Bodo Kirchhoff „Betreff: Einladung zu einer Kreuzfahrt“, Frankfurter Verlagsanstalt

In der Reihe „Grosse Bücher – grosse Autoren“ diskutierte die Literaturkritikerin Pia Reinacher in einem Hörsaal der Uni Zürich mit dem Schriftsteller Bodo Kirchhoff über seine Bücher, das Schreiben, das Leben als Schriftsteller und was eine Einladung zu einer Kreuzfahrt ausrichten kann.

Das Schiff ist riesig. Während sich im Innenhof die Jugend tummelt, sammelt sich das reife Mittelalter in den Gängen darüber. Die Hochtischchen mit Knabberzeug und Flüssigem gehören nicht dazu. Studentinnen und Studenten auch nicht. Es schein schwierig zu sein, angehende GermanistInnen mit ins Boot zu locken. Selbst dann, wenn sich einer der ganz Grossen von Frankfurt nach Zürich bemüht, um im Bauch des grossen Schiffes von seiner Arbeit zu erzählen.

Während Bodo Kirchhoff seit Jahren an seinen grossen Stoffen arbeitet, auch jetzt wieder an einem Roman über seine Kindheit und Jugend, über Liebe, deren Verstrickungen, über die Macht der Sexualität, waren „Widerfahrnis“ und „Betreff: Einladung zu einer Kreuzfahrt“ willkommene Unterbrechungen, wie der Autor erzählte. Bodo Kirchhoff bekam wirklich eine Einladung zu einer solchen Kreuzfahrt durch die Karibik „bei freier Verpflegung sowie freien Getränken an jeder Bar unter Bedingung mehrerer Lesungen aus meinem Werk, jewils zur Prime Time.“ Ein Sprachlieferant, wie es im Kleingedruckten hiess. Statt kurz und knapp zu antworten wurde daraus ein Buch. Ein an Frau Faber-Eschenbach gerichtetes Schreiben, die Kontaktperson der Reederei, die er sich in vor einem grossen Fenster mit Blick auf den Hamburger Hafen vorstellte. Bodo Kirchhoff lässt sich gerne verführen, von Namen, Kleidern, Schuhen, dem Rauch von Zigaretten, von Nebensätzen und Nebensächlichkeiten, um sie dann virtuos und gekonnt in seine Schöpfungen einzuflechten. Ein Roman berge viel gestautes Leben. Romane, Novellen und Erzählungen seien aber nicht einfach nacherzähltes Leben, sondern Transformiertes, Neugeschaffenes. Das Übersetzen von Leben in Sprache ist Schreiben. So witzig sein Argumentieren in “Betreff: Einladung zu einer Kreuzfahrt“, so glasklar die Sprache. Und wenn Bodo Kirchhoff dann auch noch liest, scheint sich seine Sprache wie ein Cumulus aufzuwölben. Sein Text ist neben all der Sprachkunst auch eine Kampfschrift gegen jede Form der Oberflächlichkeit. Das Kreuzfahrtschiff Metapher und Spielplatz zugleich, voller Seitenhiebe, literarischer Querschläger und satten Satzmäandern.

Aber vielleicht ist so eine Lesung in der Universität, die durch Bologna- und andere Reformen von Entdeckerlust und konstruktiver Unentschlossenheit befreit wurde, genauso wie eine Lesung auf einer Kreuzfahrt von A nach A. Vor der Lesung lange Buffets, Bauchredner und Schlagersterne zur Abendunterhaltung, Flaschengeister noch und noch und die Hitze des Tages, die auskühlen muss. Literatur? Nein danke? Schade um die verpasste Gelegenheit. Bodo Kirchhoff ist ein hinreissender Erzähler.

Bodo Kirchhoff, geboren 1948, lebt in Frankfurt am Main und am Gardasee. Zuletzt erschienen in der Frankfurter Verlagsanstalt seine von Kritik und Publikum gleichermaßen gefeierten Romane »Die Liebe in groben Zügen« (2012) und »Verlangen und Melancholie« (2014). Im Herbst 2016 wurde Kirchhoff für seine Novelle »Widerfahrnis« mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.

Buchrezension zu „Widerfahrnis“ auf literaturblatt.ch

literaturblatt.ch im ersten Roman von Ingo Schulze

Auf einer Reise mit dem Fahrrad rund um den Bodensee stiess ich in der Inselstadt Lindau auf ein kleines Geschäft in der Lingstrasse 12. „card manufactur & book manufactur“ nennt sich das Lokal und verkauft Handgemachtes aus gebrauchten Büchern. Ich konnte es nicht lassen und bestellte mir eine Spezialanfertigung. Und auch wenn es eine Weile ging, freute mich das heute zugesagte Paket sehr.

Und am kommenden Wochenende treffe ich Ingo Schulze mit seinem neusten Roman „Peter Holtz.
Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst“ an der BuchBasel. Ich freue mich!

Webseite des Ladens in Lindau

Andrea Gerster «Alex und Nelli», Lenos

2016 gab es in Deutschland 335 000 Obdachlose. 35 % mehr als 2010. (In der Schweiz gibt es sie auch – aber keine Zahlen!) Wer in Berlin oder irgendeiner andern Stadt durch die Gassen geht, sieht sie. Sie nicht zu sehen, ist unmöglich. Andrea Gerster erzählt in ihrem neuen Roman „Alex und Nelli“ die Geschichte von Alexander Steiner, der sich irgendwann nur noch Alex, noch später Ale nennt. Und von Nelli, die von Alexanders Verschwinden nicht losgelassen wird. Ein Roman über die Reduzierung mehrerer Leben.

Dem Roman ist ein Zitat von Elfriede Jelinek vorangestellt: „Wenn einer ein Schicksal hat, dann ist es ein Mann. Wenn einer ein Schicksal bekommt, dann ist es eine Frau.“
Alexander Steiner liebt seinen Jaguar, das Raubtier, 500 PS, Acht-Gang-Automatik. Vielleicht liebte Alexander auch Nelli. Aber Alexander liebt sich selbst nicht, genauso wenig wie seine Hände, die er lieber in Lederhandschuhen versteckt. Als die Geschäfte bei Architektur Steiner & Berger schlechter gehen, sein Partner an ihm vorbei aus dem Fenster in den Tod springt, er mit seinem Raubtier eine Frau zu Tode fährt und Nelli ihn verlässt, bleibt nichts mehr übrig. Nichts. „Steiner schrumpft.“ Alexander Steiner taucht ab, nach Deutschland, nach Berlin. Zuerst mit der Absicht, es noch einmal zu versuchen, diesmal als Alex. Was nicht gelingt. Von Alexander Steiner bleibt Ale. Ale ist einer der Obdachlosen in der Millionenstadt, einer von vielen, ein Mann mit Schicksal. Ein Mann, der seine Vergangenheit auszulöschen versucht.

