider nur wenige Speisen, die primär auf ihr basieren. Vielmehr verhilft sie allen anderen Speisen zur wirklichen Bekömmlichkeit. Ganz anders als arrogantes Gemüse wie etwa die Spargel, der Kürbis oder die dominante Tomate. Die Zwiebel ist ein schüchternes, zurückhaltendes Gemüt, welches deshalb ständig unterschätzt oder, ganz schlimm, vergessen geht: Die Zwiebel!! Die doch Dreh- und Angelpunkt jedes Gerichtes ist, wird viel zu oft vergessen.
Anäis Meier «Über Berge, Menschen und insbesondere Bergschnecken», Mikrotext, 2020, 96 Seiten, CHF 23.90, ISBN 978-3-948631-01-7
Anaïs Meier, 1984 in Bern geboren, studierte Film und Medien an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg und Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Monatliche Kolumne «Aus dem Réduit» in der Fabrikzeitung, Zürich. 2013 Mitbegründerin von Büro für Problem und 2018 von RAUF. Im August 2020 erschien der Kurzgeschichtenband «Über Berge, Menschen und insbesondere Bergschnecken» bei mikrotext, im Herbst 2021 der Roman «Mit einem Fuss draussen» bei Voland & Quist.
Auf dem Cover des französischen Originals von Quentin Mourons jüngstem Roman „Vesoul, le 7 janvier 2015“ (Olivier Morattel Éditeur, Dole 2019) springt einem ein Porträt des Schriftstellers entgegen: Quentin Mouron, 1989 in Lausanne geboren und in Québec, Kanada, aufgewachsen, hält ein brennendes Buch in Händen und blickt dem Betrachter direkt in die Augen: „Na, was denkst du hierüber?“, scheint er zu fragen, „verstehst du, dass die Kultur brennt, dass sie nicht mehr greift, dass wir in einer sinnentleerten Welt leben?“
Gastbeitrag von Florian Vetsch, Autor, Übersetzer und Herausgeber amerikanischer und deutscher Beatliteratur
Satirisch, illusionslos, dystopisch – thrilling
«Vesoul, 7. Januar 2015» ist Quentin Mourons viertes Buch, das im Bilgerverlag auf Deutsch erschienen ist. Es ist eine Burleske, eine Groteske, ein Absurditätenkabinett sondergleichen. Hansruedi Kugler bezeichnete es im «Tagblatt» vom 13. Juni 2020 als «eine originelle Zeitgeistsatire mit der Figur eines postmodernen Picaro, einem Nachfolger des Schelmenromans. Der unbeschwerte Freigeist und smarte, ideologie- und bindungslose, arrogante Snob und Genfer Vermögensberater nimmt den Erzähler als Autostopper mit zu einem Kongress in Vesoul, den Hauptort des Departements Haute-Saône in der Region Bourgogne-Franche-Comté in Frankreich. Dort geraten sie in einen «Tag der Republik» und damit auf einen grotesken Marktplatz mit pazifistischen Neonazis, Sittenpolizisten in der Literatur, Verschwörungstheorien und Avantgardekünstlerinnen.»
Quentin Mouron «Vesoul, 7. Januar 2015» (aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller), Bilgerverlag 2020, 120 Seiten, CHF 24.00, ISBN 978-3-03762-086-1
Das Buch entpuppt sich als Polemik gegen die Verwerfungen unserer Zeit, gegen Ideologien, welche die Gesellschaft spalten, und gegen die Eiseskälte des Kapitalismus. Doch Moralisten seien mit diesem Zitat, das keinen Tabubruch ausschliesst, vorgewarnt: «Der Picaro kennt kein Schuldgefühl, es ist daher normal, dass in seiner Umgebung das Schamgefühl nach und nach verschwindet. Der pikareske Manager, wie ihn unsere Banken, unsere Start-ups, unsere Kunsthochschulen hervorbringen, zeichnet sich dadurch aus, dass er sich überall anzubiedern versteht, sich in jeder Situation den Rahmenbedingungen anpasst.»
