Pia Troxler «Jubiläum», Vicon Verlag, Gastbeitrag

Der Roman von Pia Troxler wagt sich an ein heikles Thema. Es geht um sexuelle Übergriffe eines Professors, der seine Machtposition gegen junge Frauen ausnutzt. Was als kundiger Einblick in akademische Strukturen beginnt, endet mit Mord und Totschlag. Eigentlich findet das Buch überhaupt kein Ende – braucht es auch nicht.

Jubiläum oder Das Ende der Scham
Eine Gastkritik von H. S. Eglund, Berlin.

Denn alles bleibt offen, gleichsam erstarrt. Am Ende steht die ungeschriebene, unausgesprochene Frage: So, jetzt seid Ihr dran. Wie geht es weiter?
Ein Beitrag zur aktuellen Me-too-Debatte, zweifellos ein wichtiger Beitrag, der sich ins Genre eines Romans kleidet. Das ist gewagt, weil bei diesem Thema überall Tretminen lauern.

Zu leicht könnte die Autorin versucht sein, Partei zu ergreifen. Zu verführerisch ist die Chance, in Propaganda gegen männlichen Sexismus und Chauvinismus zu verfallen; Klischees zu liefern statt Erzählung, statt Kopfkino, das der Leserschaft eigene Urteile überlässt.

Wesentlich für die Authentizität

Als ich anfing, Pia Troxlers Roman Jubiläum zu lesen, stolperte ich zunächst über die Sprache. Da scheint eine Schweizerische Einfärbung durch, an die ich mich als Bewohner des größten Kantons erst gewöhnen musste. Im weiteren Verlauf der Handlung wurde der Stil jedoch schlüssig, denn der Roman erzählt aus einem Institut, aus einer Hochschule in der Schweiz. Sprache ist wesentlich für Authentizität, erst recht im Roman. Nach anfänglichem Stolpern kam ich gut in Tritt, zumal die Handlung wesentlich durch Dialoge getrieben wird, das macht sie flüssig und schnell.

Toxic Masculinity wie in Hollywood

Hauptfigur der Erzählung ist Sibylle Beckenhofer, eine Studentin am Institut für Sozial- und Technikforschung. Unter fadenscheinigen Gründen wird sie von Professor Karl Grossholz in sein Arbeitszimmer gelockt und grob begrabscht. Zuerst schmeichelt er ihr, spielt mit ihrem Wissensdrang, auch mit ihrer Eitelkeit. Dann zeigt er unverhohlene, hemmungslose Gier. Toxic Masculinity ist der Fachbegriff, der sich dafür eingebürgert hat.

Daneben treten weitere Frauen auf, die unter den Übergriffen des erfolgreichen Professors leiden, sie oft stumm erdulden. Ähnlich Harvey Weinstein in der amerikanischen Filmbranche haben Professoren nicht selten die Macht, über die künftige Karriere ihrer akademischen Schützlinge zu befinden – und zu entscheiden.

Pia Troxler «Jubiläum», 328 Seiten, Vicon Verlag, 2022, ISBN 978-3-9525294-7-8

Die Scham überwinden

Neben Grossholz tritt Professor Knoll auf, so etwas wie der Dekan und damit Vorgesetzter am Lehrstuhl. Kenntnisreich wird der akademische Betrieb dargestellt, hier anhand von soziologischen und Themen der Technikgeschichte. 
Langsam finden die Frauen zusammen, überwinden ihre Scham. Denn geschickt nutzen Leute wie Grossholz das Gefühl der Beschämung und Beschmutzung bei den Frauen aus, um unter Umständen jahrzehntelang weiterzumachen.

Kenntnisnahme erzwingen

Eine Anwältin wird eingeschaltet. Sie zwingt Professor Knoll, die Entgleisungen seines Kollegen zur Kenntnis zu nehmen. Knoll windet sich, einem Aal gleich, denn das 30-jährige Jubiläum des Instituts steht vor der Tür.
Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus, wer stört solche Festlichkeiten gern mit Vorwürfen des Sexismus? Nach der Party verliert Grossholz völlig die Kontrolle über sich selbst, bringt eine junge Frau um. Und tut, als wäre nichts gewesen. Nur den Kollegen Knoll, den macht er zum Mitwisser.

Die Leiche im Aktenschrank

Die Leiche liegt verborgen, wo die meisten Leichen schlummern: im Aktenschrank. Ob und wie sie entdeckt wird, ob und wie Grossholz überführt und vollends entlarvt wird, wird nicht erzählt. Doch am Ende sieht der Leser das Blaulicht der anrückenden Polizei vor seinem geistigen Auge. Wie in Fernsehkrimis, dort als Cliffhanger bezeichnet.

Der Roman also endet und endet nicht. Nun könnte die Diskussion beginnen, über sein eigentliches Thema, den Missbrauch von Macht. Doch dieses Thema, das die Handlung über weite Strecken trug, ist durch den Mord in den Hintergrund getreten.

Scheiss Fernsehkrimis

Oder wurde auf die Spitze getrieben – und übertrieben. Soll heissen: Der Roman, der sich zum Krimi wandelt, hätte dieser Metamorphose nicht bedurft. Scheiss Fernsehkrimis, sie machen das Schreiben nicht unbedingt einfacher. So habe ich zwei Bücher gelesen, eines über Missbrauch, eins über Mord.
Zudem wird zum Ende hin seitenweise erläutert, was den Professor innerlich zur finalen Schandtat treibt. Psychologisch gesehen sind die inneren Monologe streckenweise geglückt und nachvollziehbar. Doch stets hören sie vorm emotionalen Urgrund auf. Unbeantwortet bleibt: Wo nahm der Schaden seine Anfang?

Es hätte dem Roman gut getan, weniger akademisches Fachwissen zu präsentieren, weniger Details der ausufernden Feier zum Jubiläum, dafür mehr Innensicht des Täters. Nicht, um ihn zu entschuldigen. Sondern um ihn als Figur gleichrangig neben die weiblichen Akteure zu setzen, sie literarisch auf eine Stufe zu stellen.
Denn die Frauen sind in ihrer Situation durchweg einfühlsam und behutsam dargestellt, das ist eine grosse Stärke des Romans. Auch ihre unterschiedlichen Reaktionen, wie sie mit den Übergriffen umgehen, wird verständlich, bis tief in ihre Gefühlswelt hinein, mit all dem emotionalen Chaos, das der Professor anrichtet.

Der Unterschied zwischen Belästigung und Mord

Nicht die Autorin oder der Autor sollten Urteile bilden, sondern Leserinnen und Leser. Der Mord am Ende des Romans stellt Professor Grossholz ausserhalb aller Normen.
Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob es um seine Motivation geht, Frauen zu demütigen, sie im normalen Institutsbetrieb sexuell zu belästigen. Oder ob es um Mord geht, vor dem diese Frage – zwangsläufig – verblasst.

Im Roman von Pia Troxler geht es eindeutig um sexuelle Übergriffe, die von bestimmten institutionellen Strukturen unterstützt werden. Schonungslos legt sie diese Strukturen frei, in denen maskuline Dominanz angelegt und konserviert ist.
Wir erwähnten Hollywood. Ebenso gut könnten wir die Kirchen nennen. Im Detail verschieden, geht es um haargenau das gleiche System von Abhängigkeit, um die gleiche, falsch verstandene Kollegialität. Um die gleiche, perfide Ausnutzung von Scham, um Übergriffe zu vertuschen.

Der Hammer war nicht nötig

Oder reden wir von Mord? Ich behaupte, dass die Autorin damit leider dem Holzhammer verfallen ist, um das Urteil zu zementieren. Jetzt ist jedem klar: Grossholz gehört abgestraft, und zwar richtig! Er ist ein Ungeheuer.
War gar nicht nötig. Dass Grossholz lebenslang in der Falle sitzt, Triebtäter im wahrsten Sinn dieses Wortes ist, hat die Autorin bereits verdeutlicht, weitgehend überzeugend. Spannender wäre (für mich) die Frage gewesen, wie lange ihn Knoll deckt, wie lange das akademische Getriebe solche Leute schützt. Wann Wegschauen zur Mitschuld wird.

Denn das war das eigentliche Thema, deshalb nahm ich diesen Roman zur Hand. Ich kann mit dem Ende (das keines ist) gut leben, immerhin bringt es mich zum Nachdenken. Dass schliesslich ein Mord geschieht, führt mich zwar von der breiten Bedeutung und Brisanz weg, führt mich weg vom Gleichnis, dass die Story stellvertretend für Filmproduzenten, Regisseure, Kardinäle, Bischöfe und Popen steht.
Das ist jedoch kein Problem, tut dem Buch keinen Abbruch. Denn Literatur ist Aneignung durch Lesen. Als Beitrag zur aktuellen, dringenden Diskussion funktioniert dieser Roman ausgezeichnet, auch ohne sein letztes Kapitel. Und mancher, der ihn liest, wird sich gerade am Mord erfreuen, wird durch diese Episode einen Zugang finden, der mir verwehrt blieb.
Diesem Buch und seiner Autorin wünschen wir zahlreiche Leserinnen und Leser und vor allem viele spannende Diskussionen.

Pia Troxler, geboren in Luzern, Autorin, Soziologin, Schreibcoach, lebt in Zürich, von 1997 – 2005 in Leipzig. Sie arbeitete u. a. als Lehrbeauftragte an der Universität Zürich, leitete von 2012 – 2021 einen Literaturtreff und unterrichtet privat und an Festivals Kreatives Schreiben. In der Literatur ist sie auf Prosa und Dramatik spezialisiert. Sie hat den Erzählband «Die Verwünschung» publiziert. «Jubiläum» ist ihr Romandebüt.

H. S. Eglund lebt als Publizist in Berlin, er war früher Reporter für «Der Tagesspiegel», «Frankfurter Rundschau» und «Die Zeit». Heute ist er Fachjournalist und Autor mehrerer Bücher. Sein letzter Roman «Nomaden von Laetoli» ist 2021 erschienen.

Website der Autorin Pia Troxler.

Literaturhaus Thurgau Gottlieben: Sonntag, 4. Dezember 2022, 11 Uhr: Ein AutorInnen-Kollektiv stellt junge Texte zur Diskussion.

Schreiben ist das eine. Wenn Texte einem Publikum „ausgesetzt“ werden, beginnen sich diese zu verselbstständigen. 10 AutorInnen aus der Schweiz sind Dieter Boller, Gianna Olinda Cadonau, Marc Gallus, Corina Heinzmann, Rebecca Holzer, Agnes Weber, Alessandro Weiler, Stefan Wenger-Ledermann, Pascal Witschi und Katharina Wüthrich lesen aus ihren Texten und diskutieren über ihr Schreiben.

Moderation Gallus Frei

Wer sich mit Textproben aus dem Schaffen einiger AutorInnen auseinandersetzen möchte, hier eine Auswahl an Textanfängen, die auf der «Plattform Gegenzauber» in ganzer Länge gelesen werden können.

Hier kann man sich im Literaturhaus anmelden.