Bei Nelli, die bei Alexander Steiner auszog, waren es weder die kleinen noch die grossen Gemeinheiten, die sie aus der gemeinsamen Wohnung trieben. Nelli war schwanger und Alexander überzeugte sie davon, dass es besser sei, das Kind wegzumachen. Was man aus Nelli wegmachte, war aber viel mehr als das ungeborene Kind. Und weil dieses ungeborene Kind Nelli nicht loslässt, es sich im Laufe des Romans immer deutlicher als Vorstellung Nellis manifestiert, macht sich Nelli auf die Suche nach Alexander. Auf die Suche nach dem Verlorenen.

„Alex und Nelli“ ist keine Liebesgeschichte. Aber die Geschichte verlorener Liebe. Alexander glaubt sich von aller Liebe verlassen, lässt alles zurück, kappt alles. Nelli sucht nicht nur nach Alexander, auch nach dem was er ihr genommen hatte, nach dem, was ihr das Leben doch versprochen hatte, die Liebe. Alexander taucht ab, verschwindet, wird zusammengeschlagen, bleibt liegen als Haufen Elend. Was ihn am Leben lässt, ist die wiedergefundene Liebe zum Leben, das absolut reduzierte Sein.

«Man kann so oder so glücklich werden, muss aber nicht.»

Der Handlungsverlauf des Romans strapaziert die Grenzen des Konstruierten arg. Zufälligkeiten, die ich nur schwer nachvollziehen kann und Szenen, deren Glaubwürdigkeit meine Vorstellungskraft zu sehr ausreizt. Trotzdem überzeugt der Roman, die knappe Sprache, wie sehr sich die Autorin auf das Wesentliche fokussiert. Andrea Gerster spiegelt die Gesellschaft, lotet Gegensätze aus, packt jedoch viel in die Geschichte hinein. Allein Alexanders Herkunft, die Geschichte seiner frühsten Kindheit, erinnert an Bilder aus dem Film Trainspotting. Und das traumhafte Erscheinen des ungeborenen Kindes bei Nellis Suche nach dem nicht gewordenen Vater trägt das Geschehen an den Rand des Realen. Das Ungeborene, das sich einmischt. Nellis Kind, dass sie damals hatte abtreiben lassen, ohne wirklich darüber nachzudenken.

„Alex und Nelli“ ist die Geschichte von Lügen. Alex selbst belügt sich lange genug, bis die dünne Schicht nicht mehr trägt und er einbricht. Nelli lügt nicht weniger. Sie trennt sich mit einer Lüge von ihrem neuen Freund Len, reist mit einer Lüge nach Berlin und lockt Alex mit einer Lüge aus seinem abgewandten Dasein. Andrea Gerster offenbart, was Lebenslügen anrichten, dass Wahrhaftigkeit und Wahrheit vielleicht doch nicht ohne Lüge auskommen, dass Glück nicht immer dort liegt, wo man sucht. Weder Nelli noch Alex wollen die Konfrontation, obwohl sie Zufall und Absicht mehrfach aneinander vorbeischrammen lassen. Zufälle und Absichten, die mir nicht immer glaubhaft erscheinen.

Andrea Gersters sechster Roman, der vom Lenos Verlag als „tragikomisch“ angepriesen wird, will viel, schafft aber nicht alles. Lesenswert, unterhaltsam, herausfordernd und gut geschrieben ist er aber allemal. Ein Roman, der den Nerv der Zeit trifft. Ein Roman über die Einsamkeit und Zerrissenheit des Menschen.

Andrea Gerster, geboren 1959, lebt als freie Journalistin und Schriftstellerin in der Ostschweiz. Die mehrfach ausgezeichnete Autorin hat Romane, Erzählbände sowie weitere Erzählungen in Literaturzeitschriften und Anthologien veröffenlicht. Andrea Gerster ist zudem Progammverantwortliche im Literaturhaus Lichtenstein.

Buchvernissage «Alex und Nelli»
Dienstag, 24. Oktober 2017, 19 Uhr, Hauptpost, Raum für Literatur, st. Leonardstrasse, St. Gallen, Buchfest mit Lesung und Apéro, Moderation Rebecca C. Schnyder, Büchertisch Buchhandlung Comedia, St. Gallen.

Webseite der Autorin

gedruckt im Kulturmagazin „Saiten“, Oktoberausgabe 2017

Titelfoto: Sandra Kottonau

Nicol Ljubić «Ein Mensch brennt», dtv

Am 16. November 1977 übergoss sich der Lehrer Hartmut Gründler in Hamburg mit Benzin und zündete sich an. Fünf Tage später erlag er in einem Krankenhaus seinen Verbrennungen. Der damals 47jährige protestierte damit während des SPD-Bundesparteitages gegen «Falschinformationen» der SPD-Bundesregierung in Sachen Atompolitik.

Hartmut Gründlers Selbstverbrennung war der finale Protest einer ganzen Reihe mehr oder weniger spektakulärer Aktionen. Wegen Meinungsverschiedenheiten vom «Bund für Umweltschutz» ausgeschlossen, gründete der Unbeugsame den «Arbeitskreis Lebensschutz – Gewaltfreie Aktion im Umweltschutz e. V.“ und verbiss sich vor allem in den Kampf gegen Atomkraft.