Quentin Mouron «Heroïne» (aus dem Französischen von Andrea Stephani und Barbara Heber-Schärer), Bilgerverlag, 2019, 128 Seiten, CHF 26.00, ISBN 978-3-03762-078-6
Quentin Mouron gilt als der Tarantino der Schweizer Gegenwartsliteratur, als Genie des Roman noir zumal. Sein Stil ist filmisch, szenisch, atmosphärisch dicht, dabei welthaltig und anspielungsreich. Schon seine beiden ersten Bücher, «Notre-Dame-de-la-Merci» – eine unglaublich traurige Winterballade aus Kanada – und «Drei Tropfen Blut und eine Wolke Kokain» – eine Revolvertrommel an Suspense –, haben diesem Autor im deutschsprachigen Raum begeisterte Kritiken und eine wachsende Leserschar eingetragen. Auch der dritte Roman fasziniert als ein Krimi der besonderen Art. «Heroïne» beginnt mit einer «Ouverture baroque», einer vollkommen abgedrehten Sexszene in einem Berliner Antiquariat, welche einem Georges Bataille alle Ehre gemacht hätte. Franck, Leiter eines New Yorker Detektivbüros, aus Hoffnungslosigkeit seit drei Jahren bibliophil, schiebt eine schräge Nummer mit der Buchhändlerin Mademoiselle Schulz. Abends im Hotel bemerkt er, dass er seinen Siegelring im Antiquariat vergessen hat, und kehrt zurück. Dort findet er, angeordnet wie auf einem barocken Stillleben, den Kopf der Buchhändlerin auf einem Silbertablett… Seine Nachforschungen lassen ihn auf einen bestimmten Kunden schliessen, doch erfährt er aus der Zeitung, dass „ein gewisser Wilfried Wagner – der sich Abu Mohammed Daoud al-Bavari nennen lässt –“ die Buchhändlerin enthauptete, nachdem sie sich standhaft geweigert hatte, Voltaires „Mahomet“ aus dem Schaufenster zu entfernen. Mademoiselle Schulz ist nicht die einzige Heldin in Mourons Roman „Heroïne“, der nach der ausschweifenden Eröffnung in eine „Suite classique“ mündet. Darin forscht der Anti-Held Franck nach einer verschollenen Lieferung Heroin und nach dem Mörder des Vaters einer blutjungen Prostituierten, und zwar in Tonopah, einem 2000-Seelen-Krachen im Nirgendwo von Nevada – „einer Wüste in einer Wüste“, einer für Mourons Romane typischen kleinen Ortschaft, die den desaströsen Zustand des grossen Ganzen widerspiegelt (genauso tut dies die kleine Ortschaft Vesoul im eingangs erwähnten Roman). Leah, so heisst die eigenwillige Sexarbeiterin, ist die zweite rätselhafte Heroin, „fromm und verrucht, eine hehre und sich anbietende Jungfrau.“ Sie besorgt hauptberuflich die Bedienung in einem Fast Food, nebenberuflich arbeitet sie daselbst in einer „Besenkammer unter den Postern von Elvis, Spongebob und der Jungfrau Maria.“ Trotz ihrer seelischen Verwüstung setzt Leah, ein in sich zerrissener Charakter, ein Gegenzeichen in dieser trostlosen Welt. „Heroïne“ bietet ein Noir-Set par excellence, vorangetrieben in kurzen kaleidoskopischen Kapiteln, vollgepumpt mit Sex, Drogen und blauen Bohnen – illusionslos, dystopisch, thrilling.
Quentin Mouron, Schriftsteller und Dichter mit schweizerisch-kanadischen Wurzeln wurde 1989 in Lausanne geboren und verbrachte seine Kindheit in Québec. Er schrieb bisher fünf Romane und avancierte schnell zum Stern am Himmel der jungen Literatur in der Romandie und in Frankreich.
Es sind wenig mehr als Gedanken, die ich hier notiere, weil sie mir beim Lesen unentwegt durch den Kopf gesprungen sind. Ich bin angenehm überrascht, dass solch ein ungewöhnliches – im sprachlich-formalen und thematischen Sinne – Buch den deutschen Buchpreis erhalten hat, was mich doch noch an die Vernunft der Vergabepraxis glauben lässt.
Heldinnen früher und heute Gasttext von Alice Grünfelder, Schriftstellerin, Herausgeberin, Übersetzerin und Literaturvermittlerinvon Alice Grünfelder
Ich ärgerte mich über so manchen Feuilletonisten, der meinte, mit der Form, also eine Biografie in Versform, hätte Anne Weber den Stoff arg tief gehängt. Dabei ist es gerade diese Form, die Ambivalenz eines Heldinnenlebens in wenigen Worten und mit einer stupenden Präzision zu verdichten, um damit gleichsam die Widersprüche dieses Jahrhunderts auf den Punkt zu bringen. Jedes weitere und unnötige Wort würde ihr Ansinnen verwässern.
