Letzte Gelegenheit zum Abstimmen! 1. Buchblog Award

Liebe Bücherfreunde,

vielen Dank für all die positiven Stimmen und Rückmeldungen zu meiner Bewerbung für diesen 1. Buchblog Award. Auch wenn in der ersten Runde bloss die Klicks zählen und damit die Vernetzung eines Bloggers, waren es die Zusprüche und Komplimente, die mir Schub verleihen. Und doch gab und gibt es gute Gründe, an dieser «Ausscheidung» teilzunehmen:

  1. Nie war das Stöbern in fremden Blogs einfacher als hier. Nie konnte man besser in die Vielfalt dieser Welt hineinschauen. Nie war mein Staunen grösser darüber, wie vielfältig diese Landschaft ist.
  2. Ich glaube, dass sich Verleger und Autoren (Natürlich gilt die Bezeichnung immer auch für die weibliche Form!) erst jetzt wirklich bewusst geworden sind, wie wichtig Literaturblogger in einer digitalen Welt, in der man seine Infos unmittelbar aus dem Netz holt, werden können. Trotzdem scheint mir die Rolle eines Bochbloggers noch zu wenig klar zu sein. Buchblogger sind keine Rezensenten. Ich werde für mein Lesen und Schreiben nicht bezahlt. Will das auch nicht, weil ich es köstlich finde, unabhängig zu sein. Aber wenn mir ein Buch nach 50 Seiten nicht sein Gesicht zeigt, wenn es mich nicht einlässt, mich nicht umgarnt und umarmt, dann lass ich es liegen. Warum sollte ich mich mit Lektüre quälen. Ich bin ein Schatzsucher, der weiss, dass das, was er für glänzend schön hält, eine subjektive Beurteilung ist.
  3. Gleichzeitig wird bei einem Streifzug durch die Buchbloggerwelt auch klar, wie viel Luft es nach oben hat, wie viel Potenzial in dieser Nische liegt. Da nehme ich auch meinen eigenen Blog nicht davon aus: zu viele vermeidbare Fehler, zu viele ehrgeizige Ziele, die bei realistischer Betrachtung unerreichbar sind, kein Geld, um in Lektorat oder eine kleine Redaktion zu investieren, keine Möglichkeiten, Kulturbeiträge zu bekommen, weil die Nische noch zu jung ist…
  4. Buchblogs untereinander vernetzen sich kaum. Auch wenn das Gegenteil behauptet wird. Niemand will, dass andere von der eigenen Arbeit profitieren. Man hütet seine Schätze.
  5. Es ist der erste Award dieser Art, so weit ich weiss. Und wenn die guten Erfahrungen überwiegen, wird sich dieser Award entwickeln und bei anderer Gelegenheit, vielleicht auch bei Festivals, Nachahmer oder Ähnliches provozieren. Das ist gut so. Nicht nur die Lesegewohnheiten, die Literatur verändert sich. Auch die Art der Vermittlung. Und Blogger sind Kulturvermittler verschiedenster Qualität und Färbung.

Paulus Hochgatterer «Der Tag, an dem mein Grossvater ein Held war», Deuticke

Oktober 1944, irgendwo in Niederösterreich auf einem Bauernhof. Die Wellen des Krieges bewegen sich unaufhaltsam ihrem schrecklichen Ende zu. In den Augen mancher die Ruhe vor dem endgültigen Gegenschlag zum Endsieg. Wellen, die die Bauernfamilie nur insofern kümmern, dass Leo, der einzige Sohn, seit Monaten kein Lebenszeichen mehr von der Front gibt.

Bis ein Mädchen auf dem Hof erscheint, verwirrt und verstört, Nelli. Die Dreizehnjährige soll auf dem Hof in Pflege genommen werden. Was auf dem Hof in den letzten Kapiteln des Krieges passiert, davon erzählt Nelli, die nicht weiss, ob sie wirklich so heisst. Sie erzählt, wie die Dramatik des zu Ende gehenden Krieges über den Hof hineinbricht. Ein Gefüge, dass sich nicht um Politik, Rassenfrage, Feigheit vor dem Feind oder Entartung kümmerte. Das Mädchen bekommt von Lorenz, dem Bruder des Bauern, einem «spinnerten Bauernknecht», der sich mehr für Bücher als für die Scholle und das Wetter interessiert, ein braunes Heft. Das Mädchen macht für jeden Tag einen Strich ins Heft und schreibt dort ihre Wahrheit, ihre Gegenwart, denn von ihrer Vergangenheit ist ihr nichts geblieben. Und weil der alte Lorenz sie immer mehr ins Vertrauen zieht und ihr jene drei Dinge zeigt, von denen Lorenz wissen muss, dass sie nicht verloren gehen, nennt Nelli ihn «Grossvater».
Dann, als schon einhundertsechsundvierzig Striche im Heft stehen, taucht auf dem Hof Michail auf, ein russischer Kriegsgefangener, der über Jahre Zwangsarbeiter war und in den Wirren des Endkampfes ausgehungert und müde auf dem Hof strandet, nichts bei sich, ausser einer eingerollten Leinwand, die er wie seinen Augapfel hütet, einem eingerollten Etwas, das sein Geheimnis bleiben soll. Michail ist eine willkommene Arbeitskraft auf dem Hof, auch wenn ihm niemand, ausser das Mädchen Nelli traut.
Um die Dramatik des Geschehens auf die Spitze zu treiben erscheinen am Tag vor Karfreitag drei Wehrmachtssoldaten auf dem Hof, von ihrer Truppe abgetrennt, quartieren sich in die Betten der Familie und verlangen von den katholischen Bauersleuten ausgerechnet am Karfreitag, ein Schwein aus ihrem Stall zu schlachten. Man wolle Braten und Knödel, und zwar gleich. Und als die Soldaten Michail den Prozess zu machen beginnen, schlägt der Krieg auch auf dem Hof ein.

