Peter K. Wehrli

 «Der Schoop’sche Katalog», Plattform Gegenzauber

Peter K. Wehrli über Fotografien von Jürg Schoop

 

1.                    das Thema

das Thema ‘Schichten’, das in Jürgs Bildern abgehandelt wird, vom abblätternden Rost an den Eisenbahngüterwagen über die Plakatwandfetzen bis zu den Farbschichten, die sich von einer Geländerstange schälen, dieses Bildthema das nun über die Bilder hinaus zum Thema wird, wo ich feststellen muss, dass die Fotografie jeweils die letzte Schicht ist, in diesem jahrzehntelangen Häutungsprozess: Schicht ist sie.

2.                    die Fotografien

die frühe Collage von 1962, die seit mehr als drei Jahrzehnten an meiner Zimmerwand hängt und die mir deshalb wichtig ist, weil sie mich gelehrt hat, mit meinem Blick in Gros-Plans zu teilen oder in der Totalen zusammenzufassen, was ich nur dort tun will, wo Jürg die Fetzen aus vier übereinandergeschichteten Fotografien so herausgerissen hat, dass drei menschliche Köpfe unverhofft nach Aufmerksamkeit gieren, ganz als ob sie es müde wären Teil des Ganzen zu sein.

3.                    die Papierblätter

die Veränderungen, die der Wind auf den weissen Papierblättern von Jürgs „objets trouvés“, 1978, herbeiführt, die Blätter, Fetzen und Krumen, die er dauernd neu komponiert, dieses Nochnicht und Nichtwieder, das in fernen Kanälen meiner Erinnerung die verschollene Erkenntnis aufsteigen lässt: ‘Zwischen heute und gestern liegt nichts als ein Moment , – zwischen heute und morgen aber ein halbes Jahrhundert», diesen enigmatischen Satz, der wie kein zweiter den  Gegensatz von Augenblick und Dauer trifft, dieses immerwährende Thema aller Fotographie..

4.                   die Passion

die Wirkung des Bildes, die wichtiger ist als das Bild, sogar als  jede Form von Abbildung, und die Passion des Fotografen, die mitschwelt in seiner Fotografie, so heftig diesmal, dass ich den Totenkranz aus Katalonien von 1984 so sehe als hörte ich den Fotografen zu mir sagen: “Ich will nicht, dass wenn man fotografiert am Schluss dann doch nichts anderes als nur ein Bild übrigbleibt“.

5.                 die Mechanismen

das Erforschen der Mechanismen des Erinnerns, das Teil jeder Beschäftigung mit Fotografie ist, die Erfahrung also, dass ich, damit ich mich an die Porzellanrosen von São Tomé erinnern kann, diese Blume fotografiert haben müsste,

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und die von den Gesichtern in Jürgs Pariser Photografie, 1998, geweckte Erinnerung an Renatos legendäre Behauptung, der Gewinn des Erinnerns liege nicht in der Erinnerung an ein Geschehnis, sondern in dem möglicherweise lebensverlängernden Wiedergewinn der Zeitspanne, in der es geschehen war.

6.                    der Film

der Herbststurm, der Berge welken Laubs in eine Mauerecke des „Bellevue“
in Kreuzlingen peitschte, und der Fotograf, der sich 1983 – so stelle ich mir das vor – aus diesem Sturm nach Hause gerettet hatte und sich eingestehen musste, dass er ihn, diesen Herbstwind, erst erlebte als er den Film entwickelt hatte.

7.                    der Umgang

mein Umgang mit Sprache, den ich mir mit der Feststellung erklärte: “Ich schreibe mir herbei was ich nicht habe“, den ich nach tagelangem Betrachten der Bilder dieses schoopschen Kataloges auf den Umgang des Fotografen mit dem Bild zu übertragen versuchte (Fotografiert sich der Fotograf herbei was es nicht hat ?), was mir erst gelang, als ich  meine Feststellung übersetzte in den Satz: „Der Fotograf verleibt sich ein, was er fotografiert“.

8.                    die Pixels

die oft gemachte und doch jedesmal wieder abenteuerlich neue Erfahrung, dass eine gute Fotografie immer Gegenwart ist, auch wenn das Abgebildete längst vergangen ist, wie es in Jürgs Bild  ‘Im Wald’ von 1987 der Fall sein müsste, dieses Verblassen, das mich nicht nur deshalb beschäftigt, weil als Motto „Vanishing Pixels“ darübersteht.

9.                   das Licht

der Gegensatz zwischen Bild und Text, der mir nie grösser erscheinen wollte als jetzt wo ich für diesen schoopschen Katalog, nach dem Licht suche, das auf den Fotoplatten das Bild erzeugt, weil es mir – und dies erst würde die erhoffte sinnliche Deckungsgleichkeit erzeugen – nicht gelingen will, herbeizuführen, dass der Gegenstand den Satz erzeugt, der ihn beschreibt.

10.                  die Gewaltsamkeit

das Durstlöschangebot, das ‘Coca-Cola’ in Jürgs Aufnahme des sienensischen Papierkorbes von 1998 unabsichtlich und doch so äufsässig heftig vor meine Augen hält, dass die Gewaltsamkeit dieses Angebots meine Sprechmuskeln veranlasst, die Frage halblaut vor mich hin zu sagen: ‘Das Wesentliche ist das, was verlangt würde, auch wenn es dies nicht gäbe’.

11.                   der Satz

die Frage, warum mir wohl dieser Satz immer nur auf Englisch einfallen will, obschon er doch schweizerdeutsch gedacht worden war, und der mir nach langem ausgerechnet jetzt wieder einfällt, wo mich Jürg Schoops „Founded Pictures“ zur Feststellung veranlassen: „Je mehr man schaut, umso mehr sieht man“.

12.                  das Erleben

die Gegenwart, die immer Teil des Kunstwerkes ist, – sonst ist es lediglich ein Bild oder eine Fotografie -, diese jedem Erleben innewohnende Zeitform, die mir deshalb ins Bewusstsein kam, weil Dieter unser Gespräch an der Schifflände nicht enden lassen wollte, bis er die Gelegenheit bekam zu sagen, auch der Fotokünstler müsse von Imperfekt und Futur, gerade so viel einfangen, dass es sich lohne, in unserem umstrittenen Praesens  zu verweilen.»

13.                  die Decollage

der in Nr. 2 beschriebene widerspenstige Teil des Ganzen, der sich im Blick, der die Totale fasst, in der Bildebene verliert und genau jener Fleck ist, der bewirkt, dass die aus zufälligen Rissen entstandene Decollage sich  die souveräne Stuktur gibt, die ein japanische Schriftzeichen aufbaut: für mich formuliert es: Feuerfunkeln.

14.                   das Niemandsland

die Beklemmung des messerscharfen Ungefähren, dieses besonnen erforschten Niemandslandes in den Bildern aus Frauenfeld,2000, diese verhaltene Atmosphäre, die mich irritiert als betrachte ich nicht einen Bildraum sondern den Schauplatz einer Tat.

15.                  die Erkennbarkeit

die abstrakten Strukturen, die Jürg in seiner Fotografie jahrelang aus allem Gegenständlichen herausgearbeitet hat und seine Rückkehr zur „gegenständlichen“ Fotografie (als ob es das gäbe !), die mich nun angesichts der wirklichen Bürste im Fahrhof 1999 derart irritiert, dass ich alle Erkennbarkeit der Dinge korrigieren muss indem ich mir einrede: ‘Wüsste man was man sieht, so sähe man es’.

16.                 der Gegenstand

die Vermutung, die sich allmählich zur Gewissheit klärt, dass es Fotografien gibt, die deshalb unwiderruflich sind, weil sich in ihnen nicht in erster Linie der abgebildete Gegenstand zeigt, sondern das Licht, das die fotografische Abbildung ebendieses Gegenstandes erzeugt hat.

17.                 das Ungewöhnliche

mein ebenso aufgeregtes wie neugieriges Blättern in den «clou»-Nummern von 1959 auf der Suche nach Malereien und Photogaphien von Jürg Schoop aus jener Zeit, die sich mit den Bildern dieser CD vergleichen liessen, damit deutlich werden könne, wie weit die Zeit an diesen Bildern mitarbeite, und mein Verzicht aufs Weiterblättern, als mir klar wurde, dass die Fünfzigerjahre jene Epoche waren, in der das Ungewöhnliche noch nicht etwas unter Vielem war.

18.                 die Quadrage

das Zurückfallen in frühere Bilder, von dem ich früher einmal reden zu müssen glaubte und das jetzt wieder virulent wird, wo mir Jürg mit ‘Escala’,1999, zeigt, dass die Wege der Erinnerung durch Schichten und Ebenen führen werden, die jedesmal von einer anders eingerichteten Quadrage begrenzt sind.

19.                 die Hingabe

der Zwang zum Photoapparat greifen zu müssen und mit ihm dann auch zu fotografieren, diese Passion, die in der Serie der Türen von marokkanischen Elektrokasten zu derart bestechenden Bildern führt, dass ich jetzt begreife wie der Fotograph Robert Weibel die bereitwillige Hingabe an den Zwang begründen konnte: „Ich fotografiere! Wie wüsste ich denn sonst, dass ich nicht träume ?“

20.                 der Sucher

die in eine endlich wohltuende Erschütterung mündende Ahnung, dass der im Sucher sich darbietende Ausschnitt aus dem Strom Leben nicht den Ausschnitt zeigt, sondern das Leben, weil in einer guten Fotografie auch der kleinste Ausschnitt immer das ganze Leben enthält.

21.                  die Komposition

die Entwürfe, die Skizzen von Künstlern aller Sparten,  die das entstehende
Werk vorausahnen lassen und die Aufnahme der Blumen auf dem Miststock von 1986, die ebenso abgeschlossene Komposition ist wie verwegenes Formsuchen, dass sie mich zur bislang unbeantworteten Frage veranlasst, unter welchen Bedingungen (und ob überhaupt ?) Fotographie Entwurf sein könne.

22.                  der Lichtwechsel

das Ineinander von Kunstlicht und Naturlicht beim Tagesanbruch, den ich bislang als organischen Lichtwechsel erlebt habe, ganz anders als jetzt, wo ich fiebernd beobachte, wie die Morgendämmerung das Dunkel vertreibt, als schicke der Tag erste Schlieren seines Lichtes als Vorhut in die renitente Nacht hinein.