Journalist und Schriftsteller Nicol Ljubić erzählt in seinem neusten Roman «Ein Mensch brennt» nicht einfach die Biografie eines kompromisslosen Weltverbesserers. Nicol Ljubić interessiert, was Hartmut Gründler mit seinem Tun auslöste. Nicht so sehr die Auswirkungen auf die Politik, die sich weder durch Hungerstreik noch Selbstverbrennung beirren liess, sondern auf jener seiner unmittelbaren Umgebung. Und damit auf die Familie Kelstenberg, Vater, Mutter und Sohn Hanno. Hartmut Gründlers Feuertod in Hamburg ist Brandbeschleuniger im ehelichen Schwelbrand in Hannos Familie in Tübingen. Das Buch ist Hannos Rückschau nach 37 Jahren, Jahre nach dem Tod seiner Mutter und etlicher Kisten, Ordner und Dateien über den Kampf gegen die scheinbare Ignoranz der Regierenden. Kurz vor ihrem Tod war Marta, Hannos mittlerweile über 70 gewordene Mutter, wohl die einzige, die die Atomkatastrophe in Fukushima zufrieden machte. «Er hatte es gewusst! Hartmut hatte es gewusst!» Und weil seine Mutter im Spitalbett kurz vor ihrem Tod Hanno bat, alles zu tun, damit sich ein Journalist fände, der die Geschichte von Hartmut zu einem Buch macht, ihm, dem Kämpfer seinen Platz im Haus der Geschichte gibt, macht sich Hanno ans Schreiben.

Selbst nach drei Jahrzehnten schwebt noch immer der Alp dieses Mannes und seines Endes über der Familie der Kerstenbergers. Monate nach Hartmuts Selbstverbrennung starb Hannos Vater an einem Autounfall und Hannos Mutter Marta begann in Berlin nach der einen Katastrophe und der Trennung von ihrem Mann eine neue Existenz. Eine Existenz im Schweif des Kometen, noch immer erfüllt von Hartmuts Kampf gegen Windmühlen. Bei Familie Kerstenberg gibt es drei verschiedene Zeitrechnungen, jene vor und jene nach Hartmut und noch jene kurze Zeit, in der Hartmut Gründler, der unbeirrbare Politkämpfer, Mieter im Untergeschoss ihres Hauses war.

Dreh- und Angelpunkt des Romans ist nicht der Kampf und die Selbstzerstörung des heute vergessenen Kämpfers. Vielmehr die Zerstörung, die dieser in Hannos Familie anrichtet. Hartmut Gründler war nicht der Grund, dass die Familie auseinanderbrach, aber ein Katalysator. Marta, Hannos Mutter, spürte im umtriebigen, fast mönchischen Wesen ihres Mieters im Untergeschoss etwas von der Kraft und offensichtlichen Leidenschaft, die ihr bislang nicht nur im Umgang mit ihrem Mann fehlte. Mit Hartmut lehnte sie sich auf gegen die zementierten Strukturen ihres eigenen Lebens. Marta selbst war keine emanzipierte Frau, emanzipierte sich aber im Sog ihres Propheten. Hanno weiss über drei Jahrzehnte später, was Hartmut anrichtete, nicht bloss in der Ehe seiner Eltern, in der Hartmut unvereinbare Ein- und Ansichten aufeinanderprallen liess. Marta machte Hanno zu ihrem Verbündeten, schleppte ihn mit an Demonstrationen, Kundgebungen, Aktionen und schlussendlich gar ins Spital, wo Hartmut Gründler entstellt und schwarz verkohlt auf sein Ende wartete. Hanno war zehn, als man ihn ungefragt zu instrumentalisieren begann, als er zwischen die Fronten geriet, Dinge zu verstehen hatte, die ihm niemand verständlich machen konnte.

Wie so oft eine Geschichte «im Konjunktiv». Was wohl passiert wäre, was aus der Familie, aus ihm geworden wäre, hätte Hartmut Gründler damals nicht an der Tür ihres Hauses um eine Bleibe gefragt. Hätte er ein anderes Zuhause gefunden, bei einer anderen Familie. «Ein Mensch brennt» ist ungemein vielschichtig und thematisch hoch aktuell. Ein Roman über einen Radikalen, der als Sprachwissenschaftler den Kampf mit dem Wort führen will, gewaltfrei. Aber kaum jemand hört ihn. Und ausgerechnet er, der sich Gandhi zum Vorbild nahm, tötete sich selbst mit grösstmöglicher Gewalt. Ein Familien- und Gesellschaftsroman, der erzählt, wie sich in den 80ern eine Frau von ihrem Mann zu emanzipieren versucht, eine Frau die Überzeugung gewinnt, dass sich Kochen und Weltretten nicht vertragen. Über die 80er in Deutschland, als Othmar Hitzfeld noch selber Tore schoss, auch einmal sechs in einer Partie, die SPD noch unbeirrt an der Atomkraft festhielt und Autofahren ein Lebensgefühl war.

Nicol Ljubić erzählt genau, liess sich von Geschichten und Geschichte inspirieren. Vor allem von Hannos Zerrissenheit zwischen Vater und Mutter, einer bröckelnden Gegenwart und der Sehnsucht nach dem Damals, der Zeit v. Har., bevor Hartmut anklopfte. Ein Roman, der mir in die Knochen fuhr, bewusst machte, wie schnell Gegenwart Vergangenheit vergisst und Kampf Kollateralschäden verursacht, der der Kämpfer gar nicht beabsichtigt. Nichts ist verrückter als die Realität!

Nicol Ljubić, 1971 in Zagreb geboren, wuchs in Schweden, Griechenland, Russland und Deutschland auf. Er studierte Politikwissenschaften und arbeitet als freier Journalist und Autor. Für seine Reportagen wurde er mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Theodor-Wolff-Preis. Für seinen zweiten Roman, «Meeresstille» (besprochen auf Literaturblatt XIII), erhielt er 2011 den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis sowie den Ver.di-Literaturpreis, zudem stand der Roman auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. Zuletzt erschien der Roman «Als wäre es Liebe». In den Jahren 2014 und 2016 war er Mitinitiator der Europäischen Schriftstellerkonferenz. Nicol Ljubić lebt in Berlin.

dtv-Webseite mit Hintergrundinformationen

Titelfoto: Sandra Kottonau

Mareike Krügel «Sieh mich an», Piper

Ein Mann, der nicht da ist, eine Tochter mit ADHS, Barbie und Ken in der Stube, zwei ausgebüxte Ratten, ein abschnittener Daumen im Schnee und ein brennender Trockner – Katharina hätte genung am Hals, wenn da nicht auch noch das eine wäre, das sie nicht über die Lippen bringt.