Dieter Boller «Akzentfrei
»:

Schön schwer ist sie, dachte Emmelius. Das um Aronja gelegte Tuch leuchtete. So hell, dass er sich Sorgen machte. Der Weg vom Pfarrhaus auf die Anhöhe war zum Glück nicht weit.
Er hatte sich gut überlegt, wo er sie betten wollte. Das nördliche Feld war erst zur Hälfte belegt. Allesamt Diesjährige. Der Bereich eignete sich nicht. Noch waren die Tränen der Angehörigen nicht getrocknet. Kamen die Trauernden wöchentlich, wenn nicht sogar täglich vorbei. Beäugten minutenlang den Stein, die Blumen, die Kerzen. Jede noch so kleine Veränderung hätten sie sofort bemerkt.
Die vergessenen Seelen lagen im Westsektor. Auf den Schiefersteinplatten, die zu den Gräbern führten, war Moos gewachsen. Ihre Körper waren nicht mehr. Dem Erdboden gleich. Zersetzt. Vom sauren, sandigen Obwaldner Boden… (weiterlesen)

Corina Heizmann «Schaukelstuhl»:

Letzten Sommer wollte ich meinen Schaukelstuhl anmalen, Zitronengelb. Stundenlang bin ich durch den Heimwerkerladen gelaufen auf der Suche nach dem richtigen Farbton. Ein helles, frisches Gelb, einen Hauch vor der Grenze zum Grünstich, hell aber nicht grell. Ein sommerliches Statement Piece für meinen Balkon, auf dem ich kluge Bücher über Kapitalismus lesen und frische Ingwerlimonade trinken würde, deren Rezept ich auf dem Pinterest-Profil einer übermotivierten Agglo-Mutter gefunden hatte.
Es ist nun zum zweiten Mal wieder August und der Schaukelstuhl steht immer noch in der Ecke meines Lagerzimmers. Das dritte Zimmer meiner Wohnung, in das ich alles hineinstelle, von dem ich nicht weiss, wohin damit.
Manchmal leg ich mich dazu und schau, wie die Staubpartikel in den Sonnenstrahlen fliegen… (weiterlesen)

Agnes Weber «Der längste Gang»:

Heute Abend ist es so weit. Mary und ich sind bei Rita zum Essen eingeladen. Sie hat den Termin aus unklaren Gründen mehrere Male verschoben. Rita wohnt abgelegen in einem kleinen Dorf, in einem der wenigen Mehrfamilienhäuser neben den Bauernhöfen. Draussen ist es kalt, die Welt erstarrt im Schnee. Mary steuert das Auto vorsichtig. Ich wische die beschlagenen Vorderscheiben mit einem Lappen.

Rita empfängt uns herzlich und führt uns in die geräumige, warme Stube. Nach der Vorspeise verzieht sie sich, um den Hauptgang fertig zu kochen. Ein Mann tritt in die Wohnung, grüsst flüchtig, geht in die Küche. Ich weiss nicht, wer er ist; vielleicht Ritas Freund. Die Vorbereitung des Hauptgangs scheint viel Zeit zu brauchen. Es dauert und dauert. Mary und ich nehmen es kaum wahr, wir sind ganz in unser Gespräch vertieft. Plötzlich schrecken wir auf… (weiterlesen)

Stefan Wenger-Ledermann «was engt mich ein – was macht mich weit»:

I Erde / Schöpfung
was engt mich ein
was macht mich weit
ein stiller See
einsamer Grat
auch bei Regen
kleiner Frosch
Weinbergschnecke
Moos und Gras
der Duft
von Leben

II Innenraum
es engt mich ein
ein dunkler Traum
ein enger Raum
manch Schuldgefühl
und innerlich Gewühl
mal Kindsgeschrei
und ausgeleerter Brei
dann tiefe Trauer
Herzensmauer… (weiterlesen)

Pascal Witschi «wie das ewige Meer»:

«Nach mir wird ein Nächster kommen, der dich lieben wird wie seinen Sohn, und er wird von Neuem Licht entzünden, von Neuem Gottes Wort verkünden», schmatzte der Vater mit Pomadelippen vorne auf dem Podium des Saales. Das Echo klatschte durch das Kirchenschiff, verklebte beide Ohren Adams, der den Vater von unten in den Schatten stellte. Ihm in den verloschenen Greisenaugen leuchtete, den Geruch verbrannter Erde in der Nase und erleuchtet durch vier kolossale Kirchenfenster, vier farbgewaltige Bleiglasheilige, deren komplexes Spiel von Farben auf dem fremdländischen Teint kurzerhand verloren ging.
«Ich brauch kein austauschbares Wort von einem austauschbaren Gott aus dem Munde eines austauschbaren Vaters! Ich brauch allein mich selber!», bellte er, im Rücken das Foyer, zu dem die Tür noch offen stand. Es zog… (weiterlesen)

Kurzbiographien der lesenden Autorinnen und Autoren

Dieter Boller, geboren 1980 in Zürich, studierte Publizistik und Psychologie an der Universität Zürich. Nach seinem Master arbeitete er zwölf Jahre als Werbetexter in verschiedenen Schweizer Agenturen. 2019 hat er sich als freier Texter, Konzepter und Autor selbständig gemacht. Wenn er gerade keine Werbetexte textet, textet er Werbetexte wie diesen hier. Und schreibt Kurzgeschichten. Dieter Boller lebt mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen in Zürich.

Gianna Olinda Cadonau schreibt Gedichte und Prosa auf Romanisch und Deutsch. Bisher erschienen zwei Gedichtbände beim Verlag editionmevinapuorger, Zürich, „Ultim’ura da la not / Letzte Stunde der Nacht“ (2016) und „pajais in uondas / wiegendes Land“ (2020). Ersterer wurde mit dem Förderpreis Terra Nova der Schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet. Ausserdem leitet sie die Kulturabteilung der Lia Rumantscha. Die Lyrikerin lebt mit ihrem Mann und dem gemeinsamen Sohn in Chur. 2022 Studer/Ganz-Preis für das beste unveröffentlichte deutschsprachige Prosadebüt «Feuerlilie».

Marc Philippe Gallus, geboren 1958 in Bettlach (SO) ist stolzer Vater einer erwachsenen Tochter. Beruflich widmete er sich bis zum 30. Lebensjahr der Haute Cuisine. Diverse Weiterbildungen führten ihn zu seiner zweiten Karriere. Über zwanzig Jahre führte er sein Unternehmen im Bildungsbereich. Mit sechzig Jahren zog er sich aus dem Arbeitsleben zurück. Die frei gewordene Zeit widmet er dem kreativen Schreiben. Zurzeit nimmt er am Diplomlehrgang ‹Literarisches Schreiben› an der SAL Zürich teil. Seine Texte entstehen zuhause, im Zürcher Oberland, mit Blick auf die Berge und den Pfäffikersee, wo er zusammen mit seiner Partnerin lebt.

Corina Heinzmann, 1990 in Zürich geboren, arbeitet als Journalistin und schreibt beruflich fürs Hören. Während der Arbeit steht sie am Mikrofon, privat läuft sie hunderte Kilometer mit dem Rucksack durch Europa. Sie verlässt das Haus nie ohne Notizbuch und schreibt am liebsten Kurzgeschichten. Corina Heinzmann lebt in Zürich, liebt Hunde und hasst Deadlines. Sie ist fasziniert von menschlichen Abgründen und liest bei einem neuen Buch zuerst den letzten Satz.

Aufgewachsen ist Rebecca Holzer im östlichen Berner Oberland. Der räumlichen Einschränkung der dortigen Gestirne zum Trotz hat sie Wirtschaft und Politikwissenschaft in Luzern und Fribourg studiert. Nach einigen Jahren Reisen, Praktika im In- und Ausland und einem Einsatz mit der Schweizer Armee im Kosovo ist sie in ihre Heimat zurückgekehrt. Heute lebt sie dort mit Partner und Kind. Sie führt unter anderem während der politischen Sessionen und Kommissionssitzungen in Bundesbern Protokoll und verfasst Reden für Politiker:innen.

Agnes Weber, geboren 1951 in Aarau, las und schrieb als Jugendliche viel. Nach ihrer Erstausbildung arbeitete sie als Sekundarlehrerin. Lebte insgesamt sieben Jahre im Ausland. Engagiert(e) sich politisch für eine bessere Welt. Studierte Bildungswissenschaften. Leitete in der eigenen Firma Projekte im Bildungsbereich. Publizierte ein Fachbuch. Ist heute noch in der Hochschuldidaktik tätig im In- und Ausland. «Das Fest» ist ein Auszug aus ihrem ersten literarischen Werk. Sie lebt mit ihrem Partner in Zürich.

Alessandro Weiler ist 1993 in Zürich geboren. Er wuchs mit Fantasy-Büchern, Games, Anime und Mangas auf. Seither zeigt er ein Interesse an missverstandenen Charakteren, die weder klar gut noch böse sind. Mit zunehmendem Alter faszinierten ihn die Fantasy-Geschichten, die viel Reales in sich trugen – mit Themen wie Gewalt, tiefen Bindungen, Liebe und Sex. Das führte zur Kreation seines eigenen Charakters und um diesen herum entsteht eine scheinbar unendliche Geschichte.

Stefan Wenger-Ledermann *1985. Als Jugendlicher hat er die Lust und Leidenschaft des Tagebuchschreibens entdeckt. Mit den Jahren kamen lyrische Texte, Gebete und Kurzgeschichten hinzu. 2021 gab er sich einen Ruck und damit seiner grossen Leidenschaft Raum: er besuchte den Lehrgang «Literarisches Schreiben» an der SAL in Zürich. Er ist verheiratet und Vater zweier Töchter, die er an zwei Wochentagen betreut. 2013-2021 Tätigkeit als Gemeindepfarrer (ref.). Ab 2023 tätig als Klinikseelsorger sowie Weiterbildung in Seelsorge.

Pascal Witschi ist ein Schweizer Autor. Der Berner mit Jahrgang 1989 schreibt seit seiner Jugend Prosa wie auch Lyrik und studierte an der Schule für Angewandte Linguistik in Zürich Literarisches Schreiben, ehe er sich der Natur- und Wildnispädagogik zuwandte. Er veröffentlichte zwei illustrierte Gedichtzyklen, namentlich «Gode Graubund» (2019) sowie «Das Märchen von Anao und Aloe» (2020), und arbeitet gegenwärtig an seinem Erstlingsroman.

Katharina Wüthrich schreibt seit vielen Jahren in kurzen Formaten als Teil ihrer spartenübergreifenden künstlerischen Arbeit. Ursprünglich vom Tanz und der Performance herkommend gestaltet sie Bilder, Objekte, Installationen, die sie mit ihren Texten erweitert. Sie ist Mitglied verschiedener Schreibgruppen und hat sich durch die Teilnahme am Lehrgang ‘Literarisches Schreiben’ an der SAL 2021 einen neuen Schwerpunkt in der Textarbeit gesetzt. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Bern und unterrichtet in der Begabtenförderung.