23.                 die Selbstverständlichkeit

die Fenster und die Türen, die – seien sie nun abgebildet oder nicht – Jürg Schoops immerwährendes Thema sind durch fünf Jahrzehnte hindurch, dieses Fenstersein und Türwerden, dieses Türsein und Fensterwerden, das mir jetzt plötzlich jene Frau im violetten Rock in Erinnerung ruft, die das Fenster auf die Rua do Carioca hinaus öffnete um auf den Balkon heraustreten zu können, mit jener Selbstverständlichkeit, als wolle sie uns beweisen, dass sich – vielen Ahnungen zum Trotz – überhaupt nichts ändere dadurch, dass hierzulande (also: dort) jedes Fenster eine Türe ist.

24.                  die Zeichen

die handschriftliche Angabe ‘Italien’ unter der Fotografie der verrammelten Türe von 1985 (und nicht etwa die Aufzählung der Städtenamen Rom, Florenz, Alba, Siena) die mich nun in das Reich aller jener
vielen Dinge, Gesten – und dazu gehört die Art, wie sich der alte Ezio auf den Kastanienstock stützt wenn er abends den Weg vom Dorf herunterkommt – Verhaltensweisen und Zeichen versetzt, die, obschon Carmine kaum eine Viertelstunde von der Schweizer Grenze entfernt liegt, doch so radikal Italien bedeuten, dass ich mich ertappe, wie ich carminensischsage wo ich italienisch sagen will, und dass ich deshalb versucht bin,  Schoops Aufnahme der italienischen Tür als eine carminensiche zu bezeichnen, weil ich das carminensische Wesen als italienischer erlebe als das italienische.

25.                  die Unschärfe

die Brille, die ich nicht auf hatte als mein Blick zufällig die in Nr. 2. beschriebene Collage streifte, und die mir den Eindruck von formaler Grossartigkeit verschaffte, weil erst die Unschärfe alle Bildelemente ineinander verfliessen lässt und nicht mehr zulässt, dass sich ein Detail – die drei Gesichter – als aufsässiges Realitätspartikel meldet.

26.                  die Oberfäche

die Unentschiedenheit zwischen Interpretationssucht und ihrer Parodie, mit der ich die Oberfläche von Jürgs florentinischer Fotografie von 1998 absuche um den Gegenstand aufzuspüren, der das Bedürfnis in mir ausgelöst haben könnte, angesichts dieser Decollage den abstrus erscheinenden Satz zu formulieren:  „Buchstaben werden Wörter werden, Bilder werden Gegenstand“.

27.                  die Unfähigkeit

die Unfähigkeit, angesichts meiner Lieblingstüre unter Schoops Türaufnahmen (jener von Rom 1978), den Eindruck in einen einzigen Satz zu fassen, wie es den eisernen Regeln der Katalogsprache entspräche, und mein Eingeständnis des Regelverstosses indem ich den verbotenen Abschnitt nun doch hinschreibe:
Wo alle Türen Rahmen sind, die lebensgrosse Bilder halten, gibt es keine Zeichen unter Glas. Ins Bild hinein und aus dem Bild heraus: der Rand ist Rahmen und ist keine Grenze, es führen alle Wege durch ihn durch. Ein gutes Bild ist stets ein Bild von allem, und ein Bild gibt es nie allein: Vorlage und Abbildung, – der Rahmen hält sie gegengleich. Und nirgends spiegeln sich Betrachter, weil jeder Gast in beiden Bildern ist“.

28.                 die Konturen

die elf Gegenstände im Bild von Barcelona, 1999, die danach gieren, beschrieben zu sein mit Wörtern, die so dicht ihre Körper füllen und so satt alle Konturen fassen, dass meine Sprache wie das Echo wirkt, das ertönt, wenn der Blick die fotografierten Dinge streift.

29.                 die Welt

die Kratzer, Striche, Risse und Sprünge im bearbeiteten Negativ von 1958, die mich an die Kratzer, Striche, Risse und Sprünge an der Zellenwand erinnerten, in denen der Gefangene den Flusslauf des Amazonas erkannte, die Schlingen der Seine und des Brahmaputra, und dazu erklärte, wenn die Welt die Ausmasse seiner Zelle hätte, würde er sich frei fühlen wie noch nie.

30.                  die Notwendigkeit

die quälende Insistenz, mit der sich beim Anblick von Jürgs marokkanischen Schwemmgutbildern die beiden Schlüsselsätze in die Quere kommen, jener des Mannes im Markt von Caruarú, ein Bild sei auf jeden Fall besser als kein Bild, und Peter Rosei’s beeindruckend vorgebrachter Anspruch, Bilder müssten  besser sein als ihre Vorlage, sonst seien sie unnötig,

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und die Beruhigung, die auch gleich doppelt eintrat, als erstens die Bilder ihre Notwendigkeit zu erkennen gaben und ich zweitens erkennen musste, dass Rosei eigentlich doch nicht von Bildern gesprochen hatte, sondern von Beschreibungen, die übrigens ja immer Bilder fassen.

31.                  der Zufall

die Pariser Fotografie von 1958 mit der zerfetzten Plakatwand, von der ein einigermassen unversehrter W.C. Fields lacht, dieses BiId, das ich deshalb nicht vergessen kann (nicht etwa, weil ich W.C. Fields Komödiantik verehren würde, sondern:), weil es erläutert, dass es nie der Gegenstand sein kann, der Kunstwerk sein will, sondern mein Blick, der ein Ding (das der Zufall zur Collage gemacht hat ) als Kunstwerk erleben will.

32.                  die Zeit

die Anschläge des Zirkus Bramarbasani, die mich daran erinnern, dass in der Schweiz die Zirkusplakate von den Wänden entfernt werden , sobald der Zirkus weitergezogen ist, und dass in den Ländern, in denen Jürg Decollagen fotografieren konnte, die Anschläge – Respekt ist es vor dem Wirken der Zeit ! – erst dann nicht mehr sichtbar sind, wenn sie die Sonne ausgeglüht, der Regen verwaschen und der Wind zerzaust hat.

© Peter K. Wehrli & wiedingpress

Der schoopsche Katalog“                           

Ja, Jürg Schoop ist Künstler. Und wenn ich sagen würde: Maler, Fotograf, Dichter, Objektkunstler, Komponist, so würde ich nur kleine Teile seines Tun nennen. Denn er ist Künstler. Als ich noch Teenager war, da war er viel mehr als das: Er war für mich der Inbegriff des Künstlers. Einer, der Kunst nicht nur machte, sondern sie auch lebte.
Und Ende der Fünfzigerjahre war er noch etwas mehr: Er war Chefredaktor der Zeitschrift „Clou“. Und weil ich damals gewagt hatte, eigene Gedichte einzusenden, wurde ich unverhofft zu einer Redaktionssitzung eingeladen. Dort habe ich Jürg Schoop kennengelernt.  Und da zu jener Zeit Schoops erster Gedichtband erschien „So tanz ich den Tanz“, wurden einige Zeilen daraus für mich sozusagen zum Aufruf der Solidarität: „…wo sollen wir Almosen flehn, wir am Leben trunken gewordene Narren?“  Damit hatte Schoop auch mein damaliges Lebensgefühl formuliert, lange vor 1968 als die Narretei sich dann mit Wut bewaffnete. Für uns war damals schon das Durchbrechen der Grenzen zwischen den künstlerischen Gattungen ein strikter Mut- oder Wutakt. Und Jürg hat  diesen Durchbruch auch mit Witz- durch Sinnschichtungen vollzogen.
Als ich 1968 meine Orientreise – weil ich den Fotoapparat vergessen hatte – mit Worten statt mit Bildern dokumentieren musste, (was als Initialzündung für den „Katalog von Allem“ wirkte) war das Tun und Lassen, die Ideen und die Haltung von Jürg Schoop noch so präsent in mir, dass sie sich in meiner Sehweise und meiner Auffassungsart niederschlugen, – mehr noch: Jetzt, wo der Katalog von Allem“ auf 2849 Katalognummern angewachsen ist, lassen sich 32 Nummern davon zum „Schoopschen Katalog“ zusammenfassen. Und damit sind nur jene Nummern gemeint, in denen Schoops Werke und sein Tun explizit genannt werden; wo Schoops Sichtweise und seine Art des Verarbeitens von Beobachtetem zum Zuge kommen, würde die Zahl der Nummern um ein Vielfaches zunehmen.
Nicht allein im Bildgegenstand in diesen „geschriebenen Fotografien“ steckt die Allusion an Jürgs sensibel wählenden Blick, auch im Rhythmus der Sprache, in ihrer Art von Farbigkeit, im Umgang mit Rhythmus und Klangstufe, in der Quadrage der Einstellungen (Totale oder Grossaufnahme) der geschriebenen Bilder, in möglichen Überblendungen und Einzelbildern, Zoom oder Schwenk oder Standbild, in allen diesen Erscheinungsformen liessen sich Nachwirkungen  von Jürgs künstlerischen Taten aufspüren und von seiner Sensibilität, die er mir vor sechs Jahrzehnten zu injizieren begann. Und auch dem Zufall, der sich ins Bild drängt, gilt es seinen Platz zu lassen. So erst kann sich das Widerspiel von Natürlichkeit und Künstlichkeit entwickeln.
Und übrigens: Schoop festigte es, dieses Spiel, schon früh in seinem legendären Satz: „Wenn man künstlerisch tätig ist, überlegt man sich nicht, warum und wozu man etwas tut. Man gehorcht einfach dem Trieb.
Auch dies hatte mich Jürg damals gelehrt.