Doch ich rätselte mitunter, warum dieser Titel – von der Autorin? Vom Verlag? – gewählt wurde, denn ist Anne Beaumanoir wirklich eine Heldin? Eine vermeintliche, eine verblendete? Die Heldin folgt dem Prinzip Gleichheit und Gleichberechtigung, und wegen dieses Prinzips ist sie immer mal wieder auf dem einen Auge oder gleich beiden blind. Was auch nicht weiter verwunderlich ist, wenn Zweifel im «Sand der Gegenwart», dem algerischen wohlgemerkt, vergraben werden. Anne Beaumanoir sieht dieser Wahrheit erst spät ins Gesicht, als sie sich monatelang in einem Keller verstecken muss: «Die Wahrheit ist, dass sie für einen souveränen Staat (den algerischen A.d.R.), der binnen kurzer Zeit zu einem Militärregime mutiert ist, alles eingebüßt hat.» Vor allem unter dem Verlust ihrer drei Kinder leidet die Frau, die sie jahrelang nicht sehen durfte, denn um einer zehnjährigen Haftstrafe in Frankreich zu entgehen, floh sie auf Umwegen nach Tunesien.
Man mache es sich zu leicht, schreibt Anne Weber, aus der Vergangenheit zurückzublicken und zu kritisieren, man bedenke indes, dass dies ungerecht sei, denn wenn man im Nebel stecke, sehe man die Möglichkeiten nicht unbedingt, die sich erst Jahre später herausschälen. Die Autorin blendet ihre Zweifel nicht aus, gräbt tief, fragt nach, hinterfragt die einstigen Ideale, will diese schillernde Persönlichkeit verstehen, die so viel aufgegeben hat, um am Ende ihres Lebens am Fuss eines Berges zu stehen und einen Stein hinaufrollen zu wollen. Wer nun an Camus‘ Sisyphos denkt, denkt richtig, denn mit ihm schliesst dieses Versepos: «Der Kampf, das andauernde Plagen und Bemühen hin zu grossen Höhen, reicht aus, ein Menschenherz zu füllen. Weshalb wir uns Sisyphos am besten glücklich vorstellen.»
Die Schriftstellerin und Übersetzerin Anne Weber wurde 1964 in Offenbach geboren und lebt seit 1983 in Paris. Sie hat sowohl aus dem Deutschen ins Französische übersetzt (u.a. Sibylle Lewitscharoff, Wilhelm Genazino) als auch umgekehrt (Pierre Michon, Marguerite Duras). Ihre eigenen Büchern schreibt sie sowohl in deutscher als auch in französischer Sprache. Ihre Werke wurden u. a. mit dem Heimito von Doderer-Literaturpreis, dem 3sat-Preis, dem Kranichsteiner Literaturpreis und dem Johann-Heinrich-Voß-Preis ausgezeichnet. Für ihr Buch «Annette, ein Heldinnenepos» wurde Anne Weber mit dem Deutschen Buchpreis 2020 ausgezeichnet.
«Schreiben erweitert Horizont» Sabine Meisel veröffentlichte Erzählungen mit Tipps fürs Schreiben und gibt Auskunft, wann die Arbeit am Text als gelungen gilt. Ein Interview von Urs Heinz Aerni mit der Autorin:
Urs Heinz Aerni: Frau Meisel, darf ich Ihnen meinen Lieblingssatz aus Ihrem neuen Buch vorlesen?
Sabine Meisel: Natürlich, ich bin gespannt, welchen Sie ausgewählt haben.
Aerni: Er steht auf Seite 69: «Die kleinen Muskeln, die die Haare aufrichten, werden morgen bestimmt Muskelkater haben.» Ein witziges Bild und so porös nah. Denken Sie an die Leserin und den Leser beim Schreiben?
Meisel: Porös nah, über dieses Bild könnten wir auch diskutieren. Bei der ersten Fassung denke ich nie an die Lesenden, da bleibe ich im Flow der Geschichte. Bei den weiteren Überarbeitungen denke ich sicherlich an die Lesenden.
Aerni: In Ihrem zweiten Buch «Vom Glück, einer Vogelspinne zu begegnen» lassen sich originelle Erzählungen lesen, mit viel ironischem Unterton. Hand aufs Herz, Ihre Wurzeln aus Hanau bei Frankfurt am Main brachten diesen Sound mit, oder?
Meisel: Wurzeln kann ich und will ich gar nicht verleugnen. Wissen Sie, auf was ich richtig stolz bin?
Aerni: Bin gespannt…
Meisel: Dass ich jetzt «geprüfte» Schweizerin bin, nicht erleichtert eingebürgert, sondern geprüft, mit dem Heimatort Winterthur.
Aerni: Sie nahmen früher Teil an Workshops zu Kreativem Schreiben, schreiben heute Kolumnen sowie Bücher und geben wiederum auch Seminare für Schreibfreudige. Unter uns: gibt es hoffnungslose Fälle?