Paubry «Hunger nach Echtheit», BLOX, 3

Wir hungern nach Echtheit. Doch haben wir wirklich den Sinn dafür? Und verkraften wir sie auch? Den meisten genügt ein Waldspaziergang, damit ihr Bedürfnis nach Echtheit gestillt ist. Mit Regenschirm und Mückenmittel. Aber wehe, ein Unrat liegt am Weg. Vor Jahren unterhielt ich mich mit einem Wildhüter, der mehrmals wöchentlich Kadaver aus den Büschen zieht. Der Grad an Fäulnis bemisst sich am Zeitraum, bis ihm der Fund gemeldet wird. Für die Spaziergänger, die echte Waldluft tanken, hatte er nur ein müdes Lächeln übrig. Gerne liess ich mir schildern, wie die Fliegen aufschwärmen. Oder wie er Maden aus dem Heck seines Wagens kehrt. Vom Geruch gar nicht erst zu reden. An diese eigentümliche Süsse habe er sich längst gewöhnt.

Wir mögen Echtheit, wo sie blüht, rieselt, plätschert, wo sie wie sanftes Sonnenlicht auf unsere Haut fällt. Aber das sind allesamt keine notwendigen Eigenschaften von Echtheit. Hässlichkeit ebenso wenig oder Wildheit, Grobheit. Wer jedoch das Widerwärtige meidet, damit er Echtheit erfährt, anerkennt nur die halbe Welt.

Gewünscht wird Tiefgang statt Oberflächlichkeit. Die Generation der Jahrtausendwende hat sich dem Wert der Authentizität verschrieben. Dieses fürchterliche Wort bedeutet, dass Gefühl und Ausdruck übereinstimmen, sei es in Wort oder Geste. Daran hängt sich sogleich der Begriff der Transparenz, der derart überanstrengt wird, dass man Authentizität sicherheitshalber vermeidet. Wer sein Gefühl verbirgt, gilt für unauthentisch. Mag sein.

Aber sein Verbergen ist echt.

Ebenso die Gründe, die diese Person dazu veranlassen. Wir mögen Masken nicht, wenn wir alltäglich miteinander verkehren. Dagegen freuen uns alte Bräuche, wenn etwa ein Lötschentaler mit Maske Wintergeister vertreibt. Es heimelt uns so urtümlich an.

So echt.

Wo Echtheit vor sich hin dämmert, übersehen wir sie leicht. Es braucht schon Rosen, bis wir Blumen bewundern. Die fahle Spierstaude fällt uns eher deshalb unangenehm auf, weil ihre Blüte wie menschlicher Same riecht.

Wenn Echtheit unsere Gegenwart aufmischt, erhöht sich ihr Reiz. Und die Befriedigung vertieft sich. Ein Schüler, mit dem ich öfter im Gespräch war, verriet mir, er bekenne sich zu den Ultras. Auf meine Frage, ob es da wirklich um Schlägereien gehe, huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Die gehörten zweifelsohne dazu. Mitunter seien sie die Hauptsache. Eigentlich hätte ich diese Leidenschaft verurteilen müssen, aber es gelang mir nicht. Der Schüler, ansonst umgänglich und klug, schien Echtheit zu erfahren, wenn die Fäuste flogen.

Leider werde ich wohl nie einer Geburt beiwohnen. Immerhin stehen mir Todesfälle bevor. Beide Momente dürften an Echtheit kaum zu überbieten sein. Auf der Insel Ischia gab es vor Jahrhunderten ein Felsenkloster, wo verstorbene Nonnen sitzend auf einen Steinsockel gebettet wurden. Die Schwestern hatten andächtig ihrer Verwesung beizuwohnen. Es waren Rinnen in den Stein gehauen, zur Ableitung der Körpersäfte.

Eine Andacht dieser Art bleibt uns erspart. Oder vorenthalten, je nach dem. Was uns bleibt, ist der kleine Tod für dazwischen. Es reicht schon, wenn man diese kraftvolle Echtheit im Vollzug erlebt. Offenbar besteht darüber hinaus der Reiz, fremde Orgasmen zu betrachten. Dieser Ausdruck köstlichster Echtheit scheint besonders beliebt. Das belegen zahllose Selbstzeugnisse im Netz, die Gesichter im Augenblick dieser intimsten Echtheit darbieten. Wer auf die feinen, stillen Züge Acht gibt, statt dass er im Gehampel und Gestöne nach Beweisen sucht, damit er inskünftig vor Täuschung sicher sei, wird einen sanften Moment ausmachen, wo die Mimik derart entspannt ist, dass sie kurzfristig die Züge einer Leiche annimmt. Indes flutet der Höhepunkt das Rückenmark bis zum Kopf. Wie wenn ein Gulli in einem Schub überläuft.

Je mehr wir in die Dinge eingreifen und sie gestalten, indem wir sie einander absondern und anders zusammenfügen, reden wir vermehrt von künstlichen Welten. Für echt halten wir demnach Sachverhalte, wenn sie unserem Einfluss entzogen sind. Wie etwa die Natur. Und da sollte jenen, die nach Echtheit dürsten, eine schlichte Tatsache aufgehen:

Unzweifelhaft echt sind wir selbst.

Von Natur so hervorgebracht, wie sie es offensichtlich für richtig hält. Ohne unser Dazutun. Daher gilt für mich die Unterscheidung in echt und künstlich nur bedingt. Aus meiner Sicht entspringt sie eher einem menschlichen Unbehagen an der Welt. Und an sich selbst.

Was wiederum echt ist. Aus guten Gründen.

Zsuzsanna Gahse «Wie sonst?», Plattform Gegenzauber

Und ihre Eltern haben Sie dann aus den Augen verloren? Beide gleichzeitig?

Sie sagen nichts?

Bin ich Ihnen zu nahegetreten? Ich wollte Sie nicht beleidigen, ich wollte Sie ja verteidigen. Kennen Sie diesen Satz, diesen gesungenen Satz aus der Fledermaus? Könnte ich Ihnen vorsingen, vorsingen lassen. Aha, gefällt Ihnen nicht. Ich wollt Sie nicht beleidigen.

Entschuldigen Sie.

Mögen Sie Lieder und welche am liebsten?

Mit einem Mal sehen Sie merkwürdig aus. Wie eine hölzerne Gestalt. Im Augenblick sehen Sie aus wie eine Statue! Come una statua. Über die starre Statue könnte man auch singen.

Nun habe ich es verstanden. Sie finden es lächerlich, Sie mit Sie anzusprechen. Kommt nicht wieder vor.

Bist du ein Anhänger von Elvis? Du magst ihn also nicht.

Eher den Armstrong, die schöne tiefe, kratzige Stimme?

Derzeit gibt es Songs im Schweizer Dialekt, die sich südamerikanisch ausnehmen. Wäre das etwas?

Anfangs hast du Lisa erwähnt, die Braunblonde. Warum habt ihr euch getrennt?

Hast du wirklich Angst vor Frauen? Vor allen Frauen, oder hast du dir das eingeredet?

Gibt es das, gibt es alle Frauen als ein einziges großes Gebilde? Das frage ich mich auch. Ich glaube, dass es das nicht gibt. Alle Frauen zusammen gibt es nicht. Sie sind absolut unterschiedlich, divers, tausenderlei. Daher ist in den alten Dichtungen immer von einmaligen Frauen die Rede. Die Ersehnten sind einmalig. Im Hochgesang sind alle Ersehnten einmalige Frauen.

Nun aber, aber versammeln sich die einmaligen Frauen. Ausgerechnet sie. Fischschwärme von Einzelwesen. Sie schwirren aus.

Denkst du jetzt an das Forellenquintett? Eher nicht. Ich glaube nicht, dass du gerade an Schubert denkst.

Magst du eine Zigarette?

Gerade will mir kein Zigarettenlied einfallen. Dafür die sengende Sonne.

Oh, Insel in der glühenden Sonne, der Morgen bricht an. Die erschöpften schwitzenden Schwarzen hören nachts die Trommel und den philosophischen Calypso (jemand sagte, der Calypso sei philosophisch), bald bricht der Morgen an, während ich (in diesem Fall ist Ich ein schwarzer Sänger) schwere Lasten tragen und heben muss, zum Himmel empor heben, aber wo ich auch sein mag, auf welchen Meeren ich auch segeln mag, werde ich immer Deine Ufer preisen.

Sobald mir die Sonneninsel einfällt, folgt das Lied vom mutterlosen Kind. Manchmal, manchmal fühle ich mich wie ein mutterloses Kind, weit weg von zu Hause, weit, weit weg von zu Hause, manchmal fühle ich mich wie ein mutterloses Kind. A motherless child. Meist fällt mir gleich darauf oder kurz vorher Moses ein, der den Pharao auffordert, seine Leute mit ihm ziehen zu lassen. Let my people go.

Außerdem gibt es ein altes Lied mit einer ähnlichen Grundlaune, das ich allerdings nur in der von Kodály bearbeiteten Version kenne. Spät war ich aufgebrochen, war unterwegs, weit weg von zu Hause, ging immer weiter, aber auf halbem Weg blieb ich stehen, schaute zurück und hatte die Augen voller Tränen. Seither gibt es mittags Kummer, Kummer ist mein Abendbrot, unglücklich sind alle Stunden, und ich weine nicht selten unter dem Himmel voller Sterne.

Es gibt eine mehr oder minder bekannte Herbst-Melodie, vom Text her eher unbekannt, wobei in geglückten Fällen die Texte zusammen mit der Musik loslegen, sie sind miteinander unterwegs. In diesem Herbstlied sagt ein Ich ihrem Gegenüber, dass sie ihn nicht liebe, sie sagt ihm das mitten ins Gesicht (im Original sagt sie ihm das in die Augen). Später stellt sich heraus, und nach wie vor erzählt das der Text, dass sie das nur gesagt habe, um seine Antwort zu hören. Erst stand er wortlos vor ihr, dann ging er stumm, und seither sieht die Erzählerin seinen Blick, immerzu die dunklen Augen. Er sagte kein Wort und ging stumm. Vergilbte Herbstblätter fallen von den Bäumen, ihn hatte der Herbst fortgefegt. Automn Leaves.

Tränen, die sind das Ende, Tränen und leere Hände. Blieben allein zurück, Tränen vom großen Glück.

Das war Ende der 50er Jahre neben Shantys ein Lied, das heute nicht einmal auf YouTube auftaucht. Ein Billiglied, allerdings mit guten Beschleunigungen, mit wechselnden Tempi. Einfach zu singen, am besten mit Gitarrenbegleitung.

Abgedroschen, ausgeleiert, abgenutzt, abgesungen und trotzdem absolut ansprechend ist der lachende Bajazzo. Verzweifelte Arie eines Verlorenen. Ist er verloren?

Singen Sie oft?

Entschuldigung. Singst du oft?

Nie, wirklich nie? Liedallergie?

Wirst Du oft nach deiner Herkunft gefragt? Oder nach den Liedvorlieben.

Liedvorlieben ist ein gutes Wort.

Endlos nach der Herkunft zu fragen ist abscheulich.

Am besten nicht antworten, nur singen. Please hear my cry (Sam Cook).