Peter K. Wehrli, geboren 1939, Studium der Kunstgeschichte in Zürich und Paris. Reisen durch die Sahara und zur Piratenküste. Längere Aufenthalte in Südamerika. Redaktor beim Schweizer Fernsehen DRS. Tätigkeit als Herausgeber. Zahlreiche Veröffentlichungen, u.a. «Zelluloid-Paradies» (1978), «Eigentlich Xurumbambo» (1992), «Katalog von Allem» (1999).
Webseite von Peter K. Wehrli

Jürg Schoop, Ex-Maler, Collagist, Literat, Fotograf und Filmer seit 1952. Vorwiegend Autodidakt. Geboren 1934 in St.Gallen, aufgewachsen in Romanshorn. Lehre als Schaufenstergestalter in Arbon mit Besuch der Gewerbeschule St.Gallen (Lehrer Baus + Nüesch). Ab 1972 10 Jahre Aufenthalt in Zürich. Anschliessend Rückkehr in den Thurgau. Um die Unabhängigkeit sicher zu stellen, arbeitete der Künstler meist teilzeitlich in vielen Nebenberufen und schlug diverse Karrierenangebote aus. 1998 Kulturpreis des Kantons Thurgau. Letzte Veröffentlichung: «Brunnenpoesie», Schuber mit 50 Fotografien bei Orell Füssli.
Ausführliche Biographie
Webseite von Jürg Schoop

Lea Draeger «Wenn ich euch verraten könnte», hanserblau

Über eine Seele, die Krebs hat

Fremd im eigenen Körper: In Lea Draegers Debütroman «Wenn ich euch verraten könnte» hört eine Dreizehnjährige aus Protest auf zu essen. Im Krankenhaus beginnt sie, ihre Familiengeschichte zu schreiben.

Gastbeitrag von Dario Schmid. Dario Schmid studiert Deutsche Philologie und Französistik an der Universität Basel. 

Es ist eine Geschichte über krebskranke Seelen und zerstörte Körper. Über gewalttätige Väter und sexuelle Übergriffe. Über Integration und Verrat. Über Streit, Strafe und Schweigen. Während die Ärzte darum bemüht sind, das Mädchen wieder gesund zu machen, bricht dieses mit seinem Schreiben das Schweigen. Jeder ihrer Einträge beginnt mit Über – und so erfährt man immer mehr über die generationenübergreifenden Abgründe einer Familie, die von dem Vater bestimmt ist.

«Es gibt keine Geschichten, die von den Frauen in meiner Familie geschrieben wurden. Es gibt nur die Geschichte, die der Vater geschrieben hat.»

Der Vater – das ist zunächst der Urgrossvater des Mädchens, der Suizid begeht, danach ihr Grossvater. Der Vater steht aber auch für die patriarchalen Strukturen, die sich von Generation zu Generation durch die Familie ziehen: Zu Hause gelten die Gesetze des Vaters. Da ist der Vater der Grossmutter, der seine Frau mit Worten, die Töchter mit dem Gürtel schlägt, ihre Körper nach fremden Küssen absucht – und mit seinen Fingern prüft, ob sich der dunkle Schlund geöffnet hatte. Da ist der ebenfalls schlagende Vater der Mutter, der seiner siebenjährigen Tochter zeigt, wie sie ihm als gute Frau sanft über die Haare streichen musste und als böse Frau die Beine zu spreizen hatte.

Der Vater der Dreizehnjährigen hingegen ist anders – er wird von seiner Frau betrogen und zieht sich im Dachboden zurück; er hat Angst, dass man ihn verlässt. Verlassen fühlt sich das Mädchen auch von seiner Mutter, die Scham und Fremde bedeutet: Die schöne Frau, die meist nur geschminkt aus dem Haus geht, zieht die Blicke anderer Männer auf sich; ihre Aussprache und ihr Pelzmantel verraten die tschechische Herkunft. Die Tochter aber will nicht auffallen, sie will normal sein – sie will nicht, dass ihre Mutter ihre Mutter ist. Einmal nimmt die Mutter ihre beiden Kinder mit zu einer Affäre. Zehn Jahre später sprechen diese über das Ereignis – und dann ist nichts mehr, wie es mal war.

All dies prägt das junge Mädchen: Zurück bleibt eine Jugendliche, die schweigt, hungert, in der Psychiatrie landet – und sich ritzt. Eine Jugendliche, die sich fremd in ihrer Familie und im eigenen Körper fühlt. Eine Jugendliche, die ihre Schönheit verliert und hässlich wird – und im Krankenhaus wieder schön werden soll.

«Ich werde irgendwann aus dem Krankenhaus entlassen. Ich werde nach Hause gehen, und alles wird so sein, wie es war. Ich meine, bevor ich hässlich wurde. Ich weiss, dass alle das erwarten.»

Lea Draeger «Wenn ich euch verraten könnte», hanserblau, 2022, 288 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-446-27286-6

Unter dem Vorwand, zeichnen zu wollen, erhält sie Stift sowie Papier und beginnt zu schreiben. So entsteht aus dem Schreiben über die familiäre Vergangenheit und den Beschreibungen zu ihrem Aufenthalt im Spital nach und nach eine Zeichnung, die das Jetzt und das Geschehene vereint. Ein kompositorisches Wechselspiel, das für Spannung und Abwechslung sorgt, aufgrund der ähnlichen oder gar identischen Verwandschaftsbezeichnungen und der vielen Spitznamen beim Lesen aber auch Konzentration erfordert.

Die Debütantin Lea Draeger präsentiert ein knapp 290-seitiges eindringliches Sprachwerk: Mit einfachen, aber passenden Worten malt diese lebendig wirkende, teils grässlich intensive Bilder. Die sprachlich schönen Sätze legen sich über die hässlichen Themen – sie sind die Schminke, die gleichzeitig be- und aufdeckt. Die schönen Sätze machen den hässlichen Stoff erträglicher. Und so huscht einem beim Lesen, trotzt der inhaltlichen Schwere, immer mal wieder ein leichtfüssiges Lächeln über das Gesicht.

Ein inhaltlich aufwühlender und wortgelungener Roman, der sich manchmal aber auch in Details verliert. Wer sich davon nicht einschüchtern lässt, darf sich auf eine Lektüre freuen, die ganz schön hässlich ist – aber auch hässlich schön.

(Dieser Text entstand im Rahmen eines Seminars zur Literaturkritik im Frühjahr 2022 an der Uni Basel, Seminarleitung: Daniel Graf, Literaturkritiker beim Republik Magazin.)

Lea Draeger studierte Schauspiel an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ in Leipzig. Sie arbeitet als Schauspielerin, Autorin und bildende Künstlerin. Seit 2015 spielt sie im Ensemble des Berliner Maxim Gorki Theaters, davor unter anderem am Schauspielhaus Bochum und der Schaubühne Berlin. Ihre bildnerischen Arbeiten wurden im 4. Berliner Herbstsalon, der Sammlung Friedrichshof und im Van Abbemuseum Eindhoven ausgestellt.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Kristin Rosenhahn

Vera Schindler­-Wunderlich «Langsamer Schallwandler», Plattform Gegenzauber

Die Behandlung eines Schafes

Ich nahm ein weiches, dunkelweißes Schaf, 
ein altes deutsches Krippenschaf.

Zwei Kinder spielten mit dem Schaf,
es war am Heiligen Abend.

Ich zeichnete es leicht auf braunes Papier.
Ich legte rotes Glas auf das Schaf, es sprach:

             „Jochen ist noch klein,
             doch er zieht bald in den Krieg.“

Ich stellte Panzer hinter das Schaf –

             Wilhelm schiesst Vögel vom Kirschbaum,
             auch er will bald in den Krieg.“

Ich malte dem Schaf einen Pfad, 
da lief es hinaus aus dem Bild.

              „Sie schossen und wurden erschossen,
              da ich stand erneut an der Krippe.“

Wer Schafe zeichnet, muss sanftmütig sein.
Wer Kinder zum Töten holt, muss fachkundig sein.

 

Vom fernen, glücklichen Fest

Gestern um siebzehn Uhr,
ich saß auf einer Holzbank,
stand die Jungfrau vor mir,
          grün bestreut, tonnenschwer,
          schneeschwebend

Mir war, als sei keine Welt 
hinter ihr, als röche sie nach 
Borretsch und Rosen und Stall, 
          ich packte mich in Wolken
          und rührte mich nicht

War Juni, im Zwanzig-Uhr-
Licht stand ich auf und aß.   
Die Jungfrau rührte sich nicht, 
           sie hüllte sich ein 
           in goldenen Dampf

All der Schrecken, 
das Landverlieren, 
Kriechen und Rennen,
           es barg sich eine Stunde 
           im dichten, blendenden Dampf

Da legte die Jungfrau den Schleier weg, 
wie winkten die Gletscher, 
der Borretsch freute sich sehr –
           all der Schrecken, das Scheuchen,
           das ferne, glückliche Fest

 

Anfangen zu fischen

Das Wort wurde sacht,
als ich sagte: Ich hause unter Tage,

als unsere Körper über die Erde flogen
und die Küste eines alten Landes grüßten

Das Wort wurde jung und scheuerte, 
es war am See Genezareth

Ich schwankte, war’s nicht die galiläische Sonne, 
ein Schwank-Tag war’s und ein Willst-du-noch-Tag
unter Kappen klopfte es,

            – und die feine Linie links auf deiner Stirn –

         als wir uns lang sam los ban den 
         von Rang und Diktum

        Doch „als wir uns langsam losbanden“ 
        ist nur mein Tagebucheintrag

        Wir fischten still, das weiß ich genau

                    – Standard? wessen Standard –

               und gossen Wasser auf die 
               Ich-Zischerei, du strichst über meine 
               Worte und sagtest:

               „Ach doch, es war ein Als-wir-uns-
               langsam-vernahmen-und-langsam-
               banden-Tag“

               und mich wunderten deine Augen

                                                                    sela daselbst

 

Übungsanlage

Während ich zahle, atme, 
Updates funkeln, ich Astern
betrachte und Kummergesichter

bewundere, wenn sie einst 
auferstehen und es noch gar nicht 
wissen, schwing ich für mich 
im Ja-Lager: im Bus, Meer, Mantel,
Dampf, im Treibhaus, ich glühe 
am Spülbecken, rühr mich.

Ich rufe: Verborgen 
bist Du, auffindbar bist Du!

Ist es nicht einsam im 
Ja-Lager, ist es nicht schön? 
Ich finde es schön, 
sehr schön.

 

Mittlere Brücke

„Selvi, sieh dir meine Fotos vom 
Rhein an, Selvi, sieh mal das Eis auf der 
Mittleren Brücke, Selvi, du kannst nicht mehr 
geigen, hantieren, das Fell deiner Katze nicht – 
Selvi, gefällt dir dieser gelbgestreifte 
Strohhalm, sieh, wie dein roter Rollstuhl 
in der Wintersonne glänzt –“

Und mit einem kleinen 
Löffel schieb ich

ich Täuschkörper ich Schönwetterschwätzer weiß nicht 
schieb ich wer bin ich, dass meine Muskeln nicht 
verrecken wie deine schieb ich jetzt Stückchen 
um Stückchen einer „sehr, sehr leckeren 
Torte“ in deinen Muss-es-sein-Mund,
der mir zu entgegnen scheint: 
«Es rührt mich nicht, was mir hier 
widerfährt, lass uns nicht über Löffel 
und Strohhalme sprechen.»

           Sie lehnte sich ins Leid
           wie in einen kalten Sessel, 
           sie spähte ins Leid
           wie in das Licht des Wintermorgens 
           am Rhein auf der Mittleren Brücke.

„Selvi, sieh dir mein Gedicht an“

 

Akt des Ach doch

als der lange tag sich um mich drehte
als das mahlwerk licht war und april
(Astrid Schleinitz)

Dein tägliches Rollen 
und Schaukeln, das völlige Fehlen von 
Hüpfen und Springen

Ins Bad gefahren werden,
überaus eingeseift sein, lang 
entkleidet bleiben

«Früher habe ich Cellosonaten gespielt –»

Dein Leben als Gliederpuppe, Anziehpuppe? 
Gelenkig, heiter, beschämt

«Erst lief ich verwackelt, dann lahmte
und wankte ich, schließlich
knickte ich ein.»

Abends ein Hingelegtwerden,
als Pflegling, Liebling,
nächtlich: Plage Lagerei

«Früher konnte ich Meere
malen, Wege rennen,
Söhne halten –»

Obwohl es dir alle Kraft
kappt, ungalant, obwohl es ein
Rollstuhl ist und keine Sänfte  –

Und was den Körperschall angeht und dein
Schnappen nach Morgenluft,
wie kannst du nur

kannst du inzwischen
so schön sein so

ins Fröhliche
schwappen

 

aus dem Gedichtband „Langsamer Schallwandler“, Oktober 2022, mit freundlicher Genehmigung der edition pudelundpinscher. Vernissage des Gedichtbands ist am 28. Oktober am Buchfestival Olten.

Vera Schindler-Wunderlich «Langsamer Schallwandler», edition pudelundpinscher, 2022, 100 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-906061-31-3

Vera Schindler-Wunderlich ist in einer Industriestadt in Nordrhein-Westfalen, im Singsang einer bergischen Mundart aufgewachsen. Arbeitet seit 1994 in der Schweiz, lebt in Allschwil bei Basel. Studium der Musikwissenschaft und Anglistik in Köln, Aberdeen und Freiburg i. Brsg. Heute Redaktorin bei den schweizerischen Parlamentsdiensten. Im Oktober 2022 erscheint nach «Dies ist ein Abstandszimmer im Freien“ (2012) und «Da fiel ich in deine Gebäude“ (2016) bei der edition pudelundpinscher ihr dritter Gedichtband „Langsamer Schallwandler“. 2014 erhielt sie einen der Schweizer Literaturpreise, war 2020 nominiert für den Publikumspreis des Feldkircher Lyrikpreises. Einige ihrer Gedichte wurden übersetzt ins Französische, Italienische, Spanische, Slowenische, Indonesische, Arabische.

Beitragsbild: Sharon Stucki, Select

Regina Dürig «Risse», Plattform Gegenzauber

Track 1: Mitlaut

Die Konsonanten
tropfen aus unseren
Sätzen kondensieren
an den Wänden
und sammeln sich
letzten Endes in
den Fliesenbrüchen
dort reiben kratzen raspeln
sie weiter nicht aus
bösem Willen sondern
aus ihrer Natur denn
ihre Kanten sind
unerbittlich wie
Diamantenglanz
sie schmirgeln sie
murmeln da kann
selbst der Hausbesitzer
nichts machen der
Hausbesitzer besitzt
derart viele Häuser dass
er sich beim besten
Willen nicht um jeden
Mitlaut kümmern kann
der irgendwo hervortropft
der auf Unfug aus ist auf
Krawall er steht auf
der Hausbesitzer
besteht darauf dass wir
wussten als wir
den Vertrag unterschrieben
haben an einem übermässig
wackeligen Tisch dass
nichts mehr zu machen ist
dass alles schon immer
desolat war zerfasert
brach

wir versuchen auf
eigene Kosten zu kitten
spachteln grosszügig 
Konjunktionen und
Dehnungslaute in die
Fugen aber sobald sie
zu trocknen beginnen 
wölben die Konsonanten die Masse
von innen her auf

es bleibt
uns nicht anderes 
übrig als zusätzlich zum
weichen Gehen auch
weich zu sprechen und
möglichst
selbstlautreiche Gerichte
zu kochen leider
mögen wir beide kein
Ei

 

TRACK 2: Schwerkraft und Zündholz und Brot

Der Puls des Nachbarn
dringt durch das Netz aus
undicht gewordenem
Bodenmaterial zu uns
hinauf in unsere
Gedanken unsere Herzen
unsere Haut

der Nachbar ist
so langsam und froh wie
ein Leguan er nickt uns zu
wenn wir ihn auf der Strasse
sehen wenn er uns im
Laden Wein oder 
Knoblauch verkauft 
der Nachbar
lässt seinen Wagemut in
Wolkenfetzen verdampfen
deswegen ist sein Puls
meist ruhig aber stetig er
ist Geheimnissen aus diesem
Grund abgeneigt Überraschungen
Zwischenfällen Zweifeln der Nachbar
hat alles was er zum Leben
braucht die Schwerkraft und
Zündholz und Brot
der Nachbar fühlt sich nie
allein nicht nur wegen der
Risse die ihn mit uns verbinden
sondern in einem absoluten
Sinn

denn er weiss dass er einer
Spezies angehört die sich über
eine unendlich lange Zeit aus
einer anderen Spezies und 
diese wiederum vor unendlich längerer Zeit aus
winzig kleinen Zellen ohne
Körperform und feste Absicht 
entwickelt hat

dieses
Wissen beruhigt den Nachbarn
wie nichts anderes
wenn er isst 
wenn er schläft 
wenn er wacht

 

Track 4: Gedanken aus Glas

Die Fliesen springen
im stillen Schwungtanz
des anhaltenden Verfalls
sodass sie an
manchen Stellen mehr 
aus Rissen bestehen als 
aus etwas

der Rest klimpert
hell wie Taschengeld
wie Gedanken aus Glas

wir treten vorsichtig wenn
wir zum Schüttstein gehen zum
Tisch zum Herd wir 
sind auf der Hut
nicht in den Abgrund zu geraten
der sich auftut
an den Bruchstellen des
hundertjährigen Zements

manchmal jedoch bleiben wir
mit dem Stuhl oder dem
Strumpf hängen wir verschütten
Suppe oder Wasser und
Argumente und Tee denn die Küche
ist der Ort an dem wir beide
Recht haben wollen in
keinem anderen
Zimmer ist dieser
Umstand ähnlich akut
in keinem anderen Zimmer diese
Klippen steil abfallend von
der Wolkendecke 
klingengerade hinunter zum Strand

es hat sich der Sohn
eines berühmten Sängers
von diesem Höhenunterschied gestürzt
damals Anfang der Neunziger und
trotzdem wohnt der
berühmte Sänger noch immer im
gleichen Haus im gleichen Ort

wir fragen uns was er denkt
wenn er die Klippen sieht ob es
Unglaube ist oder ob er sich
wünscht er hätte unten gestanden
aus irgendeinem Zufall hätte
so starke Arme gehabt wie früher
als sein Sohn noch sehr klein war
ein Nestling und hätte ihn auffangen
können zusammengekugelt 
hätte ihn an sich nehmen
können die Luft anhalten | du sagst
aber es gibt keine Unumkehrbarkeit
ohne Nostalgie und
nicht mal Gefühl kann aufgehalten
werden mit starkem Arm das weiss
jeder weisst du weiss auch der
berühmte Sänger besonders der
denn irgendwie war der doch 
schon immer so
wissentlich finster schon bevor
das mit dem Sohn bevor es
den Sohn überhaupt | und 
wahrscheinlich bleibt er ganz einfach
deshalb weil er es sowieso nicht vergessen
kann nichts vergessen machen warum dann
noch den Bäcker die Bushaltestelle den
Pub verlieren wenn schon der
Sinn weg das Leicht

und ich denke 
dass das auf keinen Fall stimmen
kann aber die Klippen nicken 
gleissend in der Mittagssonne und
weil mir mein Knochengeflecht
innendrin lieb ist
heute nicke ich sicherheitshalber
still mit
dir mit

 

TRACK 5: Richtung Meer

Von Zeit zu Zeit
bricht eine Fliese in die
Form einer Stadtkarte mit
Ringautobahn und
sternförmigen Alleen
erläutert uns 
topographische
Zusammenhänge zwischen
Staaten Gewässern
und Grenzgebiet
verweist auf den historischen
Einfluss der Flüsse
die sich in Ackerland verlaufen
ins Ufer wuchern oder
ausdünnen Richtung Meer
zerstreut von
Inseln die
prekären Küsten 
vorgelagert sind
Landstriche auf
die niemand Anspruch erhebt
wo kein Wettrennen
der Entdeckergesten
je stattgefunden
haben wird
und wir sind froh denn was würden
wir ihnen servieren diesen
Vorboten der Währungen
sie würden
mit den Silberlöffeln 
ihrer jeweiligen Majestät die
vollen Teller vom Tischrand
stossen würden 
herabschauen würden
gestikulieren während wir
Kartoffeln braten oder
Kohl sie würden
über ihre Silberbärte streichen
und ihre Silberbäuche halten
während sie mit
Silberzähnen unsere
Vorräte verschmähten
wir wüssten dass sie bald
schneeblind verhungert
oder sonstwie 
an Überheblichkeit 
verendet sein werden wie 
all die andern zuvor wir würden ihnen
Stiefel schenken Hunde
Fell und zusehen
wie sie die Segel setzten wie
sie die Maschinen anliessen
wie sie zu schneeweissen 
Punkten würden 
zu Salzkristallen
zu Staub

 

«Risse» ist im April 2022 als CD bei Deszpot und digital auf Bandcamp erschienen. Das kurze Album (eigentlich also eher eine EP) ist eine Momentaufnahme unseres langsam zerfallenden Küchenbodens – hundertjährige Zementfliesen, original wie beim Bau des Hauses, abgesunken und eingebrochen im Lauf der Zeit. Frottagen, die Regina von den Rissen gemacht hat, dienten Christian als grafische Notation für fünf elektronische Kompositionen. Für vier dieser Stücke hat Regina Texte geschrieben, in denen sich Klippen auftürmen, in denen der Fortschritt klafft und Konsonanten zerrieseln.

Butterland (Das neue Butterland-Album!)

Regina Dürig «Federn lassen», Droschl, 2021, 104 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-99059-071-3

Regina Dürig ist Autorin, Performerin, Artistic Researcher und Dozentin/Mentorin für Literarisches/Kreatives Schreiben an der Hochschule der Künste Bern, dem Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und an der Volkshochschule Biel/Lyss. Für ihre Arbeiten hat Regina Dürig zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u.a. den Peter-Härtling-Preis, den Literaturpreis Wartholz und den Literaturpreis des Kantons Bern. Regina Dürig lebt in Biel.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Anja Fonseka

Jenny Hval «Perlenbrauerei», März Verlag

Aufgehoben im Sündenfall

Im Roman der norwegischen Musikerin Jenny Hval verschimmelt das Paradies. Inmitten vergammelter Früchte erblüht eine queere Liebesgeschichte, in der die Verführung zu Selbstermächtigung und sexuellem Erwachen führt.

Gastbeitrag von Céline Burget
Céline Burget studiert Deutsche Philologie und Englisch an der Universität Basel. Als begeisterte Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft beschäftigt sie sich unter anderem mit dem Lektorieren von Beiträgen und schätzt jede Gelegenheiten, selber Texte zu verfassen.

Der im vergangenen Jahr wieder auferstandene März-Verlag hat mit seinem antiautoritär und feministisch ausgerichteten Frühjahrsprogramm wieder auf sich aufmerksam gemacht. Barbara Kalender und der neu als Verleger eingesetzte Richard Stoiber haben sich passend zum 53. Jubiläum dazu entschieden, den legendären Verlag in alter Tradition fortzuführen. Bemerkenswert ist dabei nicht nur die Neuauflage von Valerie Solanas’ «Manifest der Gesellschaft zur Vernichtung der Männer», auch das Debüt von Jenny Hval ist mit seinen fiebertraumartigen, erotischen Szenen ein Höhepunkt des Programms. In «Perlenbrauerei» sind es allerdings nicht nur Männer, die vernichtet werden: Die Autorin nimmt sich den Sündenfall vor und lässt ganz Garten Eden verrotten.

Hval erzählt die Geschichte der norwegischen Austauschstudentin Johanna, die auf der Suche nach einer Unterkunft durch das fiktive Ayebourne irrt. Sie verliert sich in den engen Strassen der fremden Stadt, die ihr abgeriegelt wie eine Kiste ohne Deckel erscheint. Erleichtert entdeckt sie die Anzeige der etwas älteren Carral und entschliesst sich dazu, das freie Zimmer in einer ehemaligen Brauerei zu beziehen. Durch die Wände der renovierten Halle hört Jo sämtliche Geräusche ihrer Mitbewohnerin. So entstehen Szenen, in denen die Frauen sich beim Gang auf die Toilette belauschen. Und auch die Körpergerüche verbreiten sich in der ganzen Wohnung – die papierdünnen Spanplatten erlauben keine Privatsphäre.

Jenny Hval «Perlenbrauerei», aus dem Norwegischen von Rahel Schöppenthau, und Anna Schiemangk, März Verlag, 166 Seiten, CHF 31.90, ISBN 978-3-7550-0003-7

Ein ähnlicher Eindruck entsteht beim Lesen dieser Schilderungen: Es wird einem, als ob sich der Gestank vom Papier löste und man ihn selber riechen könne. Solche Grenzüberschreitungen sind durchaus gewollt und werden von der Autorin durch alle Ebenen des Roman gezogen. Allmählich beginnt Jo die Bewegungen von Carral nachzuahmen, spürt ihren Schmerz und ihre Erregung, fühlt wie sich ihre Körper synchronisieren. Und während sich die zwei Frauen einander annähern, beginnt die Wohnung selber zu wuchern: Gras drängt sich zwischen den Bodenbrettern hindurch, Pilze und Moos wachsen an den Wänden. Da lässt sich immer weniger zwischen Realität und Traum unterscheiden – bis sich alles zu einem Geflecht verbindet.

 Mit Metaphern aus der Natur und biblischen Motiven evoziert Hval eine zunehmend beklemmende und mystische Stimmung. Neben Äpfeln und Schlangen ist es vor allem die ehemalige Brauerei, die an die Geschichte vom Sündenfall denken lässt. Auch Carral und Jo vergleichen die Wohnung spöttisch mit dem Garten Eden: Sieht das hier aus wie das Paradies, oder was? Tatsächlich stellt man sich das Paradies wohl eher anders vor. Die Wohnung ist kein Garten mit reifen Früchten und idyllischen Lichtungen: Es fühlte sich an, als ob die Brauerei in einen grossen, nassen Tank verwandelt worden war, der darauf wartete, dass Carral und ich zu verwesen begannen: Ein verfaulter und stinkender Garten Eden.

Eindringlich beschreibt die Autorin das Verrotten der Wohnung. Wie sich in dieser modrigen Umgebung eine Liebesgeschichte entspinnen soll, scheint zunächst schwer nachvollziehbar. Doch es ist eine Erotik der Verschmelzung, die Hval inmitten des Vergehens überzeugend ins Bild setzt. Jo und Carral verwachsen wie ein Netzwerk von Pilzen, durchdringen einander wie die Äste eines Baumes: Dann braust es durch mich hindurch, ihre Stiele und Finger und Adern breiten sich durch meinen ganzen Körper aus wie ein neues, weiches Skelett. Wenn die Frauen gemeinsam im Bett liegen und Carral dabei die Kontrolle über ihre Blase verliert und uriniert, legt Hval in ihre Beschreibung einen sinnlichen Unterton: Ein dünner, warmer Strahl rieselte von Carrals Körper gegen meinen Oberschenkel. Doch Jo ekelt sich nicht etwa vor den Körperflüssigkeiten von Carral; für sie sind sie Ausdruck von Nähe und Intimität.

Das von Rahel Schöppenthau und Anna Schiemangk erstmals ins Deutsche übertragene Debüt unterläuft klug die Motive der verhängnisvollen weiblichen Verführung und der verbotenen Lust. Wir begegnen in einer der Programmperlen des wieder belebten März-Verlags zwei Menschen, die sich begehren, die sich gegenseitig probieren. Erst die Erfahrung der Verschmelzung, ob phantasiert oder wach erlebt, erlaubt es Jo, ihre Sexualität zu entdecken. Das Verderben schafft so die Grundlage für organisches Wachstum und Selbstermächtigung. Denn nur wenn die Lasten des Sündenfalls überwunden sind, kann wirklich Neues entstehen. Oder wie Jo sagt: Ich sah mich selbst nach dem Sündenfall aufräumen.

(Dieser Text entstand im Rahmen eines Seminars zur Literaturkritik im Frühjahr 2022 an der Uni Basel, Seminarleitung: Daniel Graf, Literaturkritiker beim Republik Magazin.)

Jenny Hval, geboren 1980 in Oslo, hat Kreatives Schreiben und Performance in Melbourne, Australien studiert. 2006 ist ihre erste EP «Cigars» erschienen. Seither hat Jenny Hval fast ein Dutzend Platten aufgenommen, die mit allen wichtigen nordischen Musikpreisen ausgezeichnet wurden. «Perlenbrauerei» ist ihr erster Roman, der von der norwegischen und englischsprachigen Presse gleichermassen gefeiert wurde.

Rahel Schöppenthau, geboren 1989 in Berlin, studierte Skandinavistik an der Humboldt-Universität. Sie arbeitet als Schauspielerin und realisiert eigene Kunstprojekte.
Anna Schiemangk, geboren 1992 in Berlin, studierte Skandinavistik und Nordeuropastudien in Berlin, wo sie heute als Texterin arbeitet.

Webseite der Jenny Hval

Beitragsbild © Baard Henriksen

Pobry «Russland verstehen mit Tarkowski», BLOX, 2

Mit Tarkowskis Filmsprache lässt sich erfassen, was das russische Wesen zuinnerst ausmacht. Seine Filme lese ich in einem Stück, da gewisse Symbole in ihnen allen immer wiederkehren: Verkohlte Holzwände, vereiste Holzscheite, bemooste Treppenstufen. Aufgescheuchte Tiere, aufgescheuchte Menschen. Sie waten durch Morast, rennen hin und her ohne ersichtlichen Grund. Eine Aufnahme, die zeigt, wie die Rote Armee durch den Sywasch-See watet, der wohlgemerkt in der Ukraine liegt, soll den Regiesseur zu Tränen gerührt haben. Sehr oft treten Wasser und Feuer bei ihm gleichzeitig auf. Tarkowskis Filme erscheinen mir wie Ikonen in Bewegung: Ein Feuerspan leuchtet über einer Wasserschale, Pferde äsen Äpfel im Regen, Laub löst sich im Wind vom Morast wie Schuppen, eine Gaslampe geht aus, eine antike Fischfigur ruht unter fliessendem Wasser, Seepflanzen wiegen sich in der Strömung. Der Wind weht heran, als die junge Mutter die Rückkehr ihres Mannes von der Front erwartet. Auch die Tartaren schiessen in Wellen wie ein Sturm über die Hügel. Damit thematisiert Tarkowski ein Lebensgefühl, das Russland mit Europa gemein hat. Nämlich die Sorge, dass eine Volkshorde unerwartet aus der Ferne heranbricht und die Einheimischen überrollt. Wie eben jetzt russische Truppen in der Ukraine. Bei mehrmaliger Lektüre der Filme fallen schliesslich Situationen auf, in denen die Farbe Weiss vorherrscht: Tiere läppeln Milch. Ein Stilleben mit Milch und Kartoffeln, oder ein weisser Krug mit Goldrand, hindrapiert auf hellblauem Tuch. Von einer weissen Vase ist die Rede, mit blauen Blumen drauf. Eine Schranktür öffnet sich knarrend und legt ein grosses Glas mit Milch frei. Ein Kind mit weisser Taube. Ein Kind mit gläsernem Milchkrug. Kampfflieger peitschen über die Landschaft, die Menschen stieben durcheinander, hin und her, ein Glaskrug mit Milch schlägt am Boden auf. Eine Schwangere liegt in weissen Laken und Tüchern gebettet wie in einem Bad. Ein Kind sagt, es träumte unter dem Apfelbaum von einem weissen Krankenhaus. Milch fliesst aus einer Flasche am Boden. Ein weisser, netzartiger Schal liegt im Dreck. Eine weisse Gans fliegt kreischend auf, als Tartaren und Russen sich wie Ameisen im Kampf vermischen. Ein Kind mit übernatürlichen Fähigkeiten trägt einen goldenen Schal.

Zu erwägen ist, dass das Auftreten dieser Bilder auf Zufall beruhen könnte. Dann wäre diese Sammlung meiner persönlichen Aufmerksamkeit geschuldet und sagte nichts über den Regiesseuren aus. Diese Motive treten allerdings nicht beiläufig auf. Vielmehr nimmt die Kamera sie geduldig in ihren Brennpunkt und lässt Zeit verstreichen, wie so oft bei Tarkowski, auch wenn diese Motive keinerlei Einfluss auf die Handlung nehmen. Also kommt ihnen ohnedies eine tragende Bedeutung zu. Gegen Ende von «Rubilov» filmt Tarkowski Ikonen, die man während des Films nie sah. Dabei sucht die Kamera ein unscheinbares Symbol abseits der wichtigen Partien einer Ikone und bleibt darauf ruhen. Als ich das zum ersten Mal bewusst sah, kam es mir vor, als brächte dieses Motiv die gesamte Filmaussage Tarkowskis auf einen Punkt: Es ist ein kleiner Vogel in weissen Linien auf pechschwarzem Hintergrund gemalt, als wäre er darin eingefasst wie in ein alchemistisches Gefäss. Damit er golden wird als Sinnbild eines guten, geprüften Lebens. Das Weisse steht traditionsgemäss für die innerste natürliche Reinheit einer Kultur. Es ist die Seele in ihrem Bemühen um ein gutes Leben: Die Braut vor dem Altar, das Linnen an der Sonne, das Kind mit der Milch. Dieses unendlich Zarte, von dem wir im Westen keinen Begriff mehr haben, erklärt die rohe Brutalität nach aussen. Je feiner, je zarter das innere Gut erlebt wird, das es zu bewahren gilt, desto heftiger die Gewalt, die zu seinem Schutz in Anschlag gebracht wird.

Und spätestens hier sollte klar werden, dass es bei allen Beteiligten gerade in einem Krieg um eben dieses Innerstes geht: Mutter und Kind. Die Familie. Die Gesundheit der menschlichen Seele. Daher heisst es bei Tarkowski: «Russland, Russland. Wie viel musst du ertragen.» Das lässt sich handlich auf andere anwenden, nämlich so: Europa, Europa. Wie viel musst du ertragen? Oder: Ukraine, Ukraine ….

BLOX

Li Mollet «weiße Linien», Plattform Gegenzauber

sie steigt aus dem Nachtkino
schwebt
zwischen da und dort
döst eine Weile
und möchte zurück
etwas schmerzt
etwas blieb ungelöst
etwas braucht ihre Stimme
wenn wir die Zeit
festhalten könnten
wenn wir sie nicht splitterten
etwas zieht Josefine O.s
Mundwinkel nach oben aber was
die Augen schlitzweit geöffnet
es ist Tag
Josefine O. streckt sich
es ist Tag
aufstehen
weil es Tag ist
Rabenkrächzen
ein Lastwagen brummt
ein Flugzeug
Josefine O. dreht sich
aber mit dem Wort Tag
ist schon zu viel
sie öffnet die Augen
immer wieder ist es hell
heute prachtvoll
und mit dem prachtvollen Tag
beginnt das Denken
tun
denken
tun
die Schwester der Träumerin
streckt sich
reckt sich
ohne Bewegung
keine Beweglichkeit
sagt Josefine O.
zu Josefine O.
zieht die Decke über die Ohren
sie legt sich auf den Bauch
zieht die Schultern hoch
senkt den Kopf
streckt sich wieder
harrt aus
und nochmals von vorn
die Arme anwinkeln
abstoßen
sie nennen es Liegestütze
Josefine O. atmet tief
eine Anstrengung frühmorgens
wenn jemand zuschaute
wenn jemand zuhörte
an diesem Morgen
hört und sieht niemand
wie sie schnaubt
Josefine O. macht weiter
mit der Beweglichkeit
ob sie sicher halten lässt
die Fehltritte
die sie machte und machte
als sie Stöckelschuhe trug
und die schmerzenden Knöchel
so wäre es mit der Stimme
wenn sie sänge
jeden Tag
sänge sie ein Kinderlied
die Basslinie
von Schuberts Unvollendeter
oder von der Freude
wenn sie sänge
wäre ihre Stimme
tragend
strahlend
sie ist es nicht
sie knattert
wenn sie Kindern
eine Geschichte liest
inzwischen schieben
die Hände die Haut zum Ellbogen
hin und her
dann hüpfen
die Wölbungen
ein wenig
auf dem Rücken
liegen
die Beine
luftfahren
eins, zwei, drei
und weil es sie langweilt
zählt sie quatre, cinq, six
oder sette, otto, nove
ten, eleven, twelve
sie würde auch russisch
oder chinesisch zählen
bei fifty macht sie die Brücke
und tief durchatmen
sagt sich Josefine O.
jeden Morgen
spricht sie mit ihrem Gehirn
bitte nicht entzünden
bitte nicht klumpen
was war das denn neulich
sagt sie zum Beispiel
die Suche nach einem Namen
oder schlimmer noch nach einem Wort
das ärgert mich
sagt Josefine O. zu ihrem Gehirn
es beschämt mich
a wie Annette von Droste Triste
b wie Bettina von Anderswo
c wie Catherine Colombe
d wie wer bitte
e wie elke erb
zum Frühstück kocht sie Tee und Kaffee
bäckt das Brot auf
legt zwei Teller auf den Tisch
zwei Gläser
zwei Tassen
Messer und Löffel
sie setzt sich auf ihren Stuhl
und sagt
würdest du bitte Brot schneiden
möchtest du Tee
Kaffee
hier ist die Butter
Marmelade oder Honig?
sie nickt zum Stuhl
Josefine O. lächelt zum Stuhl
auf dem niemand sitzt
guten Morgen sagt sie
und küsst in die Luft

Am Anfang waren der Klang und die weiten Schritte. Die Frau mit leiser Stimme würde den Kopf etwas schief stellen und beiläufig, worauf warten wir, fragen. Die Hammerschläge auf dem Dach verschluckten das Gesprochene. Ich drehe den Kopf zum Fenster. Dort die Lichter der Häuser, in welchen viele eine bessere Zukunft träumen. Die Lampen, Ampeln, blinkende Barrieren. Grün oder die Farbe der Vergänglichkeit. Vielstimmiger Balzgesang am Morgen ganz nah. Die Frau sähe den Schleier über den Dingen. Wenn sich alle fürchten, wenn sie hoffen, sich freuen, zaudern. Heute Morgen sah ich ein Buch über die Büsche fliegen, sage ich.

Die Tagespresse verspricht nicht allen Gutes. Die Frau mit leiser Stimme mag nicht darüber reden. Sie weiß, worauf es ankäme, sie ahnt, was sich entzweit. Sand knirscht unter ihren Sohlen. Als Kind hätte sie mit einer Schaufel noch mehr Sand angehäuft. Sie hätte mit beiden Händen einen kleinen Kegel gepatscht. Die Schaufel scheppert zu Boden. Schau, sagt das kleine Mädchen und steckt seinen Finger in die aufragende Form. Unterdessen klopfe ich an seine Tür, klopfe nochmals, sehe die Klinke aus der Waagrechten drehen. Er steht da im fleckigen Arbeitsanzug, der dank Übergröße einiges verbirgt. Guten Morgen, sage ich.

 

Li Mollet «weiße Linien», Ritter Verlag, 2021, 80 Seiten, CHF 28.80, ISBN 978-3-85415-622-2

Li Mollet, geb. 1947 in Aarberg (BE) studierte Erziehungswissenschaften und Philosophie, lebt und schreibt in Spiegel bei Bern. Ihre Prosa wurde mit Stipendien und Preisen gefördert, u.a. erhielt sie zweimal den Literaturpreis des Kantons Bern, zuletzt 2020 «weiterschreiben» von Kultur Stadt Bern. Bisher im Ritter Verlag erschienen: «weisse Linien» (2021), «und jemand winkt» (2019). 2023 erscheint der dritte Band im selben Verlag.

www.literaturport.de

http://literapedia-bern.ch

kritisches lexikon zur gegenwartsliteratur

Beitragsbild © Ritter Verlag Klagenfurt

Noemi Somalvico «Ist hier das Jenseits, fragt Schwein», Voland & Quist, an den Weinfelder Buchtagen

Selbstfindung im Fabelkleid

Mit Gott, Schwein und Dachs durch Welten und Wüsten; Noemi Somalvicos Debutroman «Ist hier das Jenseits, fragt Schwein» begleitet eine skurrile Reisetruppe auf ihrer Suche nach dem Paradies.

Gastbeitrag von Aline Tettamanti
Aline Tettamanti studiert Deutsche und Englische Philologie in Basel. Ansonsten überarbeitet sie Texte und schreibt Kurzgeschichten, Gedichte und Lieder.


Die Geschichte beginnt, nachdem für Schwein die Welt zu Ende ging: Biber ist weg, und Schwein sitzt in einer stillen Wohnung mit einem biberförmigen Loch in der Brust.
In einer anderen Welt schleicht sich Gott von einer Party, schliesst sich auf dem stickigen Dachboden seines Hauses ein und sieht durch seine Fernbrille der Welt beim Drehen zu. Man sollte die Erde keinem Melancholiker überlassen, denkt Gott, als er Schwein am Küchentisch weinen sieht. Die Wesen, die darauf leben, werden nach seinem Ebenbild geschaffen sein.

Doch weder Schwein noch Gott haben lange Zeit, sich in ihrem Selbstmitleid zu suhlen: Dachs tüftelt an einem Apparat, mit dem er zwischen Welten reisen kann – und trifft auf der anderen Seite prompt Gott, als dieser auf dem Velo auswandern will.
Während Gott Dachs das «Du» anbietet, gewinnt Schwein im Radio eine Wüstentour und findet sich stattdessen mit Dachs auf Gotts Balkon. Aus Fremden werden Freunde, und aus Freunden wird eine Reisetruppe, die sich auf den Weg ins Jenseits begibt, um einen Fisch zu suchen.

Noemi Somalvico «Ist hier das Jenseits, fragt Schwein», Voland & Quist, 2022, 142 Seiten, CHF 26.90, ISBN 978-3-86391-321-2

Auf der Erde verbringt Reh eine Nacht mit Hirsch und lässt das Herz auf dessen Nachttisch zurück. Im Jenseits steckt Gottes Reisetruppe in der Wüste fest, und Gott schliesst sich in einer Telefonkabine ein. Reh beschliesst, unabhängig von seiner abhängigen Mutter und dem Nachbild von Hirsch für sich selbst zu leben. Gottes Reisetruppe findet im Sand versteckt das Paradies in Form von Hotel Jenseits: Gott liegt wie ein gestrandeter Wal im Sand, Schwein verführt seinen Tangolehrer und Dachs ist gänzlich unbeeindruckt von dem Kitsch, den das Paradies zu bieten hat. In allen Dingen, in jeder Lampe und jedem Stück Stoff sah er einen Versuch von Eleganz und in jedem Ding ist dieser Versuch gescheitert.

Die Geschichte springt hin und her zwischen Welten und den darin lebenden Figuren. Mit Fingerspitzengefühl und viel Liebe zum Detail verknüpft Somalvico die verschiedenen Schicksale in einem bunten Teppich. Schweins Selbstsuche, Dachs’ Erfinderneugier, Gottes Burn-Out und Rehs Liebeskummer verstricken sich immer stärker miteinander, bis sie nicht mehr voneinander zu trennen sind.
Auf ihrem Abenteuer lernen die Freunde, sich an das «Jetzt» zu wagen, ohne der Vergangenheit nachzutrauern – ob das nun die Beziehung zu Bibern und Hirschen betrifft, den sicheren Job oder den Fisch in Gottes Gang.

In der ganzen Geschichte treten ausschliesslich Tiere und Götter auf, Menschen sind in dem Buch keine zu finden. Trotzdem sind die Figuren so menschlich, dass es leicht ist zu vergessen, was Schwein und was Gott ist.
Das Ganze erinnert an eine Fabel, doch Somalvico haucht der traditionellen Gattung neues Leben ein. Ihre Kreaturen leben in einer modernen Welt und stellen sich modernen Problemen. Anstatt zu moralisieren, begleitet die Geschichte die Figuren auf ihrer Suche nach Identität.

Die wiederkehrenden Motive von zunächst belanglos wirkenden, schlichten Gegenständen und Nebengedanken verleihen der absurden Handlung ein Gefühl von Vertrautheit. Obwohl die Reise ins Jenseits führt, rückt die Geschichte nicht den Kosmos, sondern vielmehr die kleinen Dinge des Alltags ins Rampenlicht. Wer sich also vor pseudo-philosophischen Auseinandersetzungen mit Religiosität scheut, hat hier nichts zu befürchten.

In den 144 Seiten stecken so viele Motive, Themen und Parallelen, dass sich auch beim zweiten und dritten Mal Lesen immer wieder etwas Neues finden lässt. Somalvico spielt gekonnt mit Assoziationen und schafft zarte Szenen, die trotz ihrem traumhaften und sonderbaren Charakter direkt aus dem Leben gegriffen zu sein scheinen.
Dieses Buch ist ein Genuss für neugierige, experimentierfreudige Lesende, die sich einen gemütlichen Abend gönnen möchten. Ein sehr gelungener Debütroman, der gespannt auf weiteres macht.

(Dieser Text entstand im Rahmen eines Seminars zur Literaturkritik im Frühjahr 2022 an der Uni Basel, Seminarleitung: Daniel Graf, Literaturkritiker beim Republik Magazin.)

Noemi Somalvico, 1994 in Solothurn geboren, studierte Literarisches Schreiben in Biel, contemporary arts practice in Bern und ging dazwischen allerlei Beschäftigungen nach. Sie arbeitete für den Film, in Schulen, an Empfängen. Ihre Erzählungen und Lyrik wurden in Zeitschriften und Anthologien abgedruckt, im Dunkeln performt und im Radio vorgelesen. „Ist hier das Jenseits, fragt Schwein“ ist Somalvicos Debütroman.

«Im Koffer ein Weltuntergang» Zum 80. Todestag von Irène Némirovsky

Irène Némirovsky geboren 11. Februar 1903,
gestorben am 17. August 1942

Morgens nach dem Frühstück geht sie los. Die Töchter sind in der Schule, der Mann bleibt zu Hause im Dorf. Manchmal wandert sie zehn Kilometer, bis sie einen Platz findet, der sich zum Arbeiten eignet. Setzt sich auf ihren blauen Pullover, schaut in das stille Tal im Burgund. Liest und schreibt bis zum Abend. Das Tschechow-Buch wurde auf diese Weise fertig, auch der Roman «Feuer im Herbst», der zwischen 1914 und 1939 spielt. Nun nähert sie sich der Gegenwart: Anfang der Vierzigerjahre; Frankreich ist zur Hälfte besetzt, zur Gänze geschlagen. Niemand weiß, wie es weitergehen wird, aber die meisten richten sich ein: Wenn wir uns mit den Deutschen arrangieren – die sich, grosso modo, doch ganz anständig benehmen –, dann fahren wir weltpolitisch besser, als wenn wir den Aufstand markieren. Der Franzose dieser Kaste, notiert sie im Jahr 1942, empfindet gegen niemanden Hass; er ist weder von Neid noch von enttäuschtem Ehrgeiz noch von wirklichem Rachedurst erfüllt. Er hat Schiss. Wer wird ihm am wenigsten weh tun (nicht in Zukunft, nicht abstrakt, sondern sofort und in Form von Tritten in den Arsch und Ohrfeigen)?

Sie bereitet auch dieses neue Buch vor, indem sie sich Notizen macht – zur politischen Situation, zu ihren Figuren. Der Roman ist auf fünf Teile angelegt, ihr bisher ehrgeizigstes Projekt. Ein Blick auf die Gesellschaft, wie ein Ameisenforscher ihn hat, der die Sprache der Tiere versteht. Schau, wie sie laufen, man hat ihren Bau zerstört! Was nehmen sie mit? Wer rettet wen? Wer bricht sich auf der Flucht ein Bein? Wer stirbt, und wie bestatten sie ihn?

Sie, die selbst eine Ameise ist, beschreibt mit kühlem Verständnis, was in den Leuten vor sich geht, wenn es ernst wird. Jahrelang hieß es, jenseits der Linken, es gibt keinen Krieg. Sie werden das doch nicht wagen … die Verhandlungen waren erfolgreich … jetzt, mit der Tschechoslowakei, ist Schluss … es fehlt ihnen an Munition … es fehlt ihnen an Geld … wir haben ihnen doch nichts getan … Doch am 10. Juni 1940, als die deutschen Panzer sich der französischen Hauptstadt nähern, wollen sich unzählige Pariser in Sicherheit bringen, plötzlich verhakt in hektische Fragen: Schmuck mitnehmen oder verstecken? Wohin mit den Papieren? Nehmen wir das Auto? Gibt es noch Benzin? Und dann, wenn alles fertig ist, der Wagen bepackt bis unter das Dach, auf dem sie die Matratzen festgeklemmt haben, muss der gelähmte Opa noch einmal pinkeln …

So war es, so hat sie es beobachtet, denn sie war selbst dabei. Sie floh mit den Töchtern in die Provinz; da lebt sie jetzt. Sie ist eine Ameise wie alle anderen, und doch nicht: Sie ist behördlicherseits keine Französin. Und sie, ihre Töchter und ihr Mann Michel Epstein, tragen den gelben Stern.

Mein Gott! Was tut dieses Land mir an? Da es mich von sich stößt, betrachten wir es kalten Bluts und schauen wir zu, wie es seine Ehre und sein Leben verliert. Und was bedeuten mir die anderen? Die Reiche vergehen. Nichts ist wichtig. Ob man es nun aus mystischer oder persönlicher Sicht betrachtet, es ist alles eins. Bewahren wir einen kühlen Kopf. Verhärten wir unser Herz. Warten wir.

Sie wartet, und sie arbeitet. Sie ist zu dieser Zeit bekannt, beinahe berühmt. Der Name Irène Némirovsky, so meint ihr treuer Verleger Albin Michel in Paris, sollte genügen, ihr alle Türen zu öffnen. Sie schreibt in der Provinz, im Departement Saone-et-Loire, für Zeitungen, um ein wenig Geld zu verdienen. Als das unter ihrem Namen nicht mehr möglich ist, wählt sie männliche Pseudonyme. Sie lebt mit ihren Kindern und ihrem Mann in der besetzten Zone; anfangs in einem Hotel, in dem französische Flüchtlinge mit Offizieren und Soldaten der Wehrmacht wohnen, später in einem gemieteten Haus, in dem sich wiederum deutsche Soldaten einquartieren. Das Zeugnis, das sie hinterlassen, eineinhalb Jahre vor der Wannsee-Konferenz:

O. U. den I. VII. 41

Kameraden. Wir haben längere Zeit mit der Familie Epstein zusammengelebt und sie als eine sehr anständige und zuvorkommende Familie kennengelernt. Wir bitten Euch daher, sie dementsprechend zu behandeln. Heil Hitler!
Hammberger, Feldw. 23599 A.

Das Zeugnis wird nicht helfen. Am 13. Juli 1942 holen französische Gendarmen Irène Némirovsky ab, drei Tage später wird sie nach Auschwitz deportiert, wo sie einige Wochen später stirbt. Ihr letzter Brief an ihren Lektor ist vom 11. Juli datiert: Ich schreibe derzeit viel. Ich denke, es wird ein postumes Werk werden. Doch auf diese Weise vergeht die Zeit.

Den Quellen nach hat sie nichts unternommen, um sich in Sicherheit zu bringen. Kein Fluchtversuch in die Schweiz; keine Anstalten, an gefälschte Papiere zu gelangen. Nur Gesten der Sorge für ihre Töchter: ein detailliertes Testament, genaue Instruktionen für die Pflegemutter, die – nachdem auch der Vater nach Auschwitz deportiert worden ist – mit beiden Kindern untertaucht.

Das Manuskript, an dem sie gearbeitet hat, war im Fluchtgepäck mit dabei. Gut 60 Jahre später entziffert die Tochter Denise die winzige Schrift, die sie für Tagebuchnotizen hielt. Sie liest die ersten beiden Teile des Romans, der auf fünf Teile angelegt war; sie heißen: »Sturm im Juni« und »Dolce«. Stilistisch kühl, voller mokanter Heiterkeit beschreiben sie die Flucht der Pariser vor den Deutschen in die Provinz und die Zeit der Besatzung bis zu dem Zeitpunkt, als die meisten deutschen Soldaten nach Russland abkommandiert werden. Es ist ein Werk, das an Präzision und Schönheit seinesgleichen sucht; ein überragendes Romanfragment, das im kollektiven Gedächtnis eine bedeutende Lücke füllt. Das dichte Gewebe aus Angst und Kalkül, aus Anpassung und Widerstand im besetzten Frankreich wird genau beschrieben. Dem Buch fehlt nur: eine wie sie. Das Schicksal der Juden in Frankreich kommt in «Suite française» nicht vor.

Ursprünglich war die jüdische Gesellschaft ihr Thema. Ihr erster Roman aus dem Jahr 1929, «David Golder», behandelt den Zusammenbruch eines russischstämmigen Bankiers in Paris. Von alldem verstand sie viel: Ihr Vater, ein Privatbankier, floh mit seiner Frau und dem einzigen Kind im Verlauf der Russischen Revolution über Skandinavien in die französische Hauptstadt. Es gelang ihm, dort erneut zu Vermögen zu kommen. Irène Némirovsky führte ein luxuriöses, äußerlich behütetes Leben, schloss ihr Studium der Literaturwissenschaft an der Sorbonne mit Auszeichnung ab und begann mit 18 Jahren, Prosa zu schreiben.

Sie galt als anmutig und charmant, glamourös, gebildet und immens begabt. Ihre Mutter, die von monströser narzisstischer Kälte gewesen sein muss (sie starb hochbetagt und reich im französischen Süden; ihre verwaisten Enkelkinder verwies sie an die öffentliche Fürsorge), machte sie mit der genialen Novelle «Der Ball», erschienen 1930, den literarischen Prozess. Snobismus und Vulgarität, Empfindungslosigkeit und Ehrgeiz französischer Juden sind wiederkehrende Motive in ihrem Werk, mit dem sie sofort erfolgreich war – und zur Kronzeugin der Antisemiten wurde. Jüdische Kritiker machten ihr den Vorwurf, dass sie mit einer Figur wie «David Golder» Vorurteile schüre; sie verteidigte sich damit, dass sie bei ihrer Beobachtung geblieben sei: Mein Vater war Bankier, Geldkonflikte waren die ersten Dramen, denen ich beiwohnte. Im Rückblick erscheint politisch naiv, wie wahllos sie Zeitschriften mit ihren Novellen und Kurzgeschichten bedachte – harmlose Frauenmagazine, aber auch reaktionäre und judenfeindliche Publikationen.

Die in rascher Folge publizierten Romane sind konventionell erzählt, an Maupassant und Flaubert geschult und von unterschiedlicher Qualität: Dichte Beschreibung, psychologische Intelligenz, Eleganz im Ton und sichere Konstruktion kämpfen, nicht immer erfolgreich, mit ihrem Hang zur spektakulären Fabel und zum Klischee. Sie heiratete mit 23 Jahren und führte ein produktives Leben, und über lange Zeit deutete für sie offenbar nichts darauf hin, dass sich das Drama von Flucht und Vertreibung ihrer Kindheit wiederholen sollte. 1939 ließ sie, noch immer staatenlos, sich und die Töchter katholisch taufen; ihre Bemühungen um die französische Staatsbürgerschaft allerdings scheiterten. Im Jahr darauf adressierte sie einen Brief an Marschall Pétain, Staatschef des Vichy-Regimes: Zwar sei sie Russin jüdischer Abstammung, aber immer eine Gegnerin des Sozialismus gewesen. Man möge sie und ihre Familie nicht der Kategorie der unerwünschten, sondern der ehrenhaften Ausländer zuordnen.

Ihre künstlerische Aufmerksamkeit aber galt zuletzt nicht ihr selbst und dem Schicksal der Juden, sondern jener bourgeoisen Gesellschaft, die sie aussonderte. Über den gegenwärtigen Krieg«, heißt es in der «Suite française», die 2004 in Frankreich erschien, wurde wenig gesprochen. Die Katastrophe war den Leuten noch nicht ins Bewusstsein gedrungen, sie würde erst Monate, vielleicht Jahre später ihre lebendige, schreckliche Form annehmen, vielleicht wenn die verschmutzten Kinder, die Jean-Marie über dem kleinen Holzzaun vor ihrer Tür auftauchen sah, erwachsen wären.

Es sollte noch länger dauern.

Elke Schmitter

«100 Autorinnen in Porträts»
Von Atwood bis Sappho,
von Adichie bis Zeh
Eine Auswahl der 100 bedeutendsten schreibenden Frauen aus zwei Jahrtausenden und der ganzen Welt, vorgelegt von den renommierten Kritikerinnen Verena Auffermann, Gunhild Kübler, Ursula März, Elke Schmitter und Julia Encke. Von Sappho bis Atwood, von Adichie bis Zeh porträtieren sie Schriftstellerinnen und ihren Weg zum Schreiben, betten ihr Werk in Lebens- und Zeitumstände ein und positionieren sie innerhalb literarischer Traditionen.
Mit Beiträgen von Verena Austermann, Julia Encke, Gunhild Kübler, Ursula März und Elke Schmitter

© Stefan Fertig / Piper Verlag

Elke Schmitter wurde 1961 in Krefeld geboren. Sie studierte in München Philosophie und war von 1992 bis 1994 Chefredakteurin der taz. Seitdem schreibt sie als freie Autorin, unter anderem für Die Zeit, die Süddeutsche Zeitung und den Spiegel. 1981 veröffentlichte sie den Lyrikband «Windschatten im Konjunktiv», 1998 einen Essayband über Heinrich Heine, «Und grüß› mich nicht unter den Linden» und den Roman «Frau Sartoris» (2000), der bislang in 17 Sprachen übersetzt wurde. Es folgten der Roman «Leichte Verfehlungen», und der Lyrikband «Kein Spaniel». 2021 erschien bei C. H. Beck ihr Roman «Inneres Wetter».

Pascal Aubry «Kinder des Lebens», BLOX, 1

Für Emily Star

Viele bemühen sich ein halbes Leben lang zumeist vergeblich darum, dass sie von ihren Eltern bedingungslos in ihrem lebendigen Sosein anerkannt werden. Der Mangel an elterlicher Zustimmung wirkt wie der Phantomschmerz eines Organs, das erst wachsen soll. Lucchino Visconti, mit dessen Filme ich ganze Ferien verbringen könnte, wurde erst nach dem Tod seines Vaters als Künstler tätig. Mit Vierzig! Der Grund, warum Eltern mit Zustimmung geizen, könnte darin liegen, dass sie mit ihren statistisch eineinhalb Kindern schlichtweg Anfänger sind. In jeder Phase kindlichen Heranwachsens drohen sie jämmerlich zu scheitern. Dazu kommt, dass Eltern Freizeit und Beruf opfern, in der überheblichen Annahme, Elternschaft fiele ihnen genauso leicht wie manches andere. Und sie klagen, dass ihr Kind nicht passgenau ihre delikaten Vorstellungen vom gelungenen Leben befriedigt.

Da besteht ein hoher Bedarf an Sicherheit.

Entweder man findet sich als Kind damit ab. Oder man erstürmt irgendwann dieses Bolllwerk an Verweigerung und prallt um so mehr ab. Ich habe schon herzzerreissenden Szenen beigewohnt, wo das Kind seine Anerkennung wörtlich erfleht hat. In einer Sturheit, die für sich genommen doch peinlich ist.

Bekanntlich gibt es Leute, die selbst in ihrem Leiden dickköpfig sind.

Väter und Mütter erwidern zurecht diese Not mit genauso kindischem Trotz. Ihnen wird ja auch ein passgenaues Verhalten abverlangt. Weder Worte noch Zeitpunkt überlässt ihnen das Kind zur Wahl, wenn es Anerkennung will. Ausserdem erscheint ihnen seine Lage ohnehin vorzüglicher, als es ihnen selbst damals beschieden war. So gesehen wirkt in Augen der Eltern die Anerkennung, die zudem unverhohlen eingefordert wird, wie das selbstgefällige Sahnehäubchen auf ein unverdient perfektes Leben.

Velleicht lässt sich diese beschämende Tragik mit etwas Umdenken vermeiden.

Vielleicht brauchen wir diese Zustimmung gar nicht so dringend, wie wir meinen.

Menschen zu ändern ist mühselig. Also gilt, besonders in lebensökonomischer Hinsicht: Umdenken und daraus Nutzen ziehen. Dazu lohnt sich folgende Überlegung: Es gibt Menschen, die von ihren Eltern nicht nur halbwegs, sondern ausdrücklich überhaupt nie gewollt worden sind. Die Fälle sind bekannt: Fehlerhaftes Kondom, Befruchtung trotz hormoneller Vorsorge oder verätzter Samenstränge. Statt diese Kinder zu bemitleiden, könnte man doch zum Schluss kommen, dass zwei selbstbezogene Menschen ohne Kinderwunsch schlichtweg vom Leben ausgetrickst worden sind.

Und was für das Kind gilt, das aus einer Panne hervorgeht, trifft genau genommen auf alle Geburten zu. Nämlich: Das Leben hat sie gewollt.

Wir alle sind Kinder des Lebens.

Wozu also soll man sich mit seinen Eltern und ihren Schlagseiten befassen? Man ist eng verwandt, das bindet. Blut ist dicker als Wasser und so weiter. Doch die charakterlichen Eigenarten, die den Eltern anhaften, ihre verdeckten kindischen Seiten, die Freuden und Leiden, die sie umtreiben, gehören notwendig zum Leben, sind aber für das Kind zufällig in Art und Ausprägung und also nur bedingt verbindlich.

Kinder, die von ihren Eltern gar nicht oder nur halbherzig gewollt sind, befinden sich sogar in beneidenswerter Lage.

Denn sie geniessen die unmittelbare Elternschaft des Lebens selbst.

Das Leben ist ihnen Mutter und Vater in einem. Sie haben zahllose Verwandte und sind in einer familiären Blase planetarischer Grösse wohlig eingebettet. Diese Leute schöpfen aus einer Anerkennung, die ihnen angeboren ist.

Und zwar bedingungslos.

BLOX