Meisel: Oh Herr Aerni, ich habe einen Hochschulabschluss, einen Master in Biografisch-Kreativem Schreiben, damit unterscheide ich mich von ganz vielen, die wirklich nur ein «Kürsle» gemacht haben und jetzt diesen Markt entdecken.
Aerni: Das heisst?
Meisel: Schreiben vereint Kognition und Emotion. In Schreibgruppen erweitern sich die Erfahrungs- und Wahrnehmungshorizonte, Schreibblockaden können aufgelöst werden.
Aerni: Wie viel Wettbewerb tut der eigenen Kreativität gut?
Meisel: Es werden pro Jahr 100 000 deutschsprachige Werke auf den Markt geworfen, die Konkurrenz ist riesig. Vergleich ist Gift, ich schreibe, weil es beglückt.
Aerni: In Ihrem Buch geben Sie Tipps zu Methodik, Stilistik aber sogar auch mal den Rat, es an anderen Tageszeiten zu versuchen, wie zum Beispiel in der Nacht bei gedimmtem Licht. Haben Sie für sich das richtige Ritual gefunden?
Sabine Meisel «Vom Glück, einer Vogelspinne zu begegnen», KaMeRu, 2020, 200 Seiten, CHF 17.90, ISBN 978-3-906082-67-7
Meisel: Ja sicher, ich schreibe am liebsten morgens im Bett, kuschelig, warm, denn ich bekomme schnell kalte Füsse beim Schreiben, real, nicht im doppelten Sinne! Aber nach tagelangem morgendlichem Schreiben, muss ich wieder unter Menschen, dann schreibe ich im Zug, allerdings nicht zu Stosszeiten und auf längeren Strecken.
Aerni: Die Lesekultur sowie die Sprachkompetenz sollen in der Krise stecken, ist oft zu vernehmen. Doch die Schreibkurse sind gut ausgebucht. Wie gehen Sie mit diesem Kippzustand um?
Meisel: Überspitzt würde ich sagen. Jeder möchte sich mitteilen, aber keiner mehr zuhören und lesen. Kommentarspalten in den Online Medien sind ein Beispiel dafür.
Aerni: Elke Heidenreich sagte mal in einem Interview, dass das eigene Leben der größte «Steinbruch» für den Stoff des Schreibens sei. Wie sehen Sie das?
Meisel: «Den Steinbruch Leben» konkretisiere ich mit der subjektiven Wahrnehmung. Peter Stamm sagte einmal zu mir, vielleicht würde er auch mal irgendwann biografisch schreiben. Unser Hirn nimmt unbewusst wahr, wir laufen doch nicht blind, taub, ohne Erfahrungen durch die Welt. Oftmals ist uns nicht bewusst, woher plötzlich das letzte Puzzleteil der Geschichte kommt.
Aerni: Ab wann würden Sie die Arbeit des Schreibens als erfolgreich bezeichnen?
Meisel: Die Beglückung in dem Moment des Flows. Wenn ich Menschen zum Nachdenken bringe. Diese Rückmeldungen bekam ich beim Roman «Der Tag wird langsam» von jungen Frauen und Männern, die über ihr Beziehungs- und Erziehungsverhalten nachgedacht haben. Bei Lesungen und beim Theaterspielen, ich spüre genau, wenn der Text die Menschen berührt, dies ist für mich erfolgreich!
Aerni: Für Menschen mit Lust auf Schreiben und vergnüglichen Geschichten, ist Ihr Buch das passende Geschenk. Woran lesen Sie im Moment?
Meisel: Shakespeare für das neue Stück des Schuhtheaters «Schuh in Love» und «das Kopfkissenbuch» der Dame Sei Shonagon. Die Poesie des Alltags ist wichtiger denn je!
Aerni: Würden Sie zum Schluss diesen Satz vervollständigen: «Wenn wir begännen, mit dem Schreiben aufzuhören, dann würde die Welt…»
Meisel: …sich weiterdrehen, aber «Was für eine alltägliche Übung ist das Schreiben – und doch, welche wunderbare Erfindung», dies schrieb die Dame Sei Shonagon, im Japan des 11. Jahrhunderts, deshalb wird es nicht passieren.