Zugegeben, es brauchte eine Weile, bis ich in den Roman eintauchen konnte. Obwohl schon der erste Satz verrät, worum es in diesem Roman wirklich geht. Aber weil der zweite Satz hiess «Schultüren sind der Eingang zur Hölle» und ich eben ein Interview mit dem Philosophen David Precht gehört hatte, spürte ich eine ordentliche Portion Widerwillen. David Precht würde die Schulen am liebsten abschaffen, hängt ihnen an, in ihnen wehe noch immer der preussische Geist des Drills. Sie seien Mühlen, in denen brave, funktionierende Staatsbürger zugeschiffen werden. Da ich ebenfalls unterrichte, war es nicht ganz einfach weiterzulesen.

Aber Mareike Krügel hat keinen Antischulroman geschrieben. Die Schriftstellerin zeichnet Katharina und ihren verzwickten Alltag. Ein Alltag, der es schwer macht, sich neben all den zwingenden Kleinigkeiten auf das Wesentliche zu konzentrieren. Katharinas Tochter Helena, von allen Helle gerufen, ist elf und eine Rabauke. Da verwundert es auch nicht, dass Katharina sie von der Schule holen muss, weil sie mit unstillbarem Nasenbluten den Teppichboden im Sekretariat versaut, dass Helles Freundinnen ordentlich was abbekommen, Pferde durchbrennen und sie bei einer Freundin übernachten will, wo bei einer Party schon ordentlich gebechert wird. Dass Helle den Stempel ADHS mit sich trägt, hilft Katharina am wenigsten. Helles grosser Bruder ist 17 und das erste Mal an ein Mädchen vergeben, von dem die Nachbarn Theo und Heinz meinen, sie sei ein Volltreffer. Alex ist das genaue Gegenteil seiner quirligen Schwester. Für Katharina allerdings kein Ersatz für ihren Mann Costas, der die Woche über in der Hauptstadt arbeitet und nur an den Wochenenden in «den Schoss der Familie» zurückkehrt. Katharina ist dieser Schoss, das Epizentrum der Familie. So sehr ins Geschehen eingepasst, dass es für die Erschütterungen in ihrem eigenen Leben kaum Platz hat. Auch da türmt sich Schicht um Schicht. Eine Mutter, die sie verlor, ein Vater, der resignierte, eine Schwester, die nicht nur örtlich auf der andern Seite des Planeten wohnt. Da sind Fragen um das eigene Leben, um das verlorene Leben ihrer zweiten Tochter, eine Ehe, die abhanden kommt und diese Knoten in ihr, die von ihr Besitz ergreifen.

«Es gibt mich noch.»

«Sieh mich an» ist mehr als ein Familienroman. Aber ein Roman, der die Familie zum Schauplatz macht, der die grossen Gesten, die grossen Fragen in das Kleingefüge «Familie» setzt. Mareike Krügel beschreibt einen einzigen Tag, der alles widerspiegelt, was das zugepappte Leben Katharinas ausmacht. Eine Minikatastrophe reiht sich an die nächste. Kein Platz für die grosse Katastrophe, die in Katharina wächst. Für Katharinas grosse Angst findet sich weder Platz noch einoffenes Ohr. Da ist auch der ehemalige WG-Freund, der sich abends angemeldet hat, nicht der Richtige. Ein Gesellschaftsroman über modernes Leben, duchgestylt scheinendes Reiheneinfamilienhausdasein. Wie sehr sich die Familie in die Modeströmungen einspannen lässt. Wie sehr man sich knechten lässt von den Errungenschaften des modernen Lebens. Ein Frauenroman? Mit Sicherheit auch, denn die grossen Abwesenden in diesem Roman sind die Männer. Selbst die hilfsbereiten Nachbarn Theo und Heinz sind genetisch keine Männer. Und Costas, Katharinas Mann, weit weg in Berlin, abends an einer Firmenfeier in einem Berliner Hotel, während Katharinas Leben zu entgleisen droht. Ein Roman nur für Frauen? Bei weitem nicht. So erhellend wie hundert Ratgeber. So spannend wie ein Krimi. So einfühlsam, wie sich eine Frau den Mann wünscht. So direkt, dass es einem bei der Lektüre manchmal fast den Atem nimmt. «Sieh mich an» ist eine Aufforderung, so wie das Buch. Aber ganz ohne Mitleid, dafür mit Wirz, Ironie und Schalk.

Ein kleines Mail-Interview mit Mareike Krügel:

In Ihrem Roman «Sieh mich an» ertrinkt Katharina fast in ihren Pflichten, ihren Aufgaben, ihren Sorgen und Nöten. Das wird auch der Grund sein, warum sich viele, vornehmlich Leserinnen, von diesem Roman wiedererkannt und verstanden fühlen. Ist doch aber eigentlich paradox; Wir leben in einer hoch technisierten und durchorganisierten Welt. Und doch scheint Familienleben nicht einfacher zu werden. Muss man akzeptieren?
Ja, das lässt sich, glaube ich, nicht ändern. Mehr Technik und Organisation sind der nicht Schlüssel zu mehr Gelassenheit, und wenn es etwas gibt, das sich in den Familienstrukturen in den letzten Jahrzehnten verändert hat – meiner Einschätzung nach -, dann sind es die Beziehungen. Weil es wenig Vorbilder gibt, schießen viele Eltern damit etwas übers Ziel hinaus, aber grundsätzlich halte ich es für eine der besten Veränderungen des westlichen Abendlandes: Der Versuch, zu seinen Kindern echte Beziehungen aufzubauen, sie wahrhaftig zu begleiten, sie nicht nur irgendwie durchzubringen. Das ist kompliziert und mitunter überfordernd.

«Sieh mich an» ist eine Aufforderung. Da hätte auch noch ein Ausrufezeichen gepasst. Während Costa in Berlin vor der Firmenfeier an der Kravattenfrage scheitert, gibt es für seine Frau Katharina nur den Angriff nach vorn. Ist das der Mutterinstinkt, der verhindert, dass Katharina lange nicht tut, wonach es in ihrem Innern schreit?
Der Mutterinstinkt, dessen genaue Definition ich nicht kenne, spielt vermutlich in den ersten Lebensjahren der Kinder eine übergeordnete Rolle und mag in dieser Zeit dazu beitragen, dass Mütter sich selbst zurücknehmen oder sogar ihre Bedürfnisse hintanstellen. Danach aber vermute ich als Ursache für Katharinas – und vieler anderer Frauen – Selbstverleugnung die immer noch gültige unsägliche Sozialisierung der weiblichen Mitglieder unserer Gesellschaft.