Was Paulus Hochgatterer, den ich bislang nur von seinem hochgelobten Krimi «Die Süsse des Lebens» kannte, in einer eindrücklichen konstruieren Erzählung aufbaut, ist grosse Bühne im Kleinen. In eine Bauernfamilie mit lauter Mädchen im latenten Schmerz eines vermissten Bruders bricht der Krieg ein; ein Russe, ein in Feindesland Geflohener, ein malender Fatalist – und zwei müde Soldaten mit einem Leutnant, der selbst nach Ostern 1945 noch immer an den Endsieg glaubt, glauben muss. Und ein stilles, beobachtendes Mädchen, das durch den Krieg und seinen Schrecken die Vergangenheit und mit ihr ihre Familie verlor. Unspektakulär und mit virtuoser Eindringlichkeit zeichnet Paulus Hochgatterer den Krieg im Kleinen, aus der Sicht eines Mädchens, das die Welt zu verstehen versucht. Dass Paulus Hochgatterer Kinderpsychologe ist, erklärt das Wissen um die Innenwelten verletzter Kinder, sein Talent aber ist die Tiefe dieser Perspektive. Paulus Hochgatterer erzählt ohne Erklärung, ohne Deutung, gibt der Szenerie etwas Naives, ohne ihr den Ernst und die Dramatik zu nehmen. Auch wenn es bloss 110 Seiten Lesevergnügen sind, steckt in der Erzählung «Der Tag, an dem mein Grossvater ein Held war» alles, was das Leben zu finaler Dramatik peitscht.

Paulus Hochgatterer, geboren 1961 in Amstetten/Niederösterreich, lebt als Schriftsteller und Kinderpsychiater in Wien. Er erhielt diverse Preise und Auszeichnungen, zuletzt den Österreichischen Kunstpreis 2010. Bei Deuticke erschienen bisher: «Über die Chirurgie» (Roman, 1993, Neuauflage 2005), «Die Nystensche Regel» (Erzählungen, 1995), «Wildwasser» (Erzählung, 1997), «Caretta caretta» (Roman, 1999), «Über Raben» (Roman, 2002), «Eine kurze Geschichte vom Fliegenfischen» (Erzählung, 2003), «Die Süße des Lebens» (Roman, 2006), «Das Matratzenhaus» (Roman, 2010) und «Katzen, Körper, Krieg der Knöpfe. Eine Poetik der Kindheit» (2012).

Carmen Stephan «It’s all true», S. Fischer

Orson Welles, 1941 mit «Citizen Kane» eben berühmt geworden, dreht 1942 verschiedene Dokumentarfilme über Lateinamerika. Darunter auch «Jangadeiros» (auch bekannt als «Vier Männer auf einem Floß»), die Geschichte armer Fischer, die sich gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit auf einen langen Weg übers Meer aufmachen. Eine zweimonatige Reise auf einem Floss, ohne Kompass, aber mit dem Willen, ihre Welt zu verändern.

Nachdem Jacaré, ein einfacher Fischer aus dem Nordosten Brasiliens, zwei Jahre mit seinen Gedanken und Plänen im Kopf die Idee zur Tat werden liess, fuhr die Janganda São Pedro am 14. September 1941 mit Kurs auf Rio hinaus aufs Meer. Eine Reise, die 2381 km und 61 Tage lang dauern sollte und Jacaré mit seinen drei Gefährten in Gebiete führen sollte, die sie zuvor mit ihren einfachen Flossen nie befahren hatten. Ein waghalsiges Unternehmen, um in Rio vor dem brasilianischen Präsidenten und Diktator Getulio Vargas ihr Recht einzufordern. Als die erfolgreiche Reise in der Presse ihre Runde machte, erfuhr auch der junge Schauspieler und Filmemacher Orson Welles von dem mutigen  Unternehmen und wollte mit den Akteuren selbst dieses Abenteuer nachspielen. «Ich will, dass ihr es genauso macht, wie es war», soll Orsen Welles die vier Männern beschworen haben. Doch bei den Dreharbeiten zu dem Film reisst eine Welle Jacaré von seinem Floss – und er verschwindet im Meer. Zurück bleibt Jacarés Frau mit ihren gemeinsamen Kindern und Orson Welles, ohne dessen Ansinnen es diesen Tod so nie gegeben hätte.

Carmen Stephan hätte die Geschichte einfach nacherzählen können. Sowohl das einfache Leben der Fischerfamilien, die ungeheure Reise entlang der brasilianischen Küste auf einem Gefährt, das uns Europäer zur Hochseefahrt kaum geeignet erscheint, wie der Wille und die Entschlossenheit von vier Fischern, die ihr Leben riskieren, um auf einer Reise ins Ungewisse ihr Recht einzufordern – alles wäre Stoff genug gewesen für eine Abenteuergeschichte. Eine Story, der man gerne den Untertitel «nach einer wahren Geschichte» dazusetzt. Aber auch die tragische Geschichte der Entstehung dieses Films, der scheinbar lange als verschollen galt und die Wirkung, die er auf den jungen Orson Welles gehabt hatte, wärs wert gewesen, nacherzählt zu werden. Zumal es diese Ungerechtigkeiten, dass Menschen mit ihrer gefährlichen Arbeit kaum ihr eigenes oder das Leben ihrer Familien ermöglichen können, noch immer gibt, nicht nur in Brasilien.

Aber Carmen Stephan, die schon mit ihrem Erstling «Mal Aria» Kritik und LeserInnen überzeugte, macht aus diesen Geschichten viel mehr. Carmen Stephan scheint durchdrungen zu sein von Bildern, Symbolik, dem Mut der Fischer, dem Leid der Familien und dem Hunger eines jungen Hollywood-Regisseurs. Was sie in ihrem Buch «It’s all true» tut, ist die Umsetzung all dieser Geschehnisse in eine Parabel auf die Wahrheit. In einer Sprache, die poetisch und verdichtet wie in Stein gehauen von den Urgeschichten der Menschheit erzählt; der Liebe zur Familie, dem Kampf ums Überleben, der Faszination des unmöglich Scheinenden, dem Mut der Verzweifelten. Carmen Stephan kommt in dem schmalen Roman ihren Gestalten dabei so nah, dass es mir nach der Lektüre des Buches fast unmöglich erscheint, so einfach zur Tagesordnung überzugehen. Das Buch ist voller Weisheit, voller Sprachmusik, intensiv und expressiv. Ein Buch mit Sätzen, die sich tief einbrennen. Ein Buch, das in meinem Regal einen ganz besonderen Platz bekommen wird!