Sabine Meisel lebt in Winterthur, 2011 Master of Arts in Biografisch-Kreativem Schreiben. Sie unterrichtet an verschiedenen Institutionen kreatives Schreiben (ZHAW, Krebsliga, SIS). Finalistin des Literaturwettbewerbs Treibhaus. Für das Magazin des Kunsthauses Zürich schreibt sie seit 2016 Kolumnen und für den Stadtanzeiger Winterthur Beiträge über Liebenden aus zwei Kulturen. «Vom Glück, einer Vogelspinne zu begegnen» ist nach «Der Tag wird langsam» (erschien 2016) ihr zweites Buch, beide im Kameru Verlag Zürich erschienen.
Stuart Weaver erschrak nicht, als das Licht ausging. Auch nicht, als die ersten Stöße des Bebens die Bücher aus den Regalen warfen. Er setzte sich unter einen der Schreibtische und wartete. Die nächsten Wellen erschütterten Boden und Wände, es regnete noch mehr Bücher, die Regale und Karteischränke kippten und landeten krachend auf den Monitoren und Tastaturen, den Telefonapparaten und Wasserspendern, den Druckern und Fotorahmen und Kaffeetassen. Weaver hörte die Stockwerke über sich einstürzen, ein dumpfes Grollen wie von vereistem Schnee, der über ein Dach rutscht. Alles ging sehr schnell, dann herrschte Stille.
Der erste Gedanke, den er in seinem Kopf zu fassen kriegte, war: Ich habe die Wette mit Sheldon Hoffman gewonnen. Der zweite: Gott sei Dank ist außer mir niemand im Gebäude, nicht einmal die Putztruppe. Seine Armbanduhr zeigte zwei Minuten vor drei. Er tastete nach der Taschenlampe am Gürtel, zog sie aus der Halterung und schaltete sie ein. Der Lichtstrahl durchdrang Dunkelheit und Staub und traf auf liegende Regale, verstreute Bücher und einen Bürostuhl. Alles blieb ruhig, dennoch wartete Weaver. Er versuchte, normal zu atmen, und presste die Beine zusammen, damit sie aufhörten zu zittern.
Nach einer Weile kroch er unter dem Tisch hervor und richtete sich vorsichtig auf. Er hustete, wischte die Brillengläser an der Uniformjacke ab. Die Decke war noch da, wo sie sein sollte. Er versuchte, sich den großen Lesesaal, die Bücherausleihe und die Büros über ihm in Trümmern vorzustellen, aber es gelang ihm nicht. Der Kegel der Taschenlampe erfasste eine Wand voller Plakate, Fotos und Zeichnungen. Jetzt erst wurde ihm klar, wo er sich befand: im Raum mit den Kinderbüchern. Ausgerechnet, seufzte er, und seine Stimme klang heiser und fremd. Der Tank des Wasserspenders war unversehrt geblieben. Weaver füllte einen Plastikbecher und trank ihn leer. Er wollte einen zweiten füllen, überlegte es sich aber anders. Vielleicht würde er eine Weile hier drin festsitzen, bis die Bergungstruppen ihn finden würden. Er stellte den Becher auf einen der Schreibtische und legte den Inhalt seiner Taschen daneben: ein Mobiltelefon, eine Ersatzbatterie für die Taschenlampe, ein Rapportbuch mit Bleistift, eine Brieftasche mit Ausweisen und etwas Geld, ein Hershey’s Almonds Schokoriegel, Münzen für den Kaffeeautomaten in der Eingangshalle. Er wählte Sheldon Hoffmans Nummer, dann die des Notrufs, aber es gab keinen Empfang. Wahrscheinlich waren die Sender in der Nähe zerstört, oder der Schutt über ihm ließ keine Signale durch.
Er bahnte sich einen Weg zu der Tür, durch die er gekommen war und die er korrekt hinter sich geschlossen hatte. Sie ließ sich nicht öffnen. Dahinter waren die Regale mit den Architekturbüchern umgestürzt und blockierten die Tür. Architekturbücher. Er musste beinahe lachen. Die zweite Tür konnte er einen Spalt weit aufdrücken und in den Flur hineinleuchten, der zu den Toiletten für die Angestellten und zum Treppenhaus führte. Hier versperrten gekippte Blechschränke und herabgefallene Deckenplatten den Weg. Weaver zog die Uniformjacke aus und setzte sich auf einen Bürostuhl. Hoffentlich ist Sheldon nichts passiert, dachte er. Und den anderen Nachbarn. Aber das war naiv.