Sie mobilisieren in Ihrem Roman viele Urängste. Die Angst, vor seinen Kindern zu sterben, nicht zu wissen, wohin und wie ihr Weg verläuft. Die Angst, vor lauter Aufgaben sich selbst zu vergessen und zu verlieren. Die Angst, sich selber untreu zu werden. Steckte in diesen Ängsten eine der Motivationen, diesen Roman zu schreiben?
Ängste können ein wunderbarer Wegweiser beim Schreiben sein. Ich versuche, beim Schreiben der Angst und der Freude zu folgen. Die Grundmotivation für diesen Roman war aber eher, mich mit den Verstrickungen auseinanderzusetzen, die sich in Familien mitunter ergeben.

Helle, Katharinas Tochter, hat die «Diagnose» ADHS. Aktueller könnte das Thema nicht sein, nachdem ein Professor für Neurobiologie in einer ZDF-Nachrichtensendung die Behauptung aufstellte, ADHS gäbe es nicht, nur in der Köpfen der Pharmaindustrie. Ich weiss sehr gut, wie entlastend eine solche Diagnose sein kann, wenn Eltern annehmen dürfen, dass sie nicht einfach bei der Erziehung versagt haben. Aber Helle zwingt ihre Mutter Katharina an eine Wand. Trösten Sie?
Ich finde, Katharina hält sich ziemlich gut. Und da sie auch die negativen Gefühle ihrer Tochter gegenüber zulässt und nicht kleinzureden versucht, hat die große Liebe und Bewunderung, die sie ihr gegenüber ebenso empfindet, auch eine Chance, sich zu voller Größe zu entfalten. Dabei kann solch eine Diagnose besonders hilfreich sein, weil sie die Eltern von ihrem schlechten Gewissen entlastet und zusätzlich sehr gut nachvollziehbare Erklärungsmodelle anbietet. Und wen man versteht, der zwingt einen auch nicht so leicht an die Wand.

Ihre Verlagschefin Felicitas von Lovenberg pries Ihr Buch schon im Vorfeld, andere stempeln es zum Frauenbuch. (Ich bin überzeugt, dass es Frauenliteratur nicht geben kann. Nur Bücher, die zur Literatur zählen und solche, die allenfalls zur Unterhaltung genügen.) Warum sollen Männer dieses Buch lesen?
Hätten Frauen immer nur Bücher gelesen, die nur für sie gedacht waren, so hätte kein Autor auf diesem Planeten je von seinem Beruf leben können. Wenn sich also Frauen noch nie um diese Kategorien geschert haben, warum sollten Männer das dann tun? Wäre das nicht ein bisschen engstirnig? Und was würde ihnen entgehen. Ein Roman ist eine der wenigen Möglichkeiten, die wir Menschen haben, wirklich einmal «in den Schuhen eines anderen zu gehen».

Liebe Frau Krügel, vielen Dank!

Mareike Krügel, 1977 in Kiel geboren, studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Seit 2003 hat sie drei Romane veröffentlicht. Sie lebt bei Schleswig. Mareike Krügel erhielt zahlreiche Stipendien, u.a. in der Villa Decius in Krakau, und ist Mitglied im PEN Deutschland. Im Jahr 2003 bekam sie den Förderpreis der Stadt Hamburg und wurde 2006 mit dem Friedrich-Hebbel-Preis ausgezeichnet.

Mareike Krügel liest u. a. am 17. Oktober in Konstanz in der Buchhandlung Osiander an der Rosengartenstrasse.

Ein Gespräch mit Mareike Krügel beim NDR

Webseite der Autorin

Titelfoto: Sandra Kottonau

Ein Abend unter dem Mond mit Marianne Künzle

„Lesen geht durch den Magen – gestern Abend zum Beispiel auf Einladung von literaturblatt.ch. Die unvergessliche Candle-light-Dinner-Lesung im Bistro Cartonage in Amriswil. Die kulinarischen Höhenflüge wie Brennnesselchips, Hagebuttencrème, Senfkraut auf Randenrisotto, Kräuterschnaps zum Abrunden. Das aufmerksame Publikum, die überraschenden Gespräche, die tolle Moderation. Und der satte Vollmond hinter Regenwolken. Schön war’s!“ Marianne Künzle

Fotos: Sandra Kottonau

Christine Fischer «Der Zweifel, der Jubel, das Staunen», orte-Verlag

Kein Roman, keine Erzählung, kein Gedicht. Vielleicht philosophische Prosa. Ganz sicher Gedanken über die Hintergründe der Dinge, die abgewandten Seiten, die Unterböden, auf denen wir stehen, die aber fast immer unsichtbar sind. Ein Büchlein wie ein Brevier. Aber nicht so einfach hingebetet, keine Litanei, keine Allgemeinheiten.

Christine Fischer interessiert sich für Innenwelten. In ihren Büchern beschreibt sie Menschen in ihren Zweifeln, Abgründen, geht ihnen ganz nah. Dieses Büchlein blickt von Innen nach Aussen. Es bildet ab, was die Autorin denkt, fühlt und sieht; Das Denken um die Welt, das Fühlen einer Empfindsamen, das Sehen einer Frau, die weit über den eigenen Nabel, die eigene Nasenspitze hinaussieht. Fast hundert kurze und kürzeste Gedankenfenster mit den Kapitelüberschriften «Anrufungen», «Mutmassungen», «Anfechtungen», «Behauptungen», «Bedachtsamkeiten», «Begründungen» und «Lobpreisungen». Begriffe, die aus der Zeit gefallen scheinen, für die es sonst keine Verwendung mehr zu geben scheint. Ein Büchlein, das in der Buchhandlung in kein Regal passt, nicht zu Lyrik, nicht zu den Ratgebern, kein Reiseführer. Aber genau das ist es, was den Reiz dieses Büchleins ausmacht. Christine Fischer muss nichts mehr beweisen. Am allerwenigsten, dass sie schreiben kann, dass sie denken kann, dass Sprache ein Instrument ist, das ebenso Klang wie Wirkung erzeugt.