Gekauft habe ich das Buch im «Bücherschiff» in Konstanz, einer ausgezeichneten Buchhandlung im Herzen der Altstadt. Einer Oase des guten Geschmacks in vollkommener Umgebung!

Carmen Stephan, 1974 im bayrischen Berching geboren, arbeitete mehrere Jahre als Autorin in Brasilien. Heute wohnt sie in Genf. 2005 erschien der Geschichtenband «Brasília Stories» und 2012 ihr erster Roman «Mal Aria», für den sie mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung 2012 und dem Debütpreis des Buddenbrookhauses 2013 ausgezeichnet wurde.

Film: «Vier Männer auf einem Floss»

Titelfoto: Sandra Kottonau

PS Noch immer wünsche ich mir Freundinnen und Freunde von literaturblatt.ch, die beim 1. Buchblog Award diesem Blog ihre Stimme schenken. All jenen, die sich bereits an der Abstimmung beteiligten vielen herzlichen Dank!

Lana Lux «Kukolka», Aufbau

Es ist die Geschichte von Samira. Das kleine Mädchen wächst im Waisenhaus auf, haut mit sechs ab und gerät von einem Seelengefängnis in ein nächstes. Eine lange Geschichte, von der wir sonst nur ganz kurz in der Presse lesen; Kinderprostitution, Menschenhandel, Verwahrlosung. Ein Buch, das ebenso fasziniert wie bestürzt.

Es ist ein hartes Buch, das mich unerwartet heftig mitriss, das ich las mit einer Mischung aus Betroffenheit, Ekel und Faszination.

Betroffenheit: «Weil die Leute da draussen nicht deine Freunde sind. Kapiert? Sie waren es nie und werden es nie sein.»

Nichts im jungen Leben Samiras erinnert an Normalität. Nichts. Sie wächst in einem Waisenhaus in der Ukraine in den 90er Jahren auf, in dem nicht nur die Betten und Böden kalt sind. Frauen richten kleine Kinder zu willigen Puppen ab, einzig dazu da, mit möglichst kleinem Aufwand maximale Wirkung zu erzielen, wenn an Samstagen «hoher Besuch» kommt, mit der Absicht diese Verlorenen zu adoptieren. Mit sechs haut sie aus dem Waisenhaus ab, ohne jede Ahnung, wie die Welt ausserhalb dieser Mauern funktioniert. Am Bahnhof wird sie von Rocky, einem kleinen Ganoven aufgegabelt. Er nennt Samira «Kukolka», sein Püppchen, und lässt sie mit anderen Kindern auf den Strassen der Stadt klauen, betteln und singen, um sie in seiner Unberechenbarkeit auch einmal zurechtzuschlagen. Wieder haut sie ab, wieder «gerettet», von ihrem Prinzen, der sie singen hört, ihr Geschenke macht, sie badet und für Tage in seiner Wohnung einsperrt, «damit sie sich erholen kann». Samira ist 10 und getrieben von ihrem Wunsch, ihre einzige Freundin Marina aus der Zeit im Waisenhaus wiederzufinden. Eines jener Mädchen, das an einem der Samstage neue Eltern aus Deutschland bekam und plötzlich verschwand. Aber Dina ist wie Rocky wieder nur ein Blender, der die 12jährige zum Anschaffen zwingt, um ihn vor seinen angeblichen Häschern zu retten. Das Karussell dreht sich unaufhaltsam. Samira, die kaum je ehrliche Zuwendung erfährt, sich in einer Welt der Ruchlosigkeit, Gewalt und Perversion behaupten muss, nichts ausser ihrem Namen und einen Brief von Marina besitzt, strauchelt ungewollt, geschupst, gestossen, gezwungen und geschlagen, von einer Katastrophe zu nächsten. Ein Schicksal, dass sie mit Tausenden teilt, die mit falschen Versprechungen an den Strassenstrich und in Bordelle gezerrt werden.

Ekel: «Jeder hat eine Mama.» «Ich nicht.» «Doch, es gibt immer eine Fotze, aus der man rauskam.»

Meine Welt ist genauso real wie jene Samiras. Leider. So wie Olga Grjasnowa in ihrem Roman «Gott ist nicht schüchtern» mir als Leser das Schicksal zweier syrischer Flüchtlinge vor Augen führt, so tut es Lana Lux mit «Kukolka» mit jenem von osteuropäischen, minderjährigen Zwangsprostituierten. Der Ekel darüber, was Unmenschlichkeit, Gier und seelische Verkommenheit anrichten können, wirkt bei der Lektüre von «Kukolka» beinahe körperlich schmerzhaft. Soll man sich die Lektüre dieses Romans antun? Wo sind die Grenzen zwischen Voyeurismus und echter Betroffenheit? Was tu ich mit dem, was sich während der Lektüre ansammelt? Immerhin ist es bedeutend mehr als eine Zeitungsmeldung oder ein zweiminütiger Klipp. Lana Lux fordert mich mit ihrem hemmungs- und schonungslosen Schreiben heraus. Und Samira, das Mädchen mit den schönen blaugrünen Augen, berührt mich mehr, als ich mir bei all den gnadenlos realistischen Szenen der Unmenschlichkeit zugestehen möchte. Samiras Schicksal ist ein Teil meiner Welt, obwohl ich mich sonst mehr ärgere über Drängeler im Supermarkt oder nasse Socken beim Wandern. Bücher wie «Kukolka» braucht es. Sie peitschen mich aus meiner satten Zufriedenheit.

Faszination: «Samira, wiederholte ich, und es klang, als würde ich den Namen aus einer Plastikfolie auswickeln.»

«Kukolka» ist nicht zuletzt ein moderner Schicksals- oder Abenteuerroman, der sich ganz der aktuellen Realität verschrieben hat. Beim Lesen trieb mich eine ähnliche Faszination wie damls als Kind, als ich «Die schwarzen Brüder» von Lisa Tetzner, «Die rote Zora» von Kurt Held oder als Jugendlicher «Papillon» von Henri Charrière gelesen hatte. Ich lese, weil ich wissen will, ob sie/er es schafft. Nur ist heute die Desillusionierung so stark, dass sich der Schmerz nicht verringern lässt angesichts der vielen Schicksale, die es nicht «schaffen». Ob «Kukolka» tröstet, bezweifle ich. Darf es nicht.

Lana Lux, geboren 1986 in Dnipropetrowsk/Ukraine, wanderte im Alter von zehn Jahren mit ihren Eltern als Kontingentflüchtling nach Deutschland aus. Sie machte Abitur und studierte zunächst Ernährungswissenschaften in Mönchengladbach. Später absolvierte sie eine Schauspielausbildung am Michael Tschechow Studio in Berlin. Seit 2010 lebt und arbeitet sie als Schauspielerin und Autorin in Berlin.

Titelfoto: Sandra Kottonau

… und ich freue mich noch immer über jede Stimme bei der Absimmung um den 1. Buchblog-Award, bei dem ich seit dem 1. September auf der Longlist stehe. Besuchen Sie die Webseite www.buchblog-award.de und klicken Sie für literaturblatt.ch. Vielen Dank!

literaturblatt.ch will auf die Shortlost des 1. Buchblog-Award

Liebe Bücherfreunde, ich will auf die Shortlist! Und dazu benötige ich Eure Stimme. Einen einzigen Klick auf dem untenstehenden Link!

Noch weiss ich nicht, was ich von meiner Nommination halten soll, habe ich mich doch selbst zu dieser «Reise» angemeldet. Aber immerhin auf die Longlist habe ich es geschafft. Kein Lohn und keine Auszeichnung, denn jetzt erst beginnt das Weibeln um Stimmen. Und da meine Leserschaft klein und fein ist, rechne ich mir auch keine grossen Chance aus, es eine Runde weiter auf die Shortlist zu schaffen.

Ausser da draussen im Netz stossen viele die kleine Kugel an, auf dass sie rollt und immer grösser werde, unübersehbar!

Zuerst waren es die selbst gezeichneten und geschriebenen Literaturblätter, denen ich mit einer Webseite mehr Publikum schenken wollte. Dann wurde sehr schnell klar, dass Leser, Sammler und Horter der Literaturblätter nicht die gleichen Empfänger sind, wie die Leser, die User von Blogs. Darum wurden aus einer Schiene zwei: Literaturblätter und literaturblatt.ch.

Bei meiner kleinen Präsentation für den «1. Buchblog-Award 2017» schrieb ich: Mein Blog soll mehr sein als Rezension an Rezension. Er soll u. a. meine analog gestalteten Literaturblätter (Bald erscheint das 40.) in die Welt der Lesenden hinaustragen, eine Plattform für Schreibende sein (Plattform Gegenzauber), Dreh- und Angelpunkte für Lesungen, Festivals und Kleinstveranstaltungen rund um Literatur bieten, als Pinnwand eigene Veranstaltungen (Lesungen, Moderationen, Hauslesungen, Literatur am Tisch) präsentieren und als Knotenpunkt eines Netzwerks wachsen. literaturblatt.ch soll den Lesenden genauso viel Nutzen bringen, wie Schreibenden und Verlegenden. literaturblatt.ch ist digitales Herzblut!

Geben Sie «literaturblatt.ch» Ihre Stimme, posten Sie über Facebook und Instagram!

Ich würde mich freuen, wenn Sie literaturblatt.ch auf dem Weg in die Nähe der Shortlist unterstützen würde. Vielen Dank!

Zur Webseite des Buchblog-Award

Schriftstellerin Marianne Künzle zu Gast in Amriswil: Ein Interview

schliff.ch

Was trieb Marianne Künzle dazu, einen Roman über den Kräuterpfarrer Johann Künzle zu schreiben? Der gleiche Familienname allein kann es nicht gewesen sein?

Ich wusste von Johann Künzle, dem Namensvetter mit gleichem Heimatort und wurde auf seine kurze Autobiografie aufmerksam. Auf wenigen Seiten skizziert er in seiner letzten Publikation sein Leben und Wirken und wie er zu dem wurde, als den man ihn noch heute kennt. Zwischen diesen wenigen Zeilen, und das machte mich neugierig, glaubte ich einen äusserst ambivalenten Charakter herauszulesen. Da war dieser Jemand, der weiss, was er will, der für Wälder, Blumen und Berge schwärmt, mit einem poltrigem Humor und widerspruchsloser Strenge unzählige Menschen erreicht. Da war diese Stimme aus der Vergangenheit mit verstaubten, zuweilen irritierenden Ansichten. Aber auch absolut modernen: Was ist ein gutes Leben? Welcher Stellenwert hat die Natur? War Johann Künzle tatsächlich so? Oder noch anders, als er sich selber darstellte und dargestellt wurde? Dem Menschen zwischen den Zeilen wollte ich nachspüren.

Johann Künzle war schon damals ein Kämpfer für die zarten Seiten, auch wenn er durchaus wortgewaltig werden konnte. Du warst jahrelang bei Greenpeace tätig. Johann Künzle kämpfte für eine bessere Welt, nicht zuletzt gegen Bevormundung und die Willkür gewinnorientierter Macht. Steckt in diesem Buch auch noch etwas von deinem Kampf?
Wenn ich als Naturheilpraktikerin jahrelang für bessere Zulassungsbedingungen von Heilpflanzen und -methoden gekämpft hätte, steckte direkt etwas von meinem persönlichen Engagment mit im Buch. Bei Greenpeace galt mein Einsatz jedoch einer Landwirtschaft, die ohne Gentechnik und chemisch-synthetische Pestizide auskommt. Meine beruflichen Erfahrungen fanden mit wenigen Ausnahmen also keinen direkten Eingang in den Roman. Aber bestimmt hat mir meine Auseinandersetzung mit der Gesellschaft die notwendige Motivation und den Durchhaltewillen gegeben, mich vier Jahre lang mit Johann Künzle zu befassen. Er vertrat schon vor über einem Jahrhundert Ansichten, die im jetzigen Zeitalter von Klima- und Ressourcenzerstörung, verursacht durch uns, die wir im Konsumieren Zufriedenheit zu finden glauben, hochaktuell sind und die ich zumindest teilweise teile: er wies auf krankmachende Lebensumstände hin, geisselte übermässigen Konsum, plädierte für einen bescheidenes Leben, appellierte an die Eigenverantwortung und Besinnung aufs Wesentliche. Und er beschrieb auf rührende Art und Weise die Schönheit und den Reichtum der Natur!

Kräuterheilkunde hat nichts an seinem Nischendasein verändert. Hat die Arbeit des Buches etwas mit dir gemacht, mit dir verändert? Legst du erst seit deiner Romanarbeit Wurmfarn gegen Krampfadern in den Beinen in deine Schuhe?
Als «moderner» Mensch, der seinen Alltag meist sitzend verbringt, lege ich nun Farnblätter in die Schuhe, wenn meine Beine schmerzen. Damit verbunden sind regelmässigere Waldexkursionen. Ich kaufe keinen kühlenden Gels mehr ein, sondern finde das Kraut im Wald. Frische Luft, Kopf durchlüften, die Heilpflanze mit nach Hause tragen. Und: die Wirkung von Farn ist verblüffend! Wenn mir etwas fehlt, konsultiere ich, seit ich mit den Recherchen für das Buch begonnen habe, zuerst Johann Künzle’s Schriften. Ich glaube, dass mir die Arbeit an diesem Buch etwas mitgegeben hat: ich kümmere mich mehr um meine Gesundheit. So gut ich kann.

Eine grosse Qualität deines Romans ist, dass Konstruktion, Ton und Sprache des Buches keine Partei ergreifen. Du könntest das Buch sowohl vor Heilpraktikern wie an einem Ärztekongress vorlesen, zumindest Auszüge daraus. Du beschreibst eine Zeit, konträre Haltungen, die sich zu einem Grabenkrieg auswachsen und einen Mann, der immer wieder mit sich selbst zu kämpfen hatte. Ist Johann Künzle „exemplarisch“? Und warum ausgerechnet er? Gehst du mit dieser Figur nicht das Risiko ein, in eine Ecke gedrängt zu werden?
Warum ausgerechnet er? Es wäre schade, wenn Johann Künzle’s Geschichte nicht (noch einmal) erzählt würde! Es gibt wenige, die das Bild von der heilen, gesundmachender Bergwelt, den «Mythos Schweizer Alpen» derart geprägt haben wie der verschrobene Pfarrer mit wallendem Bart und runder Brille.

Besteht nicht die Gefahr, dass man mit einem Roman über Pfarrer Künzle von einem ganz speziellen Publikum als einen der ihren eingenommen werden könnte. Dass du die wirst, die mal über einen Pfarrer schrieb. So wie man als Schauspielerin nicht mit einer Etikette markiert werden will, so vielleicht auch bei Schriftstellerinnen.
Mich hat der Stoff fasziniert. Die Figur, deren Lebensumstände, die Epoche, Parallelen zur heutigen Zeit. Ich glaube, es wäre kein Buch entstanden, wäre da nicht das Feuer entfacht worden, das es brauchte, um diese Geschichte überhaupt erzählen zu können. Für mich war während der Recherchen und dem Schreiben kaum Thema, ob mich ein biographischer Roman über Johann Künzle in eine Ecke drängen könnte, etwa, dass ich von nun an als Künzle-Biografin gelte könnte, oder dass das Buch nur von Leuten gelesen würde, denen Künzle ein Begriff ist. Im Gegensatz zur klassischen Biographie hat ein biographischer Roman das Potential, eine breitere Leserschaft zu erreichen. An Geschichte Interessierte, an Heilpflanzen, an Belletristik, an Debüts …
Auch wenn Zweifel darüber auftauchten, ob ich für ein erstes Buch das richtige Thema gewählt habe, war für mich eigentlich immer klar – das war mein Stoff!

Anmeldung für das Essen zur Lesung unter: 071 410 10 91 oder info@bistro-cartonage.ch

Sprachkunst im Eisenwerk!

7 Autorinnen und Autoren, 7 Dichterinnen und Dichter, 7 Sprachakrobaten! Svenja Herrmann, Thilo Krause, Levin Westermann, Dragica Rajčić und Elisabeth Wandeler-Deck alle auf ihre Art mit der Schweiz verzahnt, Esther Kinsky aus Deutschland und Serhji Zhadan aus der Ukraine, einer der Unerschrockenen seines Landes. Schon ausserordentlich, wenn ein Lyrikfestival am Rande der Schweiz den Ohren schmeichelt und sticht, flüstert und rockt!

Zum Beispiel Esther Kinsky:

Man möchte Samthandschuhe anziehen. Nicht weil die Autorin ohne solche nicht fassen zu wäre. Aber der Lyrikband „Am kalten Hang“ der in Berlin und Battonya (Ungarn) lebenden Dichterin Esther Kinsky ist ein geheimnisvoll schimmerndes Juwel. Gedichte, die ich laut und mit viel Hall ins Tal rufen möchte, andere leise unter der Bettdecke flüstern.

Ich mag Gedichtinterpretationen nicht, bin mit Sicherheit verbrüht. Aber wenn ich Gedichte lese, ist es wie mit Annäherung an anspruchsvolle Musik, die mir dann doch auf Anhieb gefallen muss, erst einmal ohne Deutung und Hinterfragen.

Esther Kinsky bringt auf Anhieb etwas zum Schwingen, zwingt mich, ihre Gedichte immer wieder zu lesen, einzelne Gedichte laut, so laut, dass andere Fahrgäste im Zug den Kopf zu mir drehen. Esther Kinsky ist Dichterin, führt Selbstgespräche über Leid, Fremdsein und Tod.
Aber warum denn mit Samthandschuhen? Zugegeben, ich besitze eine tief sitzende Affinität für Bücher, die zumindest für mich in ihrer Ganzheit bestechen. Was der Berliner Verlag Matthes & Seitz mit den 24 kurzen Gedichten und dem einen langen Poem vollbrachte, ist Kunstwerk in vielerlei Hinsicht. Auf dickes Papier gedruckt präsentieren sich die Gedichte wie auf geprägte, weisse Tafeln. Und die gegenüber gestellten Illustrationen des Künstlers Christian Thanhäuser wirken wie Kippbilder, unterstreichen, was die Dichterin mit ihrer Sprache zu erzeugen vermag; genaues Hinhören und Hinschauen!

Auch wenn Lyrik keine Massen mobilisieren kann, lohnt sich eine Sprachreise darum erst recht. Nicht zuletzt wegen der Nähe zu den Akteuren. Gedichte lesen ist das eine. Sie aber von den Autorinnen und Autoren selbst präsentiert zu bekommen, eröffnet Einsichten, die einem sonst leicht verwehrt bleiben.

Cynan Jones «Alles, was ich am Strand gefunden habe», Liebeskind

An der Küste findet der Hund eines alten Spaziergängers eines Morgens einen Toten, am Strand, weit weg von allem. Der Tote ist das Ende einer Geschichte, aber der Prolog zu einem Roman, der in der Presse als «Thriller» angepriesen wird, aber viel mehr ist als das. Eine Verlierergeschichte von Träumern, ein Psychogramm Verzweifelter.

Schon sein erster bei Liebeskind auf Deutsch erschienener Roman «Graben» ist eine «Parabel zwischen Gut und Böse». Eine Parabel allerding, die keinen Zweifel offen lässt, welche Seite mehr Gewicht in den ewigen Kampf werfen kann. Auch in «Alles, was ich am Strand gefunden habe» sind es zum Scheitern verurteilte Männerfiguren, Archetypen des Scheiterns, die sich im Roman irgendwann «über den Weg laufen» und das Geschehen kollabieren lassen.

Grzegorz, polnischer Migrant, verheiratet und Vater zweier kleiner Söhne, arbeitet in einem Schlachthaus Schicht. Ein trostloser Job, der nichts verspricht, der ihn abstumpfen und an der Menschlichkeit zweifeln lässt. Ein Mann, der sowohl an seiner Arbeitsstelle wie von seiner enttäuschten Frau schikaniert und ins Ungewisse getrieben wird. Grzegorz verschreibt sich nach der Arbeit Gelegenheitsjobs, die schnelles Geld versprechen. So auch eines Tages angeheuert auf einem Trawler im Meer, über dem ein Hubschrauber nachts Drogen abwirft. Diese Päckchen werden auf Schlauchboote verteilt, die mit dem Allernötigsten ausgerüstet das weisse Gold gleichmässig und unauffällig verteilt an die Küste bringen sollen. Grzegorz sitzt auf einem solchen Schlauchboot. Nur merkt er zu spät, dass sein bereits eingestellter elektronischer Kompass nicht funktioniert. Auf dem kleinen Schlauchboot im Dunkel der Nacht, ohne Verpflegung und Orientierung, mitten auf dem Meer, spitzt sich die eine Katastrophe zu.

Grzegorz Parallelfigur ist Hold, auch ein Getriebener. Vom Tod seines Freundes in ein Versprechen gedrängt, von dem er sich mehr fürchtet als verantwortlich fühlt, ist Hold überzeugt davon, irgendwann auf der Sonnenseite des Lebens stehen zu müssen. Irgendwann all die Träume, die er mit sich herumschleppt, wahr werden lassen zu müssen. So wie der Pole auf dem Boot, mit dem Versprechen, dass sich nun endlich alles zum Guten wenden würde, findet Hold am Strand ein Schlauchboot. Ein Schlauchboot mit einem Toten und mehreren Päckchen Kokain. Hold nimmt das weisse Pulver zu sich, das materialisierte Versprechen, dass nun alles endlich anders werden würde. Mit einem Mal sieht alles ganz einfach aus, als hätte ihm sein toter Freund aus der Ferne diese eine Chance zugeschoben. Aber aus der vermeintlich sicheren Sache, aus dem weissen Pulver Geld zu machen, wird ein ungleicher Kampf um Leben und Tod. Ein Kampf, den Cynan Jones nicht mit billiger Action und Unmengen von Brutalität und Blut austragen lässt. Einen Kampf, den Jones in seinen Protagonisten inszeniert, die sich dabei immer tragischer im eigenen Unglück verstricken.

Cynan Jones schrieb einen Thriller ohne das sonst so sinnlose «Beigemüse», das sich zu oft zum Wichtigsten aufbläst. Wie in den plumpen Kinostreifen, die mit Action protzen und Spannung mit Schock- und Schreckmomenten verwechseln. Jones bleibt beim Kleinen, siedelt die Action in der sich immer fataler breit machenden Verzweiflung der Protagonisten an. Und weil Cynan Jones nicht einfach chronologisch erzählt, ist es, als würde er seine grosse cineastische Schicksalgeschichte gleichzeitig an mehreren Enden zu zeichnen beginnen und sie so Seite um Seite, Stück für Stück zu einem wirklich grossen Ganzen zusammenfügen. Der Prolog gibt unmissverständlich zu verstehen; diese Geschichte, wenn sie denn wirklich endet, endet nicht gut. Der Roman ist mit so eisiger Schärfe erzählt, als würde kalter und eisnasser Wind durch die Seiten wehen. Cynan Jones Roman halte ich für ein Meisterstück. «Alles, was ich am Strand gefunden habe» erzählt von der permanenten Verzweiflung und dem alles dominierenden Wunsch, dereinst wie Phönix aus der Asche zu steigen. Genährt von der Wut darüber, dass es stets «die Falschen» schaffen, obwohl doch eigentlich sie an der Reihe wären. Wie Cynan Jones den Gepeinigten an den Grund der Seele leuchtet, ist meisterhaft.

Cynan Jones wurde 1975 in Wales geboren. Er ist Autor von vier Romanen und zahlreichen Erzählungen, die in Zeitschriften wie «Granta Magazine» oder der «New Welsh Review» veröffentlicht wurden. Für seinen Debütroman wurde er 2007 mit dem Betty Trask Award ausgezeichnet, für «Graben«» erhielt er 2014 den Jerwood Fiction Uncovered Prize. Cynan Jones lebt in der Nähe von Aberaeron an der walisischen Küste. «Alles, was ich am Strand gefunden habe» wurde aus den Englischen von Peter Torberg übersetzt.

Titelfoto: Sandra Kottonau

Konrad Pauli «Verweilskizzen»

… In diesen langen Augenblicken scheint alles stillzustehen – und die Schwalben schwirren durchs Himmelblau. Zuweilen rauscht ein Motorrad übermütig auf – es scheint, der Fahrer müsse etwas tun gegen den Stillstand, die sonntägliche Stille. Weitherum wird er, entgegen seiner stummen Absicht, aber nicht kommen – auch er dreht sich im Kreis. Sich selbst entkommt er nicht. Bloss in Kilometern ist seine Ausfahrt belegbar und dokumentiert. Aber das Licht ist eine wunderbare Last auf allem: Die Ziegeldächer, Busch und Baum. Vor lauter Ergriffenheit will sich nichts rühren. Alles wartet ab. Worauf… Man kennt ja die Fortsetzung – oder meint es zumindest. Frau Gerber hat es wohl vorgezogen, die Wärme, ja Hitze zu meiden – sie sitzt zu Hause und macht sich Gedanken über Vieles. Als junges Mädchen, so hat sie erzählt, hat sie früh aufstehen müssen und anpacken. Es war eine erzwungene Selbstverständlichkeit. Gelernt hat sie, Hitze und Kälte auszuhalten. Nicht wohlig am geheizten Ofen, nicht untätig im Schatten. So kann sie nicht verstehen, dass die Heutigen jedes Wehwehchen beklagen und darob fast in Ohnmacht fallen. – Das Licht bringt die Blätter zum Glühen – südlicher geht’s nicht mehr. Das Licht hat die Gegend brutal im Griff. Man bleibt stehen, hält gleichsam den Atem an und ist halbwegs besorgt, nicht in den wunderbaren Strudel gerissen zu werden.

Der weisse Geigenkasten
Ein Mädchen in weissem Sommerkleid geht mit weissem Geigenkasten vorbei. Geradezu respektvoll halten Autofahrer am Fussgängerstreifen. Das Mädchen geht da wie eine lichtdurchflutete Erscheinung. Ist sie wirklich da – oder ist man das Opfer einer Luftspiegelung? Selbst wenn das Mädchen drüben nun in den Hausschatten taucht, überlebt das Lichthafte. Gewiss hat sie sich gut vorbereitet für die Übungsstunde. Ob sie ihrem Instrument treu bleibt, gar Grosses vorhat, weiss keiner. Jetzt ist sie hier ganz Gegenwart. Unangefochten. Was sie geübt und einstudiert hat, wird sich zeigen lassen. Aufmunterung wird Kritikhaftes übertönen. Vielleicht denkt das Mädchen, fähig schon zur Selbstkritik, sie hätte sich noch besser vorbereiten können – aber Verbissenheit ist ihre Sache nicht. Anderes gibt’s auch noch im Alltag. Nicht nur der weisse Geigenkasten verpflichtet. Aber in seinem Weiss verfängt sich die Sonne besonders schön. Schwarz? – Unvorstellbar. Es sieht nicht so aus, als werde das Mädchen zum Geigenspiel gezwungen mit schalen Versprechen, gar Nötigung. Ihr Gang wäre so ein anderer. Sie wird die Geige behalten als Mittel zum höheren Zweck, zur Erforschung der Musik. Noch ahnt sie kaum, welch ein Vorrat an Partituren-Schätze auf sie wartet. Genug für ein langes Leben, zumal man ein Stück nicht bloss einmal spielt. Üben, üben… Noch weiss man nicht, zu welcher Musik sie aufbricht, zu welchem Lied sie einmal fähig sein wird.

Auch das gehört dazu:
Die Kübelpalmen vor dem Ticino gaukeln Südliches vor. Nicht dass man immerfort daran hinge. Es sind die Klischees, die, ohne mein Dazutun, ihre Macht ausüben. Kein Zwang freilich, vielmehr ein Spiel, immer Erinnerungen der Ferne hervorlockend. Genauigkeit ist nicht zwingend. Es ist mehr ein entspanntes Umherstreifen und Zulassen. Greift nun ein kühler Wind über meinen Rücken in die Palmenblätter, ist’s plötzlich auch ein Nördliches. Die Jacke, die man soeben aufgeknöpft hat, wird wieder enggezogen. Harmloses erhält bestimmend Gewicht. So ist das Verweilen gesättigt von Aufmerksamkeit und Gegenwart. Weder geschieht Besonderes noch langweilen die Auftritte der Passanten. Wie Statisten stehen die Wartenden an der Tramstation. Vergeblich zähmen junge Frauen ihr langes Haar im Wind, aber die Geste ist voller Anmut. Ein Kleinkind stolpert über den Gehsteigrand. Die Mama ist froh, dass sie nicht allzu sehr trösten muss. Am Ende der Strassenflucht wachsen weisse Wolken in die Höhe: Vorboten des Sommerlichen. Ein Bus wartet, die Anschrift verlangt: Nicht einsteigen. Soldaten eilen urlaubsfroh zur Station. Der Wind flaut ab, sofort übernimmt die Wärme das Szepter: Die Jacke wird wieder aufgeknöpft. Erwartungen sind stillgelegt; es genügt, wenn gleichwelche Forderungen wieder aufleben. Die Zeit steht still – und eilt doch davon.

Konrad Pauli, 1944 in Aarberg in der Schweiz geboren, arbeitete nach der Ausbildung zum Lehrer wiederholt in Zeitungsredaktionen. Der Autor lebt in Bern und veröffentlichte bislang neun Bücher. Zuletzt erschienen «Ein Heldenleben», «Seit jeher unterwegs», «Marcos Blicke in Seeland», Weitergehen» und «Ein Romantiker in nüchterner Zeit» (Collection Montagnola, ediert von Klaus Isele).

Lawrence Osborne «Denen man vergibt», Wagenbach

Lawrence Osborne hat einen Roman geschrieben, der unzweifelhaft das Zeug zum Klassiker hat. Umso erstaunlicher, dass es sein erster in Deutsch erschienener Roman ist. Den Namen Lawrence Osborne sollte man sich merken!

Auf dem Weg zu einer Party mitten in der marokkanischen Wüste kommt es zum tödlichen Zusammenstoss. Ein britisches Ehepaar überfährt einen einheimischen Fossilienverkäufer, der urplötzlich aus dem Dunkel der Nacht auf die Strasse tritt. David und Jo steigen aus, vergewissern sich, ob er vielleicht noch lebt, durchsuchen seine Taschen, um dem Toten einen Namen zu geben und packen ihn auf den Rücksitz, weil man ihn doch nicht einfach so liegen lassen kann. David, ein in Verruf geratener Arzt und Jo, seine Frau, einmal eine erfolgreiche Schriftstellerin. Er am Steuer und betrunken, zu schnell unterwegs. Sie beide an einem Ort, an dem sie eigentlich nichts verloren haben. Während der Rücksitz mit fremdem Blut besudelt wird, fahren sie weiter in die Nacht bis zum Anwesen von Richard und Dally, die die Party ausrichten und nicht im Traum daran denken, die Party wegen dieses Zwischenfalls abzublasen. Auch nicht, als die Polizei auftaucht. Auch dann nicht, als sich vor dem Tor zum Anwesen Männer sammeln, Einheimische und man den Vater des Toten in die Garage zum Aufgebahrten vorlassen muss.

Es prallen Welten aufeinander. Hier jene von Richard und Dally, die mit viel Geld eine ganze Siedlung renovieren und sie zu ihrer Spielwiese machen. Dort jene von Driss, dem Toten in der Garage und seinem Vater, der seinen einzigen Sohn zuhause begraben will. Hier die Dekadenz des Überflusses, des Champagners, der spinnigen Parties. Dort die kaputte Gegenwart und Zukunft eines ganzen Volkes, das gezwungen ist, mit längst zu Stein gewordenem Leben das eigene Leben zu erkaufen. Hier die Angst und Arroganz. Dort die Wut, der Zorn und die unterdrückte Aggression.
Bis der Vater des zu Tode Gekommenen erwirkt, dass David den Tross ins Dorf des Verunfallten begleiten soll. Während Jo, Davids Frau, sich die Laune nicht verderben lassen will und weiterfeiert, fährt David in einem übervollen Auto und einem Toten im Gepäck hinaus in die Wüste, in die Berge, ins Ungewisse, vollkommen Fremde, in ein Dorf, wo sie trauernde Frauen erwarten und die Spannung messerscharf wird. Zweimal blinkt eine Klinge auf. Das erste Mal bloss um einen Apfel zu schälen, was demonstrieren soll, wie scharf die Klinge ist. Zum zweiten Mal vor Sonnenaufgang in der Wüste, auf Messers Schneide, zwischen Rachegefühlen und lähmender Wut.

Lawrence Osborne hat einen Roman geschrieben, der mir in die Knochen fährt. Osborne tut das in einer derart subtilen Art, die mich gefangen nimmt, die das geschehen nie explodieren lässt, obwohl während des ganzen Romans die Lunte brennt. Während der ganzen Lektüre muss ich mit dem Schlimmsten rechnen. Lawrence Osborne, bisher mit Reportagen in Erscheinung getreten, will ganz offensichtlich zeigen, wie weit sich der Mensch von seinem Bruder, seiner Schwester entfernen kann, wie weit Kulturen auseinanderdriften, was Reichtum und Armut mit Wahrnehmung und Innenwelten anrichten können, wie unversöhnlich diese Welten sind. Wie sehr jeder sich in seiner Sicht auf die Dinge, mit der Sicht auf die andere Seite sich in „Wahrheiten“ verrennt. Wie unüberbrückbar Gräben werden, erst recht dort, wo man in Ländern wie Marokko auf das Geld der reichen Ausländer genauso angewiesen ist wie die Reichen auf die Arbeitskraft der Einheimischen.
Und mitten drin das Drama eines sich abhanden gekommenen Ehepaars, das nicht weiss, ob man sich lieben oder hassen soll, das nicht weiss, warum man noch immer beisammen ist. Ein Paar im permanenten Kriegszustand, tief eingegraben, jeder in seinem Schützengraben, mit Mechanismen bewaffnet, ganz nah und Lichtjahre entfernt. Genauso wie die Menschen auf der Party von jenen, die sie bedienen, ihnen argwöhnisch zuschauen und zuhören, nicht verstehen können, warum den einen nur die Steine bleiben, während man hinter Mauern in Unmengen von Alkohol tanzt und der Wollust fröhnt.

Lawrence Osborne erzählt und verwebt drei Geschichten. Jene von David, der im Dorf der trauernden Marokkaner nicht weiss, ob er um sein Leben fürchten muss. Jenes von Jo, die einem vergangenen Leben, verpassten Chancen und der Jugend nachtrauert und sich dem Rausch hingibt. Und jene von Driss, dem in seiner Geschichte Gefangenen, Hoffnungslosen, der sein Leben am Strassenrand verliert. „Ein Niemand, ein armer Schlucker. So ist das nun mal.“
Der Unfall nachts in der Wüste, Autoblech auf Menschenknochen, macht auf mehrfach schmerzhafte Weise bewusst, wie weit man sich voneinander entfernen kann und wie viel tödliches Potenzial in Begegnungen schlummert. Dabei sind sie alle Gescheiterte, Gestrandete, Zerschlagene. Alle sind Opfer einer langen Folge unglücklicher Ereignisse, der Geschichte ihrer Kultur, der eigenen Lebensgeschichte.

Meisterhaft konstruiert und erzählt, spannend, Innenwelten aufreissend und mitreissend geschrieben. Und nicht zuletzt beweist Lawrence Osborne tiefes Verständnis für die Hoffnungs- und Zukunftslosigkeit der Menschen in der Wüste, die mit Hamid, dem Diener auf dem Anwesen von Richard und Dally erfühlen lässt, was es heisst, wenn dieser zuschaut und denkt. „So sind sie eben. Sie haben ein Herz aus Stein, wenn es um uns geht. Für sie sind wir nicht mehr wert als Fliegen.“
Ein Roman mit ungeheurer Reife geschrieben. Unaufgeregt, aber mitten ins Herz treffend, präzise auf den Nerv gezielt.

Lawrence Osborne, geboren 1958, ist ein Reisender, der mit seinen Reportagen unter anderem für die New York Times bekannt wurde. Ursprünglich aus Großbritannien, lebte er lange Zeit in Paris und jetzt in Bangkok. Inspiration für den Roman »Denen man vergibt« fand er während einer Marokkoreise. Es ist sein erster Roman auf Deutsch. Übersetzt wurde der Roman von Reiner Pfleiderer.

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Titelfoto: Sandra Kottonau