Noemi Somalvico «Ist hier das Jenseits, fragt Schwein», Voland & Quist

Allzu menschlich

In ihrem Debütroman «Ist hier das Jenseits, fragt Schwein» erfindet Noemi Somalvico einen Gott, der im Wohnzimmer eine Erde erschafft. Schwein und seine Freunde ringen dort mit tristen Alltäglichkeiten.

Gastbeitrag von Caterina John
Caterina John studiert Deutsch und Kulturanthropologie an der Universität Basel. Sie ist in verschiedenen Projekten zu kreativem Schreiben mit Jugendlichen involviert, besonders im SpokenWord-Bereich, und tritt selbst als Slam-Poetin auf.

In Schweins Wohnung ist es still, als hätte es geschneit. Ernüchternd beginnt die junge Schweizer Autorin ihren Roman, dessen Titel augenblicklich an eine Geschichte aus dem Hundert-Morgen-Wald denken lässt und wie eines der schönen Fernweh-getränkten Zitate Ferkels klingt. Somalvicos Roman ist keine Kindergeschichte, obwohl die Figuren darin fast ausschliesslich Tiere sind. 

Und obwohl zu Beginn drollige Bilder von einem Schwein mit Lippenstift und Lidschatten, Dachs mit Hornbrille und Reh im Badeanzug entstehen, so werden sie schnell durch die sehr realen und ernsten Gedanken und Probleme der Figuren verdrängt, sodass ihre tierische Bezeichnung beinahe als Eigenname durchgehen kann: Schwein wurde von Biber verlassen und ist wieder allein, gewinnt im Radio eine Wüsten-Reise, Reh kann Schwein nicht begleiten, denn sein Job, die kranke Mutter und eine scheinbar romantische Beziehung mit Hirsch halten es zurück. In einer heruntergekommenen Baracke in derselben Stadt tüftelt Dachs in seiner Werkstatt und erfindet (per Zufall?) einen Apparat, der ihn «hin» und «zurück» -bringen kann. Und so trifft Dachs im «Hin» plötzlich auf Gott, der mit seinem Fahrrad gerade auswandern wollte. 

Somalvico schreibt einen Roman, der lyrischer nicht sein könnte. Jeder Satz sitzt, klingt und hallt nach – trotz der absurden Bilder oder gerade deswegen. Tiere werden vermenschlicht, fahren Bus und lehnen Bettelnde peinlich berührt ab. Auch die Ortschaften, die im Roman genannt werden, kommen bekannt vor, doch wie die Tiermenschen stimmen auch sie mit unserer Realität nicht ganz überein: Schwein gewinnt eine Reise in die Halakari-Wüste, ginge jedoch lieber nach Las Gevas. Wortspiele und Witz bleiben trotz Poesie nicht aus oder entstehen gerade durch die tierische Zuschreibung. So erinnert sich Schwein an folgende Aussage Bibers: «Du bist zu nah am Wasser gebaut.» 

Mit seinem Apparat ist Dachs in Gottes Welt geraten, in der Gott ein depressiver, trainerhosentragender Hipster oder Nerd ist, der in seinem Wohnzimmer die Erde erfunden hat und seine Tage mit erdsehen verbringt. Seine Schwester bemitleidet ihn, will ihn dauernd zum Joggen motivieren und belächelt sein Flair für Kreise, die in seinem System auffällig oft vorkommen. Dass nun seine Erfindung bei ihm auftaucht und ihn siezt, schmeichelt und irritiert ihn zugleich. Dachs und Gott freunden sich an. Beim zweiten Besuch bringt Dachs Schwein mit, das viele Fragen an Gott stellt. Die drei verbringen mehr und mehr Zeit zusammen, bis Gott den Wunsch äussert, die Erde zu besuchen – ein Versuch, der scheitert, denn wohl kann er nicht Zurück, wenn er nie Hin gegangen ist.

Also beschliessen die drei Freunde, ins Jenseits zu gehen, das sich zuerst als endlose Wüste offenbart – bis sie in ein All-Inclusive-Hotel gelangen und dort verweilen, Tanzkurse besuchen, den Bananen beim Wachsen zusehen und sich in der Sonne bräunen. Schwein verliebt sich, Gott sieht zum ersten Mal das Meer und Dachs ist besorgt, denn sein Apparat wurde auf der Reise beschädigt.

Es entfaltet sich eine Geschichte, die aus einem Fiebertraum oder Drogen-Trip zu kommen scheint. Absurd, wunderbar und erschreckend vertraut sind die Gefühle von Freundschaft und Verbundenheit, die per SMS-Kontakt bis hin zu Reh auf der Erde führen. In seinen kurzen Episoden erinnert der Roman an die 2020 erstmals ausgestrahlte Animationsserie von Pendelton Ward und Duncan Trussel «The Midnight Gospel». Ähnlich wie die Serie verrückt der Roman unser Bild der Erde, Schöpfungsvorstellungen und -geschichten und unsere Befremdung inmitten eines unendlichen Universums. Schwein, Dachs, Reh und Gott finden zueinander und zu sich selbst. 

Noemi Somalvico ist ein Roman gelungen, bei dessen Ende eine Stille einkehrt, so als hätte es geschneit. Und diese Stille hallt noch lange nach.

(Dieser Text entstand im Rahmen eines Seminars zur Literaturkritik im Frühjahr 2022 an der Uni Basel, Seminarleitung: Daniel Graf, Literaturkritiker beim Republik Magazin.)

Noemi Somalvico, 1994 in Solothurn geboren, studierte Literarisches Schreiben in Biel, contemporary arts practice in Bern und ging dazwischen allerlei Beschäftigungen nach. Sie arbeitete für den Film, in Schulen, an Empfängen. Ihre Erzählungen und Lyrik wurden in Zeitschriften und Anthologien abgedruckt, im Dunkeln performt und im Radio vorgelesen. «Ist hier das Jenseits, fragt Schwein» ist Somalvicos Debütroman.

Autorin im Gespräch: Buchpremiere im Literaturhaus Berlin am 15.02.22

Beitragsbild © Tim Rod

Katerina Poladjan «Zukunftsmusik», S. Fischer

Im Takt der Zeit

Katerina Poladjans hochaktueller Roman «Zukunftsmusik» erzählt vom 11. März 1985, einem kalten Tag im fernen Osten Russlands – doch ein neuer Frühling steht kurz bevor. 

Gastbeitrag von Sarah-Sophie Engel
Sarah-Sophie Engel studiert Deutsche Philologie und Kulturanthropologie an der Universität Basel. Ihr Interesse an Menschen und gesellschaftlichen Themen führt sie oft zur Literatur.

Die Zukunft ertönt im Viervierteltakt. Chopins Trauermarsch schallt durch das Radio der Kommunalka an jenem Morgen, an dem Matwej schon früh in der Küche sitzt. Diese Küche befindet sich irgendwo tausende Kilometer östlich von Moskau, in Sibirien – mit etwa drei Stunden Zeitunterschied. Die Töne verbreiten eine finale Stimmung, mit der niemand wirklich etwas anzufangen vermag, denn noch weiss keiner, wer ging und was kommt.

Mit dem Tod des Generalsekretärs wird Gorbatschow das Amt ergreifen und den Zerfall der Sowjetunion einläuten – aber noch gilt weiter, jedes Tun der Bürger und Bürgerinnen ist dem grossen Plan gewidmet. In dem steht auch: jeder Bürger der Sowjetunion hat Anspruch auf neun Quadratmeter. Maria teilt sich mit Mutter, Tochter und Enkelin ein Zimmer. Ihr heimlicher Verehrer, Matwej, wohnt gegenüber und gleich nebenan der alte Professor, der später durch die Zimmerdecke flieht. Die Bewohner:innen der Zimmer am Ende des Ganges spielen auf der häuslichen Bühne kaum eine Rolle, abgesehen von ihrem guten Essen auf dem Herd, von dem sich immer mal wieder jemand heimlich ein Schälchen füllt. 

Auf dem engen Raum der Wohnung bekommt man voneinander einiges mit – vieles auch nicht. Die eigenen Träume werden bewacht und Erinnerungen in kleine Kästchen verstaut, wo sie niemand findet, ausser man selbst. Poladjan erzählt von der Angst bestimmte Dinge laut auszusprechen, von vergangenen und neu beginnenden Leidenschaften und der Sehnsucht nach Schokolade, einer neuen Gitarre oder einfach nur Freiheit. Sie erinnert an Zeiten, in denen die Politik den Menschen nicht gehört – so wie sonst eigentlich auch nichts – und skizziert angesichts der systemischen Enge den Spielraum des Alltäglichen und den Platz in den eigenen Gedanken.

Katerina Poladjan «Zukunftsmusik», S. Fischer, 2022, 192 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-10-397102-6

Maria gesteht Matwej, ein ganzes Lexikon der Angst könnte ich schreiben. Und doch bewahrt sie, trotz ihrer Sorgen, einen sanften Humor und eine Leichtigkeit, die sie träumen lässt von Tango unter Palmen und Ferien in Abchasien. Ihre Mutter ist erstaunt über die Naivität ihrer Tochter und stellt fest: Es gab keine Freiheit, dass das immer noch niemand begriffen hatte. Maria aber kann sie schmecken, die Freiheit. Nach langem Anstehen am Lebensmittelgeschäft, ohne erst zu wissen wofür, ergattert sie Krakauer Würste und auf dem Museumsboden entdeckt sie eine Paillette, ein Überbleibsel einer anderen Welt: Maria legte sich die Paillette auf die Zunge und hatte Gold im Mund. Ob die neue gelbe Bluse, Importware, ihr stehe, will sie wissen – jedenfalls hatte sie so eine noch nie.

Poladjan zeigt, wie unterschiedlich Menschen in ihrem alltäglichen Leben auf ein starres politisches System reagieren, das ihnen nichts schenkt und alles von ihnen verlangt. So ist Matwej stets bemüht, ein «guter Kommunist» zu sein. Und während Maria befürchtet, ihr Leben zu vergeuden und das Glück nie zu finden, schenkt Matwej ihr weiter Cognac ein, mit den Worten: Dass die Menschen immer noch nicht verstanden haben, dass persönliches Glück ohne Allgemeinwohl nicht möglich ist.