Das rosa Büchlein (Die Farbe vertrage ich auch in diesem Fall nur schlecht. Keine Ahnung, wie der Verlag zu dieser Farbe kommen konnte! Kein Deut von einer rosa Brille! Auch kein Wohlfühlbüchlein!) lag ein paar Tage auf meinem Nachttischchen. Christine Fischers kleine Texte begleiteten mich in die Nacht, an den Schlaf heran, dort, wo Gedanken sich freimachen. Einmal nahm ich das Büchlein mit in den Zug, las darin im Stehen gleich neben der Tür, weil der Zug so voll war. Irgendwann spürte ich die Blicke auf mir und dem kleinen rosa Büchlein. Nicht nur die Farbe verunsichert, manchmal tun es auch die Texte. Sie beschwört die Müdigkeit, bei ihr zu bleiben, den Zorn und die Fäulnis. Sie mutmasst, ob es tote Dinge wirklich gibt, was Pflanzen täten, wenn sie Wetterprognosen lesen würden. Christine Fischer nimmt die Nacht ins Visier, weiss, dass sie Nacht am Gürtel ein Messer trägt, mit dem sie Taue kappt, die einem mit dem Ufer der Gewissheit verbinden.
Kaum ein Text tut, was Morgenbetrachtungen tun. Sie schützen nicht, klären nicht, trösten nicht und beschwichtigen nicht. Sie rütteln und trotzen, sie zerren und stossen. Christine Fischer mischt sich ein, tut dies mit Poesie und Sprachgewalt.

behauptungen, Jan Kaeser

Die Graphit-Zeichnungen wurden vom St. Galler Künstler Jan Kaeser eigens für dieses Buch erstellt. Er liess sich von den Texten «erschüttern und erregen». Diese inneren Bewegungen habe er gleich einem Seismographen während des Lesens direkt mit dem Graphitstift auf Papier übertragen. Im Buch sind Ausschnitte davon abgebildet. Die beiden Künstler verbindet eine jahrzehntelange Freundschaft. Etwas, das spürbar wird, wenn man sich auf Zeichnungen und Texte einlässt.

Ein Interview:

Deine Texte in deinem Buch machen ganz und gar nicht den Eindruck, als hättest du sie in eine Ordnung gebracht, Titel dazugeschrieben und sie so zu einer Einheit gemacht. Wie entstand dieses Buch? War da ein Plan, eine Absicht?
Wie so oft beim Schreiben, entstand der Anfang zufällig. Ein Schriftstellerkollege hatte mir gesagt, dass ich an den Anfang meiner Texte oft eine Behauptung stelle. Gut, dachte ich mir, so behaupte ich nun absichtlich! Und da ich in jener Zeit oft an Betten von Sterbenden wachte und ein ganz neues Verhältnis zur «Nacht» entwickelte, stelle ich als erstes Behauptungen zur Nacht auf. Nicht alle meine Gedanken konnte ich dort subsumieren, also suchte ich nach weiteren «Klarsichtmäppchen», in denen ich meine Gedanken und Überlegungen zur Wahrnehmung der Welt unterbringen konnte. Um diese Einheiten gegeneinander noch besser abzugrenzen, wählte ich für jede eine besondere sprachliche Form, vom Duktus her oder grammatikalisch, beispielsweise den Konjunktiv bei den «Mutmassungen», die biblisch anmutende Sprache bei den Textfragmenten über die Liebe in den «Begründungen», oder den immer gleichen Anfang wie bei den «Lobpreisungen». Es liegt also durchaus einiges an formalen Überlegungen und Strukturarbeit in dieser Textsammlung. Ich bekam so richtig Freude daran, subtilere Gedankengänge zu beschreiben und nach geeigneten Titeln, Wörtern, Bildern dafür zu suchen. «Subtleties», hiess der Arbeitstitel, also Subtilitäten, denn ich wusste ja auch nicht genau, was hier im Entstehen begriffen war und wie es zu betiteln wäre. Bis heute tue ich mich schwer zu erklären, was diese Sammlung enthält. «Federwolken», das war auch so ein geheimer, vorläufiger Titel. Dieser Titel weist darauf hin, wie dieses Buch entstand: Zwar aus dem Blauen hinaus sich Textwölckchen und Wölckchen entwickelnd, seine Form suchend und findend, ordentliche Reihen bildend – und sich dem Zugriff entziehend, vorläufig, flüchtig.

anfechtungen, Jan Kaeser

Wie entstanden die einzelnen Texte?
Wie bereits oben beschrieben, gab es eine initiale Sammlung von «Behauptungen zur Nacht», die aber ziemlich sofort nach weiteren Unterkapiteln rief. So entstanden parallel kurze Niederschriften auf Notizzetteln, die ich dann in der wachsenden Zahl von Titel Unterschlupf fanden, aber erst, nachdem sie sprachlich entsprechend gekämmt worden waren. Das ganze Konglomerat entstand über einen Zeitraum von etwa 4 Monaten. Ideen, Gedanken und ganze Sätze springen mich oft an im Halbwachzustand (Aufwachen, Einschlafen, Dösen), beim Spazieren oder beim Zugfahren, auch Abwaschen oder Staubsagen sind tolle Ideenbegünstiger. Der diskursive Geist muss abgelenkt werden, dann entsteht Raum für Subtileres, für «Federwolken». Ich glaube, dass jeder Mensch sich laufend ganz viele Gedanken macht zum Leben und seinen Erscheinungen, aber diese Gedanken vielleicht nicht erhascht oder sie ganz einfach nicht aufschreibt.

Die Texte lassen tief blicken, zeigen viel von dir. Wieviel Scham spielte bei der Auswahl der Texte?
Ich glaube, ich liess mich leiten vom Anspruch der Wahrhaftigkeit. Wird man ihm gerecht, ist man geschützt von Gefühlen der Scham, der Entblössung. Es gelangt dann das zur Gestalt, was Gestalt annehmen will und muss. Nicht im Sinne einer Sendung oder Mission, sondern als Ausdruck von Erkenntnissen, die mehr kollektiver als subjektiver Natur sind. Also kein Erfinden, sondern eher ein Beschreiben von tieferen Schichten der Wahrnehmung, dem eigentlich Unnennbaren. Dies als Versuch, der durchaus auch scheitern oder irren darf. 

Irgendwie erweckt dieses Buch den Eindruck, als wäre da drin Resümee, ein Statement zur Gegenwart und Zukunft. Was wünschst du dir?
Ich glaube nicht, dass man Erkenntnisse zusammenfassen kann – jedes Leben ist

mutmassungen, Jan Kaeser

ein «work in progress», alles andere wäre niederschmetternd. Für mich sind diese Texte Verlautbarungen aus dem gegenwärtigen Moment heraus. Schon ein Tag oder auch nur eine Stunde später würde es wohl anders tönen. Aber natürlich steht da Vergangenheit dahinter, erlebte Geschichte, all das, was man Lebenserfahrung nennt, aber auch Nachdenken, Nachspüren und die Lust am Spiel. Zukunftsweisend möchte und kann ich nicht sein, doch ich wünsche mir, dass wir die Gegenwart in ihrer unglaublichen Vielfalt und Feinheit besser durchdringen, uns von ihr nicht nur bedrücken, sondern auch bezaubern lassen und es ab und zu wagen, eine «Lobpreisung» zu formulieren. Dies tut unserem ernsthaften Bemühen um die Welt und ihren Fortbestand keinen Abbruch, im Gegenteil.

Christine Fischer, vielen Dank für die aufschlussreichen Antworten.

Christine Fischer, 1952 in Triengen LU geboren, studierte Logopädie am Heilpädagogischen Institut der Universität Freiburg. Sie wohnt in St. Gallen und ist als Sprachtherapeutin tätig. Veröffentlichung der Bücher «Eisland» (1992), «Lange Zeit» (1994), «Augenstille» (1999), «Solo für vier Stimmen» (2003), «Von Wind und Wellen, Haut und Haar» (2004), «Vögel, die mit Wolken reisen» (2005) und «Nachruf auf eine Insel» (2009). Ausgezeichnet mit verschiedenen Förder- und Werkpreisen.

Buchvernissage «Der Zweifel, der Jubel, das Staunen» von Christine Fischer, Donnerstag, 26.Okt. 2017, 19.00, Raum für Literatur, Hauptpost St. Gallen. Veranstalter: kleinaberfein, St. Gallen, Musik: Maya Homburger, Violine. Graphit-Zeichnungen: Jan Kaeser, Kunstschaffender. Lesung, Präsentation, Apéro, Bücherverkauf, Gespräch.

Webseite der Schriftstellerin

Webseite des Künstlers Jan Kaeser

Martina Clavadetscher «Knochenlieder», edition bücherlese

Martina Clavadetschers neues Buch «Knochenlieder» ist ein Buch der Sonderklasse. Ein Buch, das ich nach der letzten Seite sofort noch einmal zu lesen beginne, weil ich mir möglichst wenig entgehen lassen will. Ein Buch wie ein Monolith; geheimnisvoll, auffällig, sich von allem anderen absetzend. Ein Buch, das gelesen werden muss und dem ich von Herzen die ihm gebührende Aufmerksamkeit wünsche.

In einer Zeit in der Zukunft, in der die Welt nur noch im Ausnahmezustand zusammenzuhalten ist, lebt eine kleine Gruppe Menschen in einem Dorf am Hang. Mehr eine Kleinstsiedlung von Aussteigern, vier Wohnhäuser, Familie Blau, Familie Weiss, Rot und Grün. Ein Versuch im Kleinen, sich dem Grossen nicht ergeben zu müssen.

Vier Familien aus einer Zeit, in der sie noch andere Namen trugen, auch auf Papier und Pässen. Aber weil die eine Familie dann auch noch die Fensterläden rot bemalte, wurden aus den Farben Namen. Die alten Namen blieben Relikte aus der Vergangenheit, einer endgültig verlorenen Zeit. Während draussen in Städten, auf dem ganzen Kontinent, die Welt zerfällt, versuchen die vier Familien Gemeinschaft aufrecht zu erhalten und von dem zu leben, was Natur und Arbeit hergeben. Vier Familien mit Grundsätzen, hinter denen aber die Angst und der Wille zum Überleben überwiegen. Alles von aussen, selbst Medizin und Medikamente, bedroht das Zusammenleben, schlägt Keile in die wacklige Gemeinschaft. Bis sich eines Tages doch der Nachwuchs einstellt. Aber die Stachel von Misstrauen und Unterstellung sind längst tief in die kleine Gemeinschaft eingedrungen. Und als die Geburt der kleinen Rosa Grün gefeiert werden soll, eskaliert der schwelende Konflikt. Jakob schlägt zu und die Gemeinschaft zerbricht. Im zweiten Teil macht sich Pippa, die Tochter von Rosa Grün mit dem Amulett ihrer Mutter am Brustbein auf die Suche nach ihrer Mutter. Eine schnelle Fahrt auf dem Motorrad durch eine Welt wie im ersten grossen Science Fiction von Ridley Scott «Blade Runner» .

Kein Roman wie üblichen, kein Theater auf Papier, keine Lyrik und doch traumwandler-, alptraumwandlerisch. Martina Clavadetscher schreibt und dichtet, als hätte sie nie etwas anderes getan. Ihr Buch, das sich auf dem Umschlag Roman nennt, erzählt, singt, spricht, denkt, lockt und zieht mich in einen Sog, von dem ich als passionierter Leser bei jedem Buch mit Erwartung hoffe. Schon auf den ersten Seiten verspricht Martina Clavadetscher viel und schenkt im Verlaufe des Buches noch viel mehr, erst recht auf den letzten Seiten. Sie erzählt von einer nicht fremden Zeit in der Zukunft, die fast alles genommen hat, in der die letzten Reste Freiheit den Menschen leben lassen und Hoffnung fast ausschliesslich gegen innen gerichtet ist. Martina Clavadetschers Roman ist eine Offenbarung. Nicht nur weil er Stellung zur Gegenwart nimmt, sondern weil er sich Wörtern und einer Spache bedient, in der die Poesie keinen Platz zu haben scheint, als späche sie nur noch aus Wörtern und Sätzen. Wie Martina Clavadetscher in einem einzigen Satz ein grosses Bild entstehen lassen kann, wie trotz der Knappheit der Sätze Bilder in Cinemascope erzeugt werden; lange Einstellungen, kaum Bewegung mit maximalem Effekt, ist grosse Kunst. Während des Lesens streiche ich mir Passagen an, die ich später noch einmal lesen will, nicht des Inhalts, sondern der Musik wegen. Ein phantastisches Buch, ein phantastisch gutes Buch, das man nach der letzten Seite noch leicht betäubt in Händen hält, schon geschlossen, den Nachglanz geniessend. «Knochenlieder» ist ein Buch darüber, was bleibt, wenn nichts mehr ist, wie es einmal war. Auch ein Buch über Familie, die Sehnsucht nach einem Ort, wo man hingehört. Dass Martina Clavadetscher Theatermacherin ist, spürt man dem Text an, hört man, versteht man. Sie gibt nur das Nötigste vor, zwingt den Leser, das Geschehen aufzufüllen, zwingt ihn mitzugehen, mitzudenken.

Wer Mut hat, wird belohnt, auch die Jury des Schweizer Buchpreises 2017!

Ein Interview mit Matina Clavadetscher:

Ihr Roman spielt in einer düsteren Zukunft, einer Zukunft, die in der Gegenwart längst begonnen hat. Dystopien scheinen Hochkonjunktur zu haben. Und doch ist die Zukunft in ihrem Roman nicht einfach Kulisse. Wollen sie warnen, aufrütteln oder ist ihr Blick in die Zukunft Programm?
Der Blick in die Zukunft, in die nahe Zukunft, wenn man so will, ist insofern Programm bzw. Absicht, als dass ich damit gewisse gesellschaftliche, politische und technische Tendenzen weitertreiben konnte – ich konnte in eine Extreme schreiben, die beklemmt und aufrüttelt. Trotzdem scheint diese zugespitzte Sicht nachvollziehbar, in gewissen Momenten sogar vorstellbar. Und doch: selbst in einer dystopischen Zukunft bleiben ganz ursprüngliche (archaische) Ängste und Sehnsüchte erhalten – Menschlichkeit überdauert und trotzt den Umständen.

Beim Lesen ihres Romans staune ich ob der Sprache, ihrer Sicherheit und der Fähigkeit, selbst mit Wörtern und Satzfetzen aus der Computerwelt Poesie zu erzeugen. Rührt ihre Selbstverständlichkeit mit Sprache den richtigen Ton zu finden aus dem Theater, dem laut gesprochenen Wort?
Ich wollte mir sprachlich und formal für einmal keine unnötigen Grenzen setzen. Deswegen mäandriert der Roman durch das Lyrische, das Prosaische und – in den szenischen Dialogen – gar durch die Dramatik. Das laut gesprochene Wort war bei der Überarbeitung enorm wichtig – um Klang und Rhythmik zu prüfen, habe ich den Roman etliche Male laut gelesen. Gut möglich, dass ich durch meine Arbeit mit Theatertexten keine Furcht vor der sprachlichen Umsetzung ins unmittelbar Reale habe. 

Die Form ihres Romans ist eine aussergewöhnliche. Wer beim Kauf am Büchertisch die Seiten am Daumen springen lässt, wird merken, dass ihr Roman ein unübliches Gesicht hat. Zugegeben, es macht das Lesen einfacher, hilft, die Geschichte zu strukturieren. Andere Autoren schreiben ohne Punkt und Komma in Blocksatz und scheinen alles verhindern zu wollen, was mir als Leser hilft. Ihr Text lädt ein zum Rezitieren. War diese Form schon zu Beginn des Schreibens klar?
Diese Form schien von Anfang an die einzig richtige zu sein. Ich habe den gesamten Roman in einer ersten Fassung von Hand geschrieben – das Physische der Handschrift hat hierbei sicher seinen Teil dazu beigetragen. Ich erkannte, dass diese Mischform (Lyrik, Prosa, Dramatik) einen ganz eigenen Reiz besitzt: Sie erzeugt Tempo, lässt formale und inhaltliche Spielereien zu, sie ermöglicht Leichtigkeit und zugleich die Betonung des Inhalts durch die Form.
Und nicht zuletzt hat das Schreiben auf diese Weise unfassbaren Spass gemacht.

Während des Lesens waren kurze Momente der «Besinnung» unausweichlich, Gedanken darüber, wo in der Gegenwart die Zeichen «ihrer» Zukunft zu finden sind. Das ist nicht schwer angesichts der Aktualität. Sind sie Optimistin?
Mein Optimismus schwankt wöchentlich. Und obwohl es sein mag, dass «Knochenlieder» ein düsterer Roman geworden ist, sehe ich durchaus auch die wichtigen Lichtblicke darin: die Hoffung, die Liebe, die Sehnsucht nach Freiheit, die unablässig gesucht wird. Grundsätzlich bleibt mein Glaube an das Gute im Menschen – egal wie kitschig das klingen mag – sehr eisern.  

Ihr Roman ist auch ein Buch über Heimat, darüber, wonach sich Menschen sehnen, nach Familie, einem Ort, der Sicherheit schenkt. Wo ist ihre «Heimat»? Ist es das Schreiben?
Schön, dass sie das Thema «Heimat“ dem Roman entzwirbelt haben. Tatsächlich sind gefühlte Orte wie „innen“ und „aussen“ (gefangen und frei – sicher und unsicher) in jedem der Teile ganz wesentlich verankert. (Wobei das vermeindlich „schlechte“ nie wie geglaubt von aussen kommt, sondern stets von innen und aus den eigenen Reihen.) Was meine Heimat betrifft: Im Schreiben fühle ich mich sehr zu Hause. Es beruhigt mich. Meistens. Meine erschriebenen Welten sind mir Urlaubsorte, Spielwiesen und Höllen zugleich.

Liebe Martina Clavadetscher, vielen Dank für die aufschlussreichen Antworten!
Haben sie vielen Dank für die spannenden Fragen!

Martina Clavadetscher, geboren 1979, studierte Germanistik, Linguistik und Philosophie an der Universität Fribourg. Seit 2009 arbeitet sie als Autorin und Dramatikerin sowie als Radiokolumnistin. Ihr Prosadebüt Sammler erschien 2014 im Verlag Martin Wallimann. Für die Spielzeit 2013/2014 war sie Hausautorin am Luzerner Theater. 2016 wurde sie für das Theaterstück Umständliche Rettung mit dem Essener Autorenpreis ausgezeichnet, für das Manuskript Knochenlieder erhielt sie 2016 den Preis der Marianne und Curt Dienemann-Stiftung. Martina Clavadetscher lebt in der Schweiz.

Martina Clavadetschers Webseite

Titelbild: Sandra Kottonau