Als er aufwachte, konnte er kaum glauben, geschlafen zu haben. Die Uhr zeigte elf nach sieben. Er brauchte einen Moment, um zu realisieren, was vier Stunden zuvor geschehen war. Verzweiflung erfasste ihn, aber er schüttelte sie ab, indem er sich aufrappelte und die Schubladen der Schreibtische und die Schränke durchsuchte. Außer einer Taschenlampe und mehreren Batterien fand er eine angebrochene Packung Butterkekse, eine Blechschachtel voller Pfefferminzbonbons, eine Dose mit gesalzenen Erdnüssen, eine unversehrte Tafel Schokolade, eine Flasche Eistee, eine halbe Flasche Wasser und eine Thermoskanne mit einem Rest schwarzen Kaffees. Die Bibliotheksverwaltung wusste, dass er hier war, und würde die Suche nach ihm einleiten. Man würde ihn innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden finden, im schlimmsten Fall würde er zwei Tage ausharren müssen. Zu trinken hatte er genug, Kalorien würde er kaum verbrauchen.
Er warf sich ein paarmal gegen die Tür zum Flur, aber sie gab nur wenige Zentimeter nach. Er setzte sich wieder hin und rieb sich die Schulter. Ein Schluck Gin mit Sheldon wäre jetzt genau das Richtige, dachte er. Plötzlich rannen ihm Tränen über die Wangen. Er wischte sie weg und hob wahllos eines der Bücher vom Boden auf. Ein Bilderbuch. Sprechende Mäuse, Hasen in gestrickten Pullovern. Kinderkram. Er ließ das Buch fallen und griff nach einem anderen. Ein Bär als Pilot eines Heißluftballons. Das nächste voller Ferkel, die Eisenbahn fahren. Eines über das Kind einer Pfauendame und eines Truthahns, das nicht weiß, ob es Trau oder Pfruthahn ist. Ein Hundeastronaut, der auf einem von Katzen bewohnten Mond landet. Noch mehr sprechende Mäuse. Und so weiter. Weaver wurde erneut von Verzweiflung ergriffen. Er schaltete die Taschenlampe aus und legte sich wieder hin, die zusammengerollte Uniformjacke als Kopfkissen. Warum hatte ihn das Erdbeben nicht nebenan erwischt, wo die Zeitungen und Zeitschriften auslagen? Oder wenigstens bei den Geschichtsbüchern. Sogar die Belletristikabteilung wäre ihm lieber gewesen, obwohl er sich nichts aus Romanen machte. Nicht einmal als Kind hatte er Kinderbücher gelesen. Er hatte keine besessen, nie welche geschenkt bekommen. Seine Mutter hatte ihm nie vorgelesen, sein Vater erst recht nicht. Seine Eltern waren andauernd umgezogen, pachteten eine neue Farm, eine neue Autowerkstatt, eine neue Imbissbude, einen neuen Tabakladen.
Wenn Stuart Weaver es recht bedachte, hatte er gar keine Kindheit gehabt. Jedenfalls keine, an die er sich erinnern konnte. Oder wollte. Alles, was ihm aus jener Zeit im Gedächtnis haften geblieben war, waren endlose Reisen durch das ganze Land, ausgeräumte oder mit alten Möbeln vollgestellte Häuser und Wohnungen, schäbige Motelzimmer, in denen er vor einen flimmernden Fernseher gesetzt wurde, miefige Matratzen, auf denen er lag und dem ewigen Streit seiner Eltern lauschte, kaputte Traktoren, kaputte Hebebühnen, kaputte Kaffeemaschinen, aufgeschlagene Zeitungen und mit Kugelschreiber markierte Anzeigen von Leuten, die jemanden suchten, der optimistisch oder dumm genug war, einen Eisenwarenladen in Arnold, Nebraska, eine Wäscherei in Greybull, Wyoming, oder ein Bestattungsunternehmen in Lima, Ohio, zu pachten.
Zwei Stunden später begann Weaver damit, die Bücher zu sortieren. Die Bilderbücher ohne Text für die ganz Kleinen kamen auf einen Stapel, die Bilderbücher mit Text auf einen anderen. Schmale Bücher mit Illustrationen und wenig Text in großer Schrift stapelte er ebenso separat wie die Bücher, die für Kinder zwischen sieben und zwölf Jahren gedacht waren. Die Bücher für jugendliche Leser ab dreizehn bildeten am Schluss vier Türme. Zu seiner Erleichterung befanden sich darunter ein paar Werke, von denen er gehört hatte. Eines davon war Mark Twains »Ein Yankee aus Connecticut an König Artus’ Hof«, ein anderes »Wolfsblut« von Jack London. Nachdem er alle Bücher geordnet hatte, setzte er sich an einen Tisch und begann zu lesen.
aus einer von Michael Krüger herausgegebenen Anthologie mit dem Titel «Folge Deinem Traum», mit freundlicher Genehmigung des Autors
Rolf Lappert liest am Donnerstag, den 14. Januar 2021 aus seinem Roman «Leben ist ein unregelmäßiges Verb» um 19.30 Uhr im Literaturhaus Thurgau in Gottlieben. Moderation: Gallus Frei-Tomic
Rolf Lappert «Das Leben ist ein unregelmäßiges Verb», Hanser, 2020, 992 Seiten, CHF 39.90, ISBN 978-3-446-26756-5
Rolf Lappert wurde 1958 in Zürich geboren und lebt in der Schweiz. Er absolvierte eine Ausbildung zum Grafiker, war später Mitbegründer eines Jazz-Clubs und arbeitete zwischen 1996 und 2004 als Drehbuchautor. Bei Hanser erschienen 2008 der mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnete Roman «Nach Hause schwimmen», 2010 der Roman «Auf den Inseln des letzten Lichts», 2012 der Jugendroman «Pampa Blues» und 2015 der Roman «Über den Winter». 2020 erscheint sein neuer Roman «Leben ist ein unregelmäßiges Verb» im Carl Hanser Verlag.
Erklären konnte ich es mir nicht. Ich nahm es hin, wie das Geräusch unseres Atems, wie das Sirren der Mücken, das Hämmern eines Spechts, das Knirschen unserer Schritte auf dem Weg. Wie die fliegenden Spinnfäden, die Tautropfen auf den Farnen, das honigfarbene Harz der Tannen (das ich nie unterließ zu berühren). Dieses Licht, das zwischen den Bäumen aufleuchtete, wenn wir lange in den Bergen blieben, tröstlich, ahnungsvoll, wie das Lodern eines Leuchtturms in der Dämmerung. Ein Fixpunkt am Horizont, der die Dunkelheit der Wälder erhöhte. Auf einer unserer Erkundungen fragte ich meinen Vater, was das für ein Licht war, und warum es immer leuchtete, wenn wir in den Bergen waren. Vater blieb stehen, zündete sich eine Zigarette an und wandte sich der dunklen Flanke der Berge zu, die jetzt so abweisend dalagen, kein Umriss einer Tanne war zu sehen, kein Weg. Auf unserer Seite zögerndes, violettes Abendlicht. Er sagte, es sei ganz einfach: Hinter diesen Wäldern sei ein Fluss, an diesem Fluss stünde ein Haus, in diesem Haus säßen zwei Freunde. Sie waren es, sie zündeten ein Licht an, weil sie die Schritte zusammenzählten, die wir am Tag gegangen waren. Es leuchtete mir augenblicklich ein. Ein Fluss. Ein Haus. Zwei Freunde, die unsere Schritte zählten.
Ich glaubte lange an diese Geschichte. Irgendwann war sie fort. Wie die mit Kartoffelstärke behandelte Bettwäsche, die mein Bruder und ich übermütig rieben, um sie wieder weich zu machen. Meine Aufpasserdienste, wenn mein Bruder sich mit einem Mädchen traf, und ich ihn danach heimlich ins Haus ließ, sobald ein Steinchen gegen die Fensterscheibe flog. Die aufgeschichteten Matratzen im Zimmer der Großmutter, die aus einer Zeit stammten, da jederzeit Gäste zu erwarten waren, und die in meiner Erinnerung bis zur Decke reichten; nur eine Handbreit bis zum Plafond. Großmutter, die erkannte, aus welchem Brunnen im Dorf wir Wasser geholt hatten, das beste Paprikasch zubereitete, und, wenn sie die Entmutigung ankam, die oberste Matratze nahm, sie auf die Terrasse schleifte und unter freiem Himmel schlief. Sie warnte uns Brüder, keine Grimassen zu schneiden, das Gesicht bliebe sonst so, und sie sagte auch, wir sollten nicht so viel trinken vor einer Mahlzeit, sonst bekämen wir Frösche im Bauch. Und an diese Frösche glaubte ich ebenso wie an die beiden Freunde.
Schönheit kann sich nicht so gut verbergen wie die Wahrheit, sagte Vater. Er sagte es, wenn wir durch die Berge streiften, und er sagte es auch, wenn er vor Mutters Bild innehielt, das auf der Kommode neben der Eingangstür stand. Ein helles Gesicht, wellige, glänzende Haare, ein gerader, schmaler Mund. Ich fragte mich, ob er mit ihr auch so wenig gesprochen hatte. Er sehnte sich am Ende jedes Arbeitstags nach der Stille der Berge. Er konnte dem unendlichen Monolog eines Vogels zuhören, und vergessen, dass jemand bei ihm war. Beneidete jeden Fels, jede Pflanze um ihr Schweigen.
Ich bin immer durch die Türen gegangen, die offen standen. Ob es die richtigen waren, weiß ich nicht. Eine Tür führte mich in den Westen. Durch eine Tür kam Julie, und durch eine andere ging sie fort. Manche Türen blieben verschlossen, zu manchen Träumen fand ich den Eingang nicht. Manche Leute sagten, ich sei klug. Andere, ich sei egoistisch. Wiederum andere hielten mich für zugänglich. Das waren allerdings Freunde. Harro lernte ich auf einer Tagung kennen. Er setzte sich neben mich, sah aus, als bräuchte er ein frisches Hemd und gute vierundzwanzig Stunden Schlaf. Wie sich herausstellte, sah er immer so aus, als hätte er nicht geschlafen, wirres Haar, blasse Haut, Ringe unter den Augen, wasserglasgroß. Dazu die eindringlichste Stimme, tief, kratzig, melodiös, und die Gabe, das, was gesagt wurde, und das, was gesagt werden würde, zusammenzufassen oder vorwegzunehmen, je nachdem. Die Wahrheit zieht es vor, sich zu verbergen. Vielleicht tut sie uns damit einen Gefallen, vielleicht hält sie uns damit bei Laune. Sie verbirgt sich in Geschichten (auch jene, die man sich selbst gern erzählt), Glaubenssätzen, Anschuldigungen – die man nicht zurücknehmen kann, wie sehr man es auch möchte. Man meint, man sei ihr als Erwachsener näher denn als Kind. Hexen ziehen aus dem Wald aus, Gespenster aus dem Schrank, Frösche mögen keine Mägen. Karla war lange Zeit mit Anlauf ins Bett gesprungen, aus der fixen Idee heraus, es könne sich jemand darunter versteckten und nach ihren Fesseln greifen. Jona behauptete, er könne sich durchs Schlüsselloch in andere Zimmer stehlen, wenn er Hausarrest hatte. Zuletzt gehen die Dinge ineinander über, wie in das Aprilabendlicht der Berge getaucht. Hell und Dunkel sind nicht so leicht voneinander zu unterscheiden, das Überflüssige rückt fort.
Ich erinnere mich, wie Vater beim Glockenläuten an den Seilen hochgezogen wurde. Wie Großmutter die Schuhe meines Bruders versteckte, damit er abends nicht aus dem Haus konnte. Wie Polizisten die Luft aus meinen Fahrradreifen ließen und die Ventile mitnahmen, weil ich Julie auf dem Lenker ausgefahren hatte. Wie ich mit Harro an einer Bar saß, wir tranken und sahen einander kaum an. Wie Jona am Flughafen vergaß, sich umzudrehen, und Karla im letzten Moment die Hand zum Abschied hob. Ich spüre, wie lahm die Zunge im Mund lag, weil sie sich in einer anderen Sprachfärbung zurechtfinden musste, und erkenne, dass ich Vater über die Jahre ähnlich geworden bin. Die Sehnsucht nach dem Wald ist groß, dem Gleißen, Glühen, Flimmern, dem Rauschen, Summen, Vibrieren, das es nur in den Bergen gibt. Leise, weil es nicht mich meint, laut genug, um die Gedanken zu besänftigen.
Ob man mit etwas davonkommt, ist fraglich. Ich warte noch immer auf das Geräusch des Steinchens an der Fensterscheibe. Großmutter liegt auf der Terrasse und sieht in den Sternenhimmel. Wenn ich die Hand ausstrecke, berührt sie den Plafond. Julie sitzt lachend auf dem Lenker. Karla und Jona verlangen eine Geschichte. Harro füllt unsere Gläser auf. Vater betrachtet die dunkle Seite der Berge und raucht. Und wenn es Abend wird, hinter den Wäldern, zünden die beiden Freunde ein Licht an und zählen meine Schritte. Deine auch?
Iris Wolff «Die Unschärfe der Welt», Klett – Cotta, 2020, 216 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-608-98326-5
Iris Wolff, geboren 1977 in Hermannstadt, aufgewachsen im Banat und in Siebenbürgen. 1985 Emigration nach Deutschland. Studium der Germanistik, Religionswissenschaft und Grafik & Malerei in Marburg an der Lahn. Langjährige Mitarbeiterin des Deutschen Literaturarchivs Marbach und Dozentin für Kunst- und Kulturvermittlung. Bis März 2018 Koordinatorin des Netzwerks Kulturelle Bildung am Kulturamt in Freiburg. Mitglied im Internationalen Exil-PEN. Lebt als freie Autorin in Freiburg im Breisgau.