Was Poladjans Roman zugrunde liegt, ist die einfühlsame Beschreibung eines historischen Tages auf der Bühne der «kleinen Leute». Sie lässt die Leser:innen die Präsenz einer Politik spüren, die so weit weg scheint und doch eine Enge schafft, in der sich die eigenen Wünsche und Pläne nur schwer entfalten. Zwischen fein skizzierten Figuren finden sich starke Worte. Die zwanzigjährige Tochter, Janka, möchte keinen Mann, sie betet zu Gott noch viele Münder küssen zu dürfen und dafür, dass ihre Lieder gehört werden: Ich erinnere mich an ein Leben, das ich nie gelebt habe und von dem ich hoffe, dass es noch vor mir liegt.

Gegen Ende des Romans lässt Poladjan surreale Nuancen entstehen, die sich ganz ungezwungen einschleichen, was erstmal überrascht, da die Erzählung sonst so solide in der Geschichte verankert zu sein scheint. Allerdings inszeniert Poladjan damit genau diese unsichere Aufbruchsstimmung voller Möglichkeiten, die jener Frühlingstag bei den Bewohner:innen der Kommunalka auslöst.

Poladjan lässt die Leser:innen eintauchen in eine Welt, die zwar vergangen ist, sich aber auf 187 Seiten erneut für sie öffnet. Man ist umgeben von russischer Musik, einer Eiseskälte, liebevoll-witzigen und ernsthaften Dialogen, dem Duft von Schaschlik über dem Feuer. Und zwischen den Zeilen leuchtet die grosse russische Literatur hervor. «Zukunftsmusik» erinnert an die Vielschichtigkeit einer Gesellschaft, die, fernab ihrer Regierung, beim Lesen aufrichtiges Interesse weckt. 

(Dieser Text entstand im Rahmen eines Seminars zur Literaturkritik im Frühjahr 2022 an der Uni Basel, Seminarleitung: Daniel Graf, Literaturkritiker beim Republik Magazin.)

Katerina Poladjan wurde in Moskau geboren, wuchs in Rom und Wien auf und lebt in Deutschland. Sie schreibt Theatertexte und Essays, auf ihr Prosadebüt «In einer Nacht, woanders» folgte «Vielleicht Marseille» und gemeinsam mit Henning Fritsch schrieb sie den literarischen Reisebericht «Hinter Sibirien». Sie war für den Alfred-Döblin-Preis nominiert wie auch für den European Prize of Literature und nahm 2015 bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt teil. Für «Hier sind Löwen» erhielt sie Stipendien des Deutschen Literaturfonds, des Berliner Senats und von der Kulturakademie Tarabya in Istanbul. 2021 wurde sie mit dem Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund ausgezeichnet. «Zukunftsmusik» stand auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse 2022.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Andreas Labes

Nora Schramm «Die Geige verstecken» (Auszug), Plattform Gegenzauber

Zum wiederholten Mal hat das Literaturfestival Literaare Thun den länderübergreifenden Wettbewerb für Lyrik und Spoken Word TEXTSTREICH ausgeschrieben. Dieses Jahr in Kooperation mit dem Literaturmagazin Manuskripte aus Graz und dem Haus für Poesie in Berlin. 

«Die Geige verstecken» (Auszug) ist nicht der Wettbewerbstext, der exklusiv in der Literaturmagazin Manuskripte erscheint, aber ein freundlicherweise an literaturblatt.ch freigegebener Text:

 

«Die Geige verstecken» (Auszug)

Mein Gott, jetzt sitzt du da mit deiner Geige in der U-Bahn und hast fünfzigtausend weniger und dafür eine Angst

Jetzt hast du wirklich fünfzigtausend ausgegeben

Na und, sagst du dir

Na und

Fünfzig tausend für eine Geige

Fünf zig tausend für ein Stück Holz, das innen hohl ist

Das kann man doch keinem erklären

Deinen alten Freunden kannst du das nicht erklären

Neue hast du nicht

Du könntest sagen, das sei eine Geldanlage

Sicherer als Gold

Wovon kann man das schon behaupten, sicherer zu sein als Gold

Von dir nicht, du bist eine unsichere Anlage

Du schwankst

Die Pumps sind zu hoch

Du bist echt ein hoher Stapel

Du hast ein neues Kleid, du zupfst daran

Du weißt jetzt, dass es nicht zu deinem Mantel passt, weil du jetzt weißt, dass es verschiedene Schwarztöne gibt

Der Mantel ist tiefschwarz und das Kleid hat einen Lila-Blau-Schimmer

In den Kleidergeschäften werden dir jetzt Beratungen angeboten und du sagst nicht nein

Das hat doch nichts mehr mit Musik zu tun

Da hat dich doch was verlassen

Da hast du doch was übersehen, irgendwas nicht bemerkt

Jetzt fängst du schon wieder an, die Geige zu verstecken

Weil du dir eine für fünfzigtausend kaufen musstest und den Leuten nicht traust, weil du es ja weißt

Du weißt ja, wie sich der Neid anfühlt

Hungrig, geil, mit zu viel Spucke im Mund und einem steifen Nacken vom vielen Glotzen

Der Neid macht, dass du jemand sein willst, den du hasst

Oder dass du hasst, wer du sein willst

Jetzt hast du schon wieder die Angst auf dir sitzen

Du wirst geritten von der Angst

Die hockt dir auf den Schultern und peitscht dir den Hintern und trifft genau die Ritze

Du schmeißt die Angst nie ab, du machst andere Sachen

Du versteckst die Geige unterm Mantel

Du wirst jetzt immer einen Mantel tragen müssen, auch im Sommer

Du bist jetzt eine Angestellte und hast immer einen Mantel an

Das ist doch jetzt das

Das

Hier, das Ding

Wenn du die Angst abschmeißt, wie willst du dir dann beweisen, dass du jetzt eine von denen bist, die was zu verlieren haben, irgendein Ding

Du sagst jetzt Dienst zur Probe und Doppeldienst zum Konzert

Sicher und sicherer sind für dich blickdichte Adjektive geworden

Sie haben sich in deinen Wortschatz geschlichen und vor die Substantive gesetzt und du siehst die Substantive gar nicht mehr hinter ihnen

Du sagst, du hast es jetzt geschafft und hoffst, dass du bald auch mit dem Sprechen aufhören kannst, mit dir selber in der U-Bahn

Dass du einfach mal ein Buch lesen kannst und dabei einschlafen und dass dich ein Fremder weckt an der Endstation und dass ihr zusammen zurück fahrt und euch vorlest und dabei einschlaft, bis euch jemand an der Endstation weckt, ein Fremder, der euch auf dem Weg zurück was vorliest, bis ihr alle drei einschlaft und an der anderen Endstation geweckt werdet von einer Fremden, die liest und liest mit einer weichen Stimme und dann schläft, genau wie ihr und wenn ihr an der Endstation seid, weckt euch einer so sanft, dass ihr fast nicht aufgewacht wärt und setzt sich dazu und liest was vor und ihr habt alle die Köpfe auf fremden Schultern, und Hände voneinander im Schoß und schlaft vorsichtig zwischen euren Atemstößen und dann wird dem Vorleser der Kopf schwer und irgendwann kommt ihr wieder an, an der ersten Endstation und da ist alles schon wie immer geworden, es steigt eine ein und weckt euch, ganz schüchtern sieht sie aus und riecht gut und sie liest vor auf dem Rückweg, der gar kein Rückweg mehr ist und

Dass du einfach wieder runter fährst mit dem Aufzug

Das wäre doch kein

Naja das

Das wäre doch kein Ding

Du verdienst jetzt Geld mit Musik, sagst du dir selber ins Ohr

Fünfzigtausend für dein Arbeitsgerät

Andere haben Dienstwagen oder Dienstwaffen, sagst du dir

Du machst jetzt Online-Banking ohne Angst, ganz lässig bankst du hin und her

Das hat dir keiner geglaubt, du selber nicht, dass du einmal grüne Scheine aus dem Automaten ziehst, als wären es Fahrscheine für den Nahverkehr

Dass du mal den Nahverkehr bezahlst, das hätte keiner gedacht

Dafür hast du die Siedlung belogen

Hast gesagt, dass du schon verabredet bist, mit Leuten, die es gar nicht gibt, deinem Vater zum Beispiel

Denen hättest du das nicht erklären können, dass du eine Jugend lang Geige übst

Dafür bist du jeden Tag nach der Schule zu deiner Geigenlehrerin gefahren, zur Frau Zacharias

Die hat dich ins Gästezimmer gelassen und dir ihre Geige geliehen

Dass du üben kannst, ohne, dass es einer merkt

Dass du keine eigene Geige brauchst

Deine Mutter hätte das Geld irgendwie zusammengekratzt für eine schlechte Geige, aber die hättest du dann mit dir herumtragen müssen, das wäre ein Beweis gewesen, gegen den du nicht angekommen wärst

Dafür hast du dir den Bauchnabel piercen lassen, dass keiner merkt, dass du eigentlich eine mit einem heilen Bauchnabel bist, dass sie dir nicht auflauern, dass sie dich nicht abziehen

Dafür bist du aus der Siedlung raus, wo deine Mutter die Spritzen von deinem Bruder weggeräumt hat mit Handschuhen an und alles im Waschbecken verbrannt, die Handschuhe und die Spritzen

Obwohl man Plastik nicht verbrennen darf

Dafür bist du in eine andere Stadt mit einem historischen Stadtkern gezogen und ins Ausland und dann wieder zurück

Dafür hast du vier Jahre in einer Übezelle gehockt

Dafür wurde ein ganzer Keller ausgebaut, lauter Zellen, in die man die Musik mit den Studenten sperrt

Dass du den Nahverkehr bezahlst, wo sowieso nie kontrolliert wird, weil die Leute sich selber kontrollieren

Du warst mit der Musik eingesperrt, als wäre euer Aufzug stecken geblieben

Ihr wolltet zusammen hoch fahren, oder vielleicht war es Zufall

Vielleicht habt ihr euch doch erst so richtig im Aufzug kennengelernt, als du schon die Knöpfe gedrückt hattest nach oben

Die Musik hat dich so zart angeschaut, dass du ihr nichts abgeschlagen hast

Die wollte immer alles von dir, du musstest deine Tasche ausleeren und aus deinen Schulaufsätzen vorlesen