 

(erschienen online in “Für den Fall», Salzburger Literaturhaus und in OSTRAGEHEGE, der Zeitschrift für Literatur und Kunst)

«Kaum zu fassen, wie unterschiedlich Berge betrachtet werden. Investitionsmöglichkeiten, Urlaubsregionen, Jagdgebiete, Regionen für Klettertouren zum Himmel hinauf …», notiert die Ich-Erzählerin von Bergisch in eine ihrer Mappen. Unterwegs in nicht nur freundlichen Alpengegenden sammelt sie in unterschiedlichen Hotels und Berghütten Porträts von Besuchern und den heimischen Gastgebern. Öfters ist sie auch mit Freunden unterwegs, die ihr Interesse für Speisen, Sprachen und deren topografische Zusammenhänge teilen. Sie sammeln Farben, suchen sogar nach Farblosigkeiten, und zu sechst entwickeln sie die Idee eines begehbaren Tagebuchs, um ihre Beobachtungen aufschlussreich archivieren und präsentieren zu können.
Nach und nach tauchen weitere Gebirge auf, unter anderem das Uralgebirge oder etwa die Guayana-Region, und auch die Berge aus Literatur und Kunst sind mit von der Partie.
In über 500 Aufzeichnungen entfaltet Zsuzsanna Gahse ein feinmaschiges Zusammenspiel zwischen den sechs Personen und zugleich entsteht ein lebendiges Panorama der Bergwelten, eine vielschichtige Typologie des «Bergischen».

Zsuzsanna Gahse, geb. 1946 in Budapest, aufgewachsen in Wien und Kassel, lebte längere Zeit als Schriftstellerin in Stuttgart und Luzern, zurzeit wohnt sie in Müllheim, Schweiz. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u. a. aspekte-Literaturpreis (1983), Adelbert-von-Chamisso-Preis (2006), Italo-Svevo-­Preis (2017), Werner-Bergengruen-Preis (2017), Schweizer Grand Prix Literatur (2019).

Webseite der Autorin

Beitragsbild © privat

Peter K. Wehrli

 «Der Schoop’sche Katalog», Plattform Gegenzauber

Peter K. Wehrli über Fotografien von Jürg Schoop

 

1.                    das Thema

das Thema ‘Schichten’, das in Jürgs Bildern abgehandelt wird, vom abblätternden Rost an den Eisenbahngüterwagen über die Plakatwandfetzen bis zu den Farbschichten, die sich von einer Geländerstange schälen, dieses Bildthema das nun über die Bilder hinaus zum Thema wird, wo ich feststellen muss, dass die Fotografie jeweils die letzte Schicht ist, in diesem jahrzehntelangen Häutungsprozess: Schicht ist sie.

2.                    die Fotografien

die frühe Collage von 1962, die seit mehr als drei Jahrzehnten an meiner Zimmerwand hängt und die mir deshalb wichtig ist, weil sie mich gelehrt hat, mit meinem Blick in Gros-Plans zu teilen oder in der Totalen zusammenzufassen, was ich nur dort tun will, wo Jürg die Fetzen aus vier übereinandergeschichteten Fotografien so herausgerissen hat, dass drei menschliche Köpfe unverhofft nach Aufmerksamkeit gieren, ganz als ob sie es müde wären Teil des Ganzen zu sein.

3.                    die Papierblätter

die Veränderungen, die der Wind auf den weissen Papierblättern von Jürgs „objets trouvés“, 1978, herbeiführt, die Blätter, Fetzen und Krumen, die er dauernd neu komponiert, dieses Nochnicht und Nichtwieder, das in fernen Kanälen meiner Erinnerung die verschollene Erkenntnis aufsteigen lässt: ‘Zwischen heute und gestern liegt nichts als ein Moment , – zwischen heute und morgen aber ein halbes Jahrhundert», diesen enigmatischen Satz, der wie kein zweiter den  Gegensatz von Augenblick und Dauer trifft, dieses immerwährende Thema aller Fotographie..

4.                   die Passion

die Wirkung des Bildes, die wichtiger ist als das Bild, sogar als  jede Form von Abbildung, und die Passion des Fotografen, die mitschwelt in seiner Fotografie, so heftig diesmal, dass ich den Totenkranz aus Katalonien von 1984 so sehe als hörte ich den Fotografen zu mir sagen: “Ich will nicht, dass wenn man fotografiert am Schluss dann doch nichts anderes als nur ein Bild übrigbleibt“.

5.                 die Mechanismen

das Erforschen der Mechanismen des Erinnerns, das Teil jeder Beschäftigung mit Fotografie ist, die Erfahrung also, dass ich, damit ich mich an die Porzellanrosen von São Tomé erinnern kann, diese Blume fotografiert haben müsste,

5a.                

und die von den Gesichtern in Jürgs Pariser Photografie, 1998, geweckte Erinnerung an Renatos legendäre Behauptung, der Gewinn des Erinnerns liege nicht in der Erinnerung an ein Geschehnis, sondern in dem möglicherweise lebensverlängernden Wiedergewinn der Zeitspanne, in der es geschehen war.

6.                    der Film

der Herbststurm, der Berge welken Laubs in eine Mauerecke des „Bellevue“
in Kreuzlingen peitschte, und der Fotograf, der sich 1983 – so stelle ich mir das vor – aus diesem Sturm nach Hause gerettet hatte und sich eingestehen musste, dass er ihn, diesen Herbstwind, erst erlebte als er den Film entwickelt hatte.

7.                    der Umgang

mein Umgang mit Sprache, den ich mir mit der Feststellung erklärte: “Ich schreibe mir herbei was ich nicht habe“, den ich nach tagelangem Betrachten der Bilder dieses schoopschen Kataloges auf den Umgang des Fotografen mit dem Bild zu übertragen versuchte (Fotografiert sich der Fotograf herbei was es nicht hat ?), was mir erst gelang, als ich  meine Feststellung übersetzte in den Satz: „Der Fotograf verleibt sich ein, was er fotografiert“.

8.                    die Pixels

die oft gemachte und doch jedesmal wieder abenteuerlich neue Erfahrung, dass eine gute Fotografie immer Gegenwart ist, auch wenn das Abgebildete längst vergangen ist, wie es in Jürgs Bild  ‘Im Wald’ von 1987 der Fall sein müsste, dieses Verblassen, das mich nicht nur deshalb beschäftigt, weil als Motto „Vanishing Pixels“ darübersteht.

9.                   das Licht

der Gegensatz zwischen Bild und Text, der mir nie grösser erscheinen wollte als jetzt wo ich für diesen schoopschen Katalog, nach dem Licht suche, das auf den Fotoplatten das Bild erzeugt, weil es mir – und dies erst würde die erhoffte sinnliche Deckungsgleichkeit erzeugen – nicht gelingen will, herbeizuführen, dass der Gegenstand den Satz erzeugt, der ihn beschreibt.

10.                  die Gewaltsamkeit

das Durstlöschangebot, das ‘Coca-Cola’ in Jürgs Aufnahme des sienensischen Papierkorbes von 1998 unabsichtlich und doch so äufsässig heftig vor meine Augen hält, dass die Gewaltsamkeit dieses Angebots meine Sprechmuskeln veranlasst, die Frage halblaut vor mich hin zu sagen: ‘Das Wesentliche ist das, was verlangt würde, auch wenn es dies nicht gäbe’.

11.                   der Satz

die Frage, warum mir wohl dieser Satz immer nur auf Englisch einfallen will, obschon er doch schweizerdeutsch gedacht worden war, und der mir nach langem ausgerechnet jetzt wieder einfällt, wo mich Jürg Schoops „Founded Pictures“ zur Feststellung veranlassen: „Je mehr man schaut, umso mehr sieht man“.

12.                  das Erleben

die Gegenwart, die immer Teil des Kunstwerkes ist, – sonst ist es lediglich ein Bild oder eine Fotografie -, diese jedem Erleben innewohnende Zeitform, die mir deshalb ins Bewusstsein kam, weil Dieter unser Gespräch an der Schifflände nicht enden lassen wollte, bis er die Gelegenheit bekam zu sagen, auch der Fotokünstler müsse von Imperfekt und Futur, gerade so viel einfangen, dass es sich lohne, in unserem umstrittenen Praesens  zu verweilen.»

13.                  die Decollage

der in Nr. 2 beschriebene widerspenstige Teil des Ganzen, der sich im Blick, der die Totale fasst, in der Bildebene verliert und genau jener Fleck ist, der bewirkt, dass die aus zufälligen Rissen entstandene Decollage sich  die souveräne Stuktur gibt, die ein japanische Schriftzeichen aufbaut: für mich formuliert es: Feuerfunkeln.

14.                   das Niemandsland

die Beklemmung des messerscharfen Ungefähren, dieses besonnen erforschten Niemandslandes in den Bildern aus Frauenfeld,2000, diese verhaltene Atmosphäre, die mich irritiert als betrachte ich nicht einen Bildraum sondern den Schauplatz einer Tat.

15.                  die Erkennbarkeit

die abstrakten Strukturen, die Jürg in seiner Fotografie jahrelang aus allem Gegenständlichen herausgearbeitet hat und seine Rückkehr zur „gegenständlichen“ Fotografie (als ob es das gäbe !), die mich nun angesichts der wirklichen Bürste im Fahrhof 1999 derart irritiert, dass ich alle Erkennbarkeit der Dinge korrigieren muss indem ich mir einrede: ‘Wüsste man was man sieht, so sähe man es’.

16.                 der Gegenstand

die Vermutung, die sich allmählich zur Gewissheit klärt, dass es Fotografien gibt, die deshalb unwiderruflich sind, weil sich in ihnen nicht in erster Linie der abgebildete Gegenstand zeigt, sondern das Licht, das die fotografische Abbildung ebendieses Gegenstandes erzeugt hat.

17.                 das Ungewöhnliche

mein ebenso aufgeregtes wie neugieriges Blättern in den «clou»-Nummern von 1959 auf der Suche nach Malereien und Photogaphien von Jürg Schoop aus jener Zeit, die sich mit den Bildern dieser CD vergleichen liessen, damit deutlich werden könne, wie weit die Zeit an diesen Bildern mitarbeite, und mein Verzicht aufs Weiterblättern, als mir klar wurde, dass die Fünfzigerjahre jene Epoche waren, in der das Ungewöhnliche noch nicht etwas unter Vielem war.

18.                 die Quadrage

das Zurückfallen in frühere Bilder, von dem ich früher einmal reden zu müssen glaubte und das jetzt wieder virulent wird, wo mir Jürg mit ‘Escala’,1999, zeigt, dass die Wege der Erinnerung durch Schichten und Ebenen führen werden, die jedesmal von einer anders eingerichteten Quadrage begrenzt sind.

19.                 die Hingabe

der Zwang zum Photoapparat greifen zu müssen und mit ihm dann auch zu fotografieren, diese Passion, die in der Serie der Türen von marokkanischen Elektrokasten zu derart bestechenden Bildern führt, dass ich jetzt begreife wie der Fotograph Robert Weibel die bereitwillige Hingabe an den Zwang begründen konnte: „Ich fotografiere! Wie wüsste ich denn sonst, dass ich nicht träume ?“

20.                 der Sucher

die in eine endlich wohltuende Erschütterung mündende Ahnung, dass der im Sucher sich darbietende Ausschnitt aus dem Strom Leben nicht den Ausschnitt zeigt, sondern das Leben, weil in einer guten Fotografie auch der kleinste Ausschnitt immer das ganze Leben enthält.

21.                  die Komposition

die Entwürfe, die Skizzen von Künstlern aller Sparten,  die das entstehende
Werk vorausahnen lassen und die Aufnahme der Blumen auf dem Miststock von 1986, die ebenso abgeschlossene Komposition ist wie verwegenes Formsuchen, dass sie mich zur bislang unbeantworteten Frage veranlasst, unter welchen Bedingungen (und ob überhaupt ?) Fotographie Entwurf sein könne.

22.                  der Lichtwechsel

das Ineinander von Kunstlicht und Naturlicht beim Tagesanbruch, den ich bislang als organischen Lichtwechsel erlebt habe, ganz anders als jetzt, wo ich fiebernd beobachte, wie die Morgendämmerung das Dunkel vertreibt, als schicke der Tag erste Schlieren seines Lichtes als Vorhut in die renitente Nacht hinein.

23.                 die Selbstverständlichkeit

die Fenster und die Türen, die – seien sie nun abgebildet oder nicht – Jürg Schoops immerwährendes Thema sind durch fünf Jahrzehnte hindurch, dieses Fenstersein und Türwerden, dieses Türsein und Fensterwerden, das mir jetzt plötzlich jene Frau im violetten Rock in Erinnerung ruft, die das Fenster auf die Rua do Carioca hinaus öffnete um auf den Balkon heraustreten zu können, mit jener Selbstverständlichkeit, als wolle sie uns beweisen, dass sich – vielen Ahnungen zum Trotz – überhaupt nichts ändere dadurch, dass hierzulande (also: dort) jedes Fenster eine Türe ist.

24.                  die Zeichen

die handschriftliche Angabe ‘Italien’ unter der Fotografie der verrammelten Türe von 1985 (und nicht etwa die Aufzählung der Städtenamen Rom, Florenz, Alba, Siena) die mich nun in das Reich aller jener
vielen Dinge, Gesten – und dazu gehört die Art, wie sich der alte Ezio auf den Kastanienstock stützt wenn er abends den Weg vom Dorf herunterkommt – Verhaltensweisen und Zeichen versetzt, die, obschon Carmine kaum eine Viertelstunde von der Schweizer Grenze entfernt liegt, doch so radikal Italien bedeuten, dass ich mich ertappe, wie ich carminensischsage wo ich italienisch sagen will, und dass ich deshalb versucht bin,  Schoops Aufnahme der italienischen Tür als eine carminensiche zu bezeichnen, weil ich das carminensische Wesen als italienischer erlebe als das italienische.

25.                  die Unschärfe

die Brille, die ich nicht auf hatte als mein Blick zufällig die in Nr. 2. beschriebene Collage streifte, und die mir den Eindruck von formaler Grossartigkeit verschaffte, weil erst die Unschärfe alle Bildelemente ineinander verfliessen lässt und nicht mehr zulässt, dass sich ein Detail – die drei Gesichter – als aufsässiges Realitätspartikel meldet.

26.                  die Oberfäche

die Unentschiedenheit zwischen Interpretationssucht und ihrer Parodie, mit der ich die Oberfläche von Jürgs florentinischer Fotografie von 1998 absuche um den Gegenstand aufzuspüren, der das Bedürfnis in mir ausgelöst haben könnte, angesichts dieser Decollage den abstrus erscheinenden Satz zu formulieren:  „Buchstaben werden Wörter werden, Bilder werden Gegenstand“.

27.                  die Unfähigkeit

die Unfähigkeit, angesichts meiner Lieblingstüre unter Schoops Türaufnahmen (jener von Rom 1978), den Eindruck in einen einzigen Satz zu fassen, wie es den eisernen Regeln der Katalogsprache entspräche, und mein Eingeständnis des Regelverstosses indem ich den verbotenen Abschnitt nun doch hinschreibe:
Wo alle Türen Rahmen sind, die lebensgrosse Bilder halten, gibt es keine Zeichen unter Glas. Ins Bild hinein und aus dem Bild heraus: der Rand ist Rahmen und ist keine Grenze, es führen alle Wege durch ihn durch. Ein gutes Bild ist stets ein Bild von allem, und ein Bild gibt es nie allein: Vorlage und Abbildung, – der Rahmen hält sie gegengleich. Und nirgends spiegeln sich Betrachter, weil jeder Gast in beiden Bildern ist“.

28.                 die Konturen

die elf Gegenstände im Bild von Barcelona, 1999, die danach gieren, beschrieben zu sein mit Wörtern, die so dicht ihre Körper füllen und so satt alle Konturen fassen, dass meine Sprache wie das Echo wirkt, das ertönt, wenn der Blick die fotografierten Dinge streift.

29.                 die Welt

die Kratzer, Striche, Risse und Sprünge im bearbeiteten Negativ von 1958, die mich an die Kratzer, Striche, Risse und Sprünge an der Zellenwand erinnerten, in denen der Gefangene den Flusslauf des Amazonas erkannte, die Schlingen der Seine und des Brahmaputra, und dazu erklärte, wenn die Welt die Ausmasse seiner Zelle hätte, würde er sich frei fühlen wie noch nie.

30.                  die Notwendigkeit

die quälende Insistenz, mit der sich beim Anblick von Jürgs marokkanischen Schwemmgutbildern die beiden Schlüsselsätze in die Quere kommen, jener des Mannes im Markt von Caruarú, ein Bild sei auf jeden Fall besser als kein Bild, und Peter Rosei’s beeindruckend vorgebrachter Anspruch, Bilder müssten  besser sein als ihre Vorlage, sonst seien sie unnötig,

30a.               

und die Beruhigung, die auch gleich doppelt eintrat, als erstens die Bilder ihre Notwendigkeit zu erkennen gaben und ich zweitens erkennen musste, dass Rosei eigentlich doch nicht von Bildern gesprochen hatte, sondern von Beschreibungen, die übrigens ja immer Bilder fassen.

31.                  der Zufall

die Pariser Fotografie von 1958 mit der zerfetzten Plakatwand, von der ein einigermassen unversehrter W.C. Fields lacht, dieses BiId, das ich deshalb nicht vergessen kann (nicht etwa, weil ich W.C. Fields Komödiantik verehren würde, sondern:), weil es erläutert, dass es nie der Gegenstand sein kann, der Kunstwerk sein will, sondern mein Blick, der ein Ding (das der Zufall zur Collage gemacht hat ) als Kunstwerk erleben will.

32.                  die Zeit

die Anschläge des Zirkus Bramarbasani, die mich daran erinnern, dass in der Schweiz die Zirkusplakate von den Wänden entfernt werden , sobald der Zirkus weitergezogen ist, und dass in den Ländern, in denen Jürg Decollagen fotografieren konnte, die Anschläge – Respekt ist es vor dem Wirken der Zeit ! – erst dann nicht mehr sichtbar sind, wenn sie die Sonne ausgeglüht, der Regen verwaschen und der Wind zerzaust hat.

© Peter K. Wehrli & wiedingpress

Der schoopsche Katalog“                           

Ja, Jürg Schoop ist Künstler. Und wenn ich sagen würde: Maler, Fotograf, Dichter, Objektkunstler, Komponist, so würde ich nur kleine Teile seines Tun nennen. Denn er ist Künstler. Als ich noch Teenager war, da war er viel mehr als das: Er war für mich der Inbegriff des Künstlers. Einer, der Kunst nicht nur machte, sondern sie auch lebte.
Und Ende der Fünfzigerjahre war er noch etwas mehr: Er war Chefredaktor der Zeitschrift „Clou“. Und weil ich damals gewagt hatte, eigene Gedichte einzusenden, wurde ich unverhofft zu einer Redaktionssitzung eingeladen. Dort habe ich Jürg Schoop kennengelernt.  Und da zu jener Zeit Schoops erster Gedichtband erschien „So tanz ich den Tanz“, wurden einige Zeilen daraus für mich sozusagen zum Aufruf der Solidarität: „…wo sollen wir Almosen flehn, wir am Leben trunken gewordene Narren?“  Damit hatte Schoop auch mein damaliges Lebensgefühl formuliert, lange vor 1968 als die Narretei sich dann mit Wut bewaffnete. Für uns war damals schon das Durchbrechen der Grenzen zwischen den künstlerischen Gattungen ein strikter Mut- oder Wutakt. Und Jürg hat  diesen Durchbruch auch mit Witz- durch Sinnschichtungen vollzogen.
Als ich 1968 meine Orientreise – weil ich den Fotoapparat vergessen hatte – mit Worten statt mit Bildern dokumentieren musste, (was als Initialzündung für den „Katalog von Allem“ wirkte) war das Tun und Lassen, die Ideen und die Haltung von Jürg Schoop noch so präsent in mir, dass sie sich in meiner Sehweise und meiner Auffassungsart niederschlugen, – mehr noch: Jetzt, wo der Katalog von Allem“ auf 2849 Katalognummern angewachsen ist, lassen sich 32 Nummern davon zum „Schoopschen Katalog“ zusammenfassen. Und damit sind nur jene Nummern gemeint, in denen Schoops Werke und sein Tun explizit genannt werden; wo Schoops Sichtweise und seine Art des Verarbeitens von Beobachtetem zum Zuge kommen, würde die Zahl der Nummern um ein Vielfaches zunehmen.
Nicht allein im Bildgegenstand in diesen „geschriebenen Fotografien“ steckt die Allusion an Jürgs sensibel wählenden Blick, auch im Rhythmus der Sprache, in ihrer Art von Farbigkeit, im Umgang mit Rhythmus und Klangstufe, in der Quadrage der Einstellungen (Totale oder Grossaufnahme) der geschriebenen Bilder, in möglichen Überblendungen und Einzelbildern, Zoom oder Schwenk oder Standbild, in allen diesen Erscheinungsformen liessen sich Nachwirkungen  von Jürgs künstlerischen Taten aufspüren und von seiner Sensibilität, die er mir vor sechs Jahrzehnten zu injizieren begann. Und auch dem Zufall, der sich ins Bild drängt, gilt es seinen Platz zu lassen. So erst kann sich das Widerspiel von Natürlichkeit und Künstlichkeit entwickeln.
Und übrigens: Schoop festigte es, dieses Spiel, schon früh in seinem legendären Satz: „Wenn man künstlerisch tätig ist, überlegt man sich nicht, warum und wozu man etwas tut. Man gehorcht einfach dem Trieb.
Auch dies hatte mich Jürg damals gelehrt.

Peter K. Wehrli, geboren 1939, Studium der Kunstgeschichte in Zürich und Paris. Reisen durch die Sahara und zur Piratenküste. Längere Aufenthalte in Südamerika. Redaktor beim Schweizer Fernsehen DRS. Tätigkeit als Herausgeber. Zahlreiche Veröffentlichungen, u.a. «Zelluloid-Paradies» (1978), «Eigentlich Xurumbambo» (1992), «Katalog von Allem» (1999).
Webseite von Peter K. Wehrli

Jürg Schoop, Ex-Maler, Collagist, Literat, Fotograf und Filmer seit 1952. Vorwiegend Autodidakt. Geboren 1934 in St.Gallen, aufgewachsen in Romanshorn. Lehre als Schaufenstergestalter in Arbon mit Besuch der Gewerbeschule St.Gallen (Lehrer Baus + Nüesch). Ab 1972 10 Jahre Aufenthalt in Zürich. Anschliessend Rückkehr in den Thurgau. Um die Unabhängigkeit sicher zu stellen, arbeitete der Künstler meist teilzeitlich in vielen Nebenberufen und schlug diverse Karrierenangebote aus. 1998 Kulturpreis des Kantons Thurgau. Letzte Veröffentlichung: «Brunnenpoesie», Schuber mit 50 Fotografien bei Orell Füssli.
Ausführliche Biographie
Webseite von Jürg Schoop

Lea Draeger «Wenn ich euch verraten könnte», hanserblau

Über eine Seele, die Krebs hat

Fremd im eigenen Körper: In Lea Draegers Debütroman «Wenn ich euch verraten könnte» hört eine Dreizehnjährige aus Protest auf zu essen. Im Krankenhaus beginnt sie, ihre Familiengeschichte zu schreiben.

Gastbeitrag von Dario Schmid. Dario Schmid studiert Deutsche Philologie und Französistik an der Universität Basel. 

Es ist eine Geschichte über krebskranke Seelen und zerstörte Körper. Über gewalttätige Väter und sexuelle Übergriffe. Über Integration und Verrat. Über Streit, Strafe und Schweigen. Während die Ärzte darum bemüht sind, das Mädchen wieder gesund zu machen, bricht dieses mit seinem Schreiben das Schweigen. Jeder ihrer Einträge beginnt mit Über – und so erfährt man immer mehr über die generationenübergreifenden Abgründe einer Familie, die von dem Vater bestimmt ist.

«Es gibt keine Geschichten, die von den Frauen in meiner Familie geschrieben wurden. Es gibt nur die Geschichte, die der Vater geschrieben hat.»

Der Vater – das ist zunächst der Urgrossvater des Mädchens, der Suizid begeht, danach ihr Grossvater. Der Vater steht aber auch für die patriarchalen Strukturen, die sich von Generation zu Generation durch die Familie ziehen: Zu Hause gelten die Gesetze des Vaters. Da ist der Vater der Grossmutter, der seine Frau mit Worten, die Töchter mit dem Gürtel schlägt, ihre Körper nach fremden Küssen absucht – und mit seinen Fingern prüft, ob sich der dunkle Schlund geöffnet hatte. Da ist der ebenfalls schlagende Vater der Mutter, der seiner siebenjährigen Tochter zeigt, wie sie ihm als gute Frau sanft über die Haare streichen musste und als böse Frau die Beine zu spreizen hatte.

Der Vater der Dreizehnjährigen hingegen ist anders – er wird von seiner Frau betrogen und zieht sich im Dachboden zurück; er hat Angst, dass man ihn verlässt. Verlassen fühlt sich das Mädchen auch von seiner Mutter, die Scham und Fremde bedeutet: Die schöne Frau, die meist nur geschminkt aus dem Haus geht, zieht die Blicke anderer Männer auf sich; ihre Aussprache und ihr Pelzmantel verraten die tschechische Herkunft. Die Tochter aber will nicht auffallen, sie will normal sein – sie will nicht, dass ihre Mutter ihre Mutter ist. Einmal nimmt die Mutter ihre beiden Kinder mit zu einer Affäre. Zehn Jahre später sprechen diese über das Ereignis – und dann ist nichts mehr, wie es mal war.

All dies prägt das junge Mädchen: Zurück bleibt eine Jugendliche, die schweigt, hungert, in der Psychiatrie landet – und sich ritzt. Eine Jugendliche, die sich fremd in ihrer Familie und im eigenen Körper fühlt. Eine Jugendliche, die ihre Schönheit verliert und hässlich wird – und im Krankenhaus wieder schön werden soll.

«Ich werde irgendwann aus dem Krankenhaus entlassen. Ich werde nach Hause gehen, und alles wird so sein, wie es war. Ich meine, bevor ich hässlich wurde. Ich weiss, dass alle das erwarten.»

Lea Draeger «Wenn ich euch verraten könnte», hanserblau, 2022, 288 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-446-27286-6

Unter dem Vorwand, zeichnen zu wollen, erhält sie Stift sowie Papier und beginnt zu schreiben. So entsteht aus dem Schreiben über die familiäre Vergangenheit und den Beschreibungen zu ihrem Aufenthalt im Spital nach und nach eine Zeichnung, die das Jetzt und das Geschehene vereint. Ein kompositorisches Wechselspiel, das für Spannung und Abwechslung sorgt, aufgrund der ähnlichen oder gar identischen Verwandschaftsbezeichnungen und der vielen Spitznamen beim Lesen aber auch Konzentration erfordert.

Die Debütantin Lea Draeger präsentiert ein knapp 290-seitiges eindringliches Sprachwerk: Mit einfachen, aber passenden Worten malt diese lebendig wirkende, teils grässlich intensive Bilder. Die sprachlich schönen Sätze legen sich über die hässlichen Themen – sie sind die Schminke, die gleichzeitig be- und aufdeckt. Die schönen Sätze machen den hässlichen Stoff erträglicher. Und so huscht einem beim Lesen, trotzt der inhaltlichen Schwere, immer mal wieder ein leichtfüssiges Lächeln über das Gesicht.

Ein inhaltlich aufwühlender und wortgelungener Roman, der sich manchmal aber auch in Details verliert. Wer sich davon nicht einschüchtern lässt, darf sich auf eine Lektüre freuen, die ganz schön hässlich ist – aber auch hässlich schön.

(Dieser Text entstand im Rahmen eines Seminars zur Literaturkritik im Frühjahr 2022 an der Uni Basel, Seminarleitung: Daniel Graf, Literaturkritiker beim Republik Magazin.)

Lea Draeger studierte Schauspiel an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ in Leipzig. Sie arbeitet als Schauspielerin, Autorin und bildende Künstlerin. Seit 2015 spielt sie im Ensemble des Berliner Maxim Gorki Theaters, davor unter anderem am Schauspielhaus Bochum und der Schaubühne Berlin. Ihre bildnerischen Arbeiten wurden im 4. Berliner Herbstsalon, der Sammlung Friedrichshof und im Van Abbemuseum Eindhoven ausgestellt.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Kristin Rosenhahn

Vera Schindler­-Wunderlich «Langsamer Schallwandler», Plattform Gegenzauber

Die Behandlung eines Schafes

Ich nahm ein weiches, dunkelweißes Schaf, 
ein altes deutsches Krippenschaf.

Zwei Kinder spielten mit dem Schaf,
es war am Heiligen Abend.

Ich zeichnete es leicht auf braunes Papier.
Ich legte rotes Glas auf das Schaf, es sprach:

             „Jochen ist noch klein,
             doch er zieht bald in den Krieg.“

Ich stellte Panzer hinter das Schaf –

             Wilhelm schiesst Vögel vom Kirschbaum,
             auch er will bald in den Krieg.“

Ich malte dem Schaf einen Pfad, 
da lief es hinaus aus dem Bild.

              „Sie schossen und wurden erschossen,
              da ich stand erneut an der Krippe.“

Wer Schafe zeichnet, muss sanftmütig sein.
Wer Kinder zum Töten holt, muss fachkundig sein.

 

Vom fernen, glücklichen Fest

Gestern um siebzehn Uhr,
ich saß auf einer Holzbank,
stand die Jungfrau vor mir,
          grün bestreut, tonnenschwer,
          schneeschwebend

Mir war, als sei keine Welt 
hinter ihr, als röche sie nach 
Borretsch und Rosen und Stall, 
          ich packte mich in Wolken
          und rührte mich nicht

War Juni, im Zwanzig-Uhr-
Licht stand ich auf und aß.   
Die Jungfrau rührte sich nicht, 
           sie hüllte sich ein 
           in goldenen Dampf

All der Schrecken, 
das Landverlieren, 
Kriechen und Rennen,
           es barg sich eine Stunde 
           im dichten, blendenden Dampf

Da legte die Jungfrau den Schleier weg, 
wie winkten die Gletscher, 
der Borretsch freute sich sehr –
           all der Schrecken, das Scheuchen,
           das ferne, glückliche Fest

 

Anfangen zu fischen

Das Wort wurde sacht,
als ich sagte: Ich hause unter Tage,

als unsere Körper über die Erde flogen
und die Küste eines alten Landes grüßten

Das Wort wurde jung und scheuerte, 
es war am See Genezareth

Ich schwankte, war’s nicht die galiläische Sonne, 
ein Schwank-Tag war’s und ein Willst-du-noch-Tag
unter Kappen klopfte es,

            – und die feine Linie links auf deiner Stirn –

         als wir uns lang sam los ban den 
         von Rang und Diktum

        Doch „als wir uns langsam losbanden“ 
        ist nur mein Tagebucheintrag

        Wir fischten still, das weiß ich genau

                    – Standard? wessen Standard –

               und gossen Wasser auf die 
               Ich-Zischerei, du strichst über meine 
               Worte und sagtest:

               „Ach doch, es war ein Als-wir-uns-
               langsam-vernahmen-und-langsam-
               banden-Tag“

               und mich wunderten deine Augen

                                                                    sela daselbst

 

Übungsanlage

Während ich zahle, atme, 
Updates funkeln, ich Astern
betrachte und Kummergesichter

bewundere, wenn sie einst 
auferstehen und es noch gar nicht 
wissen, schwing ich für mich 
im Ja-Lager: im Bus, Meer, Mantel,
Dampf, im Treibhaus, ich glühe 
am Spülbecken, rühr mich.

Ich rufe: Verborgen 
bist Du, auffindbar bist Du!

Ist es nicht einsam im 
Ja-Lager, ist es nicht schön? 
Ich finde es schön, 
sehr schön.

 

Mittlere Brücke

„Selvi, sieh dir meine Fotos vom 
Rhein an, Selvi, sieh mal das Eis auf der 
Mittleren Brücke, Selvi, du kannst nicht mehr 
geigen, hantieren, das Fell deiner Katze nicht – 
Selvi, gefällt dir dieser gelbgestreifte 
Strohhalm, sieh, wie dein roter Rollstuhl 
in der Wintersonne glänzt –“

Und mit einem kleinen 
Löffel schieb ich

ich Täuschkörper ich Schönwetterschwätzer weiß nicht 
schieb ich wer bin ich, dass meine Muskeln nicht 
verrecken wie deine schieb ich jetzt Stückchen 
um Stückchen einer „sehr, sehr leckeren 
Torte“ in deinen Muss-es-sein-Mund,
der mir zu entgegnen scheint: 
«Es rührt mich nicht, was mir hier 
widerfährt, lass uns nicht über Löffel 
und Strohhalme sprechen.»

           Sie lehnte sich ins Leid
           wie in einen kalten Sessel, 
           sie spähte ins Leid
           wie in das Licht des Wintermorgens 
           am Rhein auf der Mittleren Brücke.

„Selvi, sieh dir mein Gedicht an“

 

Akt des Ach doch

als der lange tag sich um mich drehte
als das mahlwerk licht war und april
(Astrid Schleinitz)

Dein tägliches Rollen 
und Schaukeln, das völlige Fehlen von 
Hüpfen und Springen

Ins Bad gefahren werden,
überaus eingeseift sein, lang 
entkleidet bleiben

«Früher habe ich Cellosonaten gespielt –»

Dein Leben als Gliederpuppe, Anziehpuppe? 
Gelenkig, heiter, beschämt

«Erst lief ich verwackelt, dann lahmte
und wankte ich, schließlich
knickte ich ein.»

Abends ein Hingelegtwerden,
als Pflegling, Liebling,
nächtlich: Plage Lagerei

«Früher konnte ich Meere
malen, Wege rennen,
Söhne halten –»

Obwohl es dir alle Kraft
kappt, ungalant, obwohl es ein
Rollstuhl ist und keine Sänfte  –

Und was den Körperschall angeht und dein
Schnappen nach Morgenluft,
wie kannst du nur

kannst du inzwischen
so schön sein so

ins Fröhliche
schwappen

 

aus dem Gedichtband „Langsamer Schallwandler“, Oktober 2022, mit freundlicher Genehmigung der edition pudelundpinscher. Vernissage des Gedichtbands ist am 28. Oktober am Buchfestival Olten.

Vera Schindler-Wunderlich «Langsamer Schallwandler», edition pudelundpinscher, 2022, 100 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-906061-31-3

Vera Schindler-Wunderlich ist in einer Industriestadt in Nordrhein-Westfalen, im Singsang einer bergischen Mundart aufgewachsen. Arbeitet seit 1994 in der Schweiz, lebt in Allschwil bei Basel. Studium der Musikwissenschaft und Anglistik in Köln, Aberdeen und Freiburg i. Brsg. Heute Redaktorin bei den schweizerischen Parlamentsdiensten. Im Oktober 2022 erscheint nach «Dies ist ein Abstandszimmer im Freien“ (2012) und «Da fiel ich in deine Gebäude“ (2016) bei der edition pudelundpinscher ihr dritter Gedichtband „Langsamer Schallwandler“. 2014 erhielt sie einen der Schweizer Literaturpreise, war 2020 nominiert für den Publikumspreis des Feldkircher Lyrikpreises. Einige ihrer Gedichte wurden übersetzt ins Französische, Italienische, Spanische, Slowenische, Indonesische, Arabische.

Beitragsbild: Sharon Stucki, Select

Regina Dürig «Risse», Plattform Gegenzauber

Track 1: Mitlaut

Die Konsonanten
tropfen aus unseren
Sätzen kondensieren
an den Wänden
und sammeln sich
letzten Endes in
den Fliesenbrüchen
dort reiben kratzen raspeln
sie weiter nicht aus
bösem Willen sondern
aus ihrer Natur denn
ihre Kanten sind
unerbittlich wie
Diamantenglanz
sie schmirgeln sie
murmeln da kann
selbst der Hausbesitzer
nichts machen der
Hausbesitzer besitzt
derart viele Häuser dass
er sich beim besten
Willen nicht um jeden
Mitlaut kümmern kann
der irgendwo hervortropft
der auf Unfug aus ist auf
Krawall er steht auf
der Hausbesitzer
besteht darauf dass wir
wussten als wir
den Vertrag unterschrieben
haben an einem übermässig
wackeligen Tisch dass
nichts mehr zu machen ist
dass alles schon immer
desolat war zerfasert
brach

wir versuchen auf
eigene Kosten zu kitten
spachteln grosszügig 
Konjunktionen und
Dehnungslaute in die
Fugen aber sobald sie
zu trocknen beginnen 
wölben die Konsonanten die Masse
von innen her auf

es bleibt
uns nicht anderes 
übrig als zusätzlich zum
weichen Gehen auch
weich zu sprechen und
möglichst
selbstlautreiche Gerichte
zu kochen leider
mögen wir beide kein
Ei

 

TRACK 2: Schwerkraft und Zündholz und Brot

Der Puls des Nachbarn
dringt durch das Netz aus
undicht gewordenem
Bodenmaterial zu uns
hinauf in unsere
Gedanken unsere Herzen
unsere Haut

der Nachbar ist
so langsam und froh wie
ein Leguan er nickt uns zu
wenn wir ihn auf der Strasse
sehen wenn er uns im
Laden Wein oder 
Knoblauch verkauft 
der Nachbar
lässt seinen Wagemut in
Wolkenfetzen verdampfen
deswegen ist sein Puls
meist ruhig aber stetig er
ist Geheimnissen aus diesem
Grund abgeneigt Überraschungen
Zwischenfällen Zweifeln der Nachbar
hat alles was er zum Leben
braucht die Schwerkraft und
Zündholz und Brot
der Nachbar fühlt sich nie
allein nicht nur wegen der
Risse die ihn mit uns verbinden
sondern in einem absoluten
Sinn

denn er weiss dass er einer
Spezies angehört die sich über
eine unendlich lange Zeit aus
einer anderen Spezies und 
diese wiederum vor unendlich längerer Zeit aus
winzig kleinen Zellen ohne
Körperform und feste Absicht 
entwickelt hat

dieses
Wissen beruhigt den Nachbarn
wie nichts anderes
wenn er isst 
wenn er schläft 
wenn er wacht

 

Track 4: Gedanken aus Glas

Die Fliesen springen
im stillen Schwungtanz
des anhaltenden Verfalls
sodass sie an
manchen Stellen mehr 
aus Rissen bestehen als 
aus etwas

der Rest klimpert
hell wie Taschengeld
wie Gedanken aus Glas

wir treten vorsichtig wenn
wir zum Schüttstein gehen zum
Tisch zum Herd wir 
sind auf der Hut
nicht in den Abgrund zu geraten
der sich auftut
an den Bruchstellen des
hundertjährigen Zements

manchmal jedoch bleiben wir
mit dem Stuhl oder dem
Strumpf hängen wir verschütten
Suppe oder Wasser und
Argumente und Tee denn die Küche
ist der Ort an dem wir beide
Recht haben wollen in
keinem anderen
Zimmer ist dieser
Umstand ähnlich akut
in keinem anderen Zimmer diese
Klippen steil abfallend von
der Wolkendecke 
klingengerade hinunter zum Strand

es hat sich der Sohn
eines berühmten Sängers
von diesem Höhenunterschied gestürzt
damals Anfang der Neunziger und
trotzdem wohnt der
berühmte Sänger noch immer im
gleichen Haus im gleichen Ort

wir fragen uns was er denkt
wenn er die Klippen sieht ob es
Unglaube ist oder ob er sich
wünscht er hätte unten gestanden
aus irgendeinem Zufall hätte
so starke Arme gehabt wie früher
als sein Sohn noch sehr klein war
ein Nestling und hätte ihn auffangen
können zusammengekugelt 
hätte ihn an sich nehmen
können die Luft anhalten | du sagst
aber es gibt keine Unumkehrbarkeit
ohne Nostalgie und
nicht mal Gefühl kann aufgehalten
werden mit starkem Arm das weiss
jeder weisst du weiss auch der
berühmte Sänger besonders der
denn irgendwie war der doch 
schon immer so
wissentlich finster schon bevor
das mit dem Sohn bevor es
den Sohn überhaupt | und 
wahrscheinlich bleibt er ganz einfach
deshalb weil er es sowieso nicht vergessen
kann nichts vergessen machen warum dann
noch den Bäcker die Bushaltestelle den
Pub verlieren wenn schon der
Sinn weg das Leicht

und ich denke 
dass das auf keinen Fall stimmen
kann aber die Klippen nicken 
gleissend in der Mittagssonne und
weil mir mein Knochengeflecht
innendrin lieb ist
heute nicke ich sicherheitshalber
still mit
dir mit

 

TRACK 5: Richtung Meer

Von Zeit zu Zeit
bricht eine Fliese in die
Form einer Stadtkarte mit
Ringautobahn und
sternförmigen Alleen
erläutert uns 
topographische
Zusammenhänge zwischen
Staaten Gewässern
und Grenzgebiet
verweist auf den historischen
Einfluss der Flüsse
die sich in Ackerland verlaufen
ins Ufer wuchern oder
ausdünnen Richtung Meer
zerstreut von
Inseln die
prekären Küsten 
vorgelagert sind
Landstriche auf
die niemand Anspruch erhebt
wo kein Wettrennen
der Entdeckergesten
je stattgefunden
haben wird
und wir sind froh denn was würden
wir ihnen servieren diesen
Vorboten der Währungen
sie würden
mit den Silberlöffeln 
ihrer jeweiligen Majestät die
vollen Teller vom Tischrand
stossen würden 
herabschauen würden
gestikulieren während wir
Kartoffeln braten oder
Kohl sie würden
über ihre Silberbärte streichen
und ihre Silberbäuche halten
während sie mit
Silberzähnen unsere
Vorräte verschmähten
wir wüssten dass sie bald
schneeblind verhungert
oder sonstwie 
an Überheblichkeit 
verendet sein werden wie 
all die andern zuvor wir würden ihnen
Stiefel schenken Hunde
Fell und zusehen
wie sie die Segel setzten wie
sie die Maschinen anliessen
wie sie zu schneeweissen 
Punkten würden 
zu Salzkristallen
zu Staub

 

«Risse» ist im April 2022 als CD bei Deszpot und digital auf Bandcamp erschienen. Das kurze Album (eigentlich also eher eine EP) ist eine Momentaufnahme unseres langsam zerfallenden Küchenbodens – hundertjährige Zementfliesen, original wie beim Bau des Hauses, abgesunken und eingebrochen im Lauf der Zeit. Frottagen, die Regina von den Rissen gemacht hat, dienten Christian als grafische Notation für fünf elektronische Kompositionen. Für vier dieser Stücke hat Regina Texte geschrieben, in denen sich Klippen auftürmen, in denen der Fortschritt klafft und Konsonanten zerrieseln.

Butterland (Das neue Butterland-Album!)

Regina Dürig «Federn lassen», Droschl, 2021, 104 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-99059-071-3

Regina Dürig ist Autorin, Performerin, Artistic Researcher und Dozentin/Mentorin für Literarisches/Kreatives Schreiben an der Hochschule der Künste Bern, dem Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und an der Volkshochschule Biel/Lyss. Für ihre Arbeiten hat Regina Dürig zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u.a. den Peter-Härtling-Preis, den Literaturpreis Wartholz und den Literaturpreis des Kantons Bern. Regina Dürig lebt in Biel.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Anja Fonseka

Jenny Hval «Perlenbrauerei», März Verlag

Aufgehoben im Sündenfall

Im Roman der norwegischen Musikerin Jenny Hval verschimmelt das Paradies. Inmitten vergammelter Früchte erblüht eine queere Liebesgeschichte, in der die Verführung zu Selbstermächtigung und sexuellem Erwachen führt.

Gastbeitrag von Céline Burget
Céline Burget studiert Deutsche Philologie und Englisch an der Universität Basel. Als begeisterte Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft beschäftigt sie sich unter anderem mit dem Lektorieren von Beiträgen und schätzt jede Gelegenheiten, selber Texte zu verfassen.

Der im vergangenen Jahr wieder auferstandene März-Verlag hat mit seinem antiautoritär und feministisch ausgerichteten Frühjahrsprogramm wieder auf sich aufmerksam gemacht. Barbara Kalender und der neu als Verleger eingesetzte Richard Stoiber haben sich passend zum 53. Jubiläum dazu entschieden, den legendären Verlag in alter Tradition fortzuführen. Bemerkenswert ist dabei nicht nur die Neuauflage von Valerie Solanas’ «Manifest der Gesellschaft zur Vernichtung der Männer», auch das Debüt von Jenny Hval ist mit seinen fiebertraumartigen, erotischen Szenen ein Höhepunkt des Programms. In «Perlenbrauerei» sind es allerdings nicht nur Männer, die vernichtet werden: Die Autorin nimmt sich den Sündenfall vor und lässt ganz Garten Eden verrotten.

Hval erzählt die Geschichte der norwegischen Austauschstudentin Johanna, die auf der Suche nach einer Unterkunft durch das fiktive Ayebourne irrt. Sie verliert sich in den engen Strassen der fremden Stadt, die ihr abgeriegelt wie eine Kiste ohne Deckel erscheint. Erleichtert entdeckt sie die Anzeige der etwas älteren Carral und entschliesst sich dazu, das freie Zimmer in einer ehemaligen Brauerei zu beziehen. Durch die Wände der renovierten Halle hört Jo sämtliche Geräusche ihrer Mitbewohnerin. So entstehen Szenen, in denen die Frauen sich beim Gang auf die Toilette belauschen. Und auch die Körpergerüche verbreiten sich in der ganzen Wohnung – die papierdünnen Spanplatten erlauben keine Privatsphäre.

Jenny Hval «Perlenbrauerei», aus dem Norwegischen von Rahel Schöppenthau, und Anna Schiemangk, März Verlag, 166 Seiten, CHF 31.90, ISBN 978-3-7550-0003-7

Ein ähnlicher Eindruck entsteht beim Lesen dieser Schilderungen: Es wird einem, als ob sich der Gestank vom Papier löste und man ihn selber riechen könne. Solche Grenzüberschreitungen sind durchaus gewollt und werden von der Autorin durch alle Ebenen des Roman gezogen. Allmählich beginnt Jo die Bewegungen von Carral nachzuahmen, spürt ihren Schmerz und ihre Erregung, fühlt wie sich ihre Körper synchronisieren. Und während sich die zwei Frauen einander annähern, beginnt die Wohnung selber zu wuchern: Gras drängt sich zwischen den Bodenbrettern hindurch, Pilze und Moos wachsen an den Wänden. Da lässt sich immer weniger zwischen Realität und Traum unterscheiden – bis sich alles zu einem Geflecht verbindet.

 Mit Metaphern aus der Natur und biblischen Motiven evoziert Hval eine zunehmend beklemmende und mystische Stimmung. Neben Äpfeln und Schlangen ist es vor allem die ehemalige Brauerei, die an die Geschichte vom Sündenfall denken lässt. Auch Carral und Jo vergleichen die Wohnung spöttisch mit dem Garten Eden: Sieht das hier aus wie das Paradies, oder was? Tatsächlich stellt man sich das Paradies wohl eher anders vor. Die Wohnung ist kein Garten mit reifen Früchten und idyllischen Lichtungen: Es fühlte sich an, als ob die Brauerei in einen grossen, nassen Tank verwandelt worden war, der darauf wartete, dass Carral und ich zu verwesen begannen: Ein verfaulter und stinkender Garten Eden.

Eindringlich beschreibt die Autorin das Verrotten der Wohnung. Wie sich in dieser modrigen Umgebung eine Liebesgeschichte entspinnen soll, scheint zunächst schwer nachvollziehbar. Doch es ist eine Erotik der Verschmelzung, die Hval inmitten des Vergehens überzeugend ins Bild setzt. Jo und Carral verwachsen wie ein Netzwerk von Pilzen, durchdringen einander wie die Äste eines Baumes: Dann braust es durch mich hindurch, ihre Stiele und Finger und Adern breiten sich durch meinen ganzen Körper aus wie ein neues, weiches Skelett. Wenn die Frauen gemeinsam im Bett liegen und Carral dabei die Kontrolle über ihre Blase verliert und uriniert, legt Hval in ihre Beschreibung einen sinnlichen Unterton: Ein dünner, warmer Strahl rieselte von Carrals Körper gegen meinen Oberschenkel. Doch Jo ekelt sich nicht etwa vor den Körperflüssigkeiten von Carral; für sie sind sie Ausdruck von Nähe und Intimität.

Das von Rahel Schöppenthau und Anna Schiemangk erstmals ins Deutsche übertragene Debüt unterläuft klug die Motive der verhängnisvollen weiblichen Verführung und der verbotenen Lust. Wir begegnen in einer der Programmperlen des wieder belebten März-Verlags zwei Menschen, die sich begehren, die sich gegenseitig probieren. Erst die Erfahrung der Verschmelzung, ob phantasiert oder wach erlebt, erlaubt es Jo, ihre Sexualität zu entdecken. Das Verderben schafft so die Grundlage für organisches Wachstum und Selbstermächtigung. Denn nur wenn die Lasten des Sündenfalls überwunden sind, kann wirklich Neues entstehen. Oder wie Jo sagt: Ich sah mich selbst nach dem Sündenfall aufräumen.

(Dieser Text entstand im Rahmen eines Seminars zur Literaturkritik im Frühjahr 2022 an der Uni Basel, Seminarleitung: Daniel Graf, Literaturkritiker beim Republik Magazin.)

Jenny Hval, geboren 1980 in Oslo, hat Kreatives Schreiben und Performance in Melbourne, Australien studiert. 2006 ist ihre erste EP «Cigars» erschienen. Seither hat Jenny Hval fast ein Dutzend Platten aufgenommen, die mit allen wichtigen nordischen Musikpreisen ausgezeichnet wurden. «Perlenbrauerei» ist ihr erster Roman, der von der norwegischen und englischsprachigen Presse gleichermassen gefeiert wurde.

Rahel Schöppenthau, geboren 1989 in Berlin, studierte Skandinavistik an der Humboldt-Universität. Sie arbeitet als Schauspielerin und realisiert eigene Kunstprojekte.
Anna Schiemangk, geboren 1992 in Berlin, studierte Skandinavistik und Nordeuropastudien in Berlin, wo sie heute als Texterin arbeitet.

Webseite der Jenny Hval

Beitragsbild © Baard Henriksen

Pobry «Russland verstehen mit Tarkowski», BLOX, 2

Mit Tarkowskis Filmsprache lässt sich erfassen, was das russische Wesen zuinnerst ausmacht. Seine Filme lese ich in einem Stück, da gewisse Symbole in ihnen allen immer wiederkehren: Verkohlte Holzwände, vereiste Holzscheite, bemooste Treppenstufen. Aufgescheuchte Tiere, aufgescheuchte Menschen. Sie waten durch Morast, rennen hin und her ohne ersichtlichen Grund. Eine Aufnahme, die zeigt, wie die Rote Armee durch den Sywasch-See watet, der wohlgemerkt in der Ukraine liegt, soll den Regiesseur zu Tränen gerührt haben. Sehr oft treten Wasser und Feuer bei ihm gleichzeitig auf. Tarkowskis Filme erscheinen mir wie Ikonen in Bewegung: Ein Feuerspan leuchtet über einer Wasserschale, Pferde äsen Äpfel im Regen, Laub löst sich im Wind vom Morast wie Schuppen, eine Gaslampe geht aus, eine antike Fischfigur ruht unter fliessendem Wasser, Seepflanzen wiegen sich in der Strömung. Der Wind weht heran, als die junge Mutter die Rückkehr ihres Mannes von der Front erwartet. Auch die Tartaren schiessen in Wellen wie ein Sturm über die Hügel. Damit thematisiert Tarkowski ein Lebensgefühl, das Russland mit Europa gemein hat. Nämlich die Sorge, dass eine Volkshorde unerwartet aus der Ferne heranbricht und die Einheimischen überrollt. Wie eben jetzt russische Truppen in der Ukraine. Bei mehrmaliger Lektüre der Filme fallen schliesslich Situationen auf, in denen die Farbe Weiss vorherrscht: Tiere läppeln Milch. Ein Stilleben mit Milch und Kartoffeln, oder ein weisser Krug mit Goldrand, hindrapiert auf hellblauem Tuch. Von einer weissen Vase ist die Rede, mit blauen Blumen drauf. Eine Schranktür öffnet sich knarrend und legt ein grosses Glas mit Milch frei. Ein Kind mit weisser Taube. Ein Kind mit gläsernem Milchkrug. Kampfflieger peitschen über die Landschaft, die Menschen stieben durcheinander, hin und her, ein Glaskrug mit Milch schlägt am Boden auf. Eine Schwangere liegt in weissen Laken und Tüchern gebettet wie in einem Bad. Ein Kind sagt, es träumte unter dem Apfelbaum von einem weissen Krankenhaus. Milch fliesst aus einer Flasche am Boden. Ein weisser, netzartiger Schal liegt im Dreck. Eine weisse Gans fliegt kreischend auf, als Tartaren und Russen sich wie Ameisen im Kampf vermischen. Ein Kind mit übernatürlichen Fähigkeiten trägt einen goldenen Schal.

Zu erwägen ist, dass das Auftreten dieser Bilder auf Zufall beruhen könnte. Dann wäre diese Sammlung meiner persönlichen Aufmerksamkeit geschuldet und sagte nichts über den Regiesseuren aus. Diese Motive treten allerdings nicht beiläufig auf. Vielmehr nimmt die Kamera sie geduldig in ihren Brennpunkt und lässt Zeit verstreichen, wie so oft bei Tarkowski, auch wenn diese Motive keinerlei Einfluss auf die Handlung nehmen. Also kommt ihnen ohnedies eine tragende Bedeutung zu. Gegen Ende von «Rubilov» filmt Tarkowski Ikonen, die man während des Films nie sah. Dabei sucht die Kamera ein unscheinbares Symbol abseits der wichtigen Partien einer Ikone und bleibt darauf ruhen. Als ich das zum ersten Mal bewusst sah, kam es mir vor, als brächte dieses Motiv die gesamte Filmaussage Tarkowskis auf einen Punkt: Es ist ein kleiner Vogel in weissen Linien auf pechschwarzem Hintergrund gemalt, als wäre er darin eingefasst wie in ein alchemistisches Gefäss. Damit er golden wird als Sinnbild eines guten, geprüften Lebens. Das Weisse steht traditionsgemäss für die innerste natürliche Reinheit einer Kultur. Es ist die Seele in ihrem Bemühen um ein gutes Leben: Die Braut vor dem Altar, das Linnen an der Sonne, das Kind mit der Milch. Dieses unendlich Zarte, von dem wir im Westen keinen Begriff mehr haben, erklärt die rohe Brutalität nach aussen. Je feiner, je zarter das innere Gut erlebt wird, das es zu bewahren gilt, desto heftiger die Gewalt, die zu seinem Schutz in Anschlag gebracht wird.

Und spätestens hier sollte klar werden, dass es bei allen Beteiligten gerade in einem Krieg um eben dieses Innerstes geht: Mutter und Kind. Die Familie. Die Gesundheit der menschlichen Seele. Daher heisst es bei Tarkowski: «Russland, Russland. Wie viel musst du ertragen.» Das lässt sich handlich auf andere anwenden, nämlich so: Europa, Europa. Wie viel musst du ertragen? Oder: Ukraine, Ukraine ….

BLOX