Die Musik hat dir versprochen, dass sie etwas hat, was du willst, aber sie hat nie gesagt, was das sein soll

Du hast der Musik alles geglaubt

Die hatte manchmal eine Zartheit

Um die hast du sie beneidet, weil du damals schon gewusst hast, dass du dir diesen Zartheitsluxus nicht leisten kannst

Die hat gestrahlt und du nicht, die hat dich bestrahlt bis du ganz warm geworden bist und irgendwie

Transparent

Irgendwie zart

Zartsein war ja immer so eine Idee von dir, die perverseste, die du je hattest

Von acht bis achtzehn Uhr, sechs Tage die Woche warst du in der Übezelle

Hast geübt, zärter zu werden, dass man dich nicht raus hört, aus der Musik, weil es größenwahnsinnig wäre, zu glauben, du hättest Mozart was hinzuzufügen

An dem anderen Tag hast du dich nutzlos gefühlt und bemerkt, dass man sonntags nicht einkaufen kann

An dem anderen Tag bist du vorm Netto gestanden und die automatische Glastür hat sich nicht auseinandergeschoben, du bist näher ran, wieder weg, die blieb zu

Da ist dir alles wieder eingefallen

Dass du eine feste Stelle im Orchester brauchst, die Öffnungszeiten, dass du dünn geworden bist, dass die Nadeln übrig bleiben, wenn man die Spritzen verbrennt, solche Sachen

Jetzt steigst du aus der Bahn und lässt dein Spiegelbild an der Scheibe sitzen, es ist so transparent wie du gern wärst, es ist das Bahngleis mit den ganzen Leuten, den Bänken, den Fliesen hinter deinem Gesicht

Auf dem Gleis krabbelt einer auf allen Vieren zwischen den Beinen der Leute

Einer der alles verloren hat, sein Alter, seinen Ausweis mit seinem Namen drauf, seinen Geruch, die Angst

Nur die kleinen dichten Locken hat er behalten

Es ist dein Bruder

Du weißt nicht, ob er dich erkennt, deine Locken hast du geflochten und eine Mütze drüber gezogen

Er schaut auch gar nicht her

Er war ja immer in Zuständen, die letzten Jahre, die ihr zusammen gewohnt habt, immer in Zuständen, solche, in denen er selber gar nicht mehr existiert hat, er ist verschwunden hinter seinen Zuständen, er war nichts anderes mehr als Zittern oder Krampf oder Kotze oder auf dem Rücken liegendes Lachen, das gegen die Decke knallt

Vor den Weihnachtsferien hatte dir die Frau Zacharias mal die Geige aufgedrängt, du solltest sie mitnehmen, dass du weiter üben kannst

Das hättest du ihr nicht erklären können, dass das nicht ging

Du hast überlegt, ob du die Geige auf dem Weg einfach stehen lässt und sagst, du hättest sie verloren

Aber in der Stadt warst du so stolz, eine mit dir rum zu tragen, dass du es nicht übers Herz gebracht hast

Du hast sie immer weiter mitgenommen

Als du von der Bahn in den Bus umgestiegen bist, hast du im Supermarkt eine große Tüte gekauft, mit einem Zipper, in der man Tiefgekühltes transportiert, hast die Geige aus dem Kasten genommen und den auf dem Supermarktparkplatz stehen lassen, hast die Jacke ausgezogen und die Geige darin eingewickelt und alles zusammen in die Tiefkühltüte gesteckt, die nicht mehr zuging

Dann bist du erst in den Bus eingestiegen, wo du angefangen hast, Leute zu kennen und hast dich unterhalten

Gefroren hast du, aber das Zittern hast du dir nicht erlaubt, bis du in der Wohnung warst

Dein Bruder hat nicht gefroren, der lag in seinem Zimmer mitten in seinem Zustand und hat gelacht und auf den Boden eingeschlagen

Und du hast im Zimmer nebenan die Geige festgehalten, die Stimme von der Frau Zacharias im Ohr, du sollst nicht so krampfen, nicht so klammern, beim Spielen, obwohl du noch nicht einmal gespielt hast, nur die Geige festgehalten

Und in denselben Ferien gab es den Tag, an dem es im Zimmer deines Bruders stiller war als sonst, als du dachtest, heute musst du dich nicht schämen, die Musik zu dir nach Hause einzuladen und hast dich nicht zurückgehalten, hast gespielt, ohne Angst, dass die Siedlung dich entlarvt, dir die Geige wegnimmt, hast bemerkt, dass das eine Amputation wäre, eine sehr schwierige Operation, die kaum einer kann und das hat dich beruhigt, man hat ja auch nicht ständig Angst, dass einem die Beine abgenommen werden und die Musik hat zu allem ja gesagt, hat dir alles erlaubt, du bist schier abgehoben vor Glück, bist schier Luft geworden und die Musik hat dich umarmt mit ihren Flügelchen, die Musik kann nämlich Luft umarmen, da warst du umarmt und trotzdem frei und hast gewusst, das kann dir sonst keiner geben, da hast du gewusst, dass du jetzt etwas weißt und als es dunkel war, bist du ins Wohnzimmer und da lag deine Mutter auf der Couch und dein Bruder war kein Zustand, sondern dein Bruder, und er hat ihr Isabel Allende vorgelesen und du warst sauer auf die Musik, dass sie dich so lange in deinem Zimmer in ihren Flügelchen festgehalten hat, dass du nicht mit deiner Mutter auf der Couch eingeschlafen bist unter dem fransigen Stehlampenlicht und dein Bruder hat gesagt, aus dir wird mal was, aus dir wird mal eine Musikerin, und er hat so gestrahlt dabei, da bist du der Musik hinterher, in den Aufzug eingestiegen

Nora Schramm (1993) studiert Theorien und Praktiken professionellen Schreibens in Köln. 2021 war sie Stipendiatin des 1:1 Mentoringprogramms am Literaturbüro NRW. Ihre Texte wurden in diversen Zeitschriften veröffentlicht, ihr Hörspiel FRIEDEN UND RUHE auf dem Theaterfestival «Poligonale» als szenische Lesung gezeigt.

Literaare Literaturfestival Thun

Beitragsbild © Siggi Herbst

Yael Inokai «Ein simpler Eingriff», Hanser Berlin

Kranke Tiere im Gehirn 

Yael Inokai erzählt in ihrem neuen Roman «Ein simpler Eingriff» von Gehirnoperationen, die psychische Krankheiten heilen sollen. Dabei wirft sie die Frage auf, wo die Grenze zwischen Heilung und Normierung liegt. 

Gastbeitrag von Nina Hurni
Nina Hurni studiert Deutsche Philologie und Politikwissenschaften in Basel. Ansonsten liest und schreibt sie und leitet Kreativworkshops für Jugendliche. 

Es ist eine seltsame Welt, in die uns Yael Inokai in ihrem dritten Roman entführt. Sie erscheint fremd und doch der uns bekannten viel zu ähnlich, unaushaltbar altmodisch und wissenschaftlich visionär. 

Ohne Zeit und Ort der Geschichte zu definieren, erzählt die Schweizer Autorin von der Krankenpflegerin Meret, einer mitfühlenden jungen Frau, die sich in der kalten Umgebung des Krankenhauses manchmal verliert und sich doch ihrer Aufgabe sicher ist: Durch die Eingriffe am Gehirn sollen Menschen, insbesondere Frauen, die an psychischen Krankheiten leiden, geheilt werden. Was bedeutet: wieder arbeitsfähig und gesellschaftstauglich gemacht. 
Dazu wird die angeblich problematische Stelle im Gehirn «eingeschläfert» wie «ein krankes Tier», worauf Wutanfälle, Schizophrenie und Depressionen verschwinden sollen. Was nach einem Science-Fiction-Plot klingt, hat durchaus medizinhistorische Vorlagen. Inokai verpackt diese in eine tief berührende und kritische Geschichte. 

Yael Inokai «Ein simpler Eingriff», Hanser Berlin, 2022, 192 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-446-27231-6

In der Logik des Krankenhauses, in dem Meret arbeitet, ist der Mensch Biologie, er ist Zimmernummer, und wenn jemand stirbt, bleibt nur ein Raum, der möglichst schnell geputzt werden soll, ein Koffer mit Gegenständen, um die sich irgendjemand kümmern muss. Das Hirn ist eine Landkarte. Alles was ich bin ist irgendwo verortet. – Dem Menschen wird jedes Geheimnis genommen, er ist ein Bündel Nerven, in denen allfällige Probleme angelegt sind. 
Merets Job hingegen ist es, die Menschlichkeit hineinzubringen. Sie hat mehr Zeit für ihre Patientinnen – und kommt ihnen dadurch näher, was Abgrenzung zum Teil unmöglich macht.  Von den anderen Schwestern wird sie gelegentlich dafür belächelt. 

Morgen werde ich verschwinden, erklärt eine Patientin vor der Operation. Ihre Wut wird verschwinden, berichtigt Meret sie. Und bald wird deutlich: so klar ist die Unterscheidung von psychischer Krankheit und Persönlichkeit nicht zu ziehen.  
Es ist eine Welt aus Regeln, an die man sich zu halten hat. Wer sich widersetzt, muss angepasst werden – oder bestraft. Meret arbeitet viel, Antrieb ist die Hoffnung an Fortschritt, an den sie glaubt. So erarbeitet sie sich Privilegien, und der Doktor holt sie mehr und mehr in sein Büro. 
Ab und zu besucht sie ihre Familie und zieht dazu ihr Kleid an, das sie «zu einer Tochter» macht. Auch in Merets Familie gibt es einen ganzen Katalog von ungeschriebenen Gesetzen. Nur die Schwester widersetzt sich allem und wird dadurch von Meret gleichzeitig geliebt und gehasst. 

Als nun Sarah als neue Zimmergefährtin bei Meret einzieht, beginnt sich vieles zu ändern. Die beiden Frauen kommen sich näher, und es entspinnt sich eine zarte Liebesgeschichte. Sarah ist es auch, die leise Zweifel in Merets stabile Weltsicht zu streuen beginnt. Sie werden lauter, als eine Operation schiefläuft und eine junge Frau als leere Hülle ihrer selbst zurückbleibt. Dies sei der Preis für den Fortschritt, meint der Doktor. Dies ist kein Einzelfall, meint Sarah, sondern ein grundsätzlicher Fehler der Behandlung. 

Inokai setzt das Skalpell an die schmerzhaften Stellen unserer Gesellschaft, indem sie diese überzeichnet – ohne jedoch karikierend zu werden. Und sie zeigt damit auf, dass wissenschaftlicher Fortschritt ohne gesellschaftlichen Wandel und ethische Auseinandersetzung uns in eine dystopisch anmutende Zukunft führen kann. 
Denn wenn Gehirne modelliert werden können, die Strukturen aber immer noch patriarchal sind, lesbische Liebe unerwünscht und das Funktionieren des Menschen als Arbeitskraft oberstes Ziel ist – dann wird die Medizin dazu benutzt werden, diese Vorstellungen zu zementieren. 

In Inokais drittem Roman leuchten ausgefallene Wortbilder zwischen nüchternen Sätzen, so wie Merets Wärme zwischen den getakteten Arbeitsschritten, wie der auf der Strasse gefundene Stuhl mit Zimmerpflanze im unpersönlichen Heimzimmer. Die Morgenstimmung im Schwesternheim wird beispielsweise so beschrieben: Auch der Gestank unruhiger Träume hing in der Luft, das Sandige, Erdige der Augen, aus denen die Unglücklichen den Schlaf zu reiben versuchten.
Inokai ist ein dichter und tiefsinniger Roman gelungen, der nachdenklich stimmt. Wir nehmen teil an Merets Weg, wenn sie zwischen Rebellion und Konvention hin und her stolpert, sich verliebt und distanziert, alle ihre Gewissheiten verliert und schliesslich einen Aufbruch wagt. Und so endet der zum Teil recht düstere Roman auch mit einem hoffnungsvollen «Ja». 

(Dieser Text entstand im Rahmen eines Seminars zur Literaturkritik im Frühjahr 2022 an der Uni Basel, Seminarleitung: Daniel Graf, Literaturkritiker beim Republik Magazin.)

Yael Inokai, geboren 1989 in Basel, studierte Philosophie in Basel und Wien, anschliessend Drehbuch und Dramaturgie in Berlin. 2012 erschien ihr Debütroman «Storchenbiss». Für ihren zweiten Roman «Mahlstrom» wurde sie mit dem Schweizer Literaturpreis 2018 ausgezeichnet. Sie ist Redaktionsmitglied der Zeitschrift PS: Politisch Schreiben und lebt in Berlin.

Beitragsbild © Ladina Bischof

Silvia Tschui «Vögel, frittiert»

Bei 36 Grad fallen einem Vögel tot vor die Füsse. Wenn einem wieder mal ein Vogel vom Himmel tot vor die Füsse fallen würde, denkt man, das wäre schön. Das wäre schön, denkt man, während man neben dem Grab eines Schriftstellers sitzt und auf die Hitze wartet, weil man dann am Anfang der ganzen Misère stünde. Und man wüsste noch nicht, was kommen wird, und man würde denken, oh, seltsam und irgendwie apokalyptisch, ein Vogel fällt tot vom blauen Himmel vor meine Füsse, und es würde einen nur ein leichtes Grauen befallen, statt dass es sich einem längst in jeden Knochen und jede Zelle gebohrt hätte. Und man würde nicht da sitzen und auf die letzte Hitze warten. Bei 27 Grad beginnt man schon leicht zu schwitzen. Und man hätte in diesem Moment vielleicht noch etwas tun können, wirklich etwas tun.

Und ausserdem hätte man etwas Frisches zu essen, so wie die Libanesen und Italiener in ihren Wäldern die da jeweils sassen, auf so Hockern, mit ihren Luftgewehren und auf alles schossen, was sich bewegte, also in der Luft, klitzekleine Singvögelchen, die sie dann frittierten. Wenn man etwas frittiert, binden sich die Proteine, und mit Haut und Haar, nein mit Schnabel und Feder frassen sie sie auf, zuhauf, und man hat sich damals, als man noch reiste, gefragt, weshalb die das tun, weshalb die so stolz ihre Gewehre schwangen, weshalb die das tun, so zum stupiden Sport, und man hat sie verachtet. Wenn doch die Supermärkte voll sind, mit Fleisch und Tomaten und Gurken und Wassermelonen.

Auch Jahre später, als einem ein Vögelchen nach tagelanger Hitze tot vor die Füsse fällt, sind die Supermärkte voll mit Tomaten und Gurken und Wassermelonen unter Neonlicht, und es packt einen eine Ahnung dieses Grauens, draussen dörren Felder unter blauem Himmel vor sich hin, wochenlang schon, und Bauern erschiessen sich und der hartbackende Boden zeigt Risse wie man sie früher auf Hungerbildern in Äthiopien auf diesen Hilfekatalogen gesehen hat, die zu Weihnachten in Unmengen unsere Briefkästen fluteten, erst hochglanz, später politisch korrekter auf mattem Papier, draussen hat es geschneit und jetzt gibt es keine mehr.

Keine Post, bestimmt keine Äthiopier, wahrscheinlich kaum mehr Italiener und Libanesen, keinen blauen Himmel, keine kleinen Singvögelchen, die sangen vorher schon kaum mehr, frittiert haben sie sie, trotz Tomaten, Wassermelonen und Gurken in Supermärkten und ich habe mich gefragt warum nur, und sie verachtet, und später im Supermarkt ein Huhn gekauft, mit Zitronen, die es nicht mehr gibt und Tomaten, die es nicht mehr gibt, und Oliven, die es auch nicht mehr gibt, in einem Ofen gebacken, und später war man froh, wenn die Temperatur Abends unter dreissig Grad gefallen ist, und hat darauf mit Weisswein auf einer Terrasse unter blauem Himmel angestossen, und auf das Huhn, und war guter Dinge und hat Musik gehört und Geschichten erzählt und in die blauen Augen von einem Mann geschaut, hinter ihm der See, so dass man dachte, man schaue durch diese Augen dieses Mannes direkt in die grosse Abendbläue, und das war schön.

Als es die Farbe Blau noch gab, blau, ein Wort, das die Jüngeren nicht mehr kennen, genausowenig wie grün, als die Sonnenuntergänge zuerst so richtig kitschig schockpinkorange rot wurden und man das noch schön fand, bevor sich auch tagsüber zunehmend eine Art bräunlicher Schleier über den zunehmend nicht mehr so blauen Himmel legte, das Methan, sagten die Zeitungen, und einige Zeit lang gab es dann diese Vollspektralglühbirnen, dass man den Kindern immerhin in Bilderbüchern zeigen konnte, wie das Meer und der Wald einst ausgesehen hatten und man hat ihnen vorgeschwärmt, wieviele Abstufungen von Blau und Grün es gegeben habe, Türkis und Moosgrün und Petrolgrün und Flaschengrün und Apfelgrün und Ceruleumblau und Ultramarin wie nur schon der See, an dem man wohnt, jeden Tag eine andere Farbe gehabt habe und wie schön das ausgesehen hat im Frühling mit dem blauen See unter dem blauen Himmel hinter dem unglaublich frischen Grün dieser Bäume, deren Namen man vergessen hat, diese Bäume, die einst das ganze Mittelland bedeckten, und dass der See eigentlich blau war, und nicht braun, dass der Himmel blau war und die Sonne gelb, dass Wolken weiss waren, und jetzt kennen die Kinder unserer Kinder die Wörter «blau» und «grün» nicht mehr, weil es auch diese Vollspektrallampen längst schon nicht mehr gibt, schon bevor es auch keine Elektrizität mehr gab, und wir haben aufgehört zu erzählen, von Meer und blauem Himmel und Vögeln die flogen, als wären sie schwerelos, weil die Wörter den Jüngsten nichts mehr bedeuten, sie können sie nicht fassen, und uns schmerzen sie zu sehr, und man lacht, wenn auch bitter, man lacht sowieso oft nur noch bitter, wenn man daran denkt, wie man sich
über Konnotationen und Denotationen von Wörtern gestritten hat in Seminaren und wofür das Wort blau alles stand, und wie ist etwa der grösste Teil deutscher Dichtung noch verständlich wenn es etwa keine blauen Blumen mehr gibt?

Wie sie etwa der Schriftsteller beschrieben hat, neben dessen Grab man jetzt sitzt, ohne Gewehr, man braucht es nicht mehr, und auf die letzte Hitze wartet, sonst wären sie nie gegangen, die Kinder, die keine mehr sind, und deren Kinder, die die Wörter «grün» und «blau» nicht mehr kennen, und für die die Konserven nun vielleicht reichen bis in den Norden, wo es noch regnen soll, sagt man sich, und den man vielleicht erreicht, wenn man nur nachts wandert und tagsüber einen Unterschlupf findet, denn ab siebenunddreissig Grad verlangsamt sich der Herzschlag und man kann nicht für längere Zeit wandern, ohne sich der Gefahr eines Hitzschlags auszusetzen.

Man wartet auf die Hitze unter einem beigen Himmel, neben dem Grab des Schriftstellers, der die blaue Blume beschreiben hat, sie stand für Sehnsucht, und man hatte nie eine Chance, wir hätten nichts tun können, in einem System, das auf Fressen ausgelegt ist, mit endlichen Grundstoffen, auf kleinster biologischer Ebene schon, jeder Mikroorganismus, der einen anderen frisst, hat einen Vorteil, und dann entwickeln sich Belohnungswechselwirkungen in Hirnen, die einem Glückshormone verschaffen, wenn man ein Vögelchen vom Himmel schiesst, oder die Zähne in einen Hühnerschenkel rammt, und man hat noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen dabei, bei 39 Grad erweitern sich die Blutgefässe, man hatte keine Chance, weil man sich wahlweise gute oder rachevolle Überväter ausdenkt, die einem vom blauen Himmel herunter lächelnd zunicken und sagen, jaja, macht Euch die Erde untertan, denn inmitten aller kreisenden, glühenden oder längst toten Sterne und Nebel und Planeten ist es wichtig, dass Du, genau Du unter einem blauen Himmel deine Zähne in einen Hühnerschenkel rammst, und bei vierzig Grad beginnen bald Halluzinationen. Und man denkt nicht, wenn sich einer so eine Scheisse ausgedacht hätte, so ein krasser systemimmanenter Fehler, gehörte der gefoltert, bis ans Ende der Zeit gefoltert, weil die Wahrheit ist: Man hätte nichts tun können, nichts, man hatte nie eine Chance, mit Belohnungssystemen im Hirn, die und auf die Schulter klopfen wenn wir Vögelchen vom Himmel schiessen, und satt werden wir doch nie, ab einundvierzig Grad beginnen die Eiweisse in unseren Körpern sich zu binden, und da steht der Mann, seine Augen sind blau, ich sehe durch seine Augen direkt in die grosse Abendbläue, Ceruleum und Ultramarin und Türkis, und das ist schön, und die Kinder werden in der Nacht losgehen, nach Norden, der Schriftsteller steht daneben und sie nicken mir zu und niemand hätte rein gar nichts tun können und die Felder sind grün, moosgrün, apfelgrün, flaschengrün, ich bin ein Vogel, ich bin ein Vogel und ich fliege und ich singe und das ist schön.

(Originaltext erstmals erschienen 2022 in «20/21 Synchron» von Charles Linsmayer. Ein Lesebuch zur Literatur der mehrsprachigen Schweiz von 1920 bis 2020. Reprinted by Huber Bd. 40)

Silvia Tschui wird im August zusammen mit dem Musiker Philipp Schaufelberger (Gitarre) Gast beim Sommerfest des Literaturhauses Thurgau sein!

Silvia Tschui wurde 1974 in Zürich geboren. Sie studierte ein paar Semester Germanistik, absolvierte die Fachklasse Visuelle Gestaltung an der ZHdK und erwarb 2000 das Lehrdiplom Oberstufe. 2003 machte sie ihren Bachelor in Grafikdesign und Animation an Central St. Martins College in London und arbeitete vier Jahre als Animationsfilm-Regisseurin bei RSA Films in London. 2004 wurde ihre Arbeit für den British Animation Award nominiert. Zurück in der Schweiz arbeitete sie als Grafikerin, Journalistin und Redaktorin und schloss 2011 ihr Studium am Institut für literarisches Schreiben mit dem Bachelor ab. Zurzeit arbeitet sie als Redaktorin in Zürich bei Ringier.
Ihr erster Roman «Jakobs Ross» wurde mit dem Anerkennungspreis des Kantons Zürich ausgezeichnet und von Peter Kastenmüller fürs Theater Neumarkt adaptiert. Eine Verfilmung des Stoffs ist bei der Produktionsfirma Turnus Films in Arbeit. Ihr zweiter Roman «Der Wod» wurde von der Stadt Zürich 2017 mit einem halben Werkjahr gefördert. 2019 war sie damit für den Ingeborg Bachmann Preis nominiert (Videoportrait).

Beitragsbild © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Theres Roth-Hunkeler «Luftwurzeln», Plattform Gegenzauber

Die Zeit verdunstet. In den Parks sprechen Alte mit winterharten Vögeln und üben bereits die Litanei der Namen für den nahenden Frühling. Viele Freunde sind verschwunden in den letzten zwei Jahren. Himmelwärts, vermutlich, aber ohne Sang und ohne Klang. Die Begabten unter den Zurückgebliebenen, schüchterner denn je, skizzieren ein neues Heimweh und kaufen Postkarten: Meer und Himmel, abstrahiert in Strichen. Oder eine Carte Blanche, von ihnen dann beidseitig beschrieben: Lebst du noch? 
Die, die noch können, stolpern ungelenk über den Friedhof. Auf den Gräbern gutmütige Blumen wie Druckfehler im Gras. Viel Wind wühlt in fast tauben Ohren, fährt unter die Kleider der Schmächtigen und beinahe fällt sie der Föhn. Die Jahre mussten wir an der Grenze lassen, sagen die Toten.

In der Altersresidenz tobt das Heimspiel. Leib gegen Leben. Die Partie endet unentschieden. Es sind ja bloss Wörter, beschwichtigt Eine ihr einsilbiges Herz. Dieweil ihre Zimmernachbarin täglich Eigenschaften abgibt, eine nach der andern. Eine der Fröhlichen der zweiten Etage streicht unentwegt Teppichfransen glatt und stellt ein paar verpixelte Fotos nach. Flausen im Kopf, ausschliesslich. Ich muss hier schliessen, schreibt Einer im Einzelzimmer. Seinem Sohn. Schicke liebe Grüsse an dich und deinen Anhang. Dann ertränkt er seine Orchideen auf dem Fensterbrett, pünktlich wie jeden Tag. Um fünfzehn Uhr kommt die Pflegerin. Sie bringt Tee. Einen Lappen hat sie stets dabei. Für alle Fälle. Das sei doch keine Zuversicht, diese täglichen Überschwemmungen, stellt sie fest. Der Alte nickt. Stimmt, sagt er, und wir wissen wenig über Pflanzen. Stimmt auch, sagt die Pflegerin, vermutlich sind sie in einem der weichsten Momente entstanden.

Eine Glückliche lebt noch daheim. Ist bei sich. Dein Reich komme. Morgens, mittags und abends. Die Spitex. Die Augen wollen nicht mehr recht. Die Beine geben nur noch Kurzstreckentickets aus. Der Rest sei eine Sache des Willens. Und der Vorfreude auf den Frühling. Auf die Gartenarbeiten. Auf die Luft. Sie ist bald hundert Jahre alt. Sie macht täglich ein paar Übungen. Knie hochziehen, auf Zehenspitzen gehen, auf einem Bein stehen und dabei kurz die Augen schliessen. Nicht stolpern. Nicht fallen. Das sei im Alter das Wichtigste, sagt sie. Standfest sein. Im Gleichgewicht bleiben. Haltung bewahren. Ab und zu strauchle sie über die eigenen Regeln. Ich habe genascht. Der Herrgott werde ihr die lässliche Sünde nachsehen. Und, sie sei ready, im Fall. Jederzeit abholbereit. Dein Reich komme. Wobei, die Tulpen und die Narzissen in ihrem Garten würde sie doch gerne noch einmal sehen. Wenn sie es recht bedenke, seien Blumen schon immer ihre grösste Freude gewesen. Die Anemonen, die Osterglocken, der Sommerflor erst, die wilden Rosen, Astern und Dahlien im Herbst, und Erika und Christrosen schliesslich zu Allerheiligen auf dem Friedhof. Wo sie lieber nicht hin wolle. Sie wünsche, dass sich ihr letztes Bett im Garten befinde. Sorgst du dafür?

Und dann noch die uneinigen Paare. Einer von beiden ist aus dem Leim gegangen. Hat sich einen schlurfenden Gang angewöhnt. Kommt nicht mehr aus Morgenmantel und Pantoffeln raus, nicht mehr hoch aus dem Lehnstuhl. Zeitung und TV. Zwei, drei Gläser Rotwein, Weissbrot, Käse und Trockenfleisch. Dem andern ist das zu zäh. Nun beissen sie sich aneinander die Zähne aus. Getreulich.

Theres Roth-Hunkeler, geboren 1953 in Hochdorf Luzern, lebt heute in Baar bei Zug und oft in Berlin. Schreiben, Lesen und Literaturvermittlung sind ihre Schwerpunkte, die auch ihre langjährige Lehrtätigkeit an Kunsthochschulen prägten. Die Autorin hat neben Erzählungen und journalistischen Texten fünf Romane publiziert, zuletzt «Allein oder mit andern» (2019) und das Text-Bild-Werk «Lange Jahre» (2020) mit Bildern der Malerin Annelis Gerber-Halter.
Zu «Geisterfahrten» (2021): «Die Autorin versteht es meisterhaft, uns sowohl das unmittelbare Geschehen der Gegenwart vor Augen zu führen wie dieses mit vergangenen und nachwirkenden Hintergründen so zu verbinden, dass die verschiedenen Zeitebenen fliessend ineinander übergehen. So gelingt ihr ein psychologischer Familienroman, der auf kunstvolle Weise die faktische Realität der Vergangenheit mit dem Realismus einer fiktiven Gegenwart verbindet.» Daniel Rothenbühler

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Ayse Yavas

Angelika Klüssendorf «Vierunddreißigster September», Piper

Das Buchcover erlaubt eine dunkle Vorahnung: Der abgebildeten, durchaus noch im Leben stehenden Taube fehlt der Kopf. Kopflose Wesen kennt man aus Horrorfilmen, doch so schlimm kommt es dann doch nicht. Das Leben der Toten ist in Angelika Klüssensdorfs neuestem Roman «Vierundreissigster September» ein eher beschaulicher Ort. 

Gastbeitrag von Cornelia Mechler, Leiterin Verwaltung und Marketing im Kunstmuseum Thurgau, Moderatorin im Literaturhaus Thurgau

Der Roman beginnt mit einem Mord: «Sie hätte das Gewehr nehmen können, entschied sich aber für die Axt. Hilde liess sie auf Walters Kopf niedersausen, als wollte sie ein Holzscheit spalten.» Mit dieser Tat endet eine unglückliche Ehe, die zum Leidwesen der Frau nach einer Fehlgeburt auch noch kinderlos geblieben war. Hilde verschwindet im Schneesturm und gilt ab jenem Moment als vermisste Person. Walter aber kommt ins Reich der Toten und wohnt erst mal seiner eigenen Beerdigung bei. Schon hier zeigt sich der lakonische Witz der Autorin. Die folgenden Sequenzen schwanken zwischen schwarzem Humor, etwas Melancholie und einer Prise Heiterkeit.

Walter lebt nun auf dem Friedhof und trifft zahlreiche Bekannte wieder, die bereits vor ihm verstarben. Alle Verstorbenen sind in dem Zustand in ihre neue «Welt» eingezogen, den sie zuletzt innehatten. Bei Walter bedeutet dies: Er wandelt mit einem gespaltenen Schädel unter den Toten umher und hat nun viel Zeit, das Leben der Lebenden zu beobachten. Er wird zum Berichterstatter, zum Chronisten, wobei sich sein Bewegungsradius auf die Dorfgrenzen beschränken. Ihn selbst treiben drei entscheidende Fragen um: Wer war er früher? Wieso wurde er ermordet? Und wo ist eigentlich Hilde abgeblieben?

Angelika Klüssendorf «Vierundreißigster September», Piper, 2022, 224 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-492-05990-9

Im Dorf ist Hildes Verschwinden kaum ein Thema mehr. Einige Bewohner beschäftigt in diesem Sommer vor allem der angekündigte Besuch von Steven Spielberg, der im Ort einen Film drehen möchte. Das Warten auf die Ankunft des Starregisseurs beginnt, und da werden auch die pessimistischsten Träumer nochmals wach. Überhaupt ist auch das lebende Personal in diesem Buch ein sehr besonderes. Da gibt es die dicke Huber, das Rollschuhmädchen, Eisenalex und Bipolarchen. Jede und jeder im Dorf trägt eine mal mehr mal weniger schwere Lebenslast mit sich herum. Die eindrücklichen Charakterbeschreibungen werden getragen durch eine Grundsympathie der Autorin für ihre Figuren.

Der Wechsel der Erzählperspektiven ist sehr gut gewählt, das Leben der Toten steht damit immer in engem Bezug zu dem der noch Lebenden. Auch wenn Letztere nichts von ihren Schatten ahnen, so ist es für die allwissende Leserschaft ein äusserst kurzweiliges Lektürevergnügen.

Speziell auch dies: Die Toten können die Träume der Lebenden sehen, wenn diese schlafen. Da ist ein spannendes Nachtprogramm geboten, das vor allem Walter äusserst gelegen kommt. Aber auch in den Träumen der anderen kommt bei niemandem Hilde vor. Doch dann findet er eine wage Spur – und er muss erkennen, dass seine Frau ein ganz anderes Leben führte, als er es zu kennen meinte…

«Ein hintersinniges Meisterwerk über eine Zeit der Wut, Melancholie und Zärtlichkeit», so heisst es im Klappentext. Wahrlich, das ist nicht zu hoch gegriffen. Es gilt: Lesen und staunen!

Angelika Klüssendorf, geboren 1958 in Ahrensburg, lebte von 1961 bis zu ihrer Übersiedlung 1985 in Leipzig; heute wohnt sie auf dem Land in Mecklenburg. Sie veröffentlichte mehrere Erzählbände und Romane und die von Kritik und Lesepublikum begeistert aufgenommene Roman-Trilogie «Das Mädchen», «April» und «Jahre später«, deren Einzeltitel alle für den Deutschen Buchpreis nominiert waren und zweimal auch auf der Shortlist standen. Zuletzt wurde sie mit dem Marie Luise Kaschnitz-Preis (2019) ausgezeichnet.

Illustration leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Barbara Marie Hofmann «Gedichte», Plattform Gegenzauber

es winkt mir es zerstreut sich
es ist ein fremdes [ein weißes ein lichtes]
das sich von oben her in meine augen schiebt wimpern teilt
weiche wimpern zärtliche wimpern astig verästelnd
schiebt es sich teilt es schaut es mich an schau ich es an
hörige anschauung mit fremdaugen blauaugen astaugen
gehört mir sein blick
auch wenn es fremd ist gehört mir sein blick
sein ungetüm von blick
ein lichtes ungetüm das mir winkt und sich duckt
und springt nah und liegt
schon am hals am kinn
reicht mir bis zu den augen den wimpern
weichen wimpen zärtlichen wimpern
fremdlich schaut es zurück es winkt und blickt
zerstreut sich

 

 

Stelle neben jeden Stuhl einen zweiten,
neben jeden Becher einen dazu,
habe zwei gläserne Karaffen im Haus,
eine für Wasser, eine für Tränen,
giesse Sand in eine zweifache tönerne Schale.
Betrachte den Mond zweifach (zwei Monde) durch ein Fenster,
lege dich in dein Bett mit zwei Laken, zwei Kissen,
lasse neben dir eine Kuhle, schlafe, träume zwei Träume.
Wache.
Am nächsten Tag, gehe aus dem Haus,
trage zwei Mäntel, einen am Körper, einen am Arm,
kaufe zwei Hüte, zwei Zeitschriften,
setze dich in ein Café an der Ecke einer Straße,
lege Hüte und Zeitschriften (alles) ab,
lies die Nachrichten des Tages.

Warte.

Stehe auf und lasse den Hut zurück, die Zeitschrift,
hänge einen Mantel an die Bushaltestelle,
gehe die Straße (alleine) entlang zurück in dein Haus,
trink ein Glas mit Wasser aus einer Karaffe.
Betrachte dein Bett, ein Kissen, ein Laken, des Nachts: den Mond.
Füge die zweifache tönerne Schale zu einer ganzen zusammen.
Giesse Sand hinein.

Warte.

 

 

Seit du fortgegangen bist
fehlt in meinem Zimmer der Platz für Mondlicht.
ist es windstill ist es vor der Tür.
scheint die Luft weniger nahrhaft.
singen keine Vögel mehr.
schweigen die Kälber.

Seit du fortgegangen bist
habe ich in Ermangelung an Wärme angefangen
Bäume zu züchten, aus einem Birkenzweig in einem Topf.
kann ich keine Fenster mehr schließen, keine Türen.
hab ich dich erkannt in der Leere einer Ecke,
in meiner Achselhöhle
und hinter dem Vorhang, der sich bewegte.

Seit du fortgegangen bist
hat sich das Dunkel zu mir gelegt.
trägt jede Nacht dreizehn Stunden.
betrachte ich den Himmel mit aller Aufmerksamkeit.
lebe ich in erkalteten Tagen.
habe ich die Hitze vergessen, die Sonne, das Meer.

Seit du fortgegangen bist
ist alles leise.
zerbrach ich keine Schale mehr, keinen Krug.

Sauber ist das Haus.
Die Laken still und glatt.
Keine Krume Brot
unter dem hölzernen Küchentisch.

Seit du fortgegangen bist
wartet alles auf Rückkehr.

 

 

gibt es
in deinem herzen
ein regal
in das du
dinge stellen kannst
wie es dir gefällt
von unten
nach oben
und nebeneinander
und du kannst sogar
eine lücke lassen
für etwas
das fehlt

 

ich trage meine träume mit mir in einer tasche meines
mantels ich trage diesen mantel immer ich lege ihn nicht
ab auch nicht in geschlossenen räumen ich behalte
meine träume bei mir wohin ich auch gehe

 

was bedeutet glück?
bitte sag es mir langsam.
ich möchte mir

notizen machen.

 

Barbara Marie Hofmann (*1988) ist Autorin und Künstlerin. Sie schreibt Lyrik und szenische Texte. Ihr Schreiben ist geprägt von Sprachspiel, Bildhaftigkeit und Eindringlichkeit. In der Umsetzung arbeitet sie oftmals mit mehrsprachigen Ansätzen und Kooperationen, die interdisziplinär (Videobild, Animation, Sound, Grafik, Tanz) umgesetzt werden. Sie schrieb und inszenierte mehrere szenische Lesungen und veröffentlichte ihre Lyrik in Anthologien und Magazinen. Nach Stationen in Paris, München und Konstanz lebt sie derzeit in Berlin.

Porträt der Autorin

Webseite der Autorin

Klaus Merz aus «firma»

Wir führen
nur sporadisch Buch.
Es geht um die Denk-
würdigkeiten.

 

20. Juli 1968

Fast dämmert es schon unter den hohen Bäumen der Badeanstalt, die ihre Kronen mit den nahen Friedhofsbäumen verschränken. Seit je schwebt leichter Karbolineumgeruch, vermischt mit einem Hauch von Urin, über den grünen Wassern. Frau Droz macht Kasse und räumt das Leckereienkabäuschen auf, sie will heim, läutet mit ihren Schlüsseln. Während der junge Heilsarmeeoffizier zu einem letzten Überschlag vom Einmeterbrett ansetzt, greifen wir entschlossen nach den Kugelschreibern und setzen unsere Signaturen unter den Mietvertrag des Gebäudes, der schon seit dem Morgen in doppelter Ausführung vor uns auf den Badetüchern liegt: Die Firma steht.

 

7. August 1969

Kurz vor Feierabend versetzt Alexander, unser kaufmännischer Lehrling, die junge Belegschaft in Unruhe: Es gebe kein richtiges Leben im falschen, habe er über Mittag in einem Nachruf gelesen. Und er fragt grübelnd nach, ob es das „richtige“ Leben vielleicht gar nicht gebe. Da unser Dasein schon von Grund auf „falsch“ angelegt sei: sodass es eigentlich nur das falsche im falschen geben könne. Was ja dann aber, minus mal minus ergibt plus, durchwegs wieder zum „richtigen“ führen müsse. Unsere Belegschaft atmet auf, hörbar.

 

2. September 1971

Im Frühjahr entsteht neben dem florierenden Betrieb eine Minigolfanlage, achtzehn Bahnen, was bei den Angestellten natürlich stets für unliebsame Ablenkung sorgt und auch wochentags „viele Sportbegeisterte samt Familie ans Schlageisen ruft“, wie der Berichterstatter des Tagblattes elegant festzuhalten weiß. – Am Samstag, es nieselt, ziehen wir das Milchglas hoch, bis über den Scheitelbereich.

 

16. Mai 1972

Wir werden durchleuchtet. Der Wagen der Frauenliga fährt vor – Schirmbild – und macht uns alle ein wenig krank. Zuerst sind die Männer an der Reihe, sie machen sich schon im Freien oben frei. Einatmen. Still- halten. Ausatmen. „Aufatmen“, sagen die Raucher und langen noch schnell nach einem Sargnagel, bevor sie wieder an die Arbeit gehen. „Nach dem Durchleuchten der Damen riecht es jeweils weniger streng im Wagen als bei den Herren, Angstschweiss halt“, sagt der Fahrer, er raucht eine mit. „Die strahlende Röntgenschwester hat uns ja alles ganz leicht gemacht“, sagen wir, versenken die Kippen im  Abwasserschacht.

 

19. Januar 1973

Irina, die wir kurz nach dem Scheitern des Prager Frühlings bei uns aufgenommen und dann gern in der Firma behalten haben, trägt ein Medaillon um den Hals. Wer sich denn unter dem feinen Golddeckel verstecke, wollen wir immer wieder von ihr wissen. Sie widersetzt sich den Neckereien konsequent, „zieht den Eisernen Vorhang zu“, sagt Graber und erschrickt, als Irina ihm ihr Kleinod vor die Nase hält: Es ist ein Bildchen des jungen Jan Palach, der sich aus Protest gegen den sowjetischen Einmarsch auf dem Wenzelsplatz selbst angezündet hat. Vier Jahre zuvor, auf den Tag genau.

 

19. April 1975

Wäre der Geschlechtsverkehr nicht offensichtlich in geschäftseigenen Räumen vollzogen worden, wir hätten darüber hinwegsehen können: Die beiden Beteiligten zeigen ihre erhitzten Gesichter, dahinter unscharf das Firmenlogo. (Vom Fotografen, der das Bild kurz nach Neujahr ans Schwarze Brett gepinnt hat, keine Spur.) Wir haben Stellung beziehen müssen und halten fest: Es ist Liebe. Unterm Reisregen der gesamten Belegschaft verlässt das Hochzeitspaar kurz vor Mittag guter Hoffnung die Kirche.

 

2. April 1978

In unserem Firmenkeller wird getrommelt und geschwitzt. Mittwochnachmittags ist schulfrei, Kambers Sohn hat sich mit drei Freunden und ihrem Schwermetall zwischen den Kartoffelhorden eingerichtet. Von fern nur erahnen wir Obergeschossigen, was es heisst, wenn einem Hören und Sehen vergehen soll. „Gezinst“ wird auf den 1. Januar, ein Gratiskonzert für die Belegschaft, so steht’s im „Vertrag“. Noch wissen wir nicht, ob wir uns darauf freuen oder davor fürchten sollen.

 

7. Februar 1980

Hutlose Lieferanten werden nicht empfangen! Das Emailschild dräut über dem Geschäftseingang unseres einzigen Untermieters, dem permanent klammen Hutfabrikanten mit seinen sieben Kindern. Aus Solidarität zu ihm und seiner kleinen Belegschaft, der zarten Modistin aus Graz, entschliessen wir uns, über der Tür des eigenen Betriebes eine entsprechende Warntafel anzubringen: Herzlose Lieferanten werden nicht empfangen. Der Nachbar dankt es uns mit einem Allwetterhut.

 

7. Januar 1981

Mit ihrem nigelnagelneuen Schweizer Pass in der Jackentasche hat unsere lebensfrohe Irina ihre erste, lang ersehnte Reise in die einstige Heimat angetreten. Anfangs Woche ist sie wieder aus Pilsen zurückgekehrt. Sie habe ihr Geburtshaus betreten, sei vorgegangen bis zum Wohnzimmer: „Auf der Ofenbank sitzt Grossvater, Onkel Pepin auf der Couch, Grossmutter hantiert wie immer in der Küche.“ Beim Erzählen steigen Irina Tränen in die Augen: „Aber ich“, sagt sie, „bin eine andere geworden. Eine Fremde.“

 

11. Juni 1981

„Zweierlei Blunzen. Und dann geschnetzeltes Herz, hat unser neuer Kunde beim Mittagessen im Salzamt in Auftrag gegeben, während mir in meiner kulinarischen Unentschlossenheit nur das Schnitzel (aber was für eines!) in den Sinn gekommen ist.“ – Fast habe er sich vor dem Schlachtverständigen ein wenig geschämt. Überhaupt sei es einer seiner anregendsten Kundenbesuche seit Jahren gewesen, berichtet Karl, der langjährige Aussendienstmitarbeiter, bevor er uns die Bestellliste der Wiener Firma, korrekt wie immer, durchfaxt.

Klaus Merz, geboren 1945 in Aarau, lebt in Unterkulm/Schweiz. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Hermann-Hesse-Literaturpreis 1997, Gottfried-Keller-Preis 2004, Aargauer Kulturpreis 2005, Werkpreis der schweizerischen Schillerstiftung 2005, Basler Lyrikpreis und Friedrich-Hölderlin-Preis (beide 2012) sowie zuletzt Rainer-Malkowski-Preis (2016) und Christine-Lavant-Preis (2018). Seit Herbst 2011 erscheint bei Haymon die Werkausgabe Klaus Merz in mehreren Bänden. 2020 ist mit der Erzählung «Im Schläfengebiet» ein Sonderdruck in bibliophilem Gewand und mit einem Begleitwort von Beatrice von Matt erschienen.

Beitragsbild © Fotowerk Aichner

Markus Bundi «Einer wie Lenz im Labyrinth» Ein Essay zum Werk von Urs Faes, der heute seinen 75. Geburtstag feiert

Heute feiert der Schriftsteller Urs Faes seinen 75. Geburtstag. Dass der Telegramme Verlag zu diesem Anlass ein Essay über das Werk dieses stillen Meisters herausgibt, ist löblich. Dass der Verfasser dieser Schrift Markus Bundi ist, mit Sicherheit einer der profunden Kenner hiesiger Dichtkunst, ist für all jene, die Urs Faes bereits schätzen, ein Glück, für alle anderen eine grosse Geste zur Einladung.

Seit mit «Sommerwende» 1989 Urs Faes dritter Roman erschien, ist dieser Hausautor bei Suhrkamp. Etwas, was nur wenigen vergönnt ist. Und dass in der Insel-Bücherei mit «Paris. Eine Liebe» und «Raunächte“ zusätzlich zwei literarische Preziosen erschienen sind, adelt den Autor, in einer Zeit, in der es für Schreibende nicht mehr selbstverständlich ist, sich in einem Verlag «zuhause» fühlen zu können. Urs Faes ist weder ein Autor der grossen Töne und auch keiner der reisserischen Themen. Keiner seiner vielen Romane wurde zum Kassenschlager, weil seine Bücher leise Töne anschlagen, kaum je plottorientiert sind und erst mit aufmerksamer Lektüre die Türen zu den angelegten Resonanzräumen öffnen.

Vor wenigen Wochen erschien bei Telegramme nun von Markus Bundi «Einer wie Lenz im Labyrinth». Freundlicherweise gestattete der Verlag literaturblatt.ch das erste Kapitel des Essays hier zu veröffentlichen. Als Leseangebot für all jene, die mit Markus Bundi durch den Faes’schen Kosmos reisen wollen und ein Geburtstagsblumenstrauss für den Autor: 

***

Ich bin unschuldig geboren,
aber irgendetwas ist schiefgegangen,
ich weiss nicht, wie das passiert ist.

Amélie Nothomb

«Wer am Rande der Tanzbühne steht, tanzt mit allen.» – Das schreibt Steffen dem Ich-Erzähler des Romans Und Ruth (2001). Oder schreibt Steffen das dem Ich-Erzähler im Roman – oder gar in den Roman?

Man sollte in einem Essay nicht mit solch einer Spitzfindigkeit anheben, die, weil sie gleich zu Beginn in den Fokus gerückt wird, womöglich nicht nur einer intellektuellen Pedanterie geschuldet ist, sondern darüber hinaus eine Komplexiät in sich birgt, der Leserinnen und Leser, wenn überhaupt, sich lieber behutsam annähern wollten als schon beim zweiten Satz zum Nachdenken genötigt zu werden. Nun, auch nach reiflicher Überlegung ist mir kein besserer Einstieg in den Sinn gekommen; denn in Urs Faes’ Erzählen geht es immer um Perspektiven, seine Prosa handelt explizit oder implizit von den Bedingungen der Möglichkeit des Erzählens. Das gilt zum Beispiel für die Differenz zwischen Erzählinstanz und Fokalisierungssubjekt:

Aber eine erzählte Kindheit, schrieb Steffen, ist nie eine kindliche Kindheit, weil ein Kind nie seine Kindheit beschreibt, sondern als Kind lebt. Und wenn es seine Kindheit erzählt, ist es kein Kind mehr und seine Kindheit folglich eine erfundene Kindheit, die einer so erfindet, wie er als Kind gern gewesen wäre, es aber bestimmt nicht gewesen ist.

Markus Bundi «Einer wie Lenz im Labyrinth» Ein Essay zum Werk von Urs Faes, Telegramme, 2022, 130 Seiten, CHF 21.90, ISBN 978-3-907198-56-8

Eine Schlüsselstelle aus dem Roman Und Ruth. Zum Ausdruck kommt nicht nur das zentrale Thema in Faes’ Gesamtwerk, das Erinnern, sondern auch die grundlegende Schwierigkeit im Umgang mit Erinnerungen. Die Ausführungen Steffens verweisen auf die Unmöglichkeit der Wiedergabe von Wirklichkeit, und sie handeln von der Suche nach einem Anfang: Wo sollte einer mit Erzählen beginnen, wenn nicht bei seinen Kindheitserinnerungen?

Dieser Frage ging Urs Faes bereits in seinem ersten Roman Webfehler (1983) nach. Der Titel ist Programm, nein, er ist Schicksal, wann immer man einen Schöpfer mitdenkt – und auf den Menschen angewandt: die Bedingung für jedwede Tragödie. Wer einst im Orient dem Handwerk des Teppichknüpfens nachging, achtete tunlichst darauf, einen Webfehler zu begehen – denn nur einer war unfehlbar, und das war kein Mensch. Ob wir nun, Shakespeare folgend, solcherweise Stoff sind, aus dem die Träume gemacht sind – welche Textur auch immer von uns sichtbar wird –, oder auch nur des menschlichen Treibens gewahr werden, der Makel, das Ungenügen, der Fehler ist stets offensichtlich, uns von vornherein eingeschrieben: »Es geht nicht mit den Menschen. Wir sind eine Fehlkonstruktion.« Das denkt sich Anne, eine der beiden Hauptfiguren des Romans. Und Bettina, die andere Protagonistin aus Webfehler, ergänzt:

Als hätte sich, früh und unbemerkt, in das Gewebe, das ich wurde, ein Webfehler eingeschlichen. Äusserlich ist er nicht zu sehen und fällt vielleicht gerade darum so schwer ins Gewicht. Es muss ein Webfehler sein, der nicht zu korrigieren ist, es sei denn, man zerstört das ganze Gewebe, löst es auf in die vielen Einzelfäden und setzt es neu zusammen.

Bereits in Faes’ erstem Roman sind mehrere Leitmotive zu einem Ariadnefaden versponnen. Das Bewusstwerden vom Verstricktsein in Geschichten, in kleine wie in große, führt direkt oder indirekt zu einem Schuldbewusstsein, das wiederum Abwehrreaktionen – Projektionen wie Substitutionen – hervorruft. Alkohol und Medikamente werden zu Brandbeschleunigern. Verstrickungen und Ausweglosigkeit führen zur Überzeugung, es müsse sich um einen Webfehler handeln, »der nicht zu korrigieren ist«. Eines der trefflichsten Sinnbilder für die Situation, in der vielleicht jeder Mensch schicksalhaft steckt, findet sich ebenfalls im ersten Roman, als Anne das Zimmer der Freundin inspiziert, und zwar in Form einer Blechfigur:

Am besten gefiel Anne unter all den Spielsachen ein Turner, der am hohen Reck ein Kürprogramm drehte: Handstand vorwärts und rückwärts. Felge, Kippe, nur den Absprung schaffte er nicht, blieb, wenn das Uhrwerk, das seine Bewegungen lenkte, abgelaufen war, an der Stange hängen.

Im Reckturner an der Stange, wie ihn Anne vorfindet, wie sie ihn sieht und versteht (wie Faes die Szene umsetzt), finden wir ein Paradebeispiel dafür, wozu Literatur imstande ist, uns nämlich ein Bild zu geben – oder mit dem altgriechischen Wort: eine Idee. Da hängt einer an der Stange, bleibt bei der Stange ein Leben lang, ganz egal, ob seine Zeit für das Programm – notabene handelt es sich um ein Kürprogramm – begrenzt ist. Er bleibt hängen. Gehen die Scheinwerfer an, reckt er sich, turnt, vollführt seine Kunststücke; ist die Zeit abgelaufen, wird er erneut auf Stand-by gesetzt.

Im Gegensatz zum Hamsterrad, das sich als Symbol für das Leistungsprinzip und den Konformitätszwang einer Gesellschaft etabliert hat, steht am Anfang nicht der Bewegungsimpuls eines Subjekts; der Turner an der Stange wird in Bewegung gesetzt, ungefragt. Er ist jeder Spontaneität und jeder Möglichkeit zur Selbstverwirklichung beraubt, von Beginn weg an die Stange gebunden – als wäre es der Lebensnerv. Oder doch ein hölzernes Eisen? So zeichnet Faes das Menschenleben in seinem ersten Roman denn auch weniger als ein Abstrampeln, sondern vielmehr als ein fortgesetztes Drehen um ein Zentrum, zu dem die Distanz jedoch stets dieselbe bleibt. Das Kreisen kostet das Subjekt zwar (Lebens)Energie, es dürfte früher oder später zur Erschöpfung führen, als Suchbewegung aber, zur Klärung der Sinnfrage, der eigenen Identität, bleibt es ergebnislos. Einmal in Bewegung versetzt, dreht sich jede und jeder im Kreis.

Der Frage nach dem Webfehler ging Urs Faes in seinem zweiten Roman Bis ans Ende der Erinnerung (1986) erneut nach, der, nebenbei erwähnt, einer Ruth gewidmet ist. Der Protagonist Moss leidet an einer Krankheit, die lange nicht genauer bezeichnet wird, die sich aber im Verlauf seiner Flucht als Pubertät herausstellt – oder genauer: als das Scheitern daran, aus der Pubertät herauszuwachsen, erwachsen zu werden. Es handelt sich um eine sehr hartnäckige Krankheit, die den Protagonisten Paul im Roman Alphabe des Abschieds (1991) ebenso befallen hat: »Noch immer staunte er, schien eingehüllt in den Kokon seiner Kindertage wie in einen Traum: nur nicht erwachsen werden.« Moss hinwiederum muss sich vorwerfen lassen, »jedem Zoll« seiner Kindheit nachspüren, sie in »tausend Farben« ausmalen zu wollen. Diese Spurensuche allerdings folgt einem Motiv:

Vielleicht bilde ich mir ein, dass man nur vergessen könne, wenn man versuche, jenen magischen Punkt zu finden, von dem alles ausgegangen sei.

Darin kommt die philosophische Hoffnung zum Ausdruck, letztlich den Kosmos zu verstehen, Prinzip und System, Ursprung und Entwicklung; wie schon René Descartes nach der einen »unerschütterlichen Gewissheit« fahndete, nach dem archimedischen Punkt, von dem aus die ganze Welt auszuhebeln sei, und schließlich im Zweifeln fündig wurde. Und nehmen wir für einen Moment Friedrich Dürrenmatt, den vielleicht wichtigsten Schweizer Autor des vergangenen Jahrhunderts, dazu, so stoßen wir in dessen Labyrinth (1981) auf folgendes Fazit: »Ohne das Wagnis von Fiktionen ist der Weg zur Erkenntnis nicht begehbar.« – Es könnte gut als Motto für Faes’ schriftstellerisches Schaffen stehen.

Moss, inzwischen in Gewahrsam der türkischen Polizei, scheint tatsächlich jenen »magischen Punkt«, den er dann als seinen »tiefsten Punkt« bezeichnet, den Ursprung aller Heimatlosigkeit, zu finden:

Ich sah mich als Kind, fünf- oder sechsjährig, spät in der Nacht durch das Haus meiner Eltern gehen, immerzu nach den Eltern rufend, die nicht da waren, ich irrte durch die Räume des grossen alten Hauses, öffnete die Türen, machte Licht, leer das Schlafzimmer der Eltern, die Betten unberührt, leer das Wohnzimmer und das Arbeitszimmer des Vaters, keine Spur, kein Lebenszeichen, ich rief in den Korridor hinaus, ins Treppenhaus, ich tappte vom Erdgeschoss über die Holztreppe in den ersten Stock, vom ersten in den zweiten Stock, wo nur unbewohnte Zimmer waren, die als Stapelraum dienten für altes Bettzeug und Kleider, die nicht mehr gebraucht wurden, für Stoffreste, die Mutter verarbeitete, es roch nach Mottenkugeln und Kampfer. Ich öffnete alle Türen, drehte die Lichtschalter an, Licht gegen die Gespenster, die ich unter Betten, Truhen, Schränken vermutete, hinter Vorhängen und Wäschestapeln, in Schubladen und Nachttöpfen; mit jedem Zimmer, das ich leer fand, wuchs das Entsetzen, das Gefühl des Ausgesetztseins, schutzlos ausgeliefert zu sein den lauernden Dämonen der Nacht, den Mördern und Dieben, den Fabelwesen und Geistern. Ich lehnte das Ohr lauschend gegen die Tür, die in den Estrich führte, glaubte ein Wischen und Kratzen zu hören, rannte zurück in den ersten Stock, stellte einen Stuhl ans Fenster, öffnete, kletterte auf den Fenstersims, schrie und schrie, hinaus in die Nacht, als müsste ich anschreien gegen die Welt, gegen das Entsetzen, gegen die Verlorenheit, ich schrie weiter, als in den Nachbarhäusern längst die Fenster geöffnet worden waren und erstaunte Gesichter zu mir aufblickten, ich heulte weiter, als die Eltern mich in die Arme nahmen und zu trösten versuchten. Und über Jahre blieb diese Angst, allein zurückgelassen zu werden: meine früheste Kindheitserinnerung.

Vier Sätze, die ersten drei im Sekundenstil gestaltet – als eine Erinnerung, in der jeder Schritt und jedes Geräusch, jede einzelne Empfindung aufbewahrt ist, sich für immer eingeprägt hat. Es sind insbesondere solche Textpassagen, die den Schriftsteller Faes schon in jungen Jahren als versierten Epiker auszeichnen, immer dann das Erzähltempo verlangsamend, wenn es gilt, eine Situation so präzise wie möglich und dem Gemütszustand der Figur entsprechend zu vergegenwärtigen. So dient der vierte Satz vornehmlich der Bestätigung des Leseeindrucks, eines Mitgehens und Mitfühlens, das vor allem eines evoziert: Angst. Die Angst, als Kind zurückgelassen und abgehängt zu werden, plötzlich allein dazustehen.

Die Szene erinnert nicht zufällig an ein Mädchen, das viel zu früh mit einem wesentlich älteren Baron vermählt, ihrer Jugend beraubt, an einem fremden Ort und von ihrem Mann alleingelassen, des Nachts von Angstträumen heimgesucht wird. Wenn Moss’ »früheste Kindheitserinnerung« in die oberen Stockwerke führt, Vorhänge in den Blick geraten und alsbald ein vermeintliches »Wischen und Kratzen« zu hören ist, dann sind wir im norddeutschen Kessin, sprich in Theodor Fontanes Roman Effi Briest (1894/95) angelangt, exakt in jener Beklemmung Effis, als sie mitten in der Nacht ebensolche Geräusche vernimmt, sich dazu Bewegungen der Vorhänge im Stockwerk über ihr vorstellt, erst träumend, dann wachend nachgerade in Panik gerät und aus ihrer Angst nicht mehr allein herauszufinden vermag.

Das Herausgerissenwerden aus der Idylle und der damit einhergehende Verlust der jugendlichen Unschuld – das ist der Anfang von Effis Leidensgeschichte; und es ist zugleich in mehreren Variationen die Ausgangssituation der Romane von Urs Faes. Anspielungen auf Fontanes Effi Briest finden sich in Faes’ Œuvre mehrfach; zuweilen explizit (etwa in Und Ruth) oder dann implizit, wie in der eben betrachteten Szene aus Bis ans Ende der Erinnerung. Die Empfindungen des Alleingelassenwerdens sind das eine, das andere aber sind die damit einhergehenden Vorstellungen. In Effis Worten: »Aber Einbildungen sind das schlimmste, mitunter schlimmer als alles.«

Urs Faes, 1947 geboren, lebt und arbeitet in Zürich. Seine Werke wurden vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Schweizerischen Schillerpreis und dem Zolliker Kunstpreis. Seine Romane «Paarbildung» und «Halt auf Verlangen» standen auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis.

Markus Bundi, 1969 geboren, studierte Philosophie, Literaturwissenschaften und Linguistik an der Universität Zürich und lebt heute in Neuenhof AG. Er arbeitete zehn Jahre auf einer Zeitungsredaktion und unterrichtet seit 2005 an der Alten Kantonsschule Aarau Philosophie und Deutsch. Er hat mehrere Romane, Erzählungen, Gedichtbände und Essays veröffentlicht; zuletzt den Roman «Die letzte Kolonie» (2021) und «Der Vater ist der Vater» (2021) zu Heinrich von Kleist. Als Herausgeber betreute er u.a. DIE REIHE im Wolfbach Verlag, und er verantwortet die Werkausgabe von Klaus Merz